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Konzerne in die Verantwortung nehmen: Neue Impulse für Menschenrechtsverpflichtungen von Unternehmen

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20

Im Neuen Jahr sollten Sie besonders auf eine wichtige Entwicklung achten: In immer mehr Ländern könnte es nationale Gesetze geben, die die Verantwortung von Unternehmen gegenüber Arbeitern, Gemeinden und der Umwelt einfordern.

Millionen Erwachsene und Kinder auf der ganzen Welt werden als Arbeiter Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Sie beschaffen die Rohstoffe, schuften auf den Bauernhöfen und stellen Produkte für den globalen Markt her. Sie sind das letzte Glied in der globalen Lieferketten für sämtliche Produkte, angefangen bei alltäglichen Gütern wie Gemüse und Meeresfrüchten bis hin zu Luxusartikeln wie Schmuck und Designerkleidung, die weltweit in den Verkaufsregalen landen.

„Ruth“, 13 Jahre alt, ist eine von ihnen. Wir trafen sie während unserer Recherchen auf den Philippinen bei der Goldverarbeitung in der Nähe einer Mine. Dort mischte sie mit bloßen Händen giftiges Quecksilber in zermahlenes Golderz. Sie erzählte uns, dass sie seit ihrem 9. Lebensjahr arbeitet. Die Schule hatte sie vorher abgebrochen. Häufig bekommt sie kein Geld von dem Mann, der ihr die Säcke mit Golderz zur Verarbeitung gibt.  

Es ist ein gefährliches Leben auf der untersten Stufe dieser globalen Leiter. Im Jahr 2013 starben über 1.100 Arbeiterinnen und Arbeiter und 2.000 wurden verletzt, als das Rana Plaza Fabrikgebäude in Dhaka, Bangladesch zusammenbrach. In dem Gebäude waren fünf Textilfabriken untergebracht. Seitdem gab es einige Fortschritte bei der Sicherheit in den Fabriken in Bangladesch, nachhaltige Reformen gab es jedoch weder dort noch in anderen Ländern. Um mit den Erwartungen der Verbraucher Schritt zu halten, müssen Frauen weiterhin eine ganze Reihe von Arbeiterrechtsverletzungen in Bangladesch und anderen Ländern ertragen. Im Januar 2019 brach der Tailings-Staudamm von Brumadinho in Brasilien. Mindestens 250 Menschen – die meisten davon Arbeiter – kamen hierbei ums Leben und eine Welle von Giftschlamm wurde losgetreten. Der Damm hatte Abfälle aus einem Bergwerk gesammelt, in dem Eisenerz gefördert wird. Dieses wird weltweit im Bauwesen, im Maschinenbau, in der Automobilindustrie und in anderen Industriezweigen verwendet.

Multinationale Unternehmen, einige der reichsten und mächtigsten Akteure der Welt - 69 der 100 reichsten Akteure der Welt sind Unternehmen und keine Länder - haben sich häufig ihrer Verantwortung entzogen, wenn Arbeiter, umliegende Gemeinden oder die Umwelt durch sie zu Schaden gekommen sind. Regierungen wiederum, die in Verbindung mit mächtigen Unternehmen stehen, haben oftmals die Aktivitäten von Unternehmen nicht angemessen reguliert. Oder sie haben bestehende Schutzmaßnahmen für Arbeiter, Verbraucher und die Umwelt nicht durchgesetzt oder sogar abgeschafft.

Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sind freiwillige Richtlinien für die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht von Unternehmen. Diese Richtlinien sind jedoch nicht rechtlich durchsetzbar. Von der Industrie vorangetriebene freiwillige Standards und Zertifizierungssysteme, die in den letzten Jahren zugenommen haben, können nützlich sein, reichen aber nicht aus: Viele Unternehmen werden nur dann handeln, wenn sie gesetzlich dazu verpflichtet sind. Diese Standards decken zudem wichtige Menschenrechts- und Umweltfragen in den Lieferketten der Unternehmen nicht ab, und die Systeme zur Überwachung der Einhaltung der Standards können nicht alle Probleme identifizieren und beheben. Sowohl das Rana Plaza Fabrikgebäude als auch der Staudamm von Brumadinho waren nur wenige Monate vor der jeweiligen Katastrophe von Wirtschaftsprüfern im Auftrag der Unternehmen inspiziert worden.

Die Ära, in der freiwillige Initiativen die einzige Möglichkeit waren, Unternehmen zur Achtung der Menschenrechte zu bewegen, weicht nun langsam der Erkenntnis, dass neue, rechtlich durchsetzbare Gesetze notwendig sind. Obwohl die Debatten je nach Land unterschiedlich geführt werden, ist die allgemeine Tendenz vielversprechend für die Arbeiter und Gemeinden, die Teil der Lieferketten multinationaler Unternehmen sind. Die Gesetzgeber erkennen zunehmend an, dass Unternehmen die Menschenrechte - einschließlich der Freiheit von unsicheren Arbeitsbedingungen, Zwangsarbeit und Lohndiebstahl - respektieren müssen, und schaffen entsprechende Gesetze, die sie dazu verpflichten.

In den letzten Jahren haben Frankreich, die Niederlande, Australien und Großbritannien Gesetze gegen Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen verabschiedet. Einige der bestehenden Gesetze sind jedoch zahnlose Tiger. Australien und Großbritannien beispielsweise verlangen von den Unternehmen lediglich, ihre Lieferketten transparent zu gestalten und alle Maßnahmen zu melden, die sie zur Bekämpfung von Problemen wie Zwangs- oder Kinderarbeit ergreifen. Die Unternehmen sind jedoch nicht dazu verpflichtet, diesen Problemen vorzubeugen oder sie zu beheben. Darüber hinaus sind keine Strafen für Unternehmen vorgesehen, die sich nicht an das Gesetz halten.

Das französische Gesetz von 2017 ist die derzeit umfassendste und strengste Regelung. Sie verpflichtet Unternehmen dazu, die negativen Auswirkungen ihrer Lieferketten sowohl auf die Menschenrechte als auch auf die Umwelt zu identifizieren und zu vermeiden. Das Gesetz gilt auch für die Unternehmen, die von der Regierung kontrolliert werden und mit denen die Regierung zusammenarbeitet. Unternehmen in Frankreich haben 2018 die ersten „Sorgfaltspläne“ nach diesem Gesetz veröffentlicht. Die Nichteinhaltung kann rechtliche Schritte nach sich ziehen. Die erste Klage nach dem Gesetz zur Sorgfaltspflicht wurde im Oktober 2019 eingereicht. Gesetze wie das in Frankreich, das Handlungsaufforderungen an Unternehmen beinhaltet ebenso wie Konsequenzen, wenn diesen Aufforderungen nicht nachgekommen wird, und die Möglichkeit für Arbeitnehmer, Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen, öffnen die Tür für einen stärkeren Schutz von Arbeitern auf der ganzen Welt.

Das Jahr 2020 verspricht weitere Fortschritte für mehr Menschen. Die Parlamente in Deutschland, der Schweiz, Dänemark, Kanada, Norwegen, Finnland und Österreich erwägen Gesetze, die den Umgang von Unternehmen mit den Menschenrechten bei ihren weltweiten Aktivitäten verändern würden. Sie gehen über reine Transparenz und Berichterstattung hinaus und verlangen, dass Menschenrechtsrisiken in den Lieferketten von Unternehmen identifiziert und Maßnahmen zu ihrer Vermeidung ergriffen werden.

In einer damit verbundenen Entwicklung prüft die Internationale Arbeitsorganisation, ob ein neues, verbindliches globales Übereinkommen über „menschenwürdige Arbeit in globalen Lieferketten“ erforderlich ist. Um diese Frage zu klären, wird die Organisation im Jahr 2020 ein Treffen mit Regierungs-, Gewerkschafts- und Arbeitgebervertretern abhalten.

Durch eine strengere Regulierung von Lieferketten werden die Staaten eine neue internationale Erwartungshaltung für ein verantwortungsbewusstes Verhalten der Unternehmen schaffen. Zudem werden dadurch die Menschenrechte von Millionen von Arbeitern, wie für Ruth, besser geschützt, die in den Minen, Fabriken und auf den Feldern ums Überleben kämpfen.

Kategorien: Menschenrechte

Komala Ramachandra

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20

Komala Ramachandra is a Senior Researcher in the Business and Human Rights Division of Human Rights Watch. Her current research focuses on inequality and predatory corporate practices that affect the poor. Before joining Human Rights Watch, Komala was a staff attorney and later the South Asia Director at Accountability Counsel, where she supported communities to defend their human rights and natural resources. She worked on cases in Peru, Mexico, India, and Nepal, holding international companies and banks accountable for harm they had caused. She has been engaged in policy advocacy around the world, seeking to ensure that national laws and institutional policies support transparency, accountability, and access to remedy. Prior to this, Komala lived and worked with mining affected communities in Oaxaca, Mexico, and with agricultural workers in Telangana, India. She has a BA in economics and political science from Northwestern University and a JD from Harvard Law School. 

Kategorien: Menschenrechte

Größere Transparenz in der Bekleidungsbranche

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20

Dezember 18, 2019 Video Surge in Garment Industry Transparency

Laws Needed to Ensure Companies Adopt Human Rights Practices

(New York) – Textilunternehmen, Schuhhersteller und deren Händler haben in den vergangenen drei Jahren große Schritte hin zur Offenlegung von Informationen über ihre Lieferketten ergriffen, so ein heute veröffentlichter Bericht eines Bündnisses von Gewerkschaften, Menschenrechtsgruppen und Arbeitsrechtsinitiativen. Mit seinem „Transparency Pledge“ hatte das Bündnis Mindeststandards für die Transparenz in Lieferketten definiert. Dadurch soll es Initiativen für den Schutz von Menschen- und Arbeitsrechten, Beschäftigten und Konsumenten möglich sein, herauszufinden, wo die Produkte einer Marke hergestellt werden.

Dem 15-seitigen Bericht „Fashion’s Next Trend: Accelerating Supply Chain Transparency in the Garment and Footwear Industry“ zufolge sind zahlreiche Marken und Einzelhändler dazu übergegangen, Informationen über ihre Zulieferbetriebe öffentlich zu machen. Das zeugt von einer gestiegenen Akzeptanz dieser Maßnahme, die es erleichtern soll, widrige Arbeitsrechtspraktiken in den Lieferketten der Bekleidungsindustrie zu erkennen und dagegen vorzugehen.

„Transparenz ist kein Allheilmittel gegen die Verletzung von Arbeitsrechten. Doch es ist ein essenzieller Schritt für Unternehmen, die ihren Geschäftsbetrieb als ethisch und nachhaltig begreifen“, so Aruna Kashyap, leitende Mitarbeiterin in der Frauenrechtsabteilung bei Human Rights Watch. „Alle Marken sollten für Transparenz in ihren Lieferketten sorgen. Letzten Endes bedarf es jedoch entsprechender Gesetze, die die Einhaltung von Transparenz verpflichtend machen und sicherstellen, dass die Menschenreche geachtet werden.“

Bislang haben 39 Unternehmen ihre Praktiken am „Transparency Pledge“-Standard ausgerichtet oder sich verpflichtet, dies zu tun. 22 von ihnen gehören zu jenen 72 Unternehmen, die das Bündnis im Jahr 2016 ansprach. Von den 74 Unternehmen, die das Bündnis insgesamt kontaktierte, haben 31 die Standards nicht eingehalten, weitere 21 weigerten sich, solche Informationen zu veröffentlichen

Dezember 18, 2019 Report Fashion’s Next Trend

Accelerating Supply Chain Transparency in the Apparel and Footwear Industry

Transparenz bei Auswahl und Praktiken der Zulieferer stellt ein mächtiges Werkzeug dar, um die Rechenschaftspflicht von Unternehmen im Bereich der Arbeitsrechte in der Bekleidungsindustrie zu erhöhen. Sie belegt, dass Unternehmen wissen, woher ihre Produkte stammen, und ermöglicht es Initiativen für den Schutz von Menschen- und Arbeitsrechten, das Unternehmen zu verständigen, sollte es in Zulieferbetrieben zu Missbrauch kommen. Mithilfe von Informationen zu den Zulieferbetrieben einer Marke können die Beschäftigten im Fall von Menschenrechtsverletzungen besser gegen beteiligte Unternehmen vorgehen.

Dem Bündnis zufolge sind die Maßnahmen der Industrie, die auf Freiwilligkeit beruhen, bislang unzureichend. Effektiver wäre daher die Verabschiedung von Gesetzen in den einzelnen Ländern, mit denen Unternehmen verpflichtet wären, die Menschenrechtssituation in ihren Lieferketten sorgfältig zu prüfen und wenigstens zu veröffentlichen, in welchen Fabriken sie produzieren.

Seit Mitte 2018 ist das Bündnis auch mit sieben Initiativen für verantwortungsvollen Geschäftsbetrieb (Responsible Business Initiatives, RBIs) im Gespräch – Zusammenschlüsse von Unternehmen und anderen Organisationen, die ethische Geschäftspraktiken ihrer Mitglieder und Transparenz in den Lieferketten fördern wollen.

Take Action: #GoTransparent

Tell clothing brands to support workers by signing the Transparency Pledge

Take Action! Die an RBIs beteiligten Unternehmen weisen der Koalition zufolge jedoch ein gänzlich unterschiedliches Maß an Transparenz auf. Indem sie nicht konsequent all ihre Mitglieder zur Offenlegung ihrer Zulieferbetriebe verpflichten, zementieren diese Initiativen den Status Quo in der Branche. Das Bündnis rief die RBIs daher dazu auf, eine Führungsrolle zu übernehmen, indem sie es im Einklang mit dem „Transparency Pledge“-Standard zur Bedingung einer Mitgliedschaft machen, spätestens ab Januar 2020 Informationen zu ihren Lieferketten zu veröffentlichen.

„Initiativen für einen verantwortungsvollen Geschäftsbetrieb sollten sich nicht länger hinter den Ausflüchten von Unternehmen verstecken, die ihre Lieferketten nicht transparent machen wollen“, sagte Christie Miedema, Kampagnenkoordinatorin der Kampagne für Saubere Kleidung. „Stattdessen sollten sie dem Beispiel der Vorreiter unter ihren Mitgliedern folgen und Transparenz zur Bedingung für eine Mitgliedschaft machen und damit Beschäftigten und Aktivisten Zugang zu jenen Informationen geben, durch die sie wirkungsvoll gegen die Verletzung von Arbeitsrechten vorgehen können.“

Die in den USA ansässige RBI Fair Labor Association hat bedeutende Maßnahmen hin zur Transparenz in den Lieferketten ihrer Mitglieder ergriffen. Im November gab sie bekannt, dass alle betroffenen Marken und Einzelhändler als Vorbedingung für eine Mitgliedschaft im Einklang mit den „Transparency Pledge“-Standard bis zum 31. März 2022 Informationen zu ihren Lieferketten veröffentlichen und diese Daten in zugänglichen offenen Datenformaten bereitstellen müssen. Die Fair Labor Association schätzt, dass von diese neuen Bestimmung mehr als 50 Marken und Einzelhändler betroffen sein werden, die bei Nichtbefolgung ab April 2022 auch einer gesonderten Prüfung durch den Vorstand unterliegen können.

Die niederländische Initiative Agreement on Sustainable Garments and Textiles (AGT) hat ihre Mitglieder zwar nicht zur Transparenz in ihren Lieferketten verpflichtet, verlangt von diesen jedoch, dass sie das AGT-Sekretariat über ihre Zulieferbetriebe informieren. Diese Daten werden dann in zusammengefasster Form über die Open Apparel Registry (OAR) der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Die OAR ist eine leicht zugängliche und durchsuchbare Datenbank zu Produktionsstätten und ihren Verbindungen zu Marken und RBIs.

Die britische Ethical Trading Initiative und die niederländische Fair Wear Foundation haben einzelne Schritte für eine Verbesserung der Transparenz in den Lieferketten ihrer Mitglieder ergriffen. Die Sustainable Apparel Coalition, amfori sowie das deutsche Bündnis für nachhaltige Textilien hingegen haben keinerlei Schritte dabei unternommen, Transparenz in den Lieferketten zur Vorbedingung für eine Mitgliedschaft zu machen.

„Regierungen spielen eine wichtige Rolle bei der Verabschiedung von Gesetzen, die Unternehmen dazu verpflichten, ihrer Sorgfaltspflicht beim Thema Menschenrechte in ihren Lieferketten nachzukommen und transparent darzustellen, wo ihre Produkte hergestellt werden“, so Bob Jeffcott, politischer Analyst beim Maquila Solidarity Network. „Eine solche Gesetzgebung ist von zentraler Bedeutung dafür, einheitliche Wettbewerbsbedingungen unter Unternehmen zu gewährleisten und die Rechte der Menschen zu schützen, die in ihren Lieferketten beschäftigt sind.“
 

Informationen über die 74 Unternehmen, an die sich die Koalition seit 2016 gewandt hat, und andere Unternehmen, die entweder Informationen veröffentlicht oder neue Verpflichtungen eingegangen sind, finden Sie unter Annex II.

Kategorien: Menschenrechte

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Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20
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Arbeiterinnen in der Snowtex-Textilfabrik in Dhamrai, bei Dhaka, Bangladesh, 19. April 2018 © 2019 AP Photo/A.M. Ahad.

© 2019 AP Photo/A.M. Ahad

Menschenrechtsverletzungen in der Lieferkette können nur dann wirksam gestoppt werden, wenn die genaue Herkunft der Produkte bekannt ist. Eine Koalition von 64 NGOs und Gewerkschaften in Deutschland – darunter Human Rights Watch – hat heute eine Kampagne für ein Lieferkettengesetz gestartet. Die Bundesregierung soll bis 2020 einen Gesetzentwurf vorlegen, durch den deutsche Unternehmen zu Schutzmechanismen gegen Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten verpflichtet werden.

Am 11. September 2012 brach in der Textilfabrik von Ali Enterprises in Pakistan ein Feuer aus, bei dem 255 Arbeiterinnen und Arbeiter getötet sowie 57 verletzt wurden. In der Fabrik wurde Kleidung für KiK, einem bekannten deutschen Textildiscounter, produziert. Arbeitsrechtsorganisationen haben KiK dazu gebracht, Entschädigung für die Opfer der Brandkatastrophe zu zahlen. Doch die einzelnen Glieder seiner Lieferkette hat das Unternehmen immer noch nicht offengelegt. Ähnliche Tragödien in der globalen Lieferkette anderer deutscher Firmen, die zu Menschenrechtsverletzungen oder Umweltkatastrophen geführt haben, kommen immer wieder an die Öffentlichkeit.

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um ein wirksames Gesetz einzufordern. Die Regierungskoalition hat sich bereits in ihrem Koalitionsvertrag dazu bekannt, ein Lieferkettengesetz in Betracht zu ziehen. Die nächsten Bundestagswahlen finden im September 2021 statt. Das bedeutet, dass ein entsprechender Entwurf möglichst bald vorgelegt werden muss. Durch die Kampagne sollen Abgeordnete für ein Gesetz gewonnen sowie die Öffentlichkeit mobilisiert werden, eine Petition an Angela Merkel zu unterzeichnen.

Kampagne für ein Lieferkettengesetz Lesen Sie hier mehr

Dies wird nicht einfach sein. CDU und SPD haben schon mit sich gerungen, als es darum ging, sich auf den Nationalen Aktionsplan zu einigen, um Menschenrechte in der Lieferkette von Unternehmen besser zu schützen und einen entsprechen Mechanismus zur Überprüfung zu implementieren. Ein Gesetz ist jetzt ganz wichtig, um deutsche Unternehmen zu verpflichten, die Lieferketten einer der größten Exportnation der Welt zu schützen.

Ein deutsches Gesetz hätte auch Signalwirkung für die Europäische Union. In der zweiten Hälfte des Jahres 2020 übernimmt Deutschland die EU-Präsidentschaft. Dann ist die Bundesregierung in einer ausgezeichneten Lage, auch in Europa den Weg dafür zu ebnen, dass die Sorgfaltspflicht verbindlich wird. Dadurch würden Unternehmen in vielen weiteren Ländern dazu verpflichtet, die Menschenrechte täglich in ihren Geschäftspraktiken zu achten.

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Deutschland: Bundeswirtschaftsministerium versucht, Unternehmensmonitoring zu schwächen

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20
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Bangladeshis work at Snowtex garment factory in Dhamrai, near Dhaka, Bangladesh, April 19, 2018. 

© 2019 AP Photo/A.M. Ahad

(Berlin) - Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie versucht, Maßnahmen zu schwächen, mittels derer geprüft werden soll, wie gut Unternehmen im Land potentielle Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten ermitteln und auf diese reagieren, so Human Rights Watch heute. Die Regierungskoalition sollte bei einem heute stattfindenden Staatsministertreffen standhaft bleiben und ein Monitoringsystem einführen, das deutsche Unternehmen zur Einhaltung hoher Standards bei der verantwortungsvollen Materialbeschaffung anhält. Die Unternehmen sollten sicherstellen, dass es - gemäß international anerkannter Normen - in keinem Schritt ihrer Lieferketten zu Menschenrechtsverletzungen kommt.

