Menschenrechte

Zum COP28-Auftakt: UN sollte VAE in die Pflicht nehmen

 

Click to expand Image Eine Flamme verbrennt Abgas in einer Raffinerie und petrochemischen Komplex in Al Ruwais, Vereinigte Arabische Emirate, 14. Mai 2018. © 2018 Christophe Viseux/Bloomberg via Getty Images

(Beirut) - Die Vereinten Nationen sollten die Vereinigten Arabischen Emirate auffordern, die Unterdrückung der Menschenrechte zu beenden und ihre Pläne zur Ausweitung der Produktion fossiler Brennstoffe aufzugeben, während die Verhandlungen auf der jährlichen UN-Klimakonferenz in Dubai beginnen, so Human Rights Watch heute. Außerdem sollten die Vereinten Nationen dringend Kriterien für künftige COP Gastgeber entwickeln, um sicherzustellen, dass die Zivilgesellschaft ohne Angst vor Repressalien sinnvoll an den globalen Klimaverhandlungen teilnehmen kann.

Die Vereinigten Arabischen Emirate werden die 28. Vertragsstaatenkonferenz (COP28) der UN-Klimarahmenkonvention (UNFCCC) vom 30. November bis 12. Dezember 2023 in Dubai ausrichten.

"Viele Klimaaktivist/innen, die zur COP28 reisen, sind ernsthaft um ihre Sicherheit in einem Gastgeberland besorgt, das Menschen aufgrund ihrer Posts in sozialen Medien inhaftiert und Proteste praktisch illegal macht", sagte Richard Pearshouse, Umweltdirektor bei Human Rights Watch. "Die UNFCCC muss ernsthaft darüber nachdenken, wie sie es zulassen konnte, dass die globalen Klimaverhandlungen in einem Land stattfinden, in dem die Zivilgesellschaft nicht in der Lage ist, ernsthafte Maßnahmen zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zu fordern, ohne sich selbst zu zensieren oder Angst zu haben."

Die Ängste der Klimaaktivist/innen vor Repressalien sind nicht unbegründet. Am 28. November erhielt James Lynch, einer der Mitbegründer der Organisation FairSquare, die Nachricht, dass sein Visumsantrag für die Teilnahme an der COP28 abgelehnt wurde. Das Generaldirektorat für Aufenthalts- und Ausländerangelegenheiten der Emirate teilte Lynch per E-Mail mit, dass sein Antrag abgelehnt worden war. Bis jetzt hat Lynch keine weiteren Informationen von den zuständigen Behörden der Emirate erhalten und es ist unklar, ob ihm die Einreise gewährt wird. Im Jahr 2015 wurde Lynch, damals stellvertretender Leiter für Wirtschaft und Menschenrechte bei Amnesty International, am Flughafen von Dubai wegen seiner Menschenrechtsarbeit die Einreise verweigert.

In den Vereinigten Arabischen Emiraten sind Demonstrationen faktisch illegal und Kritik an der Regierung ist eine Straftat. Der Generalsekretär der UN-Rahmenkonvention unterzeichnete am 1. August ein Abkommen mit der Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate als Gastgeber der COP28 und erklärte, dass "Raum für Klimaaktivist/innen zur Verfügung stehen wird, um sich friedlich zu versammeln und ihrer Stimme Gehör zu verschaffen". Es ist jedoch unklar, was diese Zusage in der Praxis bedeutet, da die Rede- und Protestfreiheit in den Vereinigten Arabischen Emiraten stark eingeschränkt ist.

Das Gastgeberabkommen zwischen der UNFCCC und den Vereinigten Arabischen Emiraten wurde nicht öffentlich bekannt gegeben. Die mangelnde Transparenz und das Versäumnis der UNO, Klarheit über die Risiken von Kritik an den Vereinigten Arabischen Emiraten und von Protesten während der COP28 zu schaffen, stellt eine ernsthafte Gefahr für Klimaaktivist/innen dar, die an der COP28 teilnehmen, so Human Rights Watch.

Ein ausdrücklicher Verweis auf den Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen im Abschlussdokument der COP28 wäre ein wichtiger Schritt, um die schlimmsten Folgen der Klimakrise zu verhindern. Die jahrzehntelange Unterdrückung der Meinungs-, Veranstaltungs- und Versammlungsfreiheit in den Vereinigten Arabischen Emiraten gibt jedoch Anlass zu ernsten Bedenken darüber, wie die Zivilgesellschaft, Aktivist/innen, Menschenrechtsverteidiger/innen und Journalist/innen auf der COP28 in der Lage sein werden, sich sinnvoll zu beteiligen und auf umfassende Maßnahmen zu drängen, einschließlich der Forderung nach dem Ausstieg aus fossilen Brennstoffen.

In einem Brief an alle UNFCCC-Vertragsparteien forderte der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte diese Mitte November auf, "die Menschenrechte in den Mittelpunkt aller Klimaentscheidungen zu stellen".

Die UNFCCC-Verhandlungen laufen auch Gefahr, von Konzerninteressen der fossilen Brennstoffindustrie im Gastgeberland untergraben zu werden. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben vor kurzem angekündigt, ihre Aktivitäten im Bereich der fossilen Brennstoffe in allen Bereichen auszubauen, obwohl es einen wachsenden Konsens darüber gibt, dass es keine neue Öl-, Gas- oder Kohleförderung geben darf, wenn die Regierungen die globalen Klimaziele erreichen und die Menschenrechte schützen wollen.

Als Reaktion auf eine Untersuchung des Center for Climate Reporting und der BBC, in der festgestellt wurde, dass die Vereinigten Arabischen Emirate ihre Rolle als Gastgeber der UN-Klimagespräche nutzen wollten, um Öl- und Gasgeschäfte mit anderen Ländern abzuschließen, erklärte das UNFCCC-Sekretariat, dass von den Gastgebern der COP "erwartet wird, dass sie ohne Voreingenommenheit, Vorurteil, Gefälligkeit, Willkür, Eigeninteresse, Bevorzugung oder Rücksichtnahme handeln". Da der Gastgeber dieser COP diese Erwartungen offenbar nicht erfüllt hat, muss die UNFCCC bei künftigen COPs auf ein Verfahren drängen, das eine ähnliche Situation vermeidet.

Um ihren Menschenrechtsverpflichtungen gerecht zu werden und die Glaubwürdigkeit des Prozesses wiederherzustellen, sollte die UNFCCC die Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate dazu drängen, die Menschenrechte aller COP28-Teilnehmer/innen zu respektieren, einschließlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung, online und offline, sowie auf Proteste innerhalb und außerhalb des offiziellen Konferenzortes.

Die UN sollten die Vereinigten Arabischen Emirate außerdem auffordern, alle willkürlich inhaftierten Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger, darunter Ahmed Mansoor, unverzüglich und bedingungslos freizulassen, um ihre Absicht zu signalisieren, robuste und die Rechte achtende Klimaverhandlungen vor, während und nach der COP28 zu ermöglichen. Die Vereinten Nationen sollten sich auch mit den weit verbreiteten Verstößen gegen Arbeitsmigranten in den Vereinigten Arabischen Emiraten befassen, von denen viele an der Vorbereitung und Durchführung der COP28 mitgewirkt haben, die jedoch mit Arbeitsverstößen konfrontiert sind, wie z. B. exorbitanten Vermittlungsgebühren, Lohndiebstahl und der Gefährdung durch extreme Hitze.

Wanderarbeitnehmer/innen machen 88 Prozent der Bevölkerung aus, und viele von ihnen kommen aus klimabedrohten Ländern wie Bangladesch, Pakistan und Nepal. Wie Human Rights Watch kürzlich dokumentiert hat, stehen die Missstände, denen Wanderarbeitnehmer in den Vereinigten Arabischen Emiraten ausgesetzt sind, in einem größeren Zusammenhang mit klimabedingten Schäden. Außerdem sind in den Vereinigten Arabischen Emiraten Gewerkschaften verboten, was die Wanderarbeitnehmer daran hindert, einen stärkeren Arbeitsschutz zu fordern.

Für diese und künftige Klima-COPs sollte die UNFCCC auch das Gastgeberabkommen veröffentlichen und sicherstellen, dass es mit den internationalen Menschenrechtsbestimmungen übereinstimmt. Die Vereinten Nationen sollten Menschenrechtskriterien für künftige COP-Gastgeber festlegen, einschließlich der Verpflichtung, die Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu verwirklichen, die Voraussetzung für ein ambitioniertes COP-Ergebnis sind. Die Vereinten Nationen sollten außerdem sicherstellen, dass die Interessen der fossilen Brennstoffindustrie die Glaubwürdigkeit und das Ergebnis der Verhandlungen bei zukünftigen COPs nicht untergraben.

"Die UN hat die unbequeme Tatsache ignoriert, dass die Klimaverhandlungen von einem zutiefst repressiven Land ausgerichtet werden, das entschlossen ist, seine fossile Brennstoffindustrie auszubauen", sagte Pearshouse. "Das Mindeste, was sie jetzt tun kann, ist, die Behörden der Vereinigten Arabischen Emirate aufzufordern, ihre Menschenrechtsverpflichtungen gegenüber den Teilnehmern der COP28 und den Menschenrechtsverteidiger/innen hinter Gittern einzuhalten."

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Bessere Statistiken für EU-Regierungen zur Bekämpfung von Hass gegen Juden und Muslime

Click to expand Image Ein Plakat mit der Aufschrift "Antisemitismus, Islamophobie, Rassismus, nicht in unserem Namen" während einer Kundgebung gegen Antisemitismus am Place de la Republique in Paris, 18. Februar 2019. © 2023 Francois Mori/AP Photo

Ein muslimischer Abgeordneter in Berlin hat hasserfüllte Flugblätter erhalten, die mit Glas und Fäkalien vermischt waren. In Lyon, Frankreich, wurde eine Jüdin erstochen. Weitere derartige Vorfälle wurden aus ganz Europa gemeldet.

Der zunehmende Antisemitismus und antimuslimische Hass in Europa hat angesichts der jüngsten Feindseligkeiten in Israel und Palästina zu großer Besorgnis geführt. Die Reaktion der EU-Regierungen war jedoch unvollständig und ineffektiv, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass es ihnen an angemessenen Antidiskriminierungsdaten und Schutzstrategien fehlt, die auf die täglichen Diskriminierungserfahrungen von Juden und Muslimen eingehen.