„Der Vorschlag des Wirtschaftsministeriums macht es den Firmen viel zu einfach, sich als Unternehmen einzustufen, die internationale Menschenrechtsstandards erfüllt, auch wenn dies nicht der Fall ist“, sagte Juliane Kippenberg, stellvertretende Leiterin der Abteilung Kinderrechte bei Human Rights Watch. „Es besteht die Gefahr, dass das Monitoringsystem als politisches Instrument missbraucht wird, um strengere staatliche Maßnahmen gegen Unternehmen zu vermeiden, allen voran die Verabschiedung eines dringend benötigten Gesetzes zu Lieferketten.“ Eine Lieferkette besteht aus allen Schritten, die für die Herstellung eines Produkts erforderlich sind, von der Beschaffung der Rohstoffe bis hin zu deren Transport, Verarbeitung und Verkauf.

Die Parteien der Großen Koalition haben sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, dass die Regierung gesetzlich tätig werden wird, wenn die freiwilligen Maßnahmen großer Firmen zum Schutz von Menschenrechten in ihren Lieferketten bis 2020 nicht ausreichen. Unternehmen müssten demnach die Auswirkungen ihrer Aktivitäten auf die Menschenrechte ermitteln, mindern und öffentlich kommunizieren. Ob die Regierung einen Gesetzesvorschlag zu Lieferketten erarbeitet und einbringt, hängt daher zu einem großen Teil davon ab, wie gründlich das Monitoring der Unternehmen ausfällt. Das vorgeschlagene Monitoringsystem ist jedoch bereits durch Meinungsverschiedenheiten zwischen Ministerien gefährdet. Ein Fragebogen zur Selbstauskunft zum Thema sollte an Unternehmen verschickt werden, die ihren Sitz in Deutschland haben und mehr als 500 Menschen beschäftigen. Diese hätten dann zwischen Mai und Juli ihre Antworten einreichen sollen. Dieser Prozess ist jedoch ins Stocken geraten, und die Fragebögen sind noch nicht an die Firmen gegangen, da das Bundeswirtschaftsministerium mit der Umfragemethodik nicht einverstanden ist.

Das Ministerium schlägt ein Monitoringsystem vor, das es der Regierung ermöglichen würde, mehr Unternehmen als solche zu kategorisieren, welche die staatlichen Standards für menschenrechtliche Sorgfaltspflicht erfüllen. Gemäß dem Vorschlag soll es neben den beiden Kategorien „erfüllt“ und „nicht erfüllt“ auch die Kategorien „Unternehmen mit Umsetzungsplanung“ und „teilweise erfüllt“ („Unternehmen auf einem guten Wege“) geben.

Der Nationale Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte von 2016 sieht ein „robustes“ Monitoringverfahren zur Beurteilung der Umsetzung durch Unternehmen vor, hinter dem der aktuelle Vorschlag des Wirtschaftsministeriums weit zurückbleibt.

Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gehen mehr als 450 Millionen Menschen Tätigkeiten nach, die mit einer Lieferkette zusammenhängen. Human Rights Watch hat Arbeitsrechtsverletzungen wie Kinderarbeit, Zwangsarbeit, gefährliche Arbeitsbedingungen, Angriffe auf Gewerkschafter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen in globalen Lieferketten dokumentiert.

So riskieren beispielsweise Kinderarbeiter und Erwachsene in Ghana, auf den Philippinen und in vielen anderen Ländern ihre Gesundheit und ihr Leben, wenn sie Gold in einsturzgefährdeten Gruben abbauen und Erz mit giftigem Quecksilber verarbeiten. Human Rights Watch hat zudem Verletzungen von Arbeiterrechten in den globalen Lieferketten von Bekleidungsunternehmen dokumentiert, darunter exzessive oder erzwungene Überstundenarbeit, Verweigerung von Pausen, Diskriminierung von Schwangeren und Angriffe auf Gewerkschafter.

Zwar hat sich eine Reihe deutscher Bekleidungsunternehmen dem Bündnis für nachhaltige Textilien angeschlossen, viele dieser Unternehmen kommen jedoch noch immer nicht ihren grundlegenden menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten nach, wie beispielsweise der Pflicht zur Transparenz in ihren Lieferketten. Außerdem sollten Bekleidungsunternehmen ihre Einkaufspraktiken ändern und Beschwerdemechanismen zu Missständen in den globalen Zulieferfabriken einführen, um die Verletzungen von Arbeiterrechten in globalen Lieferketten zu mindern. Human Rights Watch hat zudem dokumentiert, dass deutsche Unternehmen wie der Juwelier Christ und die Bekleidungsmarke KiK keine ausreichenden Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte in ihren Lieferketten haben.

„Die Verzögerungstaktik des Wirtschaftsministeriums und die Vorschläge zur Umetikettierung von Firmen sind unwürdig“, sagte Kippenberg. „Die Regierung sollte zeigen, dass die Achtung der internationalen Menschenrechtsnormen im In- und Ausland und die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands einander nicht ausschließen, sondern dass die Unterstützung ethischer Geschäftspraktiken das Wirtschaftswachstum sogar fördern kann.“

Kategorien: Menschenrechte

Anti-Boykott-Maßnahmen sind falsches Mittel gegen Antisemitismus

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20
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Vor dem Büro des Gouverneurs des Bundestaats New York Andrew Cuomo finden Demonstrationen gegen ein Gesetz statt, das dem Bundestaat Investionen in Firmen verbietet, die den Boykott Israels unterstützen, New York City, 9. Juni 2016.

© 2016 Mark Apollo/Pacific Press/LightRocket via Getty Images

Der Antisemitismus wird zu einer immer größeren Gefahr in Europa. Inmitten eines alarmierenden Anstiegs der Zahl gewalttätiger Angriffe auf Juden in Frankreich, darunter auch mehrere Morde, haben etliche Juden beschlossen, Frankreich in Richtung Israel zu verlassen. Jüdische Teenager in Deutschland, die genug von den Angriffen und Beschimpfungen haben, folgen diesem Beispiel. Ähnliche Entwicklungen sehen wir in Großbritannien, wo jeder dritte Jude sagt, er denke wegen des wachsenden Antisemitismus darüber nach auszuwandern.

Vielen Europäern mag der Judenhass der 30er und 40er Jahre eine Ewigkeit her erscheinen. Für Juden, vor allem in Deutschland, sind das Trauma und die kollektive Erinnerung jedoch nicht verblasst. 

Regierungen wie auch in Deutschland sorgen sich zu Recht über den wie ein Krebsgeschwür wuchernden Antisemitismus. Aber der gemeinsame Antrag im Bundestag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis90/Die Grünen, der vor kurzem im Bundestag verabschiedet wurde und Boykotte Israels als antisemitisch darstellt, ist der falsche Weg, um Antisemitismus zu bekämpfen. Die Bundesregierung sollte ihn deshalb zurückweisen. 

Es besteht kein Zweifel daran, dass es  Antisemiten gibt, die Begriffe „Israel“ oder „Zionist“ mittlerweile mit dem Begriff „Juden“ gleichsetzen. Das sollte offen angesprochen werden. Aber es ist genauso wahr, dass legitime Kritik an israelischen Staatshandlungen manchmal falsch als antisemitisch gedeutet wird. 

Anti-Boykott-Maßnahmen, von den USA bis Israel, haben sich oft gegen Menschen gerichtet, die besorgt sind angesichts der Menschenrechtsverletzungen in illegalen Siedlungen im von Israel besetzten Westjordanland. 27 US-Bundesstaaten haben Gesetze oder Verordnungen verabschiedet, die Unternehmen, Organisationen oder Einzelpersonen bestrafen, wenn sie sich an Boykotten Israels beteiligen oder zu solchen aufrufen. Recherchen von Human Rights Watch haben ergeben, dass viele US-Bundesstaaten diese Gesetze anwenden, um Unternehmen zu bestrafen, die keine Geschäfte mit illegalen Siedlungen im Westjordanland machen wollen.

New York zum Beispiel hat eine Liste von elf Unternehmen veröffentlicht, in die der Bundesstaat gemäß einer Anordnung von Gouverneur Andrew Cuomo aus dem Jahr 2016 nicht investieren darf. Die Liste enthält auch Unternehmen, die lediglich die

Geschäftsbeziehungen zu den Siedlungen abgebrochen haben. So stellte etwa die britische Co-operative Group, die Lebensmittel verkauft, die Geschäfte mit Lieferanten ein, die bekanntermaßen Produkte aus Siedlungen beziehen. Gleichzeitig wurde jedoch bekannt gegeben, man sei weiterhin entschlossen, Produkte von israelischen Lieferanten abzunehmen und mit diesen zu handeln, wenn diese keine Waren aus den Siedlungen beziehen. Ein anderes Unternehmen, die luxemburgische Supermarktkette Cactus, setzte den Handel israelischer Produkte aus, bis die entsprechenden Lieferanten den Nachweis erbrachten, dass ihre Waren nicht aus den Siedlungen stammen. Gleichzeitig würden jedoch weiterhin andere

israelische Importe angeboten, so eine Mitteilung einer Aktivistengruppe nach Verhandlungen mit dem Unternehmen.

Human Rights Watch lehnt jegliche Form von Antisemitismus ab, ist nicht Teil der BDS-Bewegung und ergreift keine Partei bezüglich des Boykotts Israels. Unsere jahrelangen Recherchen haben jedoch gezeigt, dass es nicht möglich ist, in den Siedlungen Geschäfte zu machen, ohne zu Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen humanitäres Völkerrecht beizutragen oder von solchen zu profitieren. Unternehmen können ihren Verpflichtungen aus den UN-Leitsätzen für Wirtschaft und Menschenrechte nur nachkommen, wenn sie ihre Tätigkeit in den Siedlungen einstellen. Anti-Boykott-Gesetze bestrafen Unternehmen, die solche Maßnahmen im Einklang mit ihrer internationalen rechtlichen Verantwortung und der Position Deutschlands und der Europäischen Union zu den Siedlungen ergreifen. 

Die israelische Regierung hat ihre eigene Anti-Boykott-Gesetzgebung. Vor einem Jahr nutzten die Behörden eine Änderung des Einreisegesetzes aus dem Jahr 2017, durch die die Einreise für diejenigen verboten wurde, die Boykotte gegen Israel fordern, um das Arbeitsvisum meines Kollegen von Human Rights Watch, Omar Shakir, zu widerrufen. Als wir den Abschiebungsbeschluss vor Gericht anfochten, verwies die Regierung auf seine Arbeit für unsere Recherchen über Unternehmensaktivitäten, wie etwa von Airbnb, in den Siedlungen. Zudem wies die israelische Regierung auf unsere Empfehlungen hin, wonach diese Unternehmen derartige Aktivitäten einstellen sollten, da dadurch die Rechte der Palästinenser verletzt würden. Im vergangenen Monat bestätigte ein israelisches Gericht den Abschiebungsbefehl und behauptete, dass unsere Recherchen zu Geschäften in den Siedlungen einen Aufruf zum Boykott Israels darstellen. Wir haben beim Obersten Gerichtshof Israels Berufung eingelegt.

Gemäß internationalen Menschenrechtsstandards hat jeder Mensch das Recht, seine Ansichten mit gewaltfreien Mitteln zum Ausdruck zu bringen, so abscheulich man diese auch finden mag. Zu diesen Mitteln gehört auch die Teilnahme an Boykotten. Die Behörden dürfen zwar die öffentliche Rede einschränken, jedoch nur unter sehr eng gefassten und strengen Bedingungen. 

David Kaye, der UN-Sonderberichterstatter für Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, hat erklärt, dass „Boykott.... seit langem als legitime Form der Meinungsäußerung verstanden wird, die durch Artikel 19 Absatz 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) geschützt ist“. In einer Prüfung der Anti-Boykott-Gesetze in den USA kam Kaye zu dem Schluss, dass diese Gesetzgebung „eindeutig auf die Bekämpfung der politischen Meinungsäußerung abzielt“. Zudem erfüllten „wirtschaftliche Sanktionen, die darauf abzielen, einen bestimmten politischen Standpunkt zu unterdrücken“, nicht die Bedingungen des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, die für zulässige Einschränkungen der freien Meinungsäußerung gelten. 

In Deutschland ruft der Begriff „Boykott“ Erinnerungen an den Boykott jüdischer Geschäfte in den 30er Jahren hervor. Dieses dunkelste Kapitel deutscher Geschichte mit dem Boykott Israels wegen dessen Menschenrechtsverletzungen gleichzusetzen, würde jedoch bedeuten, unsere Geschichte zu banalisieren. Aktivisten weltweit nutzen Boykotte, um Menschenrechtsverletzungen anzufechten und politischen Wandel voranzutreiben. Boykotte spielten eine Schlüsselrolle im Kampf der USA für die Rechte afroamerikanischer Bürger, ebenso wie in internationalen Kampagnen gegen die Apartheid in Südafrika und Gräueltaten in Darfur.

Anstatt die Anti-Boykott-Maßnahmen voranzutreiben, welche die freie Meinungsäußerung einschränken und auf diejenigen abzielen sollen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, sollten deutsche Behörden den wieder auflebenden Antisemitismus bekämpfen, indem sie Bedrohungen und Gewalt gegen Juden und andere Minderheiten untersuchen und bestrafen, intolerante Reden von Politikern der extremen Rechten verurteilen und die Menschen über die Gefahren von ungezügeltem Hass aufklären. Die Beamten könnten zum Beispiel auch damit beginnen, die antisemitischen Mobbingfälle an unseren Schulen anzugehen. Solche Maßnahmen wären sehr viel erfolgversprechender als die Einschränkung der freien Rede, die letztendlich nichts zur Bekämpfung des Hasses beitragen wird. 

Kategorien: Menschenrechte

Geschäftspraktiken von Modemarken befeuern Menschenrechtsverletzungen

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20

(London) – Bekleidungs- und Schuhmarken sollen Geschäftspraktiken beenden, die in Fabriken Verstöße gegen das Arbeitsrecht fördern, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 66-seitige Bericht „‘Paying for a Bus Ticket and Expecting to Fly’: How Apparel Brand Purchasing Practices Drive Labor Abuses“ dokumentiert, mit welchen Praktiken Modemarken ihre Fabriken zu Kosteneinsparungen drängen, die sich auf die Arbeitnehmer negativ auswirken. Viele weltbekannte Marken schmücken sich damit, dass sie bei ihren Lieferanten für gute Arbeitsbedingungen sorgen wollen. Allerdings unterminieren sie diese Bemühungen, indem sie massiven Druck auf ihre Zulieferer ausüben, die Preise zu senken oder schneller zu produzieren. Viele Lieferanten reagieren auf diesem Druck, indem sie Maßnahmen zur Kosteneinsparung ergreifen, unter denen die Arbeitnehmer leiden. Ein Fabrikbesitzer fasst das Problem zusammen: „Die Marken bezahlen für ein Busticket und wollen aber damit fliegen“.

„Wenn Modemarken von ihren Zulieferern fordern, auf dem Rücken der Arbeiter Kosten zu sparen, dann sind sie immer nur einen Schritt von der nächsten Menschenrechtskatastrophe entfernt“, so Aruna Kashyap, Expertin für Frauenrechte bei Human Rights Watch. „Markenunternehmen müssen ihre Geschäftspraktiken überwachen und anpassen, damit sie in den Fabriken nicht genau die Verstöße verursachen, die sie angeblich vermeiden wollen.”

April 23, 2019 Report “Paying for a Bus Ticket and Expecting to Fly”

How Apparel Brand Purchasing Practices Drive Labor Abuses

Human Rights Watch befragte Arbeiterinnen und Arbeiter in Bangladesch, Kambodscha, Indien, Myanmar und Pakistan sowie Stofflieferanten aus Süd- und Südostasien. Zudem wurden Experten mit mindestens zehnjähriger Erfahrung in der Auswahl von und Bestellung bei Lieferfabriken und andere Branchenexperten interviewt.

Am 24. April jährt sich die Rana Plaza-Tragödie in Bangladesch zum sechsten Mal. Im Jahr 2013 stürzte ein sechsgeschossiges Gebäude in einem Außenbezirk von Dhaka ein. Dabei starben 1.138 Arbeiter, mehr als 2.000 wurden verletzt. Die Katastrophe erinnert eindrücklich an die Gefahren, gegen welche Modemarken vorgehen müssen.

Modeunternehmen lassen ihre Waren in der Regel in zahlreichen Fabriken in mehreren Ländern produzieren. Entsprechend groß und komplex ist die Herausforderung, die Arbeitsbedingungen in allen Fabriken zu überwachen. Die Produktion jedes Markenprodukts basiert auf komplexen Kaufentscheidungen. Jede einzelne dieser Entscheidungen wirkt sich positiv oder negativ darauf aus, wie die Lieferanten ihre Arbeitnehmer behandeln.

Fabriken reagieren auf schlechte Geschäftspraktiken, indem sie Maßnahmen zur Kosteneinsparung ergreifen, die gegen das Arbeitsrecht verstoßen. Beispielsweise beschäftigen sie unerlaubterweise Subunternehmer, in deren Einrichtungen es zu massiven Arbeitsrechtsverletzungen kommt. Andere Verstöße, die bei Kosteneinsparungen typischerweise in Kauf genommen werden, sind ausbleibende oder unvollständige Lohnzahlungen, Anweisungen, schneller und ohne angemessene Pausen zu arbeiten, sowie gefährliche oder ungesunde Arbeitsbedingungen.

Fawzia Khan, eine 24-jährige, unverheiratete Fabrikarbeiterin aus Pakistan, schildert den massiven Druck auf die Arbeiterinnen und Arbeiter, schneller zu arbeiten:

Ich hasse diese Gefängnisatmosphäre bei der Arbeit, das Verbot, zur Toilette zu gehen, das Verbot, aufzustehen, um etwas zu trinken, das Verbot, während der Arbeitszeit überhaupt aufzustehen… Die eine Stunde, die wir eigentlich täglich Pause haben, ist in der Praxis nur eine halbe. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine ganz Stunde Pause machen konnte.

Für Modeunternehmen ist es oft schwierig, die Arbeitsbedingungen in ihren weltweiten Liefernetzwerken zu überwachen. Viele verschärfen dieses Problem, indem sie sich weigern, ihre Lieferanten bekannt zu geben. Durch diese Intransparenz ist es äußert schwierig, Arbeitsbedingungen zu prüfen und Verstöße zu identifizieren, die einem Modeunternehmen entgangen sind. Zudem beauftragen einige Modemarken Beschaffungsagenten, um Produktionsfabriken auszuwählen, und bestehen nicht auf Informationen über deren Standort, Arbeitsbedingungen und Preispraktiken.

Modemarken müssen ihre Waren heute schneller produzieren und verkaufen als je zuvor, um auf die sich rasch verändernde Nachfrage zu reagieren. Aber die Marken riskieren Arbeitsrechtsverletzungen, wenn sie die Herstellungszeit für ihre Produkte minimieren, ohne die Kapazitäten der Fabrik zu überprüfen oder den Arbeitern angemessen viel Zeit zu geben – auch unter Berücksichtigung nationaler Feiertage und wöchentlicher Ruhetage.

Die Gefahren für die Arbeitnehmer erhöhen sich deutlich, wenn Modemarken keine schriftlichen Verträge aufsetzen oder einseitige Verträge nutzen, die keine flexiblen Liefertermine und den Verzicht auf Geldstrafen vorsehen, wenn die Modemarken selbst zu Verzögerungen beitragen. Mit solchen einseitigen Verträgen versuchen die Marken, die Kosten für ihre eigenen Fehler vollständig auf die Fabriken abzuwälzen. In solchen Fällen setzen Fabriken verstärkt darauf, auf dem Rücken ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter Kosten einzusparen. Darüber hinaus nehmen Unternehmen, die ihre Lieferanten nicht rechtzeitig bezahlen, in Kauf, dass deren Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Lohn und weitere Bezüge zu spät erhalten. Zahlungsverzögerungen führen auch dazu, dass Fabrikbesitzer keine Kredite aufnehmen können, um in Brandschutz und Gebäudesicherheit zu investieren. Der britische Kodex für sofortige Bezahlung („Prompt Payment Code“), eine freiwillige Selbstverpflichtung, ist ein gutes Praxisbeispiel dafür, wie Unternehmen solchen Missständen begegnen können.

Der Bericht identifiziert die wichtigsten Maßnahmen, die Modemarken ergreifen sollen, um mangelhafte Beschaffungspraktiken zu korrigieren und das Risiko, dass es in ihrer Lieferkette zu Menschenrechtsverletzungen kommt, zu minimieren. Die Unternehmen sollen Kodizes für verantwortungsbewusste Beschaffung entwickeln, veröffentlichen und in allen Abteilungen umsetzen. Sie sollen Listen ihrer Lieferfabriken veröffentlichen, die im Einklang mit dem Transparency Pledge stehen, einem Mindeststandard, den ein Bündnis aus Arbeits- und Menschenrechtsorganisationen im Jahr 2016 entwickelt hat. Zudem sollen sie evaluieren, wann und unter welchen Bedingungen sie Beschaffungsagenturen beauftragen und gewährleisten, dass ihre Verträge mit Lieferanten schriftlich vorliegen und fair sind.

Darüber hinaus sollen sich Modeunternehmen an Umfragen wie Better Buying beteiligen, die es Lieferanten ermöglichen, die Beschaffungspraktiken von Marken zu bewerten, und über die Ergebnisse berichten. Zudem sollen sie Arbeitskosten ganzheitlich kalkulieren, indem sie auch die Kosten für die Einhaltung von Arbeits- und Sozialstandards einbeziehen. Dazu eignet sich beispielsweise die von der Fair Wear Foundation entwickelte Kalkulation. Empfohlen werden auch Initiativen, die eine Reform der Beschaffungspraktiken mit Branchentarifverträgen verbinden, etwa die ACT-Initiative ( „Action, Collaboration, Transformation“). Die Marken sollen öffentlich über die Zahl der Gewerkschaften und Tarifverträge bei ihren Lieferanten informieren, sowie über die Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Beschaffungspraktiken, die sich auf die Arbeit der Fabriken auswirken.

Regierungen sollen Gesetze verabschieden, die Unternehmen dazu verpflichten, die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht in ihren weltweiten Lieferketten einzuhalten. Diese Gesetze sollen auch Verfahren einführen, um Geschäftspraktiken zu überwachen und zu korrigieren.

„Die Konsumenten sollten nicht zulassen, dass Modemarken sich mit Maßnahmen und Verpflichtungen schmücken, die nur auf dem Papier existieren. Auch gibt es immer wieder Initiativen mit heeren Zielen, über deren Ergebnisse nicht berichtet wird“, so Kashyap. „Modeunternehmen müssen ihren Konsumenten, Investoren, Arbeitnehmern und Arbeitsrechtlern dringend zeigen, was sie tun. Nur so werden schlechte Beschaffungspraktiken beendet.“

Ausgewählte Zitate

„Beschaffungsteams und Käufer stehen unter dem ständigen Druck, ein besseren [niedrigeren] Preis [für die Fabrikproduktion] zu finden… Was überhaupt nicht stattfindet, ist, es aktiv miteinander in Verbindung zu bringen, dass sich Druck auf einen Punkt [den Preis] auf einen anderen Punkt [die Arbeitsbedingungen in der Fabrik] auswirkt. So sieht das Geschäftsmodell aus.“

– Branchenexperte mit mehr als 25 Jahren Erfahrung in der Beschaffung von Bekleidung, Schuhen und nichttextilen Produkten für unterschiedliche Marken, London, 15. Januar 2019.

„Es gibt keine Preisverhandlung. Sie haben einfach zu viele Optionen [andere Lieferanten]… Es ist, als würde man Eier für sie [die Marken] kaufen.“

– Lieferant aus Pakistan, der anonym bleiben wollte, Juni 2018.

„Es ist für mich billiger, den Arbeiterinnen und Arbeitern Überstunden zu geben und so das Lieferdatum für die Verschiffung zu halten, als wenn wir uns verspäten und ich die Flugkosten tragen muss.“

– Mitarbeiter einer Gruppe, die in China, Südostasien und Asien Textilfabriken betreibt und 17 bis 20 internationale Modemarken beliefert, der anonym bleiben wollte, Südostasien, April und Mai 2018.

„Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen wegen der Bestellungen manchmal Überstunden machen. Manchmal nehmen wir Bestellungen mit Lieferterminen an, bevor wir die Zusagen für den Stil, die Vorlagen etc. haben. In solchen Fällen entsteht oft starker Zeitdruck. Dann müssen wir tun, was wir können, um den Liefertermin einzuhalten. Einige Unternehmen [Fabriken] sind schlauer und rechnen aus, was mehr kostet – Überstunden oder Luftfracht.“

– Lieferant aus Pakistan, der anonym bleiben wollte, Juni 2018.

„Einer der Agenten legen pauschal 10 Rupien (0,13 €) pro Stück fest. Es ist egal, ob das ganze Kleidungsstück am Ende 50 oder 500 Rupien (0,64 oder 6,39 €) kostet.“

– Lieferant aus Indien, der anonym bleiben wollte, über die „Provisionen“, die Agenten von Lieferanten verlangen, September 2018.

„Wenn eine Marke [zur Fabrik] sagt, sie werde 150.000 Stück bestellen und es sich dann, wenn sie die Bestellung tatsächlich aufgibt, anders überlegt und 250.000 Stück will, dann müssen Überstunden angeordnet oder Subunternehmer beauftragt werden.“

– Beschaffungsexperte mit mehr als 30 Jahren Branchenerfahrung, der anonym bleiben wollte, USA, Oktober 2018 und Januar 2019.

Kategorien: Menschenrechte

Eine glänzende Gelegenheit für den Goldsektor

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20
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A boy and a girl work in a small gold mine in Amansie West district, Ghana.

© 2016 Juliane Kippenberg for Human Rights Watch

In den nächsten Wochen kommt auf den Ständerat eine große Entscheidung zu: Sollen Schweizer Unternehmen dazu verpflichtet werden, eine menschenrechtliche Sorgfaltsprüfungspflicht für ihr globales Handeln einzuführen?

Schweizer Geschäfte und Unternehmen beziehen ihre Rohstoffe und Produkte oft aus weit entfernten Ländern und gehen damit erhebliche Risiken für den Schutz der Menschenrechte ein. Ein Beispiel dafür ist die Lieferkette für Gold: regelmäßig werden Menschenrechtsverletzungen im Goldsektor aufgedeckt. Ein Bericht der Schweizer Regierung zum Thema hat kürzlich bestätigt, dass der Goldsektor erhebliche Risiken darstellt.

Während meinen Nachforschungen in Ghana, Mali, Tansania und den Philippinen habe ich mit eigenen Augen gesehen wie Kinder und Jugendliche in kleinen, informellen Minen unter gefährlichsten Bedingungen Gold schürfen. Sie arbeiten in oder nahe einsturzgefährdeten Schächten, graben unter Wasser in Flussbetten nach Gold-Erz und benutzen giftiges Quecksilber, um das Rohgold aus dem Erz zu gewinnen. Manche tragen gesundheitliche Schäden davon; einige sind sogar bei Minenunfällen gestorben. In Eritrea und Papua-Neuguinea hat Human Rights Watch dokumentiert, wie industrielle Goldminen Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsarbeit und Vergewaltigung tragen.

Damit Unternehmen nicht zu Menschenrechtsverletzungen beitragen, sollten sie Sorgfaltsprüfungen durchführen—das heißt, Menschenrechtsrisiken in der Lieferkette prüfen und Maßnahmen ergreifen, um diesen Risiken entgegenzuwirken. Wir haben kürzlich die menschenrechtlichen Sorgfaltsprüfungen von 13 großen Juwelieren untersucht, unter anderem Rolex, Chopard und Harry Winston, das der Schweizer Firma Swatch gehört. Es hat sich herausgestellt, dass die meisten Firmen nicht genug tun, um transparent zu sein, die Lieferkette vollständig zu kennen und Menschenrechtsrisiken zu erfassen. Rolex macht gar keine Informationen über seine Lieferkette öffentlich, und Harry Winston macht nur sehr wenig über seine Sorgfaltsprüfungen publik. Während Chopard sehr viel transparenter in Bezug auf seine Goldlieferkette, ist Chopards Diamantenlieferkette ebenfalls undurchsichtig.  

Es gibt zahlreiche freiwillige Standards und Zertifizierungssystem, um Menschenrechte in Lieferketten besser zu schützen, insbesondere durch freiwillige Standards und Zertifizierungen. Aber die Umsetzung dieser Standards hängt komplett vom Willen einzelner Unternehmen ab. Dazu entsprechen Standards oft auch nicht den internationalen Normen für verantwortliche Lieferketten, wie sie die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und—für die Minerallieferkette—die Richtlinie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) einfordern.

Ein Beispiel im Goldsektor ist der Verhaltenskodex des internationalen Juweliersverbands Responsible Jewellery Council. Dieser fällt hinter internationale Menschenrechtsstandards für Lieferketten zurück, und bei der Zertifizierung wird meist nicht die Lieferkette nachverfolgt—so können mögliche Menschenrechtsprobleme bei der Förderung oder Weiterverarbeitung von Gold nicht ausgeschlossen werden. Die OECD hat letztes Jahr eine detaillierte Studie veröffentlicht, die zeigt, wie die Standards des RJC und anderen Industrieverbänden der Minerallieferkette hinter der internationalen Richtlinie zurückbleiben und ausreichend in die Praxis umgesetzt werden.

Nun besteht für die Schweiz die Möglichkeit, Firmen aller Sektoren für ihr Handeln in die Verantwortung zu nehmen. Im Juni 2018 hat der Nationalrat beschlossen, dass Großunternehmen internationale, durch die Schweiz ratifizierte Menschenrechts- und Umweltverträge auch im Ausland respektieren sollen. Hierzu müssen Unternehmen eine Sorgfaltsprüfung im Bereich der Menschenrechte durchführen. In besonders schwerwiegenden Fällen können Konzerne auch für Tochterunternehmen haften. Der Beschluss erfolgte als Reaktion auf die Konzernverantwortungsinitiative der Zivilgesellschaft, in Form eines Gegenvorschlags. Darin wurden wichtige Elemente der Konzernverantwortungsinitiative aufgenommen. Er geht allerdings insbesondere in Fragen der Konzernhaftung weniger weit als die ursprünglichen Forderungen.

Im Februar wird nun die Rechtskommission des Ständerats über die Initiative und den Gegenvorschlag beraten. Die Kommission sollte diese außergewöhnliche Gelegenheit nutzen um ein wirksames Gesetz für verbindliche Regeln zum Schutz von Menschenrechten und Umwelt durch Unternehmen im Einklang mit den einschlägigen internationalen Standards zu verabschieden.  

Die Verabschiedung eines solchen Kompromiss-Gesetzes wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Andernfalls liegt es in der Hand der Stimmbevölkerung mittels der Konzernverantwortungsinitiative einen Wandel herbeizuführen. Solange Regierungen es den Unternehmen überlassen, freiwillig Schritte zu ergreifen, wird eine systematische Sorgfaltsprüfung der Unternehmen die Ausnahme bleiben.

Kategorien: Menschenrechte

EU: Datenschutzverordnung stärkt Privatsphäre

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20

(Brüssel, 6. Juni 2018) – Die neue Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) der Europäischen Union stärkt die Privatsphäre und soll andere Länder dazu animieren, personenbezogene Daten besser zu schützen, so Human Rights Watch in einem „Fragen und Antworten“-Dokument. Darin werden die wichtigsten Themen der EU-Verordnung zusammengefasst und nächste Schritte diskutiert.

„Im digitalen Zeitalter generieren wir mit fast allem, was wir tun, Daten, aus denen sich intime Details über unser Leben, unsere Gedanken und Überzeugungen ablesen lassen“, so Cynthia Wong, Internetexpertin bei Human Rights Watch. „Die DSGVO ist alles andere als perfekt, aber sie stärkt die Privatsphäre in der EU und zeigt, dass starke Datenschutzmaßnahmen eingeführt werden können und gut für die Menschenrechte sind.“

Seit dem 25. Mai 2018 gelten die neuen Regeln in den 28 Mitgliedstaaten der EU. Die im Jahr 2016 verabschiedete Verordnung ist eine der weltweit stärksten und umfassendsten Versuche, die Sammlung und Nutzung personenbezogener Daten durch Regierungen und den Privatsektor zu regulieren. Wenn sie gründlich implementiert und durchgesetzt wird, kann sie das Recht auf Privatsphäre in der EU stärken und anderen Ländern wie den USA als Vorbild dienen, in denen der Schutz personenbezogener Daten vergleichsweise schwach ist. 

Die Verordnung verpflichtet Regierungsbehörden und Unternehmen wie Facebook und Google, vor dem Sammeln von Daten die ausdrückliche und informierte Einwilligung der betroffenen Person einzuholen und zu erläutern, wie sie die Daten nutzen, teilen und speichern. Internetznutzer haben das Recht, bei Unternehmen und andere Organisationen zu erfragen, welche personenbezogenen Daten ihnen vorliegen, diese korrigieren zu lassen und eine weitere Nutzung der Daten zu untersagen. Darüber hinaus kann bei den nationalen Datenschutzbeauftragten Beschwerde wegen Datenmissbrauchs eingereicht werden, die die Beauftragten untersuchen und bei Verstößen mit Bußgeldern ahnden.

Staatliche und private Einrichtungen müssen Datenschutzverletzungen unverzüglich melden und Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre in ihre Systeme einbauen, was als „eingebauter Datenschutz“ oder „Privacy by Design“ bezeichnet wird. Zudem müssen sie den Nutzern ermöglichen, ihre Daten herunterzuladen, um einfach zwischen verschiedenen Anbietern wechseln zu können. Außerdem sieht die Verordnung ein Widerspruchsrecht gegen Entscheidungen und erstellte Profile vor, denen Algorithmen oder automatisiere Prozesse zugrunde liegen – die Betroffenen können einfordern, dass ein Mensch den fraglichen Prozess überprüft. Eine solche Überprüfung kann zum Beispiel vor Diskriminierung schützen, wenn Algorithmen eingesetzt werden, um zu bestimmen, ob eine Person Anspruch auf Sozialleistungen hat, eine Versicherung abschließen darf, kreditwürdig ist oder für einen Arbeitsplatz in Frage kommt.

Die neuen EU-Regeln haben einige Schwachstellen und Grenzen. Viele Vorschriften enthalten vage oder undefinierte Begriffe oder Formulierungen, die es potenziell möglich machen, die Privatsphäre einzuschränken. Beispielsweise können Regierungen und Unternehmen Daten ohne Einwilligung sammeln und verarbeiten, wenn ihre „legitimen Interessen“ gegenüber der Rechte und Freiheiten der betroffenen Person überwiegen. Was „legitime Interessen“ sind, ist in der Verordnung nicht gut definiert bzw. sehr weit gefasst. Daraus können bedeutende Schlupflöcher entstehen.

Datenschutzbeauftragte und Gerichte werden sehr aufmerksam arbeiten müssen, um zu gewährleisten, dass Regierungen und Unternehmen mehrdeutige Formulierungen nicht ausnutzen und dabei gegen Rechte verstoßen. Außerdem wird die Verordnung breite, staatliche Überwachungsmaßnahmen nicht einhegen, da sie es Regierungen erlaubt, Daten ohne Einwilligung zu verarbeiten, wenn dies mit dem nicht definierten Schutz der „nationalen“ oder „öffentlichen Sicherheit“ begründet wird.

Datenschutzgesetze sind zentral für die Menschenrechte im digitalen Zeitalter. Viele Länder weltweit schützen personenbezogene Daten kaum oder gar nicht. Im Zuge der jüngsten Skandale um Facebook und Cambridge Analytica und der öffentliche Debatte um Datenschutzverletzungen, gezielte Werbung und undurchsichtige Profilerstellung durch den Privatsektor sind die Rufe danach lauter geworden, besser kontrollieren zu können, wie personenbezogene Daten gesammelt und genutzt werden.

„Regierungen und Unternehmen sammeln zunehmend gewaltige Mengen an Daten über unsere Privatleben und nutzen diese für wichtige Entscheidungen, die uns betreffen“, so Wong. „Die Staaten müssen regulieren, wie mit diesen Informationen umgegangen wird, so dass diese nicht mehr so leicht von Regierungen, Unternehmen und Kriminellen missbraucht werden können.“

Kategorien: Menschenrechte

Juweliere, übernehmt Verantwortung!

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20
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Ein Junge und ein Mädchen arbeiten in einer kleinen Mine im Distrikt Amansie West, Ghana.

© 2016 Juliane Kippenberg für Human Rights Watch.   Diese Woche beginnt die Baselworld, eine der gößten Schmuck-und Uhrenmessen weltweit. Besucher werden viel über neues Design bei Uhren und Schmuck erfahren. Aber wieviel wird über die menschenrechtlichen Bedingungen zu erfahren sein, unter denen Gold und andere Rohstoffe für Schmuck und Uhren gefördert wurden?   Beim Abbau von Gold kommt es immer wieder zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Für Human Rights Watch haben meine Kollegen und ich Mißstände in Goldminen in den Philippinen, Papua Neu Guinea Ghana, Mali, Nigeria, Tansania, Uganda und Eritrea dokumentiert.   Wir haben genauer untersucht, was Juweliere und Uhrenfirmen tun, um sicherzustellen, dass sie nicht zu Menschenrechtsverletzungen in ihren Gold- und Diamantenlieferketten beitragen. Dazu haben wir 13 führende Schmuck- und Uhrenhersteller unter die Lupe genommen; gemeinsam haben die Firmen einen Jahresumsatz von 30 Milliarden Dollar. Unter ihnen sind auch Bulgari, Chopard, Harry Winston und Rolex.   Bei unserer Untersuchung stellte sich heraus, dass die meisten Firmen nicht wissen, woher ihr Gold und ihre Diamanten kommen, und daß sie menschenrechtliche Risiken nicht ausreichend prüfen. Zudem veröffentlichen Schmuck-und Uhrenhersteller—auch Bulgari, Chopard und Harry Winston—meist nur wenige allgemeine Informationen über ihre Lieferketten und Menschenrechtsrisiken. Einige Unternehmen, wie zum Beispiel Rolex, veröffentlichen sogar überhaupt keine Informationen über ihre Lieferketten und die damit verbundene Unternehmensverantwortung.   Als wir mit den 13 Unternehmen vor mehr als einem Jahr in Kontakt traten, wiesen viele auf ihre Zertifizierung durch den Responsible Jewellery Council (RJC) hin. Für die Firmen war dies ein Beleg dafür, daß sie verantwortlich handeln. Der RJC ist ein industrienaher Verband mit mehr als 1.000 Mitgliedern, der Mitglieder für die Umsetzung seines „Code of Practices“-Standards zertifiziert. Der Standard ist allgemein und unpräzise, und verlangt von den Firmen nicht, dass sie ihre Lieferkette kennen. Die Einhaltung wird unzureichend überprüft und der Prozeß der Zertifizierung ist undurchsichtig. Der Standard fällt selbst hinter die von der OECD entwickelten Richtlinien zurück.   Alle Schmuck-und Uhrenhersteller haben eine Verantwortung für ihre Lieferketten. Konsumenten drängen zunehmend daraufhin, dass Firmen diese Verantwortung wahrnehmen. Und nicht nur das—internationale Normen über die „Sorgfaltspflicht“ machen klar, dass Firmen die Risiken für Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten detailliert untersuchen und gegebenenfalls darauf reagieren sollten. Auch Juweliere und Uhrenhersteller sollten daher ihre Wertschöpfungskette kennen und Zulieferer darauf verpflichten, ihnen schriftliche Informationen über alle Schritte bis zurück zur Mine zu geben. Im Interesse der Transparenz sollten die Unternehmen außerdem öffentlich darlegen, welche Maßnahmen der Sorgfaltspflicht sie ergreifen. Vermehrt wird in der Schweiz und anderswo darauf gedrängt, daß eine solche Sorgfaltspflicht in Lieferketten für Unternehmen rechtlich bindend wird. Denn freiwillige Standards nicht aus, um die Großzahl der Unternehmen zum Handeln zu bewegen.   Einige wenige Firmen gehen dennoch mit gutem Beispiel voran.  Aus den von uns untersuchten Unternehmen sticht Tiffany and Co. heraus, weil es sein Gold bis zur Mine zurückverfolgen kann und die menschenrechtlichen Auswirkungen seiner Geschäftsaktivitäten umfassend prüft. Une eine wachsende Zahl von Schmuckherstellern– insbesondere kleine Juweliere - bemüht sich darum, Gold aus kleinen Minen zu beziehen, in denen die Menschenrechte gewahrt werden. Ein Beispiel hierfür ist der “Fairmined”-Standard, der Minen zur Einhaltung klar festgelegter arbeitsrechtlicher Standards für die Zertifizierung verpflichtet und diese regelmäßig prüft. Interessanterweise bezieht auch Chopard einen kleinen Teil seines Goldes aus diesen Minen—ein Schritt in die richtige Richtung. Es ist aber enttäuschend, daß Chopard über die Lieferkette für den weitaus größeren Teil seines Goldes bis jetzt keine Auskunft gibt.   Es wird Zeit, daß alle Juweliere und Uhrenhersteller auf der Baselworld offenlegen, woher ihr Gold kommt und was sie für den Schutz der Menschenrechte in ihren Lieferketten tun.
Kategorien: Menschenrechte

Valentinstag: Schmutzige Schmuck-Lieferketten

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20
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Ein Mädchen arbeitet in einer kleinen Diamantenmine in Sosso Nakombo in der Zentralafrikanischen Republik nahe der Grenze zu Kamerun, August 2015. 

© Marcus Bleasdale für Human Rights Watch, 2015.

(London) – Schmuck- und Uhrenhersteller müssen mehr tun, um zu gewährleisten, dass es in ihren Lieferketten nicht zu Menschenrechtsverletzungen kommt, so Human Rights Watch in einem heute kurz vor dem Valentinstag veröffentlichten Bericht. 29 Zivilgesellschaftliche Gruppen und Gewerkschaften riefen die Schmuckindustrie gemeinsam dazu auf, ihr Beschaffungswesen zu verbessern.

Der 99-seitige Bericht „The Hidden Cost of Jewelry: Human Rights in Supply Chains and the Responsibility of Jewelry Companies“ untersucht die Gold- und Diamantenbeschaffung von 13 führenden Schmuck- und Uhrenherstellern, die gemeinsam einen Jahresumsatz von 30 Milliarden US$ generieren – etwa zehn Prozent der weltweiten Schmuckverkäufe.

Der Bericht geht auch auf die menschenrechtswidrigen Bedingungen ein, unter denen Edelminerale und -metalle zum Teil gefördert werden. Kinder werden verletzt oder sterben bei Schwerstarbeit in kleinen Gold- und Diamantenminen. Kommunen sind von Gesundheits- und Umweltproblemen betroffen, weil Minen Wasserläufe mit giftigen Chemikalien verseuchen. Und Zivilisten leiden massiv, wenn bewaffnete Gruppen sich am Abbau bereichern.