Führende EU-Mitgliedstaaten wie Frankreich und Deutschland erheben angesichts ihrer Größe, ihrer Geschichte und der groβen muslimischen und jüdischen Bevölkerungsgruppe polizeiliche Daten über Hassverbrechen, einschließlich antisemitischer und antimuslimischer Straftaten. Diese Daten setzen jedoch voraus, dass die Opfer sich trauen oder wissen, wo und wie sie Anzeige erstatten können - folglich werden viele Hassverbrechen nicht gemeldet. Außerdem müssen die Behörden solche Taten als antisemitisch oder antimuslimisch erkennen und erfassen.

Gute Daten über Hassverbrechen helfen den Regierungen, die Notwendigkeit des Schutzes von Opfern von Diskriminierung zu erkennen. Um Hassverbrechen zu verhindern, muss jedoch eine stärkere Konzentration auf den Kontext stattfinden, in dem diese Verbrechen begangen werden, da antisemitische und antimuslimische Straftaten nicht in einem Vakuum passieren. Die Regierungen sollten Maßnahmen ergreifen, die solche abscheulichen Verbrechen verhindern und einen besseren Zugang zur Justiz ermöglichen, um Muslime und Juden zu schützen.

Sowohl der EU-Aktionsplan gegen Rassismus 2020-2025, mit dem der Rassismus in der Europäischen Union strukturell bekämpft werden soll, als auch die EU-Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus und zur Förderung des jüdischen Lebens fordern die EU-Staaten auf, nach Rasse, nationaler oder ethnischer Herkunft, Geschlecht, Alter, Migrationsstatus und anderen Faktoren aufgeschlüsselte Gleichstellungsdaten zu erheben, die notwendig sind, um die Erfahrungen von Opfern von Rassismus, einschließlich Muslimen, und Antisemitismus sichtbar zu machen. Die Daten würden den Regierungen helfen, faktengestützte Gleichstellungs- und Nichtdiskriminierungsmaßnahmen zu entwickeln und deren Umsetzung zu überwachen.

Frankreich und Deutschland erheben jedoch keine Gleichstellungsdaten, die über Daten zum Migrationshintergrund hinausgehen. Umfassende Erhebungen, Überwachungen und Berichte, die von nationalen Instituten und regionalen Menschenrechtsorganisationen durchgeführt werden, sind zwar dringend erforderlich. Sie können aber nicht das Versäumnis der Regierungen ersetzen, robuste Strategien zur Bekämpfung der von Muslimen und Juden erfahrenen Übergriffe zu entwickeln, wozu auch die Erhebung von Gleichstellungsdaten gehört.

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Gaza: Geiselvideos sind „Beeinträchtigung der persönlichen Würde“

Click to expand Image Fotos von Israelis, die am 7. Oktober bei dem von der Hamas geführten Angriff als Geiseln verschleppt wurden. Die Bilder wurden bei einer Demonstration für die Freilassung der Geiseln am 17. Okotber 2023 auβerhalb der HaKirya-Militärbasis in Tel Aviv aufgehängt. © 2023 Kobi Wolf/Bloomberg via Getty Images

(Jerusalem) – Die Praxis der Hamas und des Islamischen Dschihad, Videos von israelischen Geiseln zu veröffentlichen, ist eine Form der unmenschlichen Behandlung, die einem Kriegsverbrechen gleichkommt, so Human Rights Watch heute.

Am 9. November 2023 veröffentlichte der Islamische Dschihad ein Video, das zwei israelische Geiseln zeigt, die um ihre Freilassung bitten, darunter ein Kind. Es ist das dritte Video dieser Art, das die bewaffneten Gruppen seit der Geiselnahme von mehr als 240 Menschen am 7. Oktober im Süden Israels veröffentlicht haben.

„Die Hamas und der Islamische Dschihad halten nicht nur unrechtmäßig Zivilisten als Geiseln fest, darunter auch Kinder, sondern zeigen der Weltöffentlichkeit Bilder der Geiseln in einem äußerst verwundbaren Moment“, sagte Omar Shakir, Direktor der Abteilung Israel und Palästina bei Human Rights Watch. „Anstatt ein vollkommen verängstigtes Kind zu filmen, sollten die Gruppen es unversehrt freilassen und seiner Familie übergeben.“

Sowohl die Geiselnahme als auch die „Beeinträchtigung der persönlichen Würde“ von Gefangenen sind schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht oder das Kriegsrecht. Die Hamas und der Islamische Dschihad sind verpflichtet, den Geiseln Kontakt zu ihren Familien zu ermöglichen. Stattdessen veröffentlichen sie Videoerklärungen, zu denen die Geiseln möglicherweise gezwungen werden.

Die Hamas und der Islamische Dschihad sollten unverzüglich und bedingungslos alle von ihnen festgehaltenen Zivilist*innen freilassen und ihnen bis dahin die Möglichkeit geben, mit ihrer Familie über nicht öffentliche Kanäle zu kommunizieren. Zudem sollten sie von einer unparteiischen humanitären Organisation aufgesucht werden können.

Das am 9. November veröffentlichte Video zeigt angeblich zwei Geiseln, die als Hannah Katzir und der 13-jährige Yagil Yaakov aus Nir Oz im Süden Israels identifiziert wurden. Auf Hebräisch bitten sie die israelische Regierung, eine Vereinbarung zu treffen, damit sie nach Hause zurückkehren können. Israelischen Medien zufolge ist Katzir 77 Jahre alt. Yagil Yaakov bedankt sich in dem Video bei den Kämpfern des Islamischen Dschihad dafür, ihn zu „beschützen“.

Die Hamas hat zwei ähnliche Videos veröffentlicht, in denen die Geiseln ebenfalls darum bitten, nach Hause zurückzukehren. Wie in einem früheren Video kritisieren die beiden Geiseln die Politik des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu und geben an, gut behandelt zu werden.

In einem kurz davor veröffentlichten Video erklärt ein maskierter Mann auf Arabisch, dass Saraya al-Quds, der militärische Flügel des Islamischen Dschihad, bereit sei, die beiden Geiseln Katzir und Yaakov aus „humanitären Gründen“ freizulassen, und dass die israelische Blockade des Gazastreifens ihre medizinische Versorgung erschweren könnte. In der Bildunterschrift zu diesem Video wird der Mann als Abu Hamza, Sprecher von Saraya al-Quds, benannt. Die Videos wurden offenbar zuerst auf in einem Telegram-Kanal veröffentlicht, der angeblich Saraya al-Quds zuzuordnen ist. Human Rights Watch konnte keine Versionen dieser Videos finden, die vor dem 9. November ins Netz gestellt wurden.

In einem Audioclip aus einem Facebook-Post gab sich Renana Gome als Mutter von Yagil Yaakov und seinem 16-jährigen Bruder Or zu erkennen und sagte, die beiden Jungen seien am 7. Oktober aus ihrem Haus in Nir Oz entführt worden. Die Geschichte der beiden entführten Jungen wird in einem kurzen Animationsfilm behandelt, den Gome auf ihrer Facebook-Seite postete.

Am 7. Oktober griffen bewaffnete Kämpfer unter der Führung der Hamas den Süden Israels an, ermordeten Hunderte von Zivilist*innen und nahmen nach Angaben israelischer Behörden mehr als 240 Geiseln. Unter den von der Hamas und dem Islamischen Dschihad entführten Geiseln sind auch Kinder und ältere Menschen. Vier Frauen wurden inzwischen freigelassen und das israelische Militär konnte eine fünfte Geisel bei Bodenoperationen befreien. Darüber hinaus hält die Hamas seit beinahe einem Jahrzehnt zwei israelische Zivilist*innen mit psychosozialen Einschränkungen gefangen.

Nach dem Angriff kappte Israel die Strom- und Wasserversorgung des Gazastreifens und blockierte die Einfuhr von Treibstoff und Lebensmitteln sowie auch, von wenigen Ausnahmen abgesehen, humanitäre Hilfe, was die 16 Jahre andauernde illegale Blockade des Gazastreifens zusätzlich verschärft. Damit verstößt Israel gegen das humanitäre Völkerrecht, das eine kollektive Bestrafung verbietet. Die israelischen Streitkräfte führen außerdem eine intensive Luft- und Bodenoffensive in Gaza durch. Nach Angaben der Behörden in Gaza wurden dort seit dem 7. Oktober fast 11.000 Palästinenser*innen, darunter mehr als 4.000 Kinder, getötet. Die Hamas und der Islamische Dschihad haben seit Beginn des Kriegs Erklärungen abgegeben, wonach sie bereit wären, weitere Geiseln freizulassen, wenn im Gegenzug palästinensische Gefangene freigelassen würden, darunter etwa 2.000 Palästinenser*innen, die ohne Gerichtsverfahren oder Anklageerhebung in israelischen Gefängnissen in Verwaltungshaft sitzen.

Nach dem humanitären Völkerrecht müssen die bewaffneten palästinensischen Gruppen alle zivilen Geiseln sofort und bedingungslos freilassen.

Die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen haben einige Geiseln unrechtmäßig der Öffentlichkeit vorgeführt, als sie sie nach Gaza brachten, und Fotos und Videos von ihnen veröffentlicht. Die Hamas sollte es den Gefangenen gestatten, entweder ihre Familien direkt zu kontaktieren oder aber, indem entsprechende Informationen an eine unabhängige humanitäre Organisation wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz weitergegeben werden.

Der gemeinsame Artikel 3 der vier Genfer Konventionen von 1949, der für alle Parteien des bewaffneten Konflikts in Israel und Palästina gilt, sieht vor, dass Kriegsgefangene „unter allen Umständen menschlich behandelt werden müssen“. Zu den verbotenen Handlungen gehören „Beeinträchtigung der persönlichen Würde, insbesondere eine erniedrigende und entwürdigende Behandlung“. Verstöße gegen den gemeinsamen Artikel 3 stellen Kriegsverbrechen dar.

Zu den Straftatbeständen des für Palästina zuständigen Internationalen Strafgerichtshofs wird „Beeinträchtigung der persönlichen Würde“ als eine Handlung definiert, bei der „der Täter eine Person erniedrigt, entwürdigt oder auf andere Weise in ihrer Würde verletzt hat und die Schwere der Erniedrigung, Entwürdigung oder sonstigen Verletzung so groß war, dass sie allgemein als Beeinträchtigung der persönlichen Würde anerkannt wird“. Videos von Geiseln zu veröffentlichen, ist eine Beeinträchtigung der persönlichen Würde, so Human Rights Watch.