„Viele Schmuckhersteller können mehr tun, um zu prüfen, ob ihr Gold oder ihre Diamanten mit Kinderarbeit oder anderen Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang stehen“, so Juliane Kippenberg, stellvertretende Leiterin der Abteilung Kinderrechte bei Human Rights Watch. „Wenn man zum diesjährigen Valentinstag ein Schmuckstück für seine Lieben kauft, sollte man den Juwelier danach fragen, was er über dessen Herkunft weiß.“

Februar 8, 2018 Video The Hidden Cost of Jewelry

Jewelry and watch companies need to do more to ensure that their supply chains are free of human rights abuse.

Human Rights Watch hat umfassende Untersuchungen in zahlreichen Ländern durchgeführt, in denen die Lieferketten von menschenrechtswidrigen Praktiken durchzogen sind, insbesondere von Kinderarbeit. In einem Bericht über die Situation auf den Philippinen aus dem Jahr 2015 schildert ein 16-jähriger Junge, wie er auf der Suche nach Gold nur mit einem Luftschlauch tauchen geht und jedes Mal riskiert, zu ertrinken.

Edelminerale und -steine werden in Dutzenden Ländern überall auf der Welt gefördert und dann in der Regel verkauft, exportiert und in anderen Ländern weiterverbreitet. Zwar sind die Lieferketten zum Teil lang und komplex, aber nichtsdestotrotz tragen Juweliere und Uhrmacher die Verantwortung dafür, zu gewährleisten, dass sie an keinem Punkt entlang dieser Ketten zu Menschenrechtsverletzungen beitragen.

Der Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass die meisten der 13 Schmuckhersteller internationale Standards für verantwortungsvolle Beschaffung nicht einhalten. Unter den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sind Unternehmen dazu verpflichtet, Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die als „menschenrechtliche Sorgfaltspflicht“ bezeichnet werden. Diese beinhaltet, dass Unternehmen Auswirkungen ihrer Geschäftsaktivitäten auf die Menschenrechte in ihrer gesamten Lieferkette identifizieren, verhindern, angehen und über sie Rechenschaft ablegen. Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat mit den „OECD-Leitsätzen für die Erfüllung der Sorgfaltspflicht zur Förderung verantwortungsvoller Lieferketten für Minerale aus Konflikt- und Hochrisikogebieten“ die wichtigsten Standards für die Sorgfaltspflicht in der Mineralförderung entwickelt.

Die Praktiken der 13 untersuchten Schmuckhersteller unterscheiden sich deutlich voneinander. Während einige Unternehmen wichtige Maßnahmen ergriffen haben, um den menschenrechtliche Risiken in den Gold- und Diamanten-Lieferketten zu begegnen, verlassen sich andere blind auf die Versprechen ihrer Zulieferer. Die Mehrzahl der Hersteller können die Herkunft ihres Goldes und ihrer Diamanten nicht vollständig nachvollziehen und prüfen menschenrechtliche Risiken nicht ausreichend. Zudem veröffentlichen die meisten Unternehmen weder ausführlichere Berichte darüber, wie sie zur verantwortungsvollen Mineralförderung beitragen, noch die Namen ihrer Zulieferer.

Zehn der Hersteller antworteten auf Informationsanfragen: Boodles, Bulgari, Cartier, Chopard, Christ, Harry Winston, Pandora, Signet (das Elternunternehmen von Kay Jewelers, Zales, Ernest Jones und H. Samuel), Tanishq und Tiffany. Drei reagierten nicht: Kalyan, Rolex und TBZ. Auf Grundlage öffentlich zugänglicher und von den Unternehmen zur Verfügung gestellter Informationen bewertet der Bericht die Marken anhand von speziellen Kriterien für verantwortungsvolle Beschaffung, darunter Maßnahmen zur Einschätzung und zum Umgang mit menschenrechtlichen Risiken, transparente Lieferketten und öffentlich zugängliche Berichte über die Aktivitäten des Unternehmens.

Keiner der 13 Hersteller erhielt das Siegel „exzellent“. Tiffany and Co. wurde wegen bedeutender Schritte hin zu verantwortungsvoller Beschaffung als „überzeugend“ eingestuft und vier weitere Unternehmen, Bulgari, Cartier, Pandora und Signet als „angemessen“, da sie einige wichtige Schritte hin zu verantwortungsvoller Beschaffung unternommen haben.

Vier Hersteller – Boodles, Chopard, Christ und Harry Winston – erwiesen sich als „schlecht“, da sie nur wenig für verantwortungsvolle Beschaffung tun. Tanishq wurde als „sehr schlecht“ bewertet, weil nichts darauf hindeutet, dass das Unternehmen sich um verantwortungsvolle Beschaffung bemüht. Die drei Unternehmen, die nicht auf die Anfrage antworteten, wurden nicht gewertet, da sie keine Informationen über ihre Beschaffungsgrundsätze und -praktiken preisgaben.

Darüber hinaus stellt der Bericht fest, dass bestehende Initiativen für verantwortungsvolle Beschaffung wie der Kimberley-Prozess für Diamanten und eine Zertifizierung durch den Responsible Jewellery Council nicht ausreichen, um mit großer Sicherheit davon ausgehen zu können, dass Diamanten oder Gold nicht unter Verletzung von Menschenrechten gefördert wurden. Der Kimberley-Prozess konzentriert sich ausschließlich auf Diamanten, die mit Rebellengruppen in Verbindung stehen, bezieht sich nur auf Rohdiamanten und benennt die Verantwortung von Unternehmen nicht.

Der Responsible Jewellery Council, eine industrienahe Gruppe mit mehr als 1.000 Mitgliedern, hat problematische Standards, Steuerungs- und Zertifizierungssysteme. Der Council sollte seine Standards und Überprüfungspraktiken stärken, um die Messlatte für verantwortungsvolle Beschaffungspraktiken höher zu setzen.

„Zu viele Hersteller verweisen auf ihre Mitgliedschaft im Responsible Jewellery Council als alleinigen Beweis dafür, dass sie Minerale verantwortungsvoll fördern. Aber das reicht nicht, um saubere Lieferketten zu gewährleisten“, sagt Kippenberg.

Während die Praktiken vieler Schmuckhersteller internationalen Standards nicht genügen, gehen einige mit gutem Beispiel voran, dem andere folgen können. Aus den untersuchten Unternehmen sticht Tiffany and Co. heraus, weil es sein Gold bis zur Mine zurückverfolgen kann und die menschenrechtlichen Auswirkungen seiner Geschäftsaktivitäten umfassend prüft. Cartier kauft den gesamten Ertrag einer „Modell“-Goldmine in Honduras. Das Schweizer Schmuckunternehmen Chopard hat mit Kleinstminen-Kooperativen in Lateinamerika an der Verbesserung der Arbeitsbedingungen gearbeitet und bezieht sein Rohmaterial von diesen. Pandora tut sich dadurch hervor, dass es die in seinen Prüfungen identifizierten Menschenrechtsrisiken offen legt.

Eine wachsende Zahl kleiner Schmuckhersteller bemüht sich darum, Gold aus kleinen Minen zu beziehen, in denen die Menschenrechte gewahrt werden, und arbeitet dabei oft mit Nichtregierungsorganisationen zusammen.

„Es macht Mut zu sehen, dass einige Schmuckhersteller, große wie kleine, Schritte in die richtige Richtung machen“, so Kippenberg. „Sie beweisen, dass Veränderung möglich ist.“

Zwei der untersuchten Unternehmen haben zwischenzeitlich zugesagt, konkrete Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Praktiken zu verbessern. Der britische Hersteller Boodles hat begonnen, sich mit seinen Diamanten-Lieferanten über die Frage der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht auszutauschen und eine erste Überprüfung für verantwortungsvolle Beschaffung eingeleitet. Das Unternehmen sagte zu, einen umfassenden Verhaltenskodex für seine Gold- und Diamantenlieferanten zu entwickeln und zu veröffentlichen. Zudem will es ab dem Jahr 2019 Berichte über seine Umsetzung der menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht veröffentlichen und genauere menschenrechtliche Risikoprüfungen durchführen. Der deutsche Schmuckhersteller Christ sagte zu, im Laufe des Jahres 2018 seinen Verhaltenskodex für Lieferanten und andere Informationen über die Umsetzung seiner menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht zu veröffentlichen.

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Human Rights Watch überprüfte 13 Unternehmen anhand von sieben Kriterien für verantwortungsvolle Beschaffung auf Grundlage öffentlich verfügbarer und auf Anfrage übermittelter Informationen.

Alle Schmuckhersteller müssen starke menschenrechtliche Sicherheitsvorkehrungen treffen und öffentlich über ihre Aktivitäten berichten – das fordern zivilgesellschaftliche Gruppen und Gewerkschaften in einem gemeinsamen Aufruf. Auch Human Rights Watch initiierte eine Kampagne, #BehindTheBling, um Druck auf Schmuckhersteller aufzubauen.

Wenn sie Schmuck kaufen, sollten Kunden nachfragen, woher dieser kommen und wie die Weiterverkäufer prüfen, ob in den Herkunftsminen die Menschenrechte eingehalten werden. Kleine Minen haben besonders großes Potential, sich positiv auf ihre Nachbarkommunen auszuwirken.

„Immer mehr Kunden wollen sicher gehen, dass der Schmuck, den sie kaufen, nicht zu Menschenrechtsverletzungen beigetragen hat“, so Kippenberg. „Schmuckhersteller sind es ihren Kunden und den von ihren Aktivitäten betroffenen Kommunen schuldig, ihre Rohmaterialien wirklich verantwortungsvoll zu fördern und eine öffentliche Prüfung ihrer Aktivitäten zuzulassen.“

Kategorien: Menschenrechte

Ägypten: Schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im Nord-Sinai

Human Rights Watch: Folter - Di, 26.05.2020 - 23:01
Mai 28, 2019 Video Egypt: War Crimes in North Sinai

 Human Rights Watch’s two-year investigation documented crimes including mass arbitrary arrests, enforced disappearances, torture, extrajudicial killings, and possibly unlawful air and ground attacks against civilians.

(Beirut) - Ägyptische Militär- und Polizeikräfte begehen auf der Halbinsel Sinai schwere und weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen gegen Zivilisten, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Vergehen erfolgen im Zuge der laufenden Kampagne gegen Mitglieder der Provinzgruppe Sinai, des lokalen ISIS-Ablegers, und stellen in einigen Fällen Kriegsverbrechen dar.

Der134-seitige Bericht ‘If You Are Afraid for Your Lives, Leave Sinai!’: Egyptian Security Forces and ISIS-Affiliate Abuses in North Sinai liefert einen detaillierten Einblick in einen kaum beachteten Konflikt, in dem seit der Eskalation der Kämpfe im Jahr 2013 Tausende Menschen verletzt oder getötet wurden – darunter Zivilisten, Kämpfer und Angehörige der Sicherheitskräfte. Die über zwei Jahre durchgeführten Recherchen von Human Rights Watch dokumentieren Verbrechen wie willkürliche Masseninhaftierungen, Verschleppungen, Folter, außergerichtliche Tötungen und möglicherweise rechtswidrige Angriffe auf Zivilisten durch Luft- und Bodenstreitkräfte. Obwohl ein Großteil der Menschenrechtsverletzungen auf das Konto der ägyptischen Militär- und Polizeikräfte geht, haben auch die extremistischen Milizen grausame Verbrechen verübt, etwa die Entführung, Folter und Ermordung von Anwohnern oder die standrechtliche Hinrichtung gefangengenommener Sicherheitskräfte.  Mai 28, 2019 Report If You Are Afraid for Your Lives, Leave Sinai!

Egyptian Security Forces and ISIS-Affiliate Abuses in North Sinai

„Statt die Bewohner des Sinai in ihrem Kampf gegen die Militanten zu unterstützen, haben die ägyptischen Sicherheitskräfte eine totale Geringschätzung für das Leben der Anwohner an den Tag gelegt und ihren Alltag in einen endlosen Albtraum verwandelt“, so Michael Page, stellvertretender Direktor der Abteilung Naher Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. „Die grausame Behandlung der Bewohner des Sinai sollte ein weiterer Weckruf an Staaten wie die USA und Frankreich sein, die Ägyptens Anti-Terror-Maßnahmen blindlings unterstützen.“

Human Rights Watch interviewte für den Bericht 54 Bewohner des nördlichen Sinai im Zeitraum 2016 bis 2018. Befragt wurden zudem Aktivisten, Journalisten und andere Zeugen, darunter zwei ehemalige Offiziere der Armee, ein Soldat, ein ehemaliger Funktionär aus dem Nord-Sinai und ein ehemaliger Beamter der US-Sicherheitsbehörden, der mit Ägypten betraut war. Human Rights Watch wertete auch unzählige offizielle Erklärungen, Social-Media-Posts, Medienberichte und Dutzende Satellitenfotos aus, um die Zerstörung von Wohngebäuden zu belegen und geheime Hafteinrichtungen des Militärs zu identifizieren. Das ägyptische Militär hat faktisch jede unabhängige Berichterstattung aus Nord-Sinai verboten und mehrere Journalisten, die von dort berichtet hatten, verfolgt und inhaftiert.

Die Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass die Feindseligkeiten auf dem nördlichen Sinai das Niveau eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts erreicht haben, da es zu fortdauernden Kämpfen zwischen organisierten bewaffneten Gruppen kommt. Die Konfliktparteien haben das Kriegsvölkerrecht sowie lokale und internationale Menschenrechtsstandards verletzt.

Indem beide Seiten gezielt Zivilisten angreifen, Menschenrechtsverletzungen verüben und nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten unterscheiden, haben sie grundlegende Rechte der Zivilbevölkerung bedeutungslos gemacht und jeden Freiraum für eine friedliche politische Mobilisierung oder Opposition zerstört.

„Wozu das alles? Sollen wir Waffen tragen? Sollen wir mit den Milizen oder der Armee zusammenarbeiten? Oder sollen wir wie Opfer leben? Alle machen Jagd auf uns“, so ein Anwohner, der gegenüber Human Rights Watch beschrieb, wie die Armee ihn bestrafte und sein Haus zerstörte, nachdem ISIS-Kämpfer ihn entführt und gefoltert hatten.

Offiziellen Erklärungen und Medienberichten zufolge wurden von Januar 2014 bis Juni 2018 3.076 mutmaßliche ISIS-Kämpfer und 1.226 Angehörige von Militär und Polizei durch die Kämpfe getötet. Die ägyptischen Behörden haben keine Zahlen zu zivilen Opfern veröffentlicht oder Fehlverhalten eingeräumt. Human Rights Watch deckte auf, dass die ägyptischen Behörden regelmäßig zivile Opfer zu den getöteten mutmaßlichen Kämpfern gezählt hat und dass Hunderte Zivilisten verletzt oder getötet wurden.

Ausgehend von den Erklärungen des Militärs und der Berichterstattung in den ägyptischen Medien geht Human Rights Watch davon aus, dass Militär- und Polizeikräfte von Juli 2013 bis Dezember 2018 mehr als 12.000 Bewohner vom Nord-Sinai festgenommen haben. Das Militär räumt offiziell 7.300 Verhaftungen ein, veröffentlicht jedoch nur selten Namen oder Tatvorwürfe. Die Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass viele dieser Menschen, willkürlich inhaftiert und gewaltsam verschleppt wurden. Einige wurden außergerichtlich hingerichtet. In den vergangenen Jahren haben vermutlich Tausende Menschen den Regierungsbezirk verlassen, entweder um vor dem Konflikt zu fliehen oder weil sie vom Militär aus ihren Häusern vertrieben wurden.

Nord-Sinai ist ein dünn besiedelter Verwaltungsbezirk mit weniger als 500.000 Einwohnern. Er grenzt an Israel und den Gaza-Streifen. Bewaffnete Gruppen existieren dort seit langem. Seit dem Volksaufstand von 2011, der zum Rücktritt des langjährigen Präsidenten Hosni Mubarak geführt hatte, kam es jedoch immer häufiger zu Angriffen auf staatliche Einrichtungen, Militärkräfte und israelische Truppen.

Als das ägyptische Militär den damaligen Präsident Mohammed Mursi im Juli 2013 zum Rücktritt zwang und verhaftete, eskalierte die Gewalt. Die lokale Miliz Ansar Bait al-Maqdis schloss sich Ende 2014 ISIS an und änderte ihren Namen in Wilayat Sinai (Provinzgruppe Sinai). Daraufhin entsandte die Armee mehr als 40.000 Soldaten der See-, Luft- und Bodenstreitkräfte. Ägypten koordinierte diesen Einsatz mit Israel und soll Israel laut Medienberichten erlaubt haben, Luftangriffe auf Ziele auf dem Sinai zu fliegen, welche der Miliz zugerechnet wurden.

In diesem Bericht dokumentiert Human Rights Watch mindestens 50 willkürliche Festnahmen, darunter 39 Fälle, in denen Militär und Polizei die Betroffenen verschleppte. Vierzehn dieser Personen bleiben auch drei Jahre später unauffindbar.

Die Armee hat Häftlinge in Isolation und unter miserablen Bedingungen festgehalten, weit entfernt von jeder richterlichen Kontrolle. Militär und Polizei haben sogar 12-jährige Kinder zusammen mit Erwachsenen inhaftiert. Frauen wurden üblicherweise getrennt festgehalten. Die Recherchen von Human Rights Watch zeigten, dass die Armee zu jedem beliebigen Zeitpunkt in den vergangenen Jahren vermutlich bis zu 1.000 Personen unter Geheimhaltung auf dem Militärstützpunkt Al-Galaa festgehalten hat. Die Basis ist eine der drei bedeutendsten Hafteinrichtungen, die der Bericht beschreibt.

Ehemalige Häftlinge erklärten, dass sie während der Inhaftierung durch Armee und Polizei schlecht mit Nahrungsmitteln versorgt wurden, es kaum medizinische Versorgung gab und sie in kleinen, überfüllten Zellen untergebracht waren. Soldaten und Polizeibeamte hätten viele Insassen gefoltert, etwa mit Schlägen und Elektroschocks. Human Rights Watch dokumentierte drei Todesfälle im Gewahrsam der Sicherheitskräfte.

Einige der heimlich Inhaftierten wurden ohne Gerichtsverfahren von Militär- und Polizeikräften in die Wüste gebracht und hingerichtet. Später wurde erklärt, die Opfer seien bei Schusswechseln ums Leben gekommen. Human Rights Watch dokumentierte 14 derartige Fälle. Sechs weitere waren bereits vor dem Bericht dokumentiert worden.

Die ägyptische Armee hat Bewohner vom Nord-Sinai zu Milizionären rekrutiert. Diese haben bei den Menschenrechtsverletzungen eine erhebliche Rolle gespielt. Die inoffiziellen und irregulären Milizen unterstützten das Militär, das vor dem Konflikt über keine nennenswerte Erfahrung im Nord-Sinai verfügt hatte, indem sie Informationen lieferten und im Auftrag des Militärs Missionen ausführten. Angehörige der Milizen nutzen ihre faktischen Befugnisse, um willkürlich andere Bewohner zu verhaften, alte Rechnungen zu begleichen und persönliche Streitigkeiten zu regeln. Sie waren zudem an Folter und außergerichtlichen Hinrichtungen beteiligt.

Die Provinzgruppe Sinai, der örtliche ISIS-Ableger, hat sich im nordöstlichsten Winkel des Gouvernements Nord-Sinai festgesetzt und unterhält dort auch nach sechs Jahren andauernder Kämpfe eine Präsenz. Die Kämpfer der Gruppe haben laut Aussage der Befragten schreckliche Verbrechen verübt, darunter die Entführung zahlreicher Anwohner und Angehöriger von Militär und Polizei sowie die außergerichtliche Hinrichtung einiger dieser Personen.

Die wahllosen Angriffe der Provinzgruppe Sinai, etwa durch den Einsatz selbstgebauter Sprengkörper in bewohnten Gebieten, haben Hunderte Zivilisten getötet und viele Anwohner zur Flucht gezwungen. Die Gruppe hat auch gezielt Zivilisten angegriffen. So waren Mitglieder von  Wilayat Sinai wahrscheinlich für einen Angriff auf die Al-Rawda-Moschee im Nord-Sinai verantwortlich, bei dem im November 2017 mindestens 311 Menschen getötet wurden, darunter auch Kinder. Dabei handelte es sich um den tödlichsten Anschlag einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe in Ägyptens neuerer Geschichte. In Teilen von Rafah und Sheikh Zuweid, zweier Städte in Nord-Sinai, führte die Gruppe eigene Scharia-Gerichte ein, die unfaire „Gerichtsverfahren“ leiteten, Kontrollpunkte errichteten und islamische Regeln durchsetzten.

Der UN-Menschenrechtsrat und die Afrikanische Kommission der Menschenrechte und der Rechte der Völker sollen, angesichts der Tatenlosigkeit der ägyptischen Behörden, unabhängige Untersuchungsausschüsse zu den Menschenrechtsverletzungen auf dem Sinai einrichten. Ägyptens internationale Partner sollen unverzüglich jegliche sicherheitspolitische und militärische Unterstützung stoppen und so lange aussetzen, bis Ägypten seine Menschenrechtsverletzungen beendet. Kriegsverbrechen können nach internationalem Recht ohne zeitliche Begrenzung verfolgt werden. In vielen Staaten besteht nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit die Möglichkeit, Personen für Kriegsverbrechen, welche diese in anderen Teilen der Welt begangen haben, festzunehmen und anzuklagen.

„Der ISIS-Ableger im Nord-Sinai verdient weltweite Ächtung und seine abscheulichen Verbrechen müssen verfolgt werden. Doch auch das Vorgehen der Armee, das von ebenso schweren Vergehen geprägt ist, sollte nicht gelobt, sondern aufs Schärfste verurteilt werden“, so Page. „Ägyptens engste Verbündete sollen ihre Unterstützung für diese von Missbrauch geprägte Militärkampagne stoppen, die Tausende Zivilisten ins Verderben gestürzt hat.“

Kategorien: Menschenrechte

Palästina: Behörden zerschlagen Kritik

Human Rights Watch: Folter - Di, 26.05.2020 - 23:01
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Palästinensische Sondereinsatzkräfte gehen gegen Demonstraten vor, die gegen die Zusammenarbeit der Behörden Palästinas und Israels bei Sicherheitsfragen protestieren, Ramallah, 23. Juni 2014. 

© 2014 Mohamad Torokman/Reuters

(Ramallah) - Die von der Fatah geführte Palästinensische Behörde im Westjordanland und die Hamas-Behörden im Gazastreifen verhaften und foltern routinemäßig friedliche Kritiker und Gegner, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Da sich der Konflikt zwischen der Palästinensischen Behörde und der Hamas verschärft hat, haben beide Parteien die Unterstützer der jeweils anderen ins Visier genommen.

Der 149-seitige Bericht „Two Authorities, One Way, Zero Dissent’: Arbitrary Arrest and Torture Under the Palestinian Authority and Hamas“ untersucht wiederkehrende Muster bei Festnahmen und Haftbedingungen im Westjordanland und im Gazastreifen, 25 Jahre nachdem das Oslo-Abkommen den Palästinensern eine gewisse Selbstbestimmung über diese Gebiete eingeräumt und mehr als ein Jahrzehnt nachdem die Hamas de facto die Kontrolle über den Gazastreifen übernommen hat. Human Rights Watch schildert mehr als zwei Dutzend Fälle von Menschen, die festgenommen und inhaftiert wurden, nur weil sie einen kritischen Artikel oder Facebook-Post verfasst hatten oder der falschen Studentengruppe oder politischen Bewegung angehörten.

 „25 Jahre nach Oslo haben die palästinensischen Behörden nur begrenzte Macht im Westjordanland und im Gazastreifen erlangt, dennoch haben sie dort, wo sie autonom sind, parallele Polizeistaaten aufgebaut“, so Tom Porteous, stellvertretender Programmdirektor bei Human Rights Watch. „Aufrufe von palästinensischen Beamten, die Rechte von Palästinensern zu schützen, klingen hohl, wenn gleichzeitig jegliche Kritik zerschlagen wird.“

Human Rights Watch führte Interviews mit 147 Zeugen, darunter ehemalige Häftlinge und ihre Angehörigen, Anwälte und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen. Zudem wertete Human Rights Watch Fotomaterial aus und prüfte medizinische Berichte und Gerichtsdokumente. Der Bericht beinhaltet fundierte Antworten zu den Erkenntnissen der wichtigsten Sicherheitsbehörden, die in Menschenrechtsverletzungen verwickelt sind.

Systematische, willkürliche Festnahme und Folter verstoßen gegen Menschenrechtsabkommen, denen Palästina kürzlich beigetreten ist. Nur wenige Sicherheitsbeamte wurden strafrechtlich verfolgt und keiner wurde wegen unrechtmäßiger Verhaftung oder Folter verurteilt, soweit Human Rights Watch feststellen konnte.

Die Europäische Union, die Vereinigten Staaten und andere Regierungen, welche die Palästinensische Behörde und die Hamas finanziell unterstützen, sollen die Hilfe für die spezifischen Einheiten oder Agenturen, die an weit verbreiteten willkürlichen Verhaftungen und Folterungen beteiligt sind, aussetzen, bis die Behörden diese Praktiken unterbinden und die Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen.

„Dass Israel systematisch die Grundrechte der Palästinenser verletzt, ist kein Grund dafür, zu schweigen angesichts der systematischen Unterdrückung von Dissens und der Folter durch palästinensische Sicherheitskräfte“, so Shawan Jabarin, Vorsitzender der palästinensischen Menschenrechtsorganisation al-Haq und Mitglied des Advisory Boards von Human Rights Watch für den Nahen Osten und Nordafrika.

Human Rights Watch traf sich mit den Nachrichtendiensten der Palästinensischen Behörde in Ramallah. Ein Angebot der Hamas-Behörden für ein Treffen in Gaza konnte nicht wahrgenommen werden, da Israel sich weigerte, leitende Human Rights Watch-Mitarbeiter deshalb in den Gazastreifen einreisen zu lassen. Zudem haben die israelischen Behörden eine Anfrage von Human Rights Watch zurückgewiesen, hochrangige Vertreter im Oktober 2018 in den Gazastreifen einreisen zu lassen, um den Bericht bei einer Pressekonferenz vorzustellen.

Beide Behörden beharren darauf, dass es sich bei Menschenrechtsverletzungen lediglich um Einzelfälle handelt, die untersucht werden und für welche die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Die Belege, die Human Rights Watch gesammelt hat, widersprechen diesen Behauptungen jedoch.

Die palästinensischen Behörden berufen sich häufig auf sehr weit gefasste Gesetze, wonach die Beleidigung „höherer Autoritäten“ unter Strafe steht, wenn diese zu „konfessionellen Unruhen“  führt oder „der revolutionären Einheit schadet“, um Dissidenten tage- oder wochenlang festzuhalten. Die meisten werden dann wieder freigelassen, ohne dass sie vor Gericht gestellt werden, doch die Anklagepunkte bleiben weiter erhalten. Die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Behörde hielten zudem 221 Palästinenser über diverse Zeiträume zwischen Januar 2017 und August 2018 ohne Anklage oder Gerichtsverfahren auf Anordnung eines Regionalgouverneurs in Verwaltungshaft, so die palästinensische Überwachungsbehörde Independent Commission for Human Rights. 

Eine Reihe ehemaliger Gefangener der Palästinensischen Behörde, die von Human Rights Watch befragt wurden, waren auch von Israel festgenommen worden, das sich mit den Sicherheitskräften der Palästinensischen Behörde in Sicherheitsfragen abstimmt. In Gaza verlangen die Hamas-Behörden bisweilen von Häftlingen, eine Erklärung zu unterzeichnen, mit der sie sich verpflichten, jegliche Kritik oder Proteste einzustellen.

Am 27. September berichtete die Unabhängige Menschenrechtskommission, dass Sicherheitskräfte der Hamas in Gaza mehr als 50 mit der Fatah verbundene Personen verhaftet hatten und dass Beamte der Palästinensischen Behörde im Westjordanland innerhalb weniger Tage mehr als 60 mit der Hamas verbundene Personen festgenommen hatten.

In den dokumentierten Fällen wurden die Gefangenen von palästinensischen Sicherheitskräften bedroht und geschlagen. Zudem wurden sie gezwungen, über längere Zeiträume in schmerzhaften Positionen zu verharren. Hierfür wurden u.a. Kabel oder Stricke verwendet, um die Arme der Gefangenen hinter dem Rücken hochzuheben und zu fixieren.  Die Polizei wendete oft ähnliche Methoden an, um Geständnisse von Personen zu erzwingen, die wegen Drogendelikten oder anderer Vorwürfe inhaftiert waren. Die Sicherheitskräfte zwangen die Gefangenen auch routinemäßig dazu, ihnen Zugang zu ihren Mobiltelefonen und Social Media Accounts zu gewähren. Diese Maßnahmen scheinen darauf abzielen, Dissidenten zu bestrafen und sie und andere von weiteren Aktivitäten abzuhalten.

Während die Behörden regelmäßig Bürgerbeschwerden erhalten und über Systeme zu deren Untersuchung verfügen, hat nach Angaben der Behörden nur eine Minderheit zu einer Feststellung von Fehlverhalten geführt. Noch weniger führten zu einer administrativen Sanktion oder einer Strafverfolgung.

Die palästinensischen Behörden sollen sich an die internationalen Menschenrechtsabkommen halten, denen sie in den letzten fünf Jahren beigetreten sind. Die Behörden der Hamas sagten in einem Schreiben an Human Rights Watch, dass sie sich in der Pflicht sähen, alle vom Staat Palästina ratifizierten internationalen Verträge zu respektieren. Die Einhaltung dieser Verträge verpflichtet die palästinensischen Behörden dazu, dafür zu sorgen, dass eine unabhängige Stelle die Hafteinrichtungen inspiziert und dass die Behörden Beschwerden ernsthaft untersuchen und gegebenenfalls geeignete Sanktionen verhängen.

Die systematische Folter durch palästinensische Behörden könnte einem vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) strafbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen. Schon seit geraumer Zeit ermutigt Human Rights Watch die Anklägerin des IStGH, eine formelle Untersuchung des israelischen und palästinensischen Verhaltens in Palästina, das dem IStGH beigetreten ist, einzuleiten.

Die USA und europäische Staaten unterstützen die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Behörde. Die USA haben 2018 die Mittel für Gesundheits- und Bildungsleistungen für Palästinenser, einschließlich ihrer gesamten Unterstützung für das Hilfswerk der Vereinten Nationen (UNRWA), gekürzt. Die USA leisten jedoch weiter nichtletale Unterstützungsmaßnahmen für die palästinensische Sicherheitskräfte im Bereich International Narcotics Control and Law Enforcement (INCLE), darunter 60 Millionen Dollar für das Haushaltsjahr 2018  und 35 Millionen Dollar für das Haushaltsjahr 2019 . Katar, Iran und die Türkei unterstützen die Hamas-Behörden finanziell. Diese Länder sollen die Unterstützung für Behörden und Agenturen aussetzen, die routinemäßig Dissidenten foltern. Zu den betroffenen Agenturen der Palästinensischen Behörde gehören der Nachrichtendienst und der Präventions- und Sicherheitsausschuss und für die Hamas die Agentur für Innere Sicherheit. Die Unterstützung soll solange ausgesetzt werden, wie systematische Folter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen andauern.  

„Die Angriffe der Palästinensischen Behörde und der Hamas gegen Dissidenten und Demonstranten, Reporter und Blogger haben System und niemand wird für sie zur Rechenschaft gezogen“, so Porteous. „Wenn Regierungen dem palästinensischen Volk beim Aufbau eines Rechtsstaates helfen wollen, dann sollten sie keine Sicherheitskräfte unterstützen, die einen Rechtsstaat aktiv untergraben.“

Berichte von ehemaligen Häftlingen

„Ich war auf dem Weg nach Hause. Am Einab-Kontrollpunkt sah ich zufällig den Konvoi des Premierministers, der am Kontrollpunkt aufgehalten wurde. Ich habe diese Szene gefilmt. Nachdem mein Wagen und der Konvoi den Kontrollpunkt passieren durften, wurden wir von einer seiner Eskorten angehalten. Ich wurde verhaftet und zur Station der Präventiven Sicherheitskräfte in Tulkarm gebracht. Ich wurde in Tulkarm und in Ramallah vier Tage lang festgehalten.“ 

  • Jihad Barakat, 29, Journalist, über seine Verhaftung durch die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Behörde im Westjordanland im Juli 2017.

„Ich hatte an einem heißen Sommertag geschrieben: „Schlafen Ihre Kinder [Bezug nehmend auf die Führer der Hamas] auf dem Boden wie unsere?“ Ich glaube, dieser Post hat die Sicherheitskräfte gestört, und deshalb wurde ich vor die Behörde für Innere Sicherheit zitiert und später wegen „Missbrauch von Technologie“ angeklagt.... Ich wurde 15 Tage lang festgehalten.... Später wurde ich nach einer Vereinbarung mit dem Innenministerium entlassen. In dieser Vereinbarung verpflichtete sich mich dazu, nicht negativ über die Regierung zu schreiben oder gegen sie zu hetzen.“

  • Amer Balousha, 26-jähriger Aktivist und Journalist über seine Verhaftung im Juli 2017 durch die Hamas-Behörden in Gaza.

„Ein Zivilbeamter traf mich an der Tür [des Geheimdienstgefängnisses in Jericho]. Er verband mir die Augen, fesselte meine Hände hinter meinem Rücken und fing an, mich zu schlagen und gegen die Wände zu schubsen... das dauerte etwa 10 Minuten. Der Beamte brachte mich zum Büro des Direktors, nahm mir die Augenbinde ab und sagte mir, dass dies mein „Willkommen“ sei......  [ein Beamter] sagte dann: Hängt ihn auf, also bringt ihn nach Shabeh. Ich wurde vom Büro zu den Toiletten gebracht, dort haben sie mir wieder die Augen verbunden, meine Hände hinter meinem Rücken mit Handschellen gefesselt, ein Stück Stoff und Seil in die Mitte der Handschellen gelegt und es zur Seite der Tür gezogen. Es gab einen Haken zwischen der Tür und der Decke. Sie zogen das Tuch hoch und hoben meine Hände hinter meinem Rücken. Meine Beine waren nicht gefesselt und meine Fußspitzen berührten den Boden. Ich musste 45 Minuten lang in dieser Position ausharren. Ein Beamter schlug mir mit einem großen Stock auf den Rücken, zwischen die Schultern, mehr als einmal..... Nachdem sie mich wieder runtergelassen hatten, fühlte ich, dass meine Hände bis zu meinen Schultern taub waren, und ich konnte mich nicht auf dem Beinen halten....[am nächsten Tag] sagte mir der Entsafter (Spitzname für seinen Vernehmer in Jericho): „Ich verspreche dir, dass du diesen Ort nicht verlassen wirst und wenn doch, dann nur im Rollstuhl“.

  • Alaa Zaqeq, 27, wurde im April 2017 von den Sicherheitskräften der PA aufgrund seiner Aktivitäten als Absolvent mit einer der Hamas angeschlossenen Studentengruppe für drei Wochen festgehalten.

„Ich wurde gezwungen, den ganzen Tag mit verbundenen Augen in einem Raum namens Bus zu stehen. Es waren 5 oder 10 Leute mit mir in dem Raum. Gelegentlich setzten sie uns auf kleine Stühle, aber wir brauchten die Erlaubnis für alles, was wir taten, auch für das Schlafen oder Sprechen. Ich verbrachte 30 Tage dort.... Nach dem ersten Tag begannen die Schläge. Ich musste meine Hände öffnen und sie fingen an, mich mit einem Seil zu schlagen und meine Füße auszupeitschen.“

  • Fouad Jarada, 34-jähriger Journalist der Palestinian Broadcasting Corporation, wurde im Juni 2017 von den Hamas-Kräften verhaftet, drei Tage nach einem Facebook-Post von ihm, in dem er sich kritisch über einen Hamas-Verbündeten äußerte, und einer Reihe kritischer Nachrichtenberichte. Die Behörden hielten ihn mehr als zwei Monate lang fest. Ihm wurde vorgeworfen, die revolutionäre Einheit „zu schädigen“. Er wurde erst freigelassen, als die PA zustimmte, Journalisten im Westjordanland zu verhaften, die der Hamas nahestehen.

 „Ich habe immer noch Albträume...[dass] die Zelle mich erwürgt und ich nicht atmen kann.“

  • Fares Jbour, 24, wurde im Januar 2017 für 24 Tage festgehalten aufgrund seiner Aktivitäten mit einer der Hamas angeschlossenen Studentengruppe an einer Universität in Hebron im Westjordanland. 

 „Die Jungs haben Angst vor dem Schreiben. Sie versuchen nichts. Sie teilen nichts. Sie klicken nicht mal „Gefällt mir“, wenn jemand etwas Regierungskritisches schreibt. Sie haben Angst.“ 

  • Mohammad Lafi, 24-jähriger Rapper aus dem Flüchtlingslager Jabalia in Gaza, wurde im Januar 2017 von den Hamas-Behörden für fünf Tage festgehalten, nachdem er ein Musikvideo mit dem Titel „Your Right“ veröffentlicht hatte, in dem Menschen aufgefordert wurden, gegen die Stromkrise zu demonstrieren, und er selbst an entsprechenden Protesten teilgenommen hatte.

„Ich spüre förmlich, dass ich überwacht werde, als läge ich unter einem Mikroskop. Ich wurde zwar freigelassen, aber bis jetzt habe ich das Gefühl, dass ich nicht wirklich frei bin. Sie haben unseren Wunsch gebrochen, die Rechte der Bürger zu verteidigen.“ 

  • Taghreed Abu Teer, 47-jähriger Journalist der Palestinian Broading Corporation, wurde im April 2017 von den Hamas-Behörden für 11 Tage festgehalten, nachdem er an Konferenzen der Fatah in Ramallah teilgenommen hatte.

„Ich lebe in einem Land, in dem es mir verboten ist, meine Meinung zu äußern. Dieses Land ist nicht das Land, von dem wir träumen, überhaupt nicht. Ich glaube nicht, dass es einen Palästinenser gibt, der akzeptieren würde, dass dieser Kampf enden würde, und all die Jahre unseres Lebens, nicht nur unseres, sondern auch derer vor uns, so dass wir am Ende ein Regierungssystem haben, das die Form einer Diktatur angenommen hat. Das darf nicht sein... es ist sehr schmerzhaft, dass wir ein Regime haben, bevor wir jemals einen Staat hatten. Unser Problem mit der PA ist, dass sie Sicherheitskräfte aufbauen und Menschen kontrollieren, obwohl wir nicht einmal den Kontrollpunkt kontrollieren.“

  • Hamza Zbeidat, 31-jähriger Mann, der für eine nichtstaatliche Entwicklungsgruppe arbeitet, wurde im Mai 2016 von den Sicherheitskräften der PA für zwei Tage festgehalten aufgrund eines Facebook-Posts, in dem die Palästinenser aufgefordert wurden, „gegen die PA zu kämpfen, so wie wir gegen Israel kämpfen“.
Kategorien: Menschenrechte

VIDEO: Aquarius - Ein Rettungsschiff, Das im Mittelmeer Leben Rettet

Human Rights Watch: Folter - Di, 26.05.2020 - 23:01

Seit 2014 haben Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eine tödliche Lücke in der Seenotrettung geschlossen und patrouillieren in internationalen Gewässern in Nähe der 12-Seemeilen-Linie, die die libyschen Hoheitsgewässer markiert - es ist genau das Gebiet, in dem überfüllte, seeuntaugliche Boote am wahrscheinlichsten in Seenot geraten.

Nachdem 2015 immer mehr Menschen über das Mittelmeer kamen, wurden von den europäischen Regierungen Maßnahmen beschlossen, durch die Menschen unter dem Deckmantel der Rettung von Menschenleben in katastrophalen Bedingungen festgehalten werden. Im Oktober 2016 begannen europäische Einheiten, Truppen der libyschen Küstenwache, die von der Regierung der nationalen Einheit (GNA) kontrolliert werden, zu trainieren. Diese Regierung gehört zu einer der beiden miteinander konkurrierenden Allianzen, die Regierungsansprüche in Libyen geltend machen. Im Februar verstärkte Italien, mit Unterstützung der EU, die Bemühungen, libysche Einsatzkräfte so auszustatten und auszubilden, dass sie Boote abfangen und Menschen nach Libyen zurückführen können. Zugleich schränkten sie auch die Arbeit von NGOs ein, die lebenswichtige Such- und Rettungseinsätze durchführten.

Kategorien: Menschenrechte

Irak: Fehler und Probleme bei Verfahren gegen mutmaßliche ISIS-Mitglieder

Human Rights Watch: Folter - Di, 26.05.2020 - 23:01

(Bagdad) – Die irakische Regierung und die Regionalregierung von Kurdistan führen Tausende Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder des Islamischen Staates, ohne systematisch den unter irakischem Recht und Völkerrecht schwersten Verbrechen Vorrang einzuräumen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Das planlose Vorgehen und die grassierenden Verfahrensfehler können dazu führen, dass schwerste Menschenrechtsverletzungen während der ISIS-Besatzung in einigen Teilen des Iraks nicht verfolgt werden.

Dezember 5, 2017 Report Flawed Justice

Accountability for ISIS Crimes in Iraq

Der 76-seitige Bericht „Flawed Justice: Accountability for ISIS Crimes in Iraq“ untersucht die Überprüfung, Inhaftierung, Ermittlung und strafrechtliche Verfolgung einiger der Tausenden mutmaßlichen Mitglieder des Islamischen Staates (auch bekannt als ISIS) im Irak. Dabei traten schwere juristische Probleme zutage, die die Bemühungen unterminieren können, ISIS-Mitglieder zur Verantwortung zu ziehen. Insbesondere hat der Irak keinerlei Strategie, um eine glaubwürdige Strafverfolgung der für die schwersten Verbrechen verantwortlichen Personen zu gewährleisten. Stattdessen werden unter Anti-Terror-Gesetzen sämtliche Personen verfolgt, die selbst minimalster Verbindungen zu ISIS verdächtig sind. Dieses Vorgehen droht, sowohl zukünftige, kommunale Aussöhnungs- und Wiedereingliederungsprozesse negativ zu beeinträchtigen, als auch die Gerichte und Gefängnisse jahrzehntelang zu überlasten.