„Entführung“ ist eines der sechs schweren Verbrechen gegen Kinder, die in den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats aufgezählt werden.

„Die Familien der in Gaza festgehaltenen Geiseln suchen verzweifelt den Kontakt zu ihren Angehörigen“, sagte Shakir. „Die Hamas und der Islamische Dschihad sollten die zivilen Geiseln freilassen oder ihnen zumindest die Möglichkeit geben, ihre Familien privat und unter würdigen Bedingungen zu kontaktieren.“

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Gaza: Erkenntnisse zur Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus

Click to expand Image Eine Luftaufnahme des Geländes des Al-Ahli Krankenhauses. Der Krater ist auf dem Weg zwischen den beiden Grünanlagen zu sehen. An den Autos auf dem angrenzenden Parkplatz sind Brandschäden zu erkennen, Gaza-Stadt, 17. Oktober 2023. © 2023 Shadi Al-Tabatibi/AFPTV

(Jerusalem, 26. November 2023) – Am 17. Oktober 2023 wurden bei einer Explosion am Al-Ahli-Arabi-Krankenhaus in Gaza-Stadt zahlreiche Zivilist*innen getötet und verletzt. Die Explosion wurde offenbar von raketengetriebener Munition ausgelöst, wie sie häufig von bewaffneten palästinensischen Gruppen verwendet wird, erklärte Human Rights Watch heute. Fehlgeleitete Raketen kommen zwar häufig vor, doch lässt sich nur mithilfe weiterer Untersuchungen feststellen, wer die mutmaßliche Rakete abgefeuert hat und ob dabei gegen das Kriegsrecht verstoßen wurde.

Die Munition, die Human Rights Watch bislang nicht eindeutig identifizieren konnte, schlug am 17. Oktober um 18:59 Uhr auf einer gepflasterten Fläche innerhalb des Krankenhausgeländes ein. Um diese Fläche befindet sich ein Parkplatz und ein begrünter Bereich, in dem sich viele Zivilist*innen versammelt hatten, um Schutz vor israelischen Angriffen zu suchen. Laut dem Gesundheitsministerium in Gaza wurden dabei 471 Menschen getötet und 342 verletzt. Human Rights Watch konnte diese Zahlen nicht belegen.

„Nach Sichtung von Videos und Fotos geht Human Rights Watch davon aus, dass am 17. Oktober eine Rakete auf dem Gelände des Al-Ahli Krankenhauses einschlug“, sagte Ida Sawyer, Direktorin der Abteilung Krisen und Konflikte bei Human Rights Watch. „Die Opfer und die Familien der Getöteten und Verletzten, die im Krankenhaus Schutz gesucht hatten, verdienen eine umfassende Untersuchung, damit sie Klarheit darüber erlangen, was genau passiert ist und wer dafür verantwortlich ist.“

Während das Gesundheitsministerium in Gaza Israel für die Explosion verantwortlich machte, erklärte das israelische Militär, die Explosion sei auf eine fehlgeleitete Rakete des Islamischen Dschihad zurückzuführen. Sowohl die israelischen als auch die palästinensischen Behörden haben es jahrzehntelang versäumt, glaubwürdige und unparteiische Untersuchungen mutmaßlicher Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht durchzuführen. Deshalb ist eine unabhängige Untersuchung des Vorfalls jetzt umso wichtiger, etwa durch eine von den Vereinten Nationen eingesetzte Untersuchungskommission. Im Rahmen der Untersuchung müssen alle Parteien uneingeschränkt kooperieren.

Human Rights Watch hat öffentlich zugängliche Fotos und Videos der Explosion sowie Satellitenbilder geprüft, fünf Augenzeugen des Vorfalls und seiner Nachwirkungen befragt, von anderen Organisationen veröffentlichte Untersuchungen durchgesehen und Expert*innen konsultiert. Per Fernanalyse hat HRW die Explosion und die Schäden vor Ort bewertet sowie mehrere mögliche Flugbahnen der Objekte rekonstruiert, die auf den zum Zeitpunkt des Angriffs aufgenommenen Videos zu sehen waren. Die Videos zeigen auch die Momente vor und nach der Explosion im Krankenhaus.

„Man konnte nirgendwo hingehen, denn überall lagen Leichenteile, Verletzte und Sterbende“, sagte ein Journalist, der eine Stunde nach der Explosion im Krankenhaus eintraf, gegenüber Human Rights Watch. „Die Menschen am Tatort waren hauptsächlich Kinder, ältere Menschen und Frauen.“

Da es keine öffentlich zugänglichen Bilder von Munitionsresten gibt und Human Rights Watch das Krankenhausgelände nicht besichtigen konnte, war es bisher nicht möglich, die Munition eindeutig zu identifizieren.

Die Geräusche, die der Explosion vorausgingen, der Feuerball, der sie begleitete, die Größe des entstandenen Kraters, das Muster der damit verbundenen Splitterschäden und die Art und das Muster der Risse, die um den Krater herum zu sehen waren, deuten jedoch insgesamt auf den Einschlag einer Rakete hin.

Auf Grundlage der Human Rights Watch vorliegenden Belege ist es höchst unwahrscheinlich, dass die Explosion von einer großen, aus der Luft abgeworfenen Bombe herrührte. Das israelische Militär hat seit dem 7. Oktober Tausende solcher Bomben über dem Gazastreifen abgeworfen.

Die Behörden im Gazastreifen sind offensichtlich im Besitz von Überresten der Munition, die am Al-Ahli-Krankenhaus explodiert ist. Diese Überreste würden eine eindeutige Identifikation zulassen. Ein am Abend der Explosion aufgenommenes Foto zeigt Mitarbeiter des Kampfmittelräumdienstes, einer Spezialeinheit der Polizei von Gaza, die im Bereich um den Krater tätig sind. Ein Zeuge, der sich am Abend der Explosion im Krankenhaus aufhielt, berichtete Human Rights Watch, dass „Mitarbeiter des Innenministeriums alle Splitter, die sich auf dem Gelände befanden, mitnahmen“.

Ein Hamas-Mitglied sagte, dass die Überreste „bald der Welt gezeigt“ werden würden. Mehr als einen Monat nach der Explosion ist dies noch nicht geschehen. Ghazi Hamad, ein hochrangiger Hamas-Sprecher und stellvertretender Außenminister der Hamas im Gazastreifen, erklärte am 22. Oktober gegenüber den Medien, dass „sich die Rakete wie Salz in Wasser aufgelöst hat … Sie ist verdampft. Nichts ist übriggeblieben“. Human Rights Watch wies darauf hin, dass der Großteil der Munition in der Regel nach einer Detonation vorhanden bleibt, auch wenn Teile der Munition so konstruiert sind, dass sie auseinanderbrechen und durch thermische Schäden unkenntlich gemacht werden können. In einem Schreiben vom 10. November bat Human Rights Watch den Sprecher des Hamas-Innenministeriums im Gazastreifen, Iyad al-Bozom, um Informationen, auch über die Überreste. Zum Zeitpunkt dieser Pressemitteilung lag noch keine Antwort vor.

Die Behörden im Gazastreifen und in Israel sollten alle ihnen vorliegenden Informationen über die Explosion öffentlich zugänglich machen, insbesondere jegliche Belege hinsichtlich der Munitionsreste. Auch medizinische Aufzeichnungen über die Art der Verletzungen der Opfer, vorbehaltlich solcher, die dem Schutz der Privatsphäre und der Vertraulichkeit unterliegen, sowie andere Beweismittel wie unveröffentlichte Videos von der Explosion könnten Aufschluss über die Ursache der Explosion geben.

Israelische Streitkräfte haben im Rahmen der aktuellen Kampfhandlungen wiederholt mutmaßlich rechtswidrige Angriffe auf medizinische Einrichtungen, Personal und Transporte durchgeführt, die Human Rights Watch dokumentiert hat. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtete am 21. November, dass sie seit dem 7. Oktober 178 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen im Gazastreifen dokumentiert habe und dass die meisten Krankenhäuser im Gazastreifen infolge der Angriffe nicht mehr funktionsfähig seien.

Seit dem 7. Oktober haben bewaffnete palästinensische Gruppen rechtswidrig Tausende Raketen auf israelische Gemeinden abgefeuert und damit Menschen getötet und verletzt und Sachschäden verursacht.

Der UN-Menschenrechtsrat hat 2021 eine unabhängige internationale Untersuchungskommission für die besetzten palästinensischen Gebiete eingesetzt, einschließlich Ost-Jerusalem, und Israel. Diese Kommission hat das Mandat, „alle mutmaßlichen Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und gegen die internationalen Menschenrechtsnormen in den besetzten palästinensischen Gebieten, einschließlich Ost-Jerusalem, und in Israel bis zum 13. April 2021 und danach zu untersuchen.“ Am 10. Oktober gab die Untersuchungskommission bekannt, dass sie „für Kriegsverbrechen, die von allen Parteien seit dem 7. Oktober 2023 begangen wurden, Beweise sammelt und aufbewahrt“.

Nach dem humanitären Völkerrecht bzw. dem Kriegsrecht stehen Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen, Verletzte und Kranke sowie medizinisches Personal und Krankentransporte unter besonderem Schutz, das heißt, sie müssen unter allen Umständen geschützt und respektiert werden.

Die Staaten sollten Militärhilfe und Waffenlieferungen an bewaffnete palästinensische Gruppen, einschließlich der Hamas, aussetzen, solange diese weiterhin systematisch Angriffe auf die israelische Zivilbevölkerung verübt, die Kriegsverbrechen darstellen. Ebenso sollten Regierungen Militärhilfe und Waffenlieferungen an Israel aussetzen, solange dessen Streitkräfte wiederholt ungestraft schwere Übergriffe begehen, die Kriegsverbrechen gegen die palästinensische Zivilbevölkerung darstellen.