„Die ISIS-Prozesse sind eine verpasste Chance, der Bevölkerung, der Welt und auch ISIS zu beweisen, dass der Irak ein Rechtsstaat ist, in dem Verfahrensgarantien und Gerechtigkeit herrschen, die Verantwortlichen für schwerste Verbrechen vor Gericht gebracht werden und allen von diesem Krieg betroffenen Gemeinschaften Aussöhnung ermöglicht wird“, so Sarah Leah Whitson, Leiterin der Abteilung Naher Osten von Human Rights Watch. „Der irakischen Justiz gelingt es nicht, zwischen der Schuld zu unterscheiden, die Ärzte auf sich geladen haben, wenn sie unter der Herrschaft von ISIS Leben retteten, und der, die die Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit trifft.“

Der Bericht wird mit Regierungsangehörigen in Erbil und Bagdad diskutiert werden. Er basiert auf Informationen, die im Zeitraum November 2016 bis Juli 2017 in Erbil, im Gouvernement Ninawa und in Bagdad gesammelt wurden. Dazu wurden Gefängnisse besucht, in denen Tausende mutmaßliche ISIS-Mitglieder inhaftiert sind, sowie Gerichte in Ninawa, Bagdad und Erbil, in denen Prozesse gegen solche Personen geführt wurden. Zudem wurden führende Beamte der irakischen Regierung und der Regionalregierung von Kurdistan befragt, sowie mindestens 100 Familien mutmaßlicher ISIS-Mitglieder, Dutzende Personen, die unter der Herrschaft von ISIS Opfer schwerster Verbrechen wurden oder Angehörige verloren haben, Vertreter internationaler Nichtregierungsorganisationen, die zum irakischen Justizsystem arbeiten, Anwälte und anderen Rechtsexperte.

Das zentrale Ergebnis des Berichts ist, dass die irakische Regierung und die Regionalregierung von Kurdistan der Strafverfolgung schwerster Menschenrechtsverbrechen und Anklagen, die das volle Spektrum der Verbrechen von ISIS abbilden, nicht systematisch Vorrang einräumen. Augenscheinlich ermitteln die Behörden unter Anti-Terror-Gesetzen gegen alle Verdächtigen, die sich in ihrem Gewahrsam befinden, und legen ihnen vorrangig eine ISIS-Mitgliedschaft zur Last, statt sich auf konkrete Handlungen und Verbrechen zu konzentrieren.

Gegen mindestens 7.374 Personen wurden seit dem Jahr 2014 solche Anklagen erhoben, 92 wurden zum Tode verurteilt oder hingerichtet. Insgesamt befinden sich schätzungsweise 20.000 Personen wegen mutmaßlichen Verbindungen zu ISIS in Haft, eine Zahl, die auf Informationen von Regierungsangehörigen beruht.

Der Bericht weist auf mögliche verfahrensrechtliche Probleme bei der Überprüfung von Personen hin, die von ISIS kontrollierte Gebiete verlassen. Das betrifft beispielsweise die Art, wie Listen von Verdächtigen geprüft werden, die Sicherheitskräfte vor Ort erstellt haben. Personen, die fälschlicherweise als Verdächtige identifiziert werden, bleiben teilweise monatelang in Willkürhaft.

Darüber hinaus halten die irakischen Behörden mutmaßliche ISIS-Mitglieder in überfüllten Einrichtungen und zum Teil unter unmenschlichen Bedingungen fest. Minderjährige werden nicht getrennt von erwachsenen Häftlingen untergebracht. Zudem ignorieren Beamte das Recht auf ein faires Verfahren, auch die im irakischen Recht verbrieften Rechte darauf, innerhalb von 24 Stunden von einem Richter angehört zu werden, während Befragungen Zugang zu einem Anwalt zu haben, Familien über eine Inhaftierung zu informieren und Familienangehörigen zu gestatten, mit den Gefangenen zu kommunizieren. Einige Gefangenen warfen den Behörden außerdem Folter vor, um sie dazu zu zwingen, ihre angebliche ISIS-Mitgliedschaft zu gestehen.

Unter den übermäßig breiten Anti-Terror-Gesetzen, auf deren Grundlage die irakische Regierung und die Regionalregierung von Kurdistan mutmaßliche ISIS-Mitglieder verfolgen, können Richter Anklagen gegen Personen erheben, denen keine konkreten Verbrechen, sondern ausschließlich Verbindungen zu oder Unterstützung von ISIS vorgeworfen wird. Von solchen Anklagen sind auch Personen betroffen, die in von ISIS geführten Krankenhäusern gearbeitet haben, sowie Köche, die Essen für Kämpfer zubereitet haben. Auf Verstöße gegen die Anti-Terror-Gesetze stehen harte Strafen, darunter lebenslange Haft oder die Todesstrafe, auch für eine bloße ISIS-Mitgliedschaft.

„Gestern habe ich den Fall eines ISIS-Kochs bearbeitet, und ich habe empfohlen, ihn mit dem Tode zu bestrafen. Wie hätten die ISIS-Kämpfer Menschen hinrichten können, wenn sie nicht am Abend zuvor eine ordentliche Mahlzeit bekommen hätten?“, so ein führender Richter aus der Terrorismusbekämpfung.

Mutmaßliche ISIS-Mitglieder wegen Verstößen gegen Anti-Terror-Gesetze anzuklagen statt wegen konkreter Verbrechen unter dem Strafgesetzbuch ist aus beweistechnischer Sicht oft einfacher, insbesondere bei Verbrechen, die inmitten des chaotischen Kriegsgeschehens verübt wurden. Aber dieses Vorgehen erschwert es, den schwersten Verbrechen Vorrang einzuräumen, sie zu ahnden und ein umfassendes, rechtliches Bild der Gräueltaten zu zeichnen, die ISIS im Irak verübt hat. Zudem bemühen sich die Behörden nicht darum, den Opfern zu ermöglichen, an den Prozessen teilzunehmen, nicht einmal als Zeugen.

Wenn mutmaßliche ISIS-Mitglieder belegen können, dass sie der Organisation gegen ihren Willen beigetreten sind und an keinem Verbrechen beteiligt waren, haben sie unter Umständen das Recht darauf, nach ihrer Verurteilung entlassen zu werden. Das Gesetz über Generalamnestie vom August 2016 (Nr. 27/2016) sieht das vor, aber die Richter wenden es nicht konsequent an. Die Regionalregierung von Kurdistan hat kein Amnestiegesetz für mutmaßliche oder verurteilte ISIS-Mitglieder erlassen und hat dies Sprechern zufolge auch nicht geplant.

Die Behörden sollen der Strafverfolgung schwerster Verbrechen jeglicher Art Vorrang einräumen. Außerdem sollen sie für diejenigen Personen, deren einziges Vergehen ihre ISIS-Mitgliedschaft war, Alternativen zur Strafverfolgung ausloten, etwa die Teilnahme an landesweiten Wahrheitsfindungsprozessen.

Mindestens sollen sie die Verfahren gegen Personen fallen lassen, deren Tätigkeiten unter ISIS-Herrschaft zum Schutz der Menschenrechte von Zivilisten beitrugen, etwa Personen, die im Gesundheits- oder Sozialwesen arbeiteten. Insbesondere für Kinder sollen die Behörden Alternativen zu Inhaftierung und Strafverfolgung finden und Rehabilitierungs- und Wiedereingliederungsprogramme entwickeln, um ihre Rückkehr in die Gesellschaft zu unterstützen.

„Das irakische Amnestiegesetz ersetzt keine landesweite Strategie, die faire Verfahren gewährleistet und Alternativen zu einer Strafverfolgung von Personen entwickelt, die nicht an den Gewaltakten und schweren Verbrechen von ISIS beteiligt waren“, sagt Whitson. „Der Irak braucht genauso dringend einen Plan für Wahrheits- und Versöhnungsprozesse wie einen Plan dafür, wie die schlimmsten Verbrecher hinter Gitter gebracht werden sollen.“

Kategorien: Menschenrechte

Ägypten: Grassierende Folter möglicherweise Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Human Rights Watch: Folter - Di, 26.05.2020 - 23:01
Aufklappen Sicherheitskräfte überwachen den Tahrir Platz am 5. Jahrestag des Aufstands, durch den die 30-jährige Herrschaft Hosni Mubaraks beendet wurde, Kairo, Ägypten. © 2016 Mohamed Abd El Ghany/Reuters

(Beirut) – Unter Präsident Abdel Fattah al-Sisi foltern ägyptische Polizisten und Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsdienstes regelmäßig Gefangene mit Methoden wie Schlägen, Elektroschocks, Stresspositionen und manchmal Vergewaltigungen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 63-seitige Bericht „‘We Do Unreasonable Things Here’: Torture and National Security in al-Sisi’s Egypt“ kommt zu dem Ergebnis, dass die weit verbreitete und systematische Folter durch Sicherheitskräfte möglicherweise ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellt. Die Staatsanwaltschaft ignoriert es in der Regel, wenn sich Gefangene über Misshandlungen beschweren. Manchmal droht sie ihnen auch Folter an, so dass ein Klima nahezu vollständiger Straflosigkeit entsteht.

„Präsident al-Sisi hat der Polizei und dem Nationalen Sicherheitsdienst de facto grünes Licht dafür gegeben, nach Gutdünken zu foltern“, sagt Joe Stork, stellvertretender Leiter der Abteilung Naher Osten bei Human Rights Watch. „Die Straflosigkeit für systematische Folter hat dazu geführt, dass die Bürger nicht mehr auf Gerechtigkeit hoffen können.“

Der Bericht dokumentiert, dass Sicherheitskräfte, insbesondere Mitarbeiter des Nationalen Sicherheitsdienstes, die dem Innenministerium unterstehen, Verdächtige foltern, um sie zu Geständnissen oder zur Herausgabe von Informationen zu zwingen oder sie zu bestrafen. Seit der damalige Verteidigungsminister al-Sisi den ehemaligen Präsidenten Mohammed Mursi im Jahr 2013 aus dem Amt putschte und begann, massiv Grundrechte einzuschränken, werden immer wieder Foltervorwürfe erhoben. Folter ist seit langer Zeit ein großes Problem im ägyptischen Strafverfolgungssystem. Die ausufernden Menschenrechtsverletzungen durch Sicherheitskräfte waren eine der Ursachen für die landesweiten Massenproteste im Jahr 2011, in deren Zuge Hosni Mubarak nach 30-jähriger Präsidentschaft zurücktrat.

Human Rights Watch befragte 19 ehemalige Gefangene und Familienangehörige eines weiteren Häftlings, die zwischen 2014 und 2016 gefoltert wurden, sowie ägyptische Verteidiger und Menschenrechtsanwälte. Darüber hinaus wurden Dutzende Berichte über Folter untersucht, die ägyptische Menschenrechtsgruppen und Journalisten verfasst haben. Die im Bericht dokumentierten Foltermethoden wurden in Polizeistationen und Einrichtungen des Nationalen Sicherheitsdienstes im ganzen Land angewandt. Über Jahre hinweg griffen die Verantwortlichen auf beinahe identische Methoden zurück.

Völkerrechtlich handelt es sich bei Folter um ein Verbrechen, auf das das Weltrechtsprinzip angewandt werden kann, das heißt, es kann in allen Staaten untersucht werden. Staaten sind dazu verpflichtet, alle Personen in ihrem Hoheitsgebiet zu verhaften und gegen diese zu ermitteln, wenn ein glaubwürdiger Verdacht besteht, dass sie an Folter beteiligt gewesen sind. Verdächtige müssen entweder in dem Land vor Gericht gestellt werden, in dem sie aufgegriffen werden, oder sie müssen zu diesem Zweck an einen anderen Staat ausgeliefert werden.

September 5, 2017 Report “We Do Unreasonable Things Here”

Torture and National Security in al-Sisi's Egypt

Seit dem Militärputsch 2013 haben die ägyptischen Behörden mindestens 60.000 Personen verhaftet oder angeklagt. Hunderte verschwanden monatelang, gegen weitere Hunderte wurden vorläufige Todesurteile verhängt, und Tausenden Zivilisten wurde vor Militärgerichten der Prozess gemacht. Mindestens 19 neue Gefängnisse wurden wegen der gewaltigen Gefangenenzahlen geschaffen. Das Hauptziel dieser Repressionen ist die Muslimbruderschaft, die größte oppositionelle Bewegung im Land.

Das Innenministerium begeht massive Menschenrechtsverletzungen am Fließband, um an Informationen über mutmaßliche Dissidenten zu gelangen und oft fingierte Verfahren gegen sie einzuleiten. Das beginnt mit willkürlichen Verhaftungen und setzt sich in Folter und Befragungen in der Zeit fort, in der die Betroffenen „verschwunden“ sind. Am Ende werden die Betroffenen Staatsanwälten vorgestellt, die häufig Druck auf sie ausüben, ihre Geständnisse zu bestätigen und Misshandlungen fast nie untersuchen.

Den ehemaligen Gefangenen zufolge beginnt die Folter damit, dass die Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes einen nackten, gefesselten Verdächtigen, dessen Augen verbunden sind, mit Elektroschocks quälen, während sie ihn ohrfeigen, schlagen oder mit Stöcken und Metallstangen verprügeln. Wenn der Verdächtige den Beamten nicht die Antworten gibt, die sie wollen, erhöhen diese die Stärke und die Dauer der Elektroschocks und wenden diese nahezu immer an den Genitalien des Betroffenen an.

Daraufhin nutzen die Beamten zwei Arten von Stresspositionen, um den Verdächtigen starke Schmerzen zuzufügen, so die Befragten. Bei der ersten hängen sie die Verdächtigen an nach hinten gezogenen Armen auf, eine unnatürliche Haltung, die schreckliche Schmerzen im Rücken und in den Schultern verursacht und manchmal die Schultern ausrenkt. Bei der zweiten, die als „Huhn“ oder „Grill“ bezeichnet wird, platzieren die Beamten die Knie und Arme der Verdächtigen auf entgegengesetzten Seiten einer Stange, so dass diese auf der Ellenbeuge und der Innenseite der Knie aufliegt. Die Hände der Betroffenen werden über den Schienbeinen zusammengebunden. Wenn die Beamten die Stange anheben und die Verdächtigen wie ein Huhn auf einem Spieß aufhängen, erleiden sie unfassbare Schmerzen an Schultern, Knien und Armen.

Die Sicherheitsbeamten halten Gefangene stundenlang in diesen Stresspositionen fest und versetzen ihnen während der Verhöre weiter Schläge und Elektroschocks.

„Khaled“, ein 29-jähriger Betroffener, berichtete, dass ihn Beamte des Nationalen Sicherheitsdienstes im Januar 2015 in Alexandria verhafteten und in die örtliche Zweigstelle des Innenministeriums brachten. Sie sagten ihm, er solle zugeben, sich an Brandanschlägen auf Polizeiautos im Vorjahr beteiligt zu haben. Als er leugnete, irgendetwas über diese Anschläge zu wissen, entkleidete ihn einer der Beamten und begann, ihn mit Kabeln Stromschläge zuzufügen. Die Folter und die Befragungen unter schweren Elektroschocks und Stresspositionen dauerten knapp sechs Tage an, während denen Khaled keinerlei Kontakt zu seinen Angehörigen oder Anwälten aufnehmen durfte. Die Beamten zwangen ihn, ein vorgefertigtes Geständnis vorzulesen, wobei sie ihn filmten. Es besagte, er habe auf Anordnung der Muslimbruderschaft Polizeiautos angezündet.

Nach zehn Tagen befragte ein Team Staatsanwälte Khaled und andere Gefangene. Als Khaled einem Staatsanwaltschaft sagte, dass er gefoltert wurde, antworte der Staatsanwalt, dass ihn das nichts angehe. Er befahl Khaled, das auf Video aufgezeichnete Geständnis zu wiederholen, andernfalls würde er zurückgeschickt und erneut gefoltert.

„Man ist ihnen komplett ausgeliefert. ‚Egal was wir sagen, du wirst es tun.‘ Sie verpassten mir Stromschläge am Kopf, am Hoden, unter den Armen. Sie haben Wasser heiß gemacht und mich damit überschüttet. Immer, wenn ich ohnmächtig wurde, haben sie das gemacht“, erinnert sich Khaled.

Die Anwendung von Folter in Ägypten geht mehr als drei Jahrzehnte zurück. Human Rights Watch hat die Foltermethoden, die im vorliegenden Bericht geschildet werden, bereits im Jahr 1992 dokumentiert. Ägypten ist außerdem das einzige Land, gegen das der UN-Ausschuss gegen Folter zwei öffentliche Untersuchungen durchführte. Im Juni 2017 schrieb das Gremium, dass die von ihm zusammengetragenen Beweise „unausweichlich zu dem Schluss führen, dass Folter in Ägypten systematisch angewandt wird“.

Seit das Militär den ehemaligen Präsidenten Mursi im Jahr 2013 absetzte, haben die Behörden die Repressionsinstrumente wieder eingeführt und ausgeweitet, die Mubaraks Regime charakterisierten. Die Regelmäßigkeit, mit der Folter seit dem Jahr 2013 angewandt wird, und die Straflosigkeit, mit der das geschieht, haben ein Klima geschaffen, in dem die Misshandlungsopfer keine Hoffnung darauf haben, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Nur selten reichen sie überhaupt Beschwerde bei der Staatsanwaltschaft ein.

Zwischen Juli 2013 und Dezember 2016 hat die Staatsanwaltschaft mindestens 40 Folter-Fälle offiziell untersucht - einen Bruchteil der tatsächlich vorgebrachten Vorwürfe. Human Rights Watch liegen nur sechs Fälle vor, in denen Staatsanwälte Schuldsprüche gegen Beamte des Innenministeriums erwirkt haben. Gegen all diese Urteile wurde Berufung eingelegt und nur ein Urteil betraf den Nationale Sicherheitsdienst.

Al-Sisi soll das Justizministerium damit beauftragen, einen unabhängigen Sonderstaatsanwalt einzusetzen, der befugt ist, Hafteinrichtungen zu besuchen, Menschenrechtsverletzungen der Sicherheitskräfte zu untersuchen und zu verfolgen, und Berichte über die von ihm ergriffenen Maßnahmen veröffentlicht. Sollte die Regierung al-Sisi nicht ernsthaft gegen die grassierende Folter vorgehen, sollen andere UN-Mitgliedstaaten gegen ägyptische Beamte ermitteln und strafrechtlich verfolgen, denen die Durchführung, Anordnung oder Unterstützung von Folter vorgeworfen wird.

„In der Vergangenheit hat Straflosigkeit für Folter Hunderten Ägyptern großes Leid zugefügt und die Aufstände im Jahr 2011 befeuert“, so Stork. „Den Sicherheitskräften zu erlauben, überall im Land diese furchtbaren Verbrechen zu begehen, legt den Grundstein für neue Unruhen.“

Kategorien: Menschenrechte

USA: Schädliche Operationen an intersexuellen Kindern

Human Rights Watch: Folter - Di, 26.05.2020 - 23:01

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Ein intersexuelles Kind, das zweieinhalb Jahre alt ist, mit seinen Eltern im Garten. Die Eltern haben entschieden, dass sie jegliche unnötige Operationen aufschieben, bis ihr Kind darüber selbst entscheiden kann.

© 2017 Human Rights Watch

(Chicago, 25. Juli 2017) – In den USA nehmen Ärzte weiterhin medizinisch nicht notwendige Operationen vor, die intersexuelle Kinder dauerhaft schädigen können, so Human Rights Watch und interACT in einem heute veröffentlichten Bericht. Obwohl hierüber seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert wird, führen Ärzte immer noch Operationen an den Keimdrüsen, also den Eierstöcken oder Hoden, durch, ebenso wie an den inneren und äußeren Geschlechtsorganen. Diese Eingriffe werden durchgeführt, wenn die Kinder noch zu jung sind, um selbst darüber zu entscheiden. Dabei könnten die Eingriffe auch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, ohne dass hieraus ein Risiko entstünde.  
 
Der 160-seitige Bericht „‘I Want to Be Like Nature Made Me’: Medically Unnecessary Surgeries on Intersex Children in the US” untersucht die körperlichen und psychologischen Schäden, die medizinisch nicht notwendige Operationen an intersexuellen Kindern hinterlassen, die mit Chromosomen, Keimdrüsen, Geschlechtsorganen oder Genitalien geboren werden, die sich von denjenigen unterscheiden, die gesellschaftlich als typisch für Jungen oder Mädchen betrachtet werden. Zudem wird über die Kontroverse bezüglich dieser Art von Operationen innerhalb der medizinischen Fachwelt berichtet, ebenso wie über den Druck, der auf die Eltern ausgeübt wird, solche Operationen vornehmen zu lassen.  
 
Intersexuelle Menschen, die früher „Hermaphroditen” genannt wurden (ein Begriff, der heute als abwertend und überholt gilt), gibt es zwar viele, sie werden jedoch häufig missverstanden. Basierend auf einer in den 60er Jahren verbreiteten medizinischen Theorie, nehmen Ärzte chirurgische Eingriffe an intersexuellen Kindern – häufig schon im Säuglingsalter – vor. Erklärtes Ziel dabei ist, es den Kindern einfacher zu machen, „normal“ aufzuwachsen. Die Folgen sind häufig katastrophal und die angeblichen Vorteile sind größtenteils nicht nachgewiesen. Zudem gibt es nur selten dringende medizinische Faktoren, die einen sofortigen, irreversiblen Eingriff erfordern würden. 
 
„Nicht notwendige Operationen an intersexuellen Kindern haben sowohl körperlich als auch psychologisch verheerende Folgen”, so Kimberly Zieselman, selbst eine intersexuelle Frau und Direktorin von interACT. „Obwohl Patientenvertreter die medizinische Fachwelt seit Jahrzehnten über die schlimmen Folgen solcher Eingriffe informieren, präsentieren viele Ärzte betroffenen Eltern eine solche Operation weiterhin als gute Option.“

Insgesamt entsprechen 1,7 Prozent aller Babys nicht dem, was man typischerweise als Junge oder Mädchen bezeichnen würde. Die Chromosomen, Keimdrüsen und die inneren und äußeren Geschlechtsorgane dieser Kinder weichen von den gesellschaftlichen Erwartungen ab. Manche Merkmale – wie etwa atypische äußere Genitalien – sind unmittelbar nach der Geburt ersichtlich. Andere, z.B. Keimdrüsen oder Chromosomen, die vom zugesprochenen Geschlecht abweichen, zeigen sich u.U. erst später, in einigen Fällen in der Pubertät. Ein Kind kann auch ohne Operation als Junge oder Mädchen aufwachsen. Operationen an den Genitalien oder Keimdrüsen von Kindern, die noch zu jung sind, um ihre geschlechtliche Identität zu kennen oder zu kommunizieren, bergen wiederum das Risiko, das Kind durch einen chirurgischen Eingriff dem falschen Geschlecht zwangsweise zuzuordnen.  
 
Die operative Entfernung der Keimdrüsen kann einer Sterilisation ohne die Einwilligung der Betroffenen gleichkommen und eine lebenslange Hormonersatztherapie nach sich ziehen. Eingriffe, um die Größe oder das Erscheinungsbild der Genitalien der betroffenen Kinder zu verändern, bergen ebenfalls Risiken. Hierzu gehören: Inkontinenz, Narbenbildung, Gefühlsverlust und psychologische Traumata. Die Eingriffe können nicht rückgängig gemacht werden, durchtrennte Nerven wachsen nicht wieder zusammen und Narbengewebe kann die Möglichkeiten für eine weitere Operation einschränken. 
 
Medizinische Fachprotokolle entstehen immer häufiger durch interdisziplinäre Teams, die an Fällen von „Differences of Sex Development“ arbeiten. Ein Großteil des medizinischen Fachpersonals erkennt mittlerweile an, dass die Eltern es vorziehen könnten, den Körper ihres Kindes unversehrt zu lassen. Ein Arzt, der in einem solchen Team arbeitet, sagte Human Rights Watch gegenüber: „Wir hören den erwachsenen Patienten zu, die uns sagen, dass sie das Gefühl haben, misshandelt und verstümmelt worden zu sein. Das nimmt einen natürlich extrem mit.“  
 
Dennoch gibt es auf diesem Gebiet weiterhin nur uneinheitliche, unzureichende und bruchstückhafte medizinische Versorgungsstandards. Zudem ist es unter Ärzten umstritten, wie sie die Rechte ihrer intersexuellen Patienten am besten respektieren und schützen können. Zwar sind bestimmte chirurgische Eingriffe eindeutig notwendig, dennoch führen Chirurgen in den USA auch riskante und medizinisch nicht notwendige, kosmetische Operationen an intersexuellen Kindern durch. Diese Eingriffe erfolgen häufig noch bevor die betroffenen Kinder sprechen können.  

 „Die medizinische Fachwelt hat in den letzten Jahrzehnten zwar Fortschritte beim Umgang mit Intersexualität gemacht, medizinisch nicht notwendige und irreversible Operationen an Kindern und Säuglingen sind jedoch weiterhin üblich”, so Kyle Knight, Mitarbeiter von Human Rights und Autor des Berichts. „Der Druck, sich anzupassen und ein „normales“ Leben zu führen, ist zwar vorhanden, es gibt jedoch keine Belege dafür, dass ein chirurgischer Eingriff dies tatsächlich erleichtert. Auf der anderen Seite ist aber durchaus belegt, dass ein solcher Eingriff das Risiko für lebenslange und irreparable Schäden birgt.“   
 
Menschenrechtsorgane der Vereinten Nationen haben in den vergangenen Jahren zunehmend Länder auf der ganzen Welt dafür kritisiert, weil sie medizinisch nicht notwendige Operationen an intersexuellen Kindern nicht verbieten. In einem Bericht von 2013 stellte der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter fest, dass „Kinder, die mit atypischen Geschlechtsmerkmalen geboren wurden, häufig Opfer werden von irreversiblen Geschlechterzuordnungen, unfreiwilligen Sterilisierungen und unfreiwilligen Genitaloperationen… die Folgen hiervon können eine dauerhafte, irreversible Unfruchtbarkeit und schweres seelisches Leid sein.“  
 
Im Juli 2017 schrieben drei ehemalige Chirurgen aus den USA, sie seien der Meinung, „dass es nur unzureichende Belege dafür gibt, dass es psychosozialen Stress bedeutet, mit atypischen Genitalien aufzuwachsen”, und  dass „es zwar nur wenig Hinweise darauf gibt, dass kosmetische Genitaloperationen bei Säuglingen notwendig sind, um psychologische Schäden zu reduzieren, es auf der anderen Seite jedoch durchaus belegt ist, dass der Eingriff selbst schwere, irreparable Schäden und emotionalen Stress verursachen kann.“    
 
Der Bericht basiert auf umfangreichen Interviews, geführt von Kyle Knight von Human Rights Watch und Dr. Suegee Tamar-Mattis, Ärztin und wissenschaftliche Beraterin für Human Rights Watch. Insgesamt wurden 30 intersexuelle Erwachsene, 2 intersexuelle Kinder, 17 Eltern von intersexuellen Kindern und 21 medizinische Fachkräfte interviewt, darunter Gynäkologen, Endokrinologen, Urologen, Psychologen und anderes medizinisches Personal, welches mit intersexuellen Menschen arbeitet. Der Bericht enthält zudem ein umfangreiches Literaturverzeichnis und die verfügbaren Daten zu chirurgischen Eingriffen. 
 
Mehrere Ärzte gaben Human Rights Watch gegenüber an, dass ihnen zwar immer unbehaglicher zumute dabei sei, Eltern zu solchen Eingriffen zu raten, diese aber weiterhin in ihren Kliniken vorgenommen würden. Eltern gaben ihrerseits an, sich von den Ärzten unter Druck gesetzt zu fühlen, sich für eine solche Operation zu entscheiden. 
 
„Die Kinderärzte befinden sich in einer Machtposition. Und wenn die Angst der Eltern das Problem ist, dann muss genau dieses Problem gelöst werden. Es geht also nicht darum, ob operiert wird – das ergibt keinen Sinn, das löst gar nichts“, so ein Endokrinologe und Medizinprofessor gegenüber Human Rights Watch. „Wenn wir versuchen, Menschen in kulturell normative, hetero-normative Situationen zu drängen, dann besteht ein großes Risiko, dass wir schwerwiegende Fehler machen und Menschen irreparablen Schaden zufügen“, so ein Gynäkologe eines Teams, das an „Differences in sex development“ arbeitet.  
 
Die Eltern eines 8-Jährigen Kindes, das mit atypischen Geschlechtsmerkmalen geboren wurde, sagten: „Die Ärzte sagten uns, es sei wichtig, sofort zu operieren, da es traumatisch für unser Kind wäre, aufzuwachsen und anders als andere auszusehen. Was verursacht denn das größere Trauma? Diese Art von Operation oder ein wenig anders zu sein als andere?“  

 Diese und andere Eltern gaben Human Rights Watch gegenüber an, dass ihnen Treffen mit anderen Eltern und anderen intersexuellen Erwachsenen in Selbsthilfegruppen am meisten dabei geholfen hätten, ihre eigenen intersexuellen Kinder großzuziehen.  
 
Die Erfahrungen von Menschen, die sich Operationen unterzogen haben, und die Prinzipien der medizinischen Ethik legen zusammengenommen nahe, dass bestimmte chirurgische Eingriffe an Säuglingen und Kleinkindern nicht durchgeführt werden sollten, solange es keine Belege dafür gibt, dass der medizinische Nutzen solcher Eingriffe größer ist als die möglichen Folgeschäden, so interACT und Human Rights Watch. Zurzeit liegen derartige Belege einfach nicht vor, obwohl solche Operationen seit Jahrzehnten durchgeführt werden.  
 
Die US-Regierung und medizinische Einrichtungen sollen keine weiteren chirurgischen Eingriffe erlauben, deren Ziel es ist, die Keimdrüsen, Genitalien oder inneren Sexualorgane von Kindern mit atypischen Geschlechtsmerkmalen zu verändern, sofern diese Kinder zu jung sind, um aktiv mitzuentscheiden. Dieses Verbot soll in den Fällen greifen, wenn der Eingriff ein bedeutendes Risiko mit sich bringt und ohne weiteres auch später durchgeführt werden könnte, so Human Rights Watch und interACT.  
 
„Eltern intersexueller Kinder haben häufig Angst und wissen nicht genau, wie sie ihre Kinder vor einer Stigmatisierung schützen sollen”, so Zieselman. „Es ist für sie immer ein große Erleichterung, wenn sie andere Menschen treffen, die die gleichen intersexuellen Merkmale haben wie ihre eigenen Kinder, und sehen, dass diese ein gesundes und glückliches Leben führen.“ 

Kategorien: Menschenrechte

Russland: Säuberungen gegen Schwule in Tschetschenien

Human Rights Watch: Folter - Di, 26.05.2020 - 23:01
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Ein Opfer der Angriffe berichtet im April 2017 an einem sicheren Ort in Zentral-Russland darüber, was er erleben musste.

© 2017 Nataliya Vasilyeva für Human Rights Watch

(New York) – Die tschetschenische Polizei hat Dutzende schwule oder bisexuelle Männer zusammengetrieben, geschlagen und erniedrigt, mit dem Ziel, die tschetschenische Gesellschaft von ihnen zu „säubern“, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die russischen Behörden müssen dafür sorgen, dass ihre Ermittlungen zu diesen widerwärtigen Menschenrechtsverletzungen wirksam vorangetrieben werden und geeignet sind, die tschetschenischen Behörden zur Rechenschaft zu ziehen. Ausländische Regierungen sollen den Opfern sichere Zuflucht bieten, da diese, solange sie in Russland bleiben, in unmittelbarer Gefahr schweben.

„Die Männer, die diesen Säuberungen unterworfen wurden, haben in Tschetschenien ein schreckliches Martyrium erlebt“, so Graeme Reid, Direktor der Abteilung für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender bei Human Rights Watch. „Der Kreml trägt die Pflicht, die Verantwortlichen für die Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen und alle Menschen in Russland ungeachtet ihrer sexuellen Orientierung zu schützen.“

Der 42-seitige Bericht „‘They Have Long Arms and They Can Find Me’: Anti-Gay Purge by Local Authorities in Russia’s Chechen Republic,“ beruht auf persönlichen Befragungen von Opfern der Kampagne gegen schwule Männer, welche die tschetschenischen Strafvollzugs- und Sicherheitsbehörden im Frühjahr 2017 durchgeführt haben.

Mai 2, 2017 Video Stop Anti-Gay Attacks in Chechnya

Police in Chechnya, a region in southern Russia, are rounding up men believed to be gay, holding them in secret detention, and beating and humiliating them.

Von der letzten Februarwoche und mindestens bis in die erste Aprilwoche hinein trieb die Polizei mutmaßlich schwule Männer zusammen, hielt sie tagelang, teilweise sogar über Wochen an geheimen Orten fest. Dort wurden sie gefoltert, erniedrigt und ausgehungert, um Informationen über andere mutmaßlich schwule Männer zu erpressen. Die meisten Männer wurden an ihre Familien übergeben, wodurch ihre sexuelle Orientierung offenbart und ihre Angehörigen indirekt zu „Ehrenmorden“ animiert wurden. All jene, die aus Tschetschenien geflohen sind und sich andernorts in Russland aufhalten, befinden sich weiterhin in Gefahr, da die Drohungen gegen sie andauern.

Die russischen Behörden stritten die Berichte über die Gewaltakte zunächst ab. Als der internationale Druck wuchs, leiteten mehrere Behörden Untersuchungen ein und Präsident Wladimir Putin versprach, mit dem Generalstaatsanwalt und dem Innenminister über die Vorwürfe zu sprechen. Die tschetschenische Führung erklärte, sie sei bereit, mit den Ermittlungen auf föderaler Ebene zu kooperieren. Sie stritt jedoch vehement ab, dass es in Tschetschenien Homosexuelle gebe, und sie beschimpfte und bedrohte wiederholt Journalisten und Menschenrechtler, die diese Frage angesprochen hatten.

Die bekannte unabhängige Tageszeitung Novaya Gazeta berichtete als erste über die schwulenfeindlichen Säuberungen. Das Russische LGBT-Netz, eine unabhängige Organisation zur Unterstützung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender, leistete Nothilfe für die Opfer.

Angeblich starben mehrere Männer infolge der Misshandlung. Bis Ende Mai wurden zwar keine neuen Entführungen gemeldet, einige der betroffenen Männer befinden sich jedoch weiter in Haft.

Die tschetschenische Polizei inhaftierte die Männer an mehreren geheimen Orten, an denen sie auch andere Personen inoffiziell festhält, darunter mutmaßliche Kollaborateure der Aufständischen und mutmaßliche Drogenkonsumenten. Die Polizisten verprügelten die Inhaftierten in grausamer Weise und traktierten sie wiederholt mit Elektroschocks. Die Entführer animierten bzw. zwangen andere Häftlinge, die vermeintlich schwulen Männer zu schlagen und zu erniedrigen.

Die tschetschenischen Behörden, einschließlich zweier hochrangiger Funktionäre, statteten den inoffiziellen Hafteinrichtungen Besuche ab, beschimpften die mutmaßlich schwulen Häftlinge und sahen zu, wie die Wärter sie misshandelten.

Während des vergangenen Jahrzehnts hat der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow unter stillschweigender Zustimmung des Kremls eine brutales, repressives Regime errichtet. Die Strafvollzugs- und Sicherheitsbehörden, die faktisch unter Kadyrows Kontrolle stehen, griffen Menschen zu Hause, am Arbeitsplatz oder auf offener Straße auf und entführten sie. Sie ließen Menschen verschwinden, folterten, vollstreckten außergerichtliche Hinrichtungen und verhängten kollektive Strafmaßnahmen. Über Jahre hinweg nahmen sie vor allem mutmaßliche bewaffnete Aufständische und ihre Kollaborateure ins Visier, doch mit der Zeit nutzten Polizei und Sicherheitskräfte diese Methoden auch gegen Kritiker auf lokaler Ebene, unabhängige Journalisten, salafistische Muslime, Drogenkonsumenten und andere von der tschetschenischen Führung für „unerwünscht“ erklärte Personen.

„Wir haben nie beobachtet, dass tschetschenische Beamte schwule Männer aufgegriffen und gefoltert haben“, so Rachel Denber, stellv. Direktorin der Europa- und Zentralasien-Abteilung von Human Rights Watch. „Doch die Sicherheitskräfte auf lokaler Ebene nutzen seit Jahren solche brutalen und rechtswidrigen Praktiken, um Tschetschenien von ‚unerwünschten Personen‘ zu säubern.“

Viele der Männer flohen nach ihrer Freilassung aus Tschetschenien. Solange sie in Russland bleiben, droht ihnen jedoch die doppelte Gefahr einer Verfolgung und Misshandlung durch tschetschenische Sicherheitskräfte und einer Verfolgung durch ihre eigenen Angehörigen.

Die tschetschenische Gesellschaft ist mehrheitlich muslimisch und äußerst konservativ. Homosexualität wird gemeinhin als tiefe Schande für die Familienehre betrachtet – eine Einstellung die von hochrangigen tschetschenischen Funktionären noch bestärkt wurde, als sie öffentlich Ehrenmorde an schwulen und bisexuellen Männern begrüßten.

„Magomed“, eines der Opfer der Säuberungen, erklärte gegenüber Human Rights Watch: „Sie haben einen sehr langen Arm und sie können mich und andere überall in Russland finden, wenn sie nur genug Zeit haben.“

Während die russischen Behörden angekündigt haben, die mutmaßlichen Säuberungen gegen Schwule zu untersuchen, wiesen sie immer wieder auf den Mangel an Beschwerden durch Opfer hin, um anzudeuten, die Vorwürfe seien lediglich Gerüchte. Human Rights Watch weist jedoch darauf hin, dass die tschetschenischen Behörden dafür bekannt sind, skrupellos gegen Ortsansässige vorzugehen, die es wagen, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern.

In den vergangenen Jahren hat Human Rights Watch zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen tschetschenische Lokalbeamte sich an den Angehörigen von Personen rächten, die aus der Region geflohen waren und versucht hatten, das an ihnen verübte Unrecht mithilfe der Justiz zu ahnden.

„Die Männer, die die Säuberungen gegen Schwule in Tschetschenien überstanden haben, stehen nun einer doppelten Bedrohung gegenüber: Sie haben guten Grund, Vergeltung von den Behörden zu fürchten, aber auch Gewalt von Seiten ihrer Familien“, so Reid. „Die russischen Behörden müssen der enormen Schutzbedürftigkeit der Opfer Rechnung tragen und deren begründeten Ängste aufgreifen, weshalb sie sich mit ihren Beschwerden nicht an die Öffentlichkeit wagen.“

Die Untersuchungen der russischen Behörden sollen sorgfältig durchgeführt werden und geeignet sein, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Behörden sollen größtmögliche Anstrengungen unternehmen, um Opfer, Zeugen und deren nächste Angehörige zu schützen. Human Rights Watch appelliert auch an ausländische Regierungen, den Druck auf Moskau aufrecht zu erhalten, etwa durch regelmäßige Nachfragen zum Fortschritt der Ermittlungen. Zudem soll Opfern der Säuberungen, die im Ausland Schutz suchen, eine sichere Zuflucht geboten werden.

Kategorien: Menschenrechte

Deutschland/Ägypten: Abkommen riskiert Mitschuld an Misshandlungen

Human Rights Watch: Folter - Di, 26.05.2020 - 23:01

(Berlin) – Der Deutsche Bundestag soll ein geplantes Sicherheitsabkommen mit dem ägyptischen Innenministerium ablehnen, so Human Rights Watch heute. Das Abkommen, über das am 28. April 2017 abgestimmt werden soll, sieht keinen ausreichenden Schutz für die Menschenrechte vor. Es handelt sich um ein Abkommen mit einer Sicherheitsbehörde, deren Mitarbeiter Menschen foltern, verschwinden lassen und höchstwahrscheinlich auch außergerichtlich töten. Somit würden sich deutsche Beamte mitschuldig machen an schweren Menschenrechtsverletzungen.

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Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi und die Bundeskanzlerin Angela Merkel nach ihrer Pressekonferenz im El-Thadiya-Palast des Präsidenten in Kairo, Ägypten, 2. März 2017.

© 2017 Reuters

Das Abkommen sieht die Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen vor, vor allem in der Terrorismusbekämpfung. Es verpflichtet die Behörden beider Länder zur Zusammenarbeit bei entsprechenden Ermittlungen. Informationen über Verdächtige sollen ausgetauscht und Operationen gemeinsam durchgeführt werden. Es enthält lediglich einen äußerst vagen Verweis, dass „die Menschenrechte gewahrt” werden sollen. Es beinhaltet jedoch keine wirksame Garantie, dass den gravierenden Menschenrechtsverletzungen durch ägyptische Sicherheitsbehörden ein Ende gesetzt wird.

„Wenn die deutsche Regierung ihre eigenen Bürger und die Bürger Ägyptens vor Terrorismus schützen und gleichzeitig die Menschenrechte achten will, dann ist dieses Abkommen der denkbar schlechteste Weg“, so Wenzel Michalski, Deutschland-Direktor von Human Rights Watch. „Die deutsche Regierung soll auf hieb- und stichfesten Garantien bestehen, dass Ägypten den Menschenrechtsverletzungen im Land ein Ende setzt, und nicht so schnell wie möglich die eigenen Beamten an die Seite der ägyptischen Kräfte und somit an die vorderste Front der Unterdrückung stellen.“

Der ägyptische Innenminister Magdy Abd al-Ghaffar und sein deutscher Amtskollege Thomas de Maizière haben das Abkommen bereits im Juli 2016 unterzeichnet. Noch muss der Bundestag diesem Abkommen jedoch zustimmen.

Das Abkommen soll den Terrorismus und das organisierte Verbrechen bekämpfen. Es beinhaltet 22 Bereiche, in denen verschiedene deutsche Behörden, darunter das Innenministerium und die Bundespolizei, mit dem ägyptischen Innenministerium zusammenarbeiten sollen. Zu diesen Bereichen zählt die Prävention und Bekämpfung von Korruption, Menschenhandel, Drogen- und Waffenschmuggel sowie Geldwäsche.

Das Abkommen sieht vor, dass Deutschland und Ägypten Experten auf dem Gebiet der Verbrechensvorbeugung austauschen, wie Informationen zu Verdächtigen und zum Aufbau von kriminellen Vereinigungen. Zudem sollen „operative Maßnahmen“ in Anwesenheit von Beamten der Partnerbehörde durchgeführt werden und Personal sowie Material zur Verfügung gestellt werden, um „operative Ermittlungen” zu unterstützen.“ 

Jahrzehntelang hat das ägyptische Innenministerium Menschen willkürlich verhaftet, verschwinden lassen und gefoltert und somit gegen internationales und ägyptisches Recht verstoßen. Die Verantwortlichen wurden nur selten oder gar nicht zur Rechenschaft gezogen. Beamte des Nationalen Sicherheitsdienstes, der hauptsächlich für die Terrorismusbekämpfung verantwortlich ist, sind für den Großteil dieser Menschenrechtsverletzungen verantwortlich, besonders in den Fällen, in denen Menschen wegen Terrorismusvorwürfen in Haft sitzen. Der Begriff „Terrorismus“ ist im ägyptischen Gesetz sehr breit definiert. Die Behörden nutzen Terrorismusvorwürfe häufig als Vorwand, um gegen friedlichen Protest vorzugehen.