„Die Explosion im Al-Ahli-Krankenhaus ist einer von zahlreichen Angriffen, bei denen medizinische Einrichtungen im gesamten Gazastreifen beschädigt und Zivilisten und medizinisches Personal getötet wurden. Somit bleibt vielen Palästinensern der Zugang zu dringend benötigter medizinischer Versorgung verwehrt.“, sagte Sawyer. „Die Behörden in Gaza und Israel sollten die Beweise für Munitionsreste und andere Informationen, die sie über die Explosion im Al-Ahli Krankenhaus haben, freigeben, um eine vollständige Untersuchung zu ermöglichen.“

Weitere Berichte von Human Rights Watch zu Israel und Palästina finden Sie unter:

https://www.hrw.org/middle-east/north-africa/israel/palestine

 

 

 

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Deutschland: Urteil im Prozess um Gräueltaten in Gambia

Click to expand Image Betroffene und Vertreter aus Nichtregierungsorganisationen stehen vor dem Oberlandesgericht Celle in Celle, Deutschland. © 2022 Whitney-Martina Nosakhare/Human Rights Watch

(Berlin) - Ein Gericht in Celle wird voraussichtlich am 30. November 2023 ein Urteil im ersten Prozess in Deutschland wegen Verbrechen in Gambia verkünden, teilten gambische und internationale zivilgesellschaftliche Gruppen heute in einem Frage-und-Antwort-Dokument über den Prozess mit.

Die Gruppen sind: das African Network against Extrajudicial Killings and Enforced Disappearances (ANEKED), das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), das Gambian Center for Victims of Human Rights Violations, Human Rights Watch, die International Commission of Jurists, Reporters Without Borders (RSF), die Rose Lokissim Association, die Solo Sandeng Foundation und TRIAL International.

Dieser Gerichtsprozess ist möglich, weil Deutschland das Weltrechtsprinzip für bestimmte schwere Verbrechen nach internationalem Recht anerkennt und damit die Untersuchung und Verfolgung dieser Verbrechen unabhängig von ihrem Tatort und der Nationalität der Verdächtigen oder Opfer ermöglicht.

Der Prozess befasst sich mit Bai L., einem mutmaßlichen Mitglied der "Junglers", einer paramilitärischen Einheit, die auch als "Patrouillenteam" bekannt ist und Mitte der 1990er Jahre vom damaligen Präsidenten Yahya Jammeh gegründet wurde. Jammehs 22-jährige Herrschaft war von systematischer Unterdrückung und weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen geprägt, darunter Folter, außergerichtliche Tötungen, gewaltsames Verschwindenlassen und sexuelle Gewalt gegen tatsächliche und angebliche Gegner.

Die deutsche Staatsanwaltschaft wirft Bai L. vor, als Fahrer der Junglers an der versuchten Ermordung des Anwalts Ousman Sillah, der Ermordung der Journalistin Deyda Hydara, der versuchten Ermordung von Ida Jagne und Nian Sarang Jobe, die für die unabhängige Zeitung Hydara arbeiteten, und der Ermordung des ehemaligen gambischen Soldaten Dawda Nyassi beteiligt gewesen zu sein.

Das Urteil im Fall Bai L. ist ein bedeutender Schritt auf dem Weg zur Gerechtigkeit für die jahrelangen Menschenrechtsverletzungen, die unter Jammehs Herrschaft in Gambia begangen wurden, so die Gruppen. Der Prozess gegen Bai L. verdeutlicht die Rolle, die Regierungen wie Deutschland bei der Strafverfolgung von im Ausland begangenen Gräueltaten nach dem Weltrechtsprinzip spielen können.

Zivilgesellschaftliche Gruppen werden am Donnerstag, den 30. November, nach der Urteilsverkündung - geplant für 15:30 Uhr MEZ - eine Online-Pressekonferenz unter folgendem Link abhalten:
https://us06web.zoom.us/j/81236784593?pwd=tvLgbtT3I8N9rF2Db2XTIRyH3Kn1gv.1

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Staaten sollten IStGH-Untersuchung zu Israel-Palästina unterstützen

Click to expand Image Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) ist am 7. November 2019 in Den Haag, Niederlande, zu sehen.  © 2019 AP Photo/Peter Dejong, File

Der Konflikt zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen eskaliert weiter. Damit verbunden sind grausame Verbrechen mit verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung. Die Straflosigkeit für vergangene Vergehen hat eindeutig zu den heutigen Menschenrechtsverletzungen beigetragen, und es gibt keine Anzeichen dafür, dass diese aufhören. Trotz dieser Umstände haben Regierungen die entscheidende Rolle des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), der einzigen internationalen Instanz, die für unparteiische Gerechtigkeit sorgen soll, weitgehend ignoriert.

Nicht alle Staaten sind Mitglieder des IstGH, und bei Krisen, die von schweren Rechtsverletzungen geprägt sind, ist er oft nicht zuständig. Israel ist zwar kein Mitglied, der Staat Palästina aber schon. Die Anklagebehörde des IStGH untersucht dort seit 2021 mutmaßliche gravierende Verbrechen.

Am 10. Oktober stellte die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für die besetzten palästinensischen Gebiete fest, dass es "eindeutige Beweise" für Kriegsverbrechen in Israel und im Gazastreifen gibt und dass sie Informationen mit den zuständigen Justizbehörden, insbesondere dem IStGH, teilen werde.

Allerdings sind Human Rights Watch nur drei Mitgliedsländer des IStGH bekannt - Liechtenstein, die Schweiz und Südafrika -, die sich eindeutig zum IStGH und den aktuellen Kampfhandlungen geäußert haben. Der irische Außenminister hat in Medienberichten auf die Rolle des Strafgerichtshofs verwiesen. Für andere scheint der IStGH der juristische Elefant im Raum zu sein.

Alle IStGH-Mitglieder sollten dringend ihre Unterstützung für die Rolle des Gerichtshofs zum Ausdruck bringen.

Die bisherige Reaktion steht in krassem Gegensatz zu anderen Krisen, einschließlich der Ukraine, einem Nicht-IStGH-Mitgliedstaat. Nach der russischen Generalinvasion im Februar 2022 wies der Ankläger des IStGH auf die wichtige Rolle des Gerichts hin. Eine noch nie dagewesene Anzahl von meist europäischen IStGH-Mitgliedsländern forderte ihn auf, eine Untersuchung gegen die Ukraine einzuleiten. Sogar die Vereinigten Staaten, die auch kein Vertragsstaat sind, haben sich nachdrücklich für die Rolle des Gerichts in der Ukraine ausgesprochen.

Der Chefankläger des IStGH hat bsi jetzt keine öffentliche Erklärung abgegeben, in der er Israel und die bewaffneten palästinensischen Gruppen an ihre völkerrechtlichen Verpflichtungen und an das Mandat des Gerichtshofs zur Untersuchung ihrer Taten erinnert. Die Stimme des Gerichtshofs wird dringend benötigt, um weitere Massengräueltaten zu verhindern.

Doppelstandards beim Anspruch der Opfer auf Rechenschaftspflicht sind inakzeptabel. Nach dem Veto der USA gegen eine Resolution des UN-Sicherheitsrats wird die UN-Generalversammlung am 26. Oktober eine Sondersitzung einberufen, um sich mit den aktuellen Kampfhandlungen zu befassen. Werden die Staaten diesen Moment nutzen, um ihre Stimme für Gerechtigkeit zu erheben?

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Sudan: Wieder Massentötungen und Plünderungen in Darfur

Click to expand Image Familien, die aus Ardamata in West-Darfur fliehen, überqueren nach einer Welle ethnischer Gewalt die Grenze nach Adre im Tschad, 7. November 2023. Überlebende berichteten von Hinrichtungen und Plünderungen in Ardamata, die ihrer Meinung nach von der RSF und verbündeten arabischen Milizen durchgeführt wurden. © 2023 REUTERS/El Tayeb Siddig Die Rapid Support Forces töteten Anfang November 2023 in West-Darfur Hunderte Zivilist*innen. Die jüngste Serie ethnisch motivierter Tötungen durch die Rapid Support Forces in West-Darfur ist offensichtlich eine organisierte Kampagne von Gräueltaten gegen die massalitische Zivilbevölkerung. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sollte dringend die Präsenz der UN im Sudan verstärken, um weitere Gräueltaten zu verhindern und die Zivilbevölkerung in Darfur besser zu schützen.

(Nairobi, 27. November 2023) - Die Rapid Support Forces und mit ihnen verbündete Milizen haben Anfang November 2023 in West-Darfur Hunderte Zivilist*innen getötet, wie Human Rights Watch heute berichtet. Die Truppen plünderten zudem, attackierten Mitglieder der überwiegend massalitischen Gemeinschaft in Ardamata, einem Vorort von El Geneina in West-Darfur, und nahmen vielen von ihnen unrechtmäßig gefangen.

In Anbetracht des Endes der UN-Mission im Sudan und deren Ersetzung durch einen entsprechenden Sondergesandten sollte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen dringend prüfen, wie die UN-Präsenz im Sudan verstärkt werden kann, um weitere Gräueltaten zu verhindern und die Zivilbevölkerung in Darfur besser zu schützen.

Zudem sollte der Sicherheitsrat die Überwachung der dortigen Menschenrechtsverletzungen unterstützen und das bestehende Waffenembargo auf das gesamte Land und alle an dem Konflikt beteiligten Parteien ausweiten. Die afrikanischen Mitglieder des Sicherheitsrats, die Vereinigten Arabischen Emirate und andere Regierungen im Rat sollten diese und andere Maßnahmen unterstützen, um sicherzustellen, dass das mächtigste UN-Gremium seiner Verantwortung für den Schutz der Zivilbevölkerung in West-Darfur und im übrigen Sudan nachkommen kann.

„Die jüngste Angriffsserie der Rapid Support Forces mit gezielten ethnischen Tötungen in West-Darfur ist offensichtlich eine organisierten Kampagne von Gräueltaten gegen die massalitische Zivilbevölkerung“, sagte Mohamed Osman, Sudan-Forscher bei Human Rights Watch. „Der UN-Sicherheitsrat muss anerkennen, wie dringend die Zivilbevölkerung in Darfur Schutz benötigt.“

Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) wurden bei den Angriffen Anfang November in Ardamata schätzungsweise 800 Menschen getötet. Menschenrechtsbeobachter*innen vor Ort befragten Überlebende, die in den Tschad geflohen sind, und schätzten die Zahl der Todesopfer, hauptsächlich Zivilist*innen, auf 1.300 bis 2.000, darunter Dutzende, die auf dem Weg in den Tschad getötet wurden. Mindestens 8.000 Menschen sind in den Tschad geflohen, ebenso wie die etwa 450.000 Menschen, vor allem Frauen und Kinder, die durch Angriffe in West-Darfur insbesondere zwischen April und Juni vertrieben wurden.

Human Rights Watch befragte 20 Massalit, die zwischen dem 1. und 10. November aus Ardamata in den Osten des Tschad geflohen waren, darunter drei Soldaten der sudanesischen Streitkräfte (SAF). Die Befragten berichteten von Tötungen, Beschuss, unrechtmäßigen Verhaftungen, sexueller Gewalt, Misshandlungen und Plünderungen. Um sie zu schützen, wurden die Namen aller Befragten geändert. Human Rights Watch analysierte zudem acht Videos und Bilder, die in sozialen Medien veröffentlicht wurden und die Festnahme von über 200 Männern und Jungen durch die Rapid Support Forces in Ardamata zeigen. Ein Video zeigt, wie die Kämpfer eine Gruppe von Männern verprügeln.

Human Rights Watch teilte den Rapid Support Forces in einem Brief seine Erkenntnisse und Fragen mit, erhielt aber bis Redaktionsschluss keine Antwort.

Satellitenbilder, die in der ersten Novemberwoche aufgenommen wurden, zeigen die Auswirkungen des Beschusses auf die zivile und militärische Infrastruktur sowie Plünderungen und Brandstiftung im und um das Vertriebenenlager Ardamata. Auf den Satellitenbildern sind auch möglicherweise frische Gräber und Leichen auf der Straße zu erkennen.

Am 15. April brach im Sudan ein Konflikt zwischen den beiden Streitkräften des Landes, den sudanesischen Streitkräften und den Rapid Support Forces, aus. Zwischen April und Juni führten die Rapid Support Forces und verbündete Milizen Angriffe auf die mehrheitlich massalitischen Stadtteile von El Geneina sowie auf andere Städte und Dörfer in der Region durch. Hierbei wurden in großem Umfang Zivilist*innen angegriffen.

Laufende Recherchen von Human Rights Watch und Medienberichte zeigen, dass die Angreifer Tausende Zivilist*innen töteten, ganze Viertel und Orte niederbrannten, an denen Vertriebene in El Geneina Zuflucht gefunden hatten, in großem Stil plünderten und Frauen und Mädchen vergewaltigten. Durch diese Angriffe wurden Hunderttausende Zivilist*innen gewaltsam vertrieben, von denen Tausende in Ardamata Zuflucht suchten. In Ardamata befindet sich sowohl ein Stützpunkt der sudanesischen Streitkräfte als auch ein Lager für Binnenflüchtlinge.

Nach Angaben von Überlebenden und lokalen Beobachter*innen kam es am 1. November erneut zu Kämpfen zwischen den Rapid Support Forces und den sudanesischen Streitkräften. Während der zweitägigen schweren Kämpfe im Anschluss nahmen beide Parteien den Ort unter Beschuss, wobei in einigen Fällen auch Zivilist*innen getroffen wurden. Anwohner*innen berichteten, dass sich einige Massalit-Kämpfer den sudanesischen Streitkräften anschlossen. Nachdem die Rapid Support Forces und die Milizen die Kontrolle über den Stützpunkt der sudanesischen Streitkräfte erlangt hatten, zogen sie ab dem 4. November durch das Vertriebenenlager und andere Wohngebiete, in denen sich hauptsächlich Massalit und andere nicht-arabische Gruppen aufhielten.

Überlebende berichteten, dass die Rapid Support Forces und die verbündeten Gruppen auf Zivilist*innen schossen, als diese flohen, und Menschen in ihren Häusern, Unterkünften und auf der Straße hinrichteten. Überlebende sagten zudem, die Angreifer hätten Massalit beleidigt und in einigen Fällen gesagt, sie wollten „Massalit töten“. Die Angreifer töteten in erster Linie Massalit-Männer, doch zwei Befragte gaben an, dass auch Angehörige nicht-arabischer Gruppen, vor allem ethnische Tama und Eringa, getötet und verletzt wurden.

Am 7. November, so ein 45-jähriger Massalit-Bauer, drangen arabische Milizionäre in Begleitung von Fahrzeugen der Rapid Support Forces in die Unterkunft ein, in dem er im Lager Ardamata Schutz suchte. Die Angreifer brachten sieben Männer zur Vorderseite des Hauses:

„Sie [die Angreifer] forderten mich auf, aus dem Haus zu kommen“, sagte der Mann. „In dem Moment, als ich herauskam, schossen ein oder zwei der Araber aus nächster Nähe auf die sieben Männer. Sie haben sie sofort erschossen. Sie lagen alle auf dem Boden. Einer [der Angreifer] sagte zu mir: ‚Siehst du, wie viele wir getötet haben?‘ Dann forderten sie mich auf, die Stadt zu verlassen.“

Wie bei den Gewaltwellen in El Geneina vor nur fünf Monaten hatten es die Rapid Support Forces und ihre Verbündeten auf prominente Mitglieder der Massalit-Gemeinschaft abgesehen. Unter ihnen war Mohamed Arbab, 85, ein Stammesführer aus der Stadt Misterei.  Berichten zufolge wurde er am 4. November zusammen mit seinem Sohn und sieben Enkelkindern getötet.

Click to expand Image Eine große Gruppe von Männern wird in Richtung des Flughafens El Geneina, östlich von Ardamata, getrieben. © 2023 Private.

Von Human Rights Watch überprüfte und analysierte Videos und Bilder, die Anfang November in den sozialen Medien veröffentlicht wurden und zeigen, wie Rapid Support Forces und arabische Milizionäre mehr als 200 Männer und Jungen an drei Orten in Ardamata festhalten.

Eine Serie von fünf Videos, die zwischen dem 4. und 5. November auf Telegram und Facebook hochgeladen wurden, zeigt außerdem, wie eine Gruppe von mindestens 125 Männern und Jungen gezwungen wird, in Richtung des Flughafens von El Geneina, östlich von Ardamata, zu laufen. Mehrere der Männer sind offenbar verwundet, einige hinken, eine Person wird von vier anderen Männern getragen. Human Rights Watch konnte nichts über den Verbleib dieser Menschen herausfinden. 

Die Angreifer plünderten Häuser und raubten Menschen auf der Flucht aus, schlugen und misshandelten sie. Auf den Satellitenbildern des Lagers Ardamata, die zwischen dem 5. und 7. November aufgenommen wurden, sind Anzeichen von Plünderungen und Brandstiftung zu erkennen, wobei ein Feuer rund um den Friedhof des Lagers zu sehen ist.

Click to expand Image Satellitenbilder vom 7. November zeigen aktive Brände und verbrannte Gebäude im Ardamata Camp. Bild © 2023 Planet Labs PBC. Analyse und Grafiken. Image © 2023 Planet Labs PBC. Analysis and graphics. © 2023 Human Rights Watch.

Videos vom 4. November, die vom offiziellen X-Account (ehemals Twitter) der Rapid Support Forces stammen und von Human Rights Watch geolokalisiert wurden, zeigen Abdel Raheem Hamdan Dagalo, den stellvertretenden Kommandanten der Rapid Support Forces und Bruder des Anführers der Rapid Support Forces, Mohamed Hamdan Dagalo „Hemedti“, in Ardamata, wie er mit seinen Truppen die Übernahme des Stützpunkts der sudanesischen Streitkräfte feiert, zusammen mit General Abdel Rahman Joma'a, dem Kommandanten der Rapid Support Forces in West-Darfur. Nach der Übernahme des Stützpunktes gab Abdel Raheem bekannt, dass Joma'a zum Kommandeur der 15. Militärdivision ernannt wurde.

Click to expand Image Screenshot aus einem Video, das Abdel Raheem Hamdan Dagalo (Mitte links) und General Abdel Rahman Joma'a (Mitte rechts) bei der Übernahme des SAF-Stützpunkts in Ardamata durch die sudanesische RSF zeigt.   © RSF Sudan auf X (früher bekannt als Twitter)

Nach internationalem Recht verstoßen vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung, einschließlich außergerichtlicher Tötungen, der Misshandlung von Zivilist*innen und all jenen, die nicht am Kampfgeschehen beteiligt sind, wie Gefangene und Verwundete, sowie die gewaltsame Vertreibung gegen das Kriegsrecht und können als Kriegsverbrechen geahndet werden. Mord, Vergewaltigung, Folter, Deportation, Verfolgung und andere Straftaten, die im Rahmen eines umfangreichen oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung auf der Grundlage einer Regierungs- oder Organisationspolitik begangen werden, stellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.

Am 16. November ersuchte der Sudan die UNO, das Mandat der politischen Mission im Land zu beenden. Am darauffolgenden Tag ernannte der UN-Generalsekretär einen Gesandten für den Sudan, was die Kontrolle der UN über die Situation erheblich einschränkte. Der UN-Sicherheitsrat und andere wichtige Akteure sollten alle Möglichkeiten in Betracht ziehen, um weitere Gräueltaten zu verhindern und die Zivilbevölkerung zu schützen. Als ersten Schritt sollten die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates einen Besuch des Rates im Osten des Tschad organisieren, um sich mit Überlebenden der aktuellen Gräueltaten in Darfur zu treffen, so Human Rights Watch.

Darüber hinaus sollten die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und andere betroffene Regierungen Sanktionen gegen alle verhängen, die das seit 2004 bestehende Waffenembargo des Sicherheitsrates gegen Darfur verletzen. Der Sicherheitsrat sollte das Embargo auf das gesamte Land ausweiten, so Human Rights Watch. Zudem sollte er auch die laufenden Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) zu den Verbrechen in Darfur und den Unabhängigen Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für den Sudan unterstützen, indem er sich an diese Gremien wendet, um zu sehen, welche Hilfe sie leisten können.

Die Vereinigten Staaten, Großbritannien, die Europäische Union, die Afrikanische Union, die Intergovernmental Authority on Development und andere betroffene Regierungen sollten unverzüglich gezielte Sanktionen gegen Abdel Raheem und Abdel Rahman verhängen, die ranghöchsten Befehlshaber der Rapid Support Forces, die offenbar bei den Angriffen in Ardamata anwesend waren. Sie sollten auch Hemedti, den Anführer der Rapid Support Forces, wegen schwerer Übergriffe durch die ihm unterstellten Kräfte bestrafen.

„Regionale und internationale Akteure haben die Warnungen von Überlebenden monatelang ignoriert, dass weitere Gräueltaten in West-Darfur drohen“, sagte Osman. „Der Sicherheitsrat muss konkrete Maßnahmen ergreifen, um auf den Ernst der Lage zu reagieren, Sanktionen gegen die wichtigsten Befehlshaber verhängen, die Freilassung der unrechtmäßig Gefangenen  erreichen und den Kampf gegen Straflosigkeit in der Region unterstützen.“

Kategorien: Menschenrechte

China: Moscheen geschlossen, zerstört und umgewandelt

Click to expand Image WeChat-Post des staatlichen Fernsehsenders in Linxia zeigt, wie eine Moschee geschlossen und in eine Werkstatt zur Armutsbekämpfung für Stoffschuhe im Dorf Huangniwan im August 2018 umgewandelt wurde, Autonome Präfektur Linxia Hui, Provinz Gansu, China, 14. Mai 2020. © 2020 China Linxia News Network

(New York) - Die chinesische Regierung reduziert die Zahl der Moscheen in den Provinzen Ningxia und Gansu im Rahmen ihrer „Moscheekonsolidierungs“-Politik erheblich und verletzt damit das Recht auf Religionsfreiheit, so Human Rights Watch heute.

Um die Ausübung des Islam einzuschränken, haben die chinesischen Behörden Moscheen geschlossen, abgerissen und für säkulare Zwecke umgebaut. Bei vielen Moscheen wurden architektonische Merkmale wie Kuppeln und Minarette entfernt.

„Die chinesische Regierung ‚konsolidiert‘ Moscheen nicht, wie sie behauptet. Stattdessen schließt sie viele und verletzt so die Religionsfreiheit“, sagte Maya Wang, stellvertretende China-Direktorin bei Human Rights Watch. „Die Schließung, Zerstörung und Umwandlung von Moscheen durch die chinesische Regierung ist Teil eines systematischen Versuchs, die Ausübung des Islam in China einzuschränken.“

Nach chinesischem Recht dürfen Menschen nur in amtlich zugelassenen Gebetsstätten offiziell zugelassene Religionen praktizieren. Die Gebetsstätten unterliegen hierbei der strengen Kontrolle der Behörden. Seit 2016, als Präsident Xi Jinping zur „Sinisierung“ der Religionen aufrief, die sicherstellen soll, dass die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) das spirituelle Leben der Menschen bestimmt, wurde die staatliche Kontrolle diesbezüglich ausgeweitet.

Die „Moscheekonsolidierung“[1] wird in einem Dokument der KPCh vom April 2018 erwähnt. In diesem wird eine mehrgleisige nationale Strategie zur „Sinisierung“ des Islam skizziert, was bedeutet, dass der Islam chinesischer gemacht werden soll.[2] In diesem Dokument werden die KPCh und die staatlichen Behörden im ganzen Land angewiesen, „die standardisierte Verwaltung des Baus, der Renovierung und der Erweiterung islamischer Stätten zu stärken“. Das Dokument stellt fest, dass ein zentraler Grundsatz hinter dieser „Verwaltung“ darin besteht, dass „keine neuen islamischen Stätten gebaut werden sollen“, um „die Gesamtzahl [der Moscheen] zu reduzieren“. Auch wenn es Ausnahmen geben kann, heißt es in dem Dokument, dass „mehr [Moschee-]Abrisse als Neubauten erfolgen sollen“.

Ma Ju, ein in den USA lebender Hui-Muslim-Aktivist, der mit weiteren Hui in China in Kontakt steht, die von dieser Politik betroffen sind, erklärte gegenüber Human Rights Watch, dass dies Teil der Bemühungen ist, gläubige Muslim*innen zu „transformieren“ (转化), um ihre Loyalität auf die KPCh zu lenken: „Regierungsbeamte wenden sich zuerst an die Mitglieder der Kommunistischen Partei, die auch Hui-Muslime sind ... dann gehen sie dazu über, Studierende und Regierungsangestellte zu ‚überzeugen‘, denen mit Verlust des Studien- oder Arbeitsplatzes gedroht wird, sollten sie an ihrem Glauben festhalten.“

Verfügbare Regierungsdokumente deuten darauf hin, dass die chinesische Regierung Moscheen in den Provinzen Ningxia und Gansu „konsolidiert“ hat. Diese sind nach Xinjiang die Provinzen mit den meisten muslimischen Einwohner*innen.[3] Seit 2017 haben die chinesischen Behörden in Xinjiang zwei Drittel der Moscheen in der Region beschädigt oder zerstört, so eine australische Forschungsorganisation. Etwa die Hälfte der Gebetshäuser wurde komplett abgerissen.

In Ningxia hat Human Rights Watch Videos und Bilder, die von Hui-Muslim*innen online gepostet wurden, geprüft und analysiert und mit Satellitenbildern abgeglichen, um die Umsetzung der Politik in zwei Dörfern zu untersuchen. Von den sieben Moscheen in diesen Dörfern wurden vier erheblich zerstört: drei Hauptgebäude wurden dem Erdboden gleichgemacht und der Waschraum einer Moschee wurde im Inneren beschädigt. Die Behörden haben die Kuppeln und Minarette aller sieben Moscheen entfernt.

Human Rights Watch konnte nicht genau ermitteln, wie viele Moscheen in Ningxia und Gansu geschlossen oder umfunktioniert wurden, da die offiziellen Dokumente keine genauen Angaben hierzu enthalten. In einem demnächst erscheinenden Bericht schätzen Hannah Theaker und David Stroup, die zu den Hui-Muslim*innen forschen, dass ein Drittel der Moscheen in Ningxia seit 2020 geschlossen wurde.[4] In einem Bericht von Radio Free Asia vom März 2021 wurde geschätzt, dass zwischen 400 und 500 Moscheen in Ningxia von einer Schließung bedroht sind. Im Jahr 2014 gab es dort noch 4.203 Moscheen.

Die chinesische Regierung behauptet, dass die Politik der „Moscheekonsolidierung“ darauf abzielt, „die wirtschaftliche Belastung für Muslim*innen zu verringern“, insbesondere für diejenigen, die in verarmten und ländlichen Gebieten leben.[5] Aktionen gegen Moscheen finden häufig statt, wenn die chinesische Regierung Dorfbewohner*innen aus diesen Gebieten umsiedelt und mehrere Dörfer zu einem zusammenlegt.[6] Die Regierung behauptet auch, dass die verschiedenen islamischen Konfessionen, die sich dieselben Räumlichkeiten teilen, so lernen, „in Einheit“ und „harmonischer“ miteinander zu leben.

Einige Hui-Muslim*innen haben sich trotz der staatlichen Zensur öffentlich gegen diese Politik ausgesprochen. Im Januar 2021 klagten die Behörden in Ningxia fünf Hui wegen „Aufruhrs“ an, nachdem sie 20 Personen angeführt hatten, die im Büro des Parteichefs des Dorfes gegen die Politik protestierten. Die Menschen haben auch gegen die Schließung und den Abriss von Moscheen sowie gegen die Entfernung von Kuppeln und Minaretten in Ningxia, Gansu und anderen muslimischen Hui-Regionen wie Qinghai und Yunnan protestiert.[7]

Ma Ju sagte gegenüber Human Rights Watch, dass die Konsolidierung der Moscheen darauf abzielt, die Menschen davon abzuhalten, zum Beten in die Moscheen zu gehen: „Nach der Entfernung der Minarette und Kuppeln beginnen die lokalen Regierungen, Dinge zu entfernen, die für religiöse Zwecke wichtig sind, wie etwa Waschräume und Predigerpodeste.“

Ma Ju sagte ferner, die Regierung versuche die Menschen von der Religionsausübung abzuhalten: „Wenn die Leute nicht mehr in die Moschee gehen, benutzen sie [die Behörden] das als Vorwand, um diese zu schließen.“ Er sagte, dass die Behörden in den verbleibenden „sinisierten“ Moscheen Überwachungssysteme installieren: „Nach dem Umbau werden die Besucher der verbleibenden Moscheen streng durch die lokalen Regierungen überwacht.“, so Ma Ju. „Am Anfang werden die Ausweise der Besucher kontrolliert. Dann installieren sie Überwachungskameras, ... um [diejenigen, denen der Besuch von Moscheen untersagt ist, einschließlich] Mitglieder der Kommunistischen Partei oder Kinder zu identifizieren.“

Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besagt, dass „jeder Mensch das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit hat“. Jeder Mensch hat das Recht, „seine Religion oder seine Überzeugung […] durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Vollziehung von Riten zu bekunden.“. Die chinesische Regierung sollte die Sinisierung der Religionen rückgängig machen, Gesetze und Verordnungen, die das Recht auf Religionsfreiheit einschränken, überprüfen und aufheben und die Menschen freilassen, die wegen friedlicher Kritik oder Protests gegen diese restriktive Politik in Haft sitzen.

Ausländische Regierungen, insbesondere die Mitgliedsstaaten der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIZ), sollten die chinesische Regierung drängen, ihre Politik der „Moscheekonsolidierung“ und die allgemeine Sinisierungskampagne einzustellen.

„Die Sinisierungspolitik der chinesischen Regierung zeigt eine generelle Missachtung der Religionsfreiheit nicht nur aller Muslim*innen in China, sondern aller Religionsgemeinschaften im Land“, sagte Wang. „Regierungen, die um die Religionsfreiheit besorgt sind, sollten dies direkt bei der chinesischen Regierung sowie bei den Vereinten Nationen und in anderen internationalen Foren ansprechen.“

[1] Diese Politik wird im Chinesischen bisweilen als „合坊并寺”, „合坊建寺” oder „合村并寺” bezeichnet.

[2] Das Dokument, das als „Dokument Nr. 10“ bekannt ist, wurde von der chinesischen Regierung nicht veröffentlicht. Es wurde als Teil der „Xinjiang Papers“ veröffentlicht. Auf den Seiten 5 und 6 wird die Politik zur Verringerung der Zahl der Moscheen in China erwähnt.

[3] Offiziellen Angaben zufolge gab es 2014 in China 39.135 Moscheen. Die drei Regionen mit der größten Anzahl von Moscheen sind Xinjiang (24.100), Gansu (4.606) und Ningxia (4.203). Siehe „版权所有 中国伊斯兰教协会, "2015最新中国清真寺数量及分布“, 3. März 2015. http://www.chinaislam.net.cn/cms/news/media/201503/03-8001.html.  

[4] Hannah Theaker und David Stroup, Making Islam Chinese: Religious Policy and Mosque Sinicization in the Xi Era, erscheint demnächst.

[5] Zu den Umsiedlungen auf dem Lande, siehe: Emily Feng, "In Rural China, Villagers Say They're Forced From Farm Homes To High-Rises," NPR, 10. August 2020, https://www.npr.org/2020/08/10/893113807/china-speeds-up-drive-to-pave-rural-villages-put-up-high-rises.

[6] In den konsolidierten Dörfern von Laochi außerhalb der Stadt Yinchuan (西夏区兴泾镇十里铺村涝池组合坊) gab es früher mindestens drei Moscheen (Laochi-Süd-Moschee, Laochi-Nord-Moschee und Laochi-Ost-Moschee), wie aus einem Moscheeverzeichnis von Ningxia aus dem Jahr 2009 hervorgeht. Als die Behörden die Dörfer konsolidierten, wurden nur zwei Moscheen wieder aufgebaut. Siehe: 北京市建壮咨询有限公司宁夏分公司, “十里铺村涝池组合坊并寺异地重建项目1#寺施工变更公告[变更公告],” 1. Juli 2021, http://www.nxggzyjy.org/ningxiaweb/002/002001/002001002/20210701/caf25360-441c-4c22-af20-f84545427878.html und 十里铺村涝池组合坊并寺异地重建项目2#寺施工招标文件, "十里铺村涝池组合坊并寺异地重建项目2#寺施工招标公告," 18. Januar 2021, http://www.nxggzyjy.org/ningxiaweb/002/002001/002001001/20210118/a2408fc2-8b66-40bb-9add-a80a9bbb7a39.html. 

[7] Die demnächst erscheinende Studie von Theaker und Stroup zeigt auch, wie die Politik der Moscheekonsolidierung in der Provinz Qinghai umgesetzt wird, wenn auch unter anderen Bezeichnungen, und dass sie wahrscheinlich auch in der Provinz Yunnan umgesetzt werden wird, da die Sinisierungsbemühungen der Behörden in Ningxia begonnen haben, bevor die gleichen Methoden anderswo angewandt werden.

Kategorien: Menschenrechte

Gaza: Zivile Geiseln freilassen, Hilfe in vollem Umfang zulassen

(Jerusalem) - Die israelischen Behörden und die Hamas haben sich Berichten zufolge auf einen mehrtägigen Waffenstillstand und die Freilassung von Dutzenden Zivilisten geeinigt, die im Gazastreifen als Geiseln gehalten werden. Dafür sollen im Austausch, zahlreiche palästinensische Gefangene freikommen.

Die folgende Aussage stammt von Omar Shakir, dem Direktor für Israel und Palästina bei Human Rights Watch.

„Geiselnahme ist ein Kriegsverbrechen, und die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen müssen die Geiseln alle sofort freilassen. Aber die Blockade von lebensrettenden Hilfsgütern und Treibstoff bis zur Freilassung der Geiseln ist ein Kriegsverbrechen, das das Leben von 2,2 Millionen Menschen in Gefahr gebracht hat. Menschen sind keine Verhandlungsobjekte. Waffenstillstand hin oder her, die ungesetzlichen Angriffe müssen aufhören.“

Nach Angaben lokaler Behörden wurden seit dem 7. Oktober etwa 1.200 Israelis und mehr als 11.000 Palästinenser, viele von ihnen Zivilisten, getötet. Bewaffnete palästinensische Gruppen haben mehr als 230 Menschen als Geiseln gehalten. Am 1. November hielten die israelischen Behörden nach Angaben der israelischen Menschenrechtsgruppe HaMoked 6.704 Palästinenser in Haft, davon 2.070 in Verwaltungshaft ohne Gerichtsverfahren oder Anklage aufgrund geheimer Informationen. Darüber hinaus hielten die israelischen Behörden zu diesem Zeitpunkt weitere 105 Personen als „ungesetzliche Kämpfer“ fest und hielten Tausende von Arbeitern aus dem Gazastreifen in Isolationshaft, von denen viele später wieder freigelassen wurden.

   

 

 

Kategorien: Menschenrechte

FIFA: Nicht genug gegen Arbeitsrechtsverletzungen in Katar

Click to expand Image Arbeiter entfernen ein Gerüst am Al-Bayt-Stadion in Al Khor, Katar, Montag, 29. April 2019. © AP Photo/Kamran Jebreili

(Beirut) - Die FIFA und Katar haben es im vergangenen Jahr versäumt, gegen die Verletzung der Rechte von Arbeitsmigrant*innen entschieden vorzugehen, die die Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar überhaupt erst ermöglicht haben, so Human Rights Watch heute. Auch haben die Familien Tausender Arbeitsmigrant*innen, die aus ungeklärten Gründen gestorben sind, bisher keine Entschädigung erhalten. Die Fußballweltmeisterschaft 2022 mag für die meisten Länder und auch die FIFA aus dem Blickfeld gerückt sein, doch die Menschen in Katar und in den Herkunftsländern der Arbeitsmigrant*innen leiden immer noch unter dem düsteren Vermächtnis der WM.

„Angesichts der verheerenden Menschenrechtsverletzungen in Katar hätte die FIFA Entschädigung für Lohndiebstahl und den Tod von Migranten leisten müssen“, sagte Michael Page, stellvertretender Leiter der Abteilung Naher Osten bei Human Rights Watch. „Indem die FIFA untätig bleibt, bringt sie den Arbeitern, die die Weltmeisterschaft überhaupt erst möglich gemacht haben, nur Verachtung entgegen.“

Vor der Austragung der Spiele im Jahr 2022 machten die katarischen Behörden und die FIFA falsche und irreführende Aussagen, indem sie behaupteten, dass die bestehenden Arbeitsschutzsysteme und Entschädigungsmechanismen in Katar ausreichen würden, um Abhilfe gegen diese weit verbreiteten Verstöße zu schaffen.

Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass Katar wichtige Arbeitsrechtsreformen – die von der Weltöffentlichkeit genau verfolgt wurden – zu spät oder nur lückenhaft umgesetzt hat und zahlreiche Arbeitsmigrant*innen aufgrund des eingeschränkten Geltungsbereichs dieser Reformen nicht berücksichtigt worden sind. Wie Human Rights Watch dokumentiert hat, werden, seitdem die Missstände in Katar nicht mehr im Zentrum der internationalen Aufmerksamkeit stehen, die gleichen Arbeiter*innen, deren Rechte während der Fußballweltmeisterschaft 2022 verletzt worden waren, erneut auf die gleiche oder andere Weise ausgebeutet. Die Familien der Verstorbenen haben bis heute keine Entschädigung erhalten.

Das unverantwortliche Verhalten der FIFA gegenüber den Arbeitsmigrant*innen in Katar und die unzureichende Durchsetzung der Reformen durch Katar haben dazu geführt, dass viele der Arbeiter*innen nun angesichts der Flaute am Arbeitsmarkt nach der Fußball-WM keine Arbeit mehr haben oder keinen Lohn bekommen. Sie warten auch vergeblich auf die ihnen zustehenden Löhne und Leistungen. Human Rights Watch hat dokumentiert, dass diese Menschen nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können, weil sie befürchten müssen, von dort aus keinen Zugang mehr zu den Löhnen und Rechten zu haben, derer sie beraubt wurden.

Ein in Katar ansässiger Arbeitsmigrant sagte, dass sein Unternehmen vor dem Hintergrund einer Auftragsflaute seine Mitarbeiter*innen nunmehr für einen langen, unbezahlten Urlaub nach Hause schickt. „Die Arbeiter erhalten 1.000 QAR [275 USD] und die Flugkosten, und ihnen wird gesagt, dass sie kontaktiert werden, wenn es Arbeit gibt“, sagte er.

So befinden sich Arbeiter*innen in einer Zwickmühle, denn sie können nicht kündigen, da ihnen für mehr als 10–15 Jahre Abfindungen bei Beschäftigungsende zustehen. Diese Leistungen summieren sich zu einer beträchtlichen Summe – ein Vermögen in ihren Heimatländern. Ein Arbeiter erklärte, dass die Taktik der Unternehmen, ihre Angestellten in einen Langzeiturlaub zu schicken, dazu führt, dass Arbeiter*innen monatelang auf ihren Lohn warten und ihnen nur die Hoffnung bleibt, in Zukunft vielleicht wieder einen Job zu bekommen. Viele Arbeitsmigrant*innen glauben, dass die Unternehmen auf diese Weise die Zahlung von Abfindungen bei Beschäftigungsende zu umgehen versuchen.

Das katarische Arbeitsgericht lässt sich mit der Bearbeitung der ausstehenden Fälle von Lohndiebstahl und nicht gezahlten Abfindungen an Arbeitsmigrant*innen vor und nach der Weltmeisterschaft weiterhin viel Zeit. Human Rights Watch hat auch mit Arbeiter*innen gesprochen, die zögern, Klage einzureichen. „Selbst wenn das Gericht zugunsten der Arbeiter entscheidet, ignorieren die Unternehmen die Gerichtsbeschlüsse und zahlen den Arbeitnehmern nicht das, was ihnen zusteht“, erklärte ein Arbeiter. „Unter diesen Umständen fehlt mir die Motivation vor Gericht zu ziehen.“

Es wurden auch Klagen gegen Unternehmen in Ländern außerhalb Katars angestrengt. So erhoben vierzig philippinische Arbeitsmigrant*innen vor Kurzem im US-Bundesstaat Colorado Klage gegen Jacobs Solutions Inc., ein US-amerikanisches Unternehmen, das Bauprojekte für vier WM-Stadien beaufsichtigt hat. Bei den Klagen geht es um zahlreiche mutmaßliche Verstöße, darunter nicht gezahlte Löhne, unwürdige Wohnverhältnisse, Beschlagnahmung von Pässen und Arbeit in extremer Hitze. Vierzehn der philippinischen Arbeiter*innen waren für Al Jaber tätig, ein Unternehmen, dessen Lieferkette unter anderen die Jacobs Solutions Inc. laut der Klageschrift „überwachte, leitete und kontrollierte“.

Jacobs Solutions erklärte im Oktober gegenüber dem Internetportal Quartz, dass es die Klage nicht erhalten oder im Detail geprüft hätte, betonte aber sein Engagement für die „Achtung der Menschenrechte und der Menschenwürde“.

Im Jahr 2022 berichtete Human Rights Watch, dass Al Jaber Personen mit einem befristeten Visum eingestellt habe, womit sie gezwungen waren, vor Ablauf ihrer Zweijahresverträge nach Hause zurückzukehren. Die Arbeiter*innen hatten exorbitante Anwerbegebühren von bis zu 1.570 US-Dollar bezahlt. Al Jaber hingegen bestritt gegenüber Human Rights Watch, solche Gebühren erhoben zu haben.

Im Oktober 2023 erklärten zwei ehemalige Al-Jaber-Beschäftigte gegenüber Human Rights Watch, dass die Darlehen, die sie zur Zahlung der Anwerbegebühren aufgenommen hatten, immer noch nicht abbezahlt sind. Ein Arbeiter, der nach 10 Monaten Arbeit in Katar zurückgeschickt wurde, sagte: „Ich mache jetzt Gelegenheitsjobs. Meine zehn Monate in Katar waren reine Verschwendung, weil ich mehr bezahlt als verdient habe.“

Die FIFA und die katarischen Behörden hätten die Möglichkeit gehabt, Abhilfe gegen einige dieser Missstände zu schaffen, etwa in Form einer finanziellen Entschädigung, so Human Rights Watch. Sie hätten auf dem begrenzten Erfolg des katarischen Unterstützungs- und Versicherungsfonds für Arbeitnehmer*innen aufbauen und die Unterstützung in Form von Entschädigungszahlungen ausweiten können.

Eine Person, die über den Fonds Geld erhielt, sagte gegenüber Human Rights Watch: „Als ich unerwartet einen Anruf [von den katarischen Behörden] erhielt, um meinen Scheck [für nicht gezahlte Löhne] nach monatelangen Nachfragen abzuholen, konnte ich es kaum glauben.“ Er überwies das Geld sofort an seine Familie, die Kredite für die Ausbildung seiner Kinder und die Gesundheitsausgaben der Eltern aufgenommen hatte.

Es gab noch einige wenige andere Anstrengungen, den Verletzungen der Rechte von Arbeitsmigrant*innen in Katar entgegenzuwirken. Dazu gehört das Universal Reimbursement Scheme, das der Oberste Rat für Organisation und Vermächtnis (Supreme Committee for Delivery and Legacy) in Katar eingerichtet hatte, eine Körperschaft, die für die Planung und Bereitstellung der WM-Infrastruktur verantwortlich war und in dessen Rahmen Arbeiter*innen die Anwerbegebühren erstattet wurden. Einige Unternehmen führten Lebensversicherungen ein, die Familien von verstorbenen Arbeitsmigrant*innen unabhängig von der Ursache des Todes oder dem Sterbeort entschädigten. Allerdings haben das bisher nur 23 Unternehmen getan.

Die FIFA und Katar haben sich nicht bemüht, auf diesen kleinen positiven Initiativen aufzubauen, um eine verbesserte Lage der Arbeitsmigrant*innen zu einem Teil des Vermächtnisses der Fußballweltmeisterschaft 2022 werden zu lassen. Die Forderung nach Abhilfe im Vorfeld der Spiele erhielt breite Unterstützung von Fußballverbänden, Sponsoren und Politiker*innen weltweit. In den Monaten vor der Eröffnung der WM 2022 gab die FIFA in einer Reihe von Erklärungen und Briefings an, dass sie Arbeiter*innen für Rechtsverletzungen entschädigen werde, etwa bei der Anhörung vor dem Europarat und vor der Arbeitsgruppe des Europäischen Fußballverbands UEFA zu den Arbeiterrechten in Katar.

Am Vorabend des Turniers reagierte FIFA-Präsident Gianni Infantino auf die Forderungen nach Entschädigung der Arbeiter*innen mit der Aussage, dass der Unterstützungs- und Versicherungsfonds für Arbeitnehmer*innen des katarischen Arbeitsministeriums für die Entschädigung sorgen werde, was jedoch nicht der Fall ist. Die Tatsache, dass Migrant*innen seit dem Ende der Weltmeisterschaft um ihre Löhne kämpfen müssen, zeigt, dass die Zusagen der FIFA reine Lügen und dass viele der Missstände vorhersehbar und vermeidbar waren.

Ein Sohn eines verstorbenen Bauarbeiters aus Katar berichtete Human Rights Watch: „Mein Vater hat früher die Familie finanziell unterstützt, und jetzt bin ich allein. Meine Mutter wird immer älter, und ich habe ein Neugeborenes … die Kosten steigen. Es ist sehr schwierig, sich allein um meine Familie zu kümmern.“

Laut Human Rights Watch wiederholt die FIFA offensichtlich die schwerwiegenden Fehler, die sie auch schon in den 12 Jahren begangen hat, in denen die Vorbereitungen für die WM 2022 liefen. Und jetzt hat die FIFA die Vergabe der Weltmeisterschaft 2034 an Saudi-Arabien quasi bestätigt, ein Land, das auf über 13,4 Millionen Arbeitsmigrant*innen angewiesen ist, von denen viele aus denselben Ländern stammen wie die Arbeiter*innen in Katar.

„Viele Familien werden im Unklaren darüber gelassen, woran ihre Angehörigen gestorben sind oder wie sie sich die nächste Mahlzeit leisten können“, so Page. „Die FIFA und die katarischen Behörden lenken weiterhin von ihrem eklatanten Versagen beim Schutz der Arbeiter ab, anstatt sich auch nur die geringste Mühe zu geben, genau die Arbeiter zu entschädigen, die ihnen riesige Einnahmen beschert haben.“

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Gaza: Israelische Angriffe auf Krankenhäuser verschärfen Gesundheitskrise in Gaza

Click to expand Image Medizinisches Personal behandelt einen Palästinenser, der bei einem israelischen Angriff verletzt wurde, mit Taschenlampen, da es im indonesischen Krankenhaus im nördlichen Gazastreifen keinen Strom gibt, 10. November 2023. © 2023 Anas al-Shareef/Reuters Die wiederholten, mutmaßlich rechtswidrigen Angriffe des israelischen Militärs auf medizinische Einrichtungen, Personal und Transporte zerstören das Gesundheitssystem in Gaza weiter und sollten als Kriegsverbrechen untersucht werden. Die Sorge bezüglich unverhältnismäßiger Angriffe ist in Krankenhäusern besonders groß. Selbst ein angedrohter Angriff oder ein geringer Schaden kann verheerende Auswirkungen auf Patient*innen und Pflegepersonal haben. Die israelische Regierung sollte die Angriffe auf Krankenhäuser einstellen. Die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission für die besetzten palästinensischen Gebiete und der Internationale Strafgerichtshof sollten die Angriffe untersuchen.

(Jerusalem) - Die wiederholten, mutmaßlich rechtswidrigen Angriffe des israelischen Militärs auf medizinische Einrichtungen, Personal und Transporte zerstören das Gesundheitssystem des Gazastreifens weiter und sollten als Kriegsverbrechen untersucht werden, so Human Rights Watch heute. Trotz der Behauptungen des israelischen Militärs vom 5. November 2023 über „die zynische Nutzung von Krankenhäusern durch die Hamas“ liegen derzeit keine Beweise vor, die es rechtfertigen würden, Krankenhäusern und Ambulanzen ihren völkerrechtlichen Schutzstatus zu entziehen.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) wurden bis zum 12. November bei 137 „Angriffen auf das Gesundheitswesen“ in Gaza mindestens 521 Menschen getötet, darunter 16 medizinische Fachkräfte. Diese Angriffe sowie die Entscheidung Israels, Strom und Wasser abzustellen und die humanitäre Hilfe für den Gazastreifen zu blockieren, haben den Zugang zu medizinischer Versorgung massiv erschwert. Die Vereinten Nationen stellten am 10. November fest, dass zwei Drittel der Einrichtungen für die medizinische Grundversorgung und die Hälfte aller Krankenhäuser im Gazastreifen nicht funktionsfähig sind - und das zu einer Zeit, in der das medizinische Personal eine noch nie dagewesene Zahl schwer verletzter Menschen zu versorgen hat. Den Krankenhäusern fehlt es an Medikamenten und Ausstattung. Ärzt*innen berichteten Human Rights Watch, dass sie gezwungen sind, ohne Anästhesie zu operieren und Essig als Antiseptikum zu verwenden.

„Israels wiederholte Angriffe, bei denen Krankenhäuser beschädigt und medizinische Fachkräfte verletzt wurden, die durch die rechtswidrige Blockade ohnehin schon schwer getroffen waren, haben die Infrastruktur des Gesundheitswesens im Gazastreifen zerstört“, sagte A. Kayum Ahmed, Sonderberater für das Recht auf Gesundheit bei Human Rights Watch. „Bei den Angriffen auf Krankenhäuser wurden Hunderte Menschen getötet und viele Patient*innen in große Gefahr gebracht, weil sie nicht angemessen medizinisch versorgt werden können.“

Human Rights Watch untersuchte Angriffe auf oder in der unmittelbaren Nähe von folgenden medizinischen Einrichtungen zwischen dem 7. Oktober und dem 7. November: das Indonesische Krankenhaus, das al-Ahli Krankenhaus, das Internationale Augenheilkundezentrum, das Türkisch-Palästinensische Freundschaftskrankenhaus und das al-Quds Krankenhaus. Human Rights Watch führte Telefonate mit zwei Binnenvertriebenen, die in Krankenhäusern untergebracht sind, sowie mit 16 Mitarbeitenden des Gesundheitswesens und Krankenhausmitarbeitenden im Gazastreifen. Zudem analysierte und überprüfte Human Rights Watch öffentlich zugängliche Daten, darunter in sozialen Medien veröffentlichte Videos und Satellitenbilder sowie Datenbanken der WHO.

Zwischen dem 7. und dem 28. Oktober griffen israelische Streitkräfte mehrfach das Indonesische Krankenhaus an. Hierbei wurden mindestens zwei Zivilist*innen getötet. Das Internationale Augenheilkundezentrum wurde wiederholt getroffen und nach einem Angriff am 10. oder 11. Oktober vollständig zerstört. Am 30. und 31. Oktober wurden das Gelände und die Umgebung des Türkisch-Palästinensischen Freundschaftskrankenhauses angegriffen. Die Schäden am Krankenhaus sowie der Mangel an Treibstoff für die Generatoren des Krankenhauses führten dazu, dass es am 1. November schließen musste. Wiederholte israelische Angriffe beschädigten das al-Quds-Krankenhaus und verletzten einen Mann und ein Kind vor dem Krankenhaus. Israelische Streitkräfte griffen mehrfach gut gekennzeichnete Krankenwagen an und töteten und verletzten bei einem Vorfall am 3. November vor dem al-Shifa-Krankenhaus mindestens ein Dutzend Menschen, darunter auch Kinder.

Diese fortwährenden Angriffe sind keine Einzelfälle. Die israelischen Streitkräfte haben auch zahlreiche andere Krankenhäuser im Gazastreifen angegriffen und beschädigt. Nach Angaben der WHO mussten bis