Die ohnehin weitereichende Macht des Nationalen Sicherheitsdienstes wurde durch die Entscheidung von Präsident Abd al-Fattah as-Sisi noch ausgeweitet, einen landesweiten Ausnahmezustand zu verhängen. Dies war eine Reaktion auf zwei Bombenanschläge des sog. Islamischen Staats auf zwei Kirchen am 9. April.

Der Ausnahmezustand erlaubt den Behörden, Verdächtige ohne Haftbefehl festzunehmen und zu durchsuchen, Menschen ohne Einschränkung zu überwachen, jede Art von Veröffentlichungen zu zensieren, Eigentum zu beschlagnahmen, öffentliche Versammlungen einzuschränken und Öffnungszeiten für Geschäfte festzulegen. Am bedenklichsten ist jedoch, dass Staatsanwälte Fälle an die sog. Staatssicherheitsgerichte verweisen können. Die Verfahren dieser Gerichte entsprechen nicht den internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren. Zudem können die Urteile dieser Gerichte nicht angefochten werden.

Ägyptens Anti-Terrorgesetze sind sehr breit ausgelegt und werden gegen friedliche Demonstranten und politische Gegner eingesetzt. Diese werden häufig nur auf Grundlage von unbelegten Aussagen von Sicherheitsbeamten angeklagt. Kürzlich wurden diese Gesetze gegen einen Menschenrechtsanwalt eingesetzt, der Opfer von Polizeigewalt vertritt. Er wurde in Abwesenheit zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt, da er angeblich Drohungen auf seiner Facebook-Seite gepostet hatte.

Das Strafrecht in Ägypten definiert Terrorismus im weiten Sinne als jeden Einsatz von Gewalt, Bedrohung oder Einschüchterung, um die öffentliche Ordnung zu stören oder die Sicherheit der Gesellschaft zu gefährden, sofern diese Einzelnen schadet oder Angst verbreitet oder das Leben, die Freiheit oder die Sicherheit einzelner Personen in Gefahr bringt. Als Terrorismus kann auch die Bedrohung zählen, die Umsetzung der Verfassung oder der Gesetze zu behindern.

Die Anforderungen des geplanten Abkommens, das die Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung gewährleisten soll, würden quasi unweigerlich dazu führen, dass deutsche Sicherheitsbeamte den Nationalen Sicherheitsdienst Ägyptens unterstützen, so Human Rights Watch.

Seit 1992 hat Human Rights Watch den systematischen Einsatz von Folter durch die Polizei und Beamte des Nationalen Sicherheitsdienstes ausführlich dokumentiert. Demnach wird Folter eingesetzt, um Geständnisse zu erzwingen oder Gefangene zu bestrafen. 2011 hat Human Rights Watch dokumentiert, dass die Regierung kläglich gescheitert ist, Opfer von Folter und Misshandlungen wirksame Rechtsmittel zu ermöglichen oder derartige Menschenrechtsverletzungen in Zukunft zu verhindern. Diverse Faktoren haben zur Straffreiheit der Verantwortlichen beigetragen, so etwa die mangelhaften Rechtsvorschriften, um Folter zu bestrafen, das Fehlen einer unabhängigen Einrichtung, die die Polizei überprüft, und die fast vollständige Hörigkeit der Strafverfolger gegenüber Beamten des Nationalen Sicherheitsdienstes.

Fälle des Verschwindenlassens und außergerichtliche Tötungen durch Beamte des Nationalen Sicherheitsdienstes sind stark gestiegen, seit Magdy Abd al-Ghaffar im März 2015 von al-Sisi zum Innenminister ernannt wurde. Erst kürzlich hat Human Rights Watch dokumentiert, dass Beamte des Nationalen Sicherheitsdienstes mindestens vier und möglicherweise sogar zehn Männer in Nordsinai getötet haben, nachdem sie diese zuvor verschleppt hatten. Die Behörden haben daraufhin anscheinend eine Anti-Terrorrazzia inszeniert, um diese Tötungen zu vertuschen.

Das geplante Abkommen widerspricht zudem den Schlussfolgerungen zu Ägypten des Europäischen Rats für Auswärtige Angelegenheiten aus dem Jahr 2013, nachdem mindestens 1184 Demonstranten von ägyptischen Sicherheitskräften getötet wurden. Der Rat fror daraufhin alle Exportlizenzen nach Ägypten ein für jede Art von Ausrüstung, die für die Unterdrückung von Menschen im Land genutzt werden könnte. Zudem beschloss der Rat, jegliche Sicherheitsunterstützung von Ägypten zu überprüfen.

Im August 2014 kam Human Rights Watch zu dem Schluss, dass es sich bei den Massentötungen im Jahr 2013, die unter dem damaligen Verteidigungsminister al-Sisi stattfanden und vorwiegend von Kräften des Innenministeriums ausgeführt wurden, um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelte. Human Rights Watch forderte die UN-Mitgliedstaaten dazu auf, jegliche Unterstützung im Sicherheitsbereich für Ägypten einzustellen, solange die Regierung keine Maßnahmen treffe, um die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen zu beenden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Zudem sollen die UN-Mitglieder jede Mitwisserschaft bei Menschenrechtsverletzungen durch die ägyptischen Behörden vermeiden.

Kein Regierungsbeamter und auch kein Mitglied der Sicherheitskräfte wurde für die Tötungen zur Rechenschaft gezogen, und die Staatsanwaltschaft hat in keinem der Fälle ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Die Zusammenfassung einer Untersuchung durch die Regierung, die im November 2014 veröffentlicht wurde, enthielt keinerlei Empfehlung, jemanden diesbezüglich anzuklagen. Hunderte Menschen, die während der tödlichen Niederschlagung von Demonstrationen im Jahr 2013 verhaftet wurden, stehen noch immer vor Gericht. Anklagepunkte sind u.a. die Mitgliedschaft in einer bewaffneten Gruppierung, die Tötung von Sicherheitskräften und das Blockieren von Straßen.

Auch einige Klauseln zum Informationsaustausch geben Anlass zur Sorge. Zwar beinhaltet das Abkommen Vorschriften zum Datenschutz und es wird beteuert, dass das Abkommen nicht dafür genutzt werden soll, Informationen zur Verfügung zu stellen, die als Beweismittel in Strafverfahren dienen. Jedoch ist vorgesehen, dass die Partnerbehörden einander informieren – in dringenden Fällen auch mündlich – über Einzelheiten zu Personen, die an Verbrechen beteiligt sind, zu Strukturen von kriminellen Gruppen und Organisationen und den Verbindungen zwischen ihnen und dabei zu helfen, die Straftäter ausfindig zu machen. Diese Klausel könnte es dem ägyptischen Innenministerium ermöglichen, seine deutschen Partner zu benutzen, um an Informationen über politische Gegner zu gelangen, die keine Straftat begangen haben.

Zudem ermutigt das Abkommen offensichtlich dazu, freiwillig Informationen auszutauschen, „die wichtig sein könnten, um Terrorverdächtige ausfindig zu machen“, ohne dass hierfür ein entsprechender Antrag gestellt werden muss.

Trotz des Verweises auf „die Wahrung der Menschenrechte” geht aus dem Abkommen eindeutig hervor, dass die Zusammenarbeit durch das jeweilige nationale Recht geregelt wird. Es gibt keinen Bezug auf internationales Recht zu willkürlichen Festnahmen, Folter und zum Verschwindenlassen von Menschen. Die Tatsache, dass kein Beamter des Nationalen Sicherheitsdienstes jemals wegen Folter oder anderer Misshandlungen rechtskräftig verurteilt wurde, zeigt, dass das ägyptische Recht solche Menschenrechtsverletzungen nicht verhindern kann.
 

Kategorien: Menschenrechte

Türkei: Notstand ermöglicht Folter

Human Rights Watch: Folter - Di, 26.05.2020 - 23:01
Oktober 25, 2016 Report A Blank Check

Turkey’s Post-Coup Suspension of Safeguards Against Torture

(Istanbul) – Die türkische Polizei hat Menschen in Haft gefoltert und auf andere Art misshandelt, nachdem die in Folge des gescheiterten Putschversuches im Juli 2016 erlassenen Notverordnungen wichtige Schutzvorschriften außer Kraft gesetzt haben, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 47-seitige Bericht „A Blank Check: Turkey’s Post-Coup Suspension of Safeguards Against Torture“ dokumentiert, wie negativ es sich auf die Haftbedingungen und die Rechte von Gefangenen auswirkt, dass Schutzvorschriften durch Verordnungen geschwächt wurden, die im Zuge des staatlichen Ausnahmezustands erlassen wurden. Der Bericht geht auf 13 Fälle mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen in Haft seit dem Putschversuch ein, darunter Folter durch Stresspositionen, Schlafentzug, schwere Prügel, sexueller Missbrauch und Vergewaltigungsdrohungen.

„Indem sie Vorschriften zum Schutz vor Folter außer Kraft gesetzt hat, hat die türkische Regierung den Sicherheitsbehörden de facto einen Blankoscheck dafür ausgestellt, Gefangene nach Gutdünken zu foltern und zu misshandeln“, so Hugh Williamson, Leiter der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. „Die Fälle, die wir dokumentieren, deuten darauf hin, dass einige Beamte genau das getan haben. Die türkische Regierung muss die Schutzvorschriften auf der Stelle wieder in Kraft setzen.“

Eine Regelung in den Notverordnungen entbindet Regierungsangehörige von jeder Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand. Zweifel daran, dass die Regierung daran interessiert ist, Folter oder andere Misshandlungen zu verhindern, weckt auch die Entscheidung der Behörden, einen Türkeibesuch des UN-Sonderberichterstatters über Folter zu verschieben.

Human Rights Watch befragte mehr als 40 Anwälte, Menschenrechtsaktivisten, ehemalige Gefangene, medizinisches Personal und Gerichtsmediziner.

Mindestens 241 Polizisten und Zivilisten starben und bis zu 2.000 wurden verletzt, als Militärangehörige am 15. und 16. Juli versuchten, gegen die gewählte Regierung zu putschen. Human Rights Watch befragte auch einige Personen, die bei dem Versuch, den Putsch abzuwenden, verletzt wurden.

Kurz nach dem gescheiterten Staatsstreich rief die türkische Regierung den Notstand aus, wozu sie unter außerordentlichen Umständen befugt ist. Die Regierung hat auch das Recht - und sogar die Pflicht - die öffentliche Sicherheit zu wahren, im Zuge des Putschversuches verübte Verbrechen wie Mord und Körperverletzung zu untersuchen, und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Allerdings gibt der staatliche Notstand der Regierung keinen Freibrief dafür, Rechte auszusetzen. Das völkerrechtliche Folterverbot ist absolut und darf auch in Kriegs- und Notstandszeiten nicht eingeschränkt werden. Trotzdem setzen die Notverordnungen wichtige Vorschriften außer Kraft, die Gefangene vor Misshandlungen und Folter schützen.

Die Notverordnungen erhöhen die maximale Haftzeit bis zur richterlichen Prüfung von vier auf 30 Tage, verbieten Gefangenen bis zu fünf Tage lang, ihre Anwälte zu kontaktieren, und schränken sowohl das Recht auf freie Wahl eines Rechtsbeistandes ein, als auch das Recht, mit diesem vertrauliche Gespräche zu führen.

In einigen der dokumentierten Fälle verletzten Angehörige der Strafverfolgungsbehörden diese Rechte in einem Ausmaß, das sogar den großzügigen Ermessensspielraum der Notverordnungen sprengt.

„Der Polizist, der mich verhaftet hat... fing an, mir ins Gesicht und auf die Augen zu schlagen“, so ein ehemaliger Gefangener in einer Stellungnahme für die Staatsanwaltschaft. „Sie schlugen mir auf die Fußsohlen, auf den Bauch, sie quetschten meine Hoden und sagten dabei, sie würden mich kastrieren.“ Er schildert weiter, wie auf andere Teile seines Körpers eingeschlagen wurde.

Das Verhalten der Polizei und der Druck, den die Behörden ausüben, unterminiert auch die Integrität ärztlicher Untersuchungen von Personen in Polizeigewahrsam und Haft, denn diese Untersuchungen müssen oft in Gefängnissen und in Anwesenheit von Polizisten durchgeführt werden. Außerdem weigerten sich die Behörden wiederholt, Gefangenen und ihren Anwälten ärztliche Gutachten auszuhändigen, die ihre Vorwürfe, in Haft oder bei der Verhaftung misshandelt worden zu sein, stützen könnten. Als Begründung verwiesen die Verantwortlichen auf die Geheimhaltungspflicht in laufenden Ermittlungen.

Angehörige der Strafverfolgungsbehörden wenden die Notverordnungen nicht nur auf Personen an, die verdächtigt werden, sich am Putschversuch beteiligt zu haben, sondern auch auf Gefangene, die angeblich Verbindungen zu bewaffneten kurdischen oder linken Gruppierungen haben. Auch diesen Menschen wird jeder Schutz vor Folter und anderer unfairer Verfolgung entzogen.

All dies geschieht in einem überwältigenden Klima der Angst. Anwälte, Gefangene, Menschenrechtsaktivisten, medizinisches Personal und Gerichtsmediziner fürchten ständig, dass sie die nächsten auf der langen Liste angeblicher Putsch-Befürworter sind. Diese Ängste sind nicht ungerechtfertigt. Unter anderem haben die Behörden mehr als 200 Anwälte in Untersuchungshaft genommen und werfen ihnen eine Beteiligung am Putschversuch vor, so die Vereinigung der Rechtsanwaltskammern in der Türkei.

Anwälte, medizinisches Personal, kürzlich entlassene Gefangene und Familienangehörige von Gefangenen schildern 13 unterschiedlich schwere Folter- und Misshandlungsfälle nach dem Putschversuch. Sie berichten von Misshandlungsmethoden wie Stresspositionen, Schlafentzug, schwere Schläge, sexualisierte Misshandlungen und Vergewaltigungsdrohungen. In einem Fall waren mehrere Gefangene zugleich betroffen. Die Namen der meisten Gefangenen und ihrer Anwälte werden aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht, da die Betroffenen Vergeltungsakte befürchten.

Angehörige der türkischen Regierung, auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan, erklärten nach dem Putschversuch, dass sie Folter nicht tolerieren würden. Aber die Behörden reagieren nicht angemessen auf die aktuellen Foltervorwürfe. Stattdessen behaupten sie, diejenigen, die diese Vorwürfe äußern, seien voreingenommen, und werfen ihnen vor, den Putschversuch zu unterstützen oder Propaganda für die Gülen-Bewegung zu machen. Diese wird von einem ehemaligen Vertrauten der Regierung geführt, der sich derzeit im selbstgewählten Exil in den USA aufhält, und soll der Regierung zufolge für den gescheiterten Staatsstreich verantwortlich sein.

Mehmet Metiner, der für die Regierungspartei im Parlament sitzt und das parlamentarische Subkomitee für Gefängnisangelegenheiten leitet, gab kürzlich bekannt, dass die Kommission Foltervorwürfe von inhaftierten, mutmaßlichen Gülen-Anhängern nicht untersuchen werde. Weit verbreitete, systematische Folter ist schon seit langer Zeit ein Problem in der Türkei. Allerdings sind die Berichte über Folter und Misshandlungen in Polizeigewahrsam in den Jahren von 2002 bis Mitte 2015 deutlich zurückgegangen, zum Teil deshalb, weil einige Schutzvorschriften verbessert wurden. Etwa wurden die Maximaldauer der Untersuchungshaft reduziert, bessere Verfahren zur Dokumentation von Festnahmen und von Aussagen der Gefangenen eingeführt, frühzeitiger Zugang zu Rechtsberatung ermöglicht, und eine verbindliche und regelmäßige ärztliche Untersuchung von Gefangenen festgeschrieben.

„Folter ist wie eine ansteckende Krankheit - wenn sie ausbricht, verbreitet sie sich; es ist schmerzhaft zu erleben, wie schnell sich die Lage wieder verschlechtert“, so ein Anwalt, der in Folge des Putschversuches verhaftet wurde. Er ist überzeugt, dass die Personen, die mit ihm verhaftet wurden, gefoltert wurden.

„Es wäre eine Tragödie, wenn zwei hastig erlassene Notverordnungen all die Fortschritte zunichtemachen würden, die die Türkei im Kampf gegen Folter gemacht hat“, sagt Williamson. „Die Behörden sollen unverzüglich die gefährlichsten Vorschriften annullieren und die erschütternden Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und in anderen Hafteinrichtungen untersuchen.“

Ausgewählte Zeugenaussagen aus dem Bericht

Eine Anwältin aus Ankara schildert die Behandlung ihres Klienten, ein Beamter, dem Beteiligung am Putschversuch vorgeworfen wird, im Hauptsitz der türkischen Polizei in Ankara:

Mehrere Polizisten standen hinter ihm. Er saß auf einem Stuhl vor einem Tisch. Um ihn zum Reden zu bringen, schlugen sie ihn mit Plastiksträngen, die normalerweise als Handschellen benutzt werden, und verpassten ihm Faustschläge gegen den Kopf und seinen Oberkörper. Er konnte nichts tun, um sich zu schützen, da seine Hände gefesselt waren...

Irgendwann musste ich mich abwenden. Ich weiß nicht, wie oft sie ihn geschlagen haben. Ich konnte nicht mehr hinsehen. Ich wusste, dass ich nichts tun konnte, damit das aufhört. Am Ende machte er eine Aussage...

Ich war die einzige Anwältin vor Ort. Überall war Gewalt und die Polizisten waren nicht erfreut, mich zu sehen. Sie sagten: „Wozu brauchen diese Leute einen Anwalt?“

In seiner Aussage für die Staatsanwaltschaft in Antalya schildert Eyüp Birinci, wie er in Polizeigewahrsam behandelt wurde:

Meine Augen waren verbunden. Ich spürte, dass drei oder vier Personen im Raum waren. Nur der Polizeibeamte, der mich verhaftet hat, sprach... „Sag uns, was du weißt, was du in Antalya machst“, sagte er, als sie mich nackt auszogen...

Der Polizist, der mich verhaftet hat und dessen Namen ich nicht kenne, fing an, mir ins Gesicht und auf die Augen zu schlagen... Sie schlugen mir auf die Fußsohlen, auf den Bauch, sie quetschten meine Hoden und sagten dabei, sie würden mich kastrieren... Sie zwangen mich, mit dem Gesicht zum Boden zu liegen, und verdrehten meinen linken und meinen rechten Arm hinter meinem Rücken... Dann drehten sie mich auf den Rücken, befeuchteten meine Füße und fingen an, auf sie zu schlagen. Sie schlugen meine Armen mit Schlagstöcken. Sie machten meinen Nacken nass und schlugen auf ihn ein... Sie steckten mir sogar den Schlagstock in den Mund und drehten ihn herum... Sie zwangen mich, aufzustehen und dann schlugen sie mich mit ihren Fäusten. Sie schlugen mir mehrere Minuten lang in den Bauch und sagten mir jedes Mal, dass ich gerade stehen soll.

İ.B. übergab seinem Anwalt eine Aussage, die er im Gefängnis verfasst hat und in der er seine Behandlung in der Istanbuler Polizeizentrale in der Vatan-Straße beschreibt:

Sie sagten mir drei Tage in Folge, dass ich nun meinen Anwalt treffen würde, und brachten mich dann immer in den Verhörraum [in der Vatan-Straße]. Sie zogen mich aus, zerrissen meine Kleidung und bedrohten mich, während sie meine Sexualorgane quetschten und mich auf widerwärtige Art schlugen. Einer sagte, ich habe deine Mutter hergebracht, und wenn du nicht redest, vergewaltige ich sie vor deinen Augen. Sie zogen mir eine Tüte über den Kopf, fesselten meine Hände hinter meinem Rücken und lachten mich aus, während sie meinen Kopf auf den Boden oder gegen die Wand schlugen, zwangen mich, mich nach vorne zu beugen, und brüllten: „Gibt es hier keinen starken Kerl, der den hier vergewaltigt?“ Mein ganzer Körper war übersät mit Spuren der Schläge... Sie beschimpften und traten mich, versuchten, mich dazu zu bringen, zuzugeben, dass ich Menschen kenne, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Ich sollte ein Verbrechen gestehen, das ich nicht begangen habe. Sie sagten, sie würden mir noch viel schlimmeres antun, wenn ich das nicht tue, und, dass sie sieben oder acht Leute hätten, die vor Gericht gegen mich aussagen würden, so dass ich nie wieder aus dem Gefängnis herauskäme. Wenn ich nicht mitspiele und ihnen die Namen gebe, würden sie mein Leben zerstören. Jeden Tag, wenn ich ein medizinisches Gutachten bekam, in dem Schläge erwähnt wurden, verprügelten sie mich wieder. Sie sagten, besorg dir so viele Berichte wie du willst, es liegt eh alles in unserer Hand.

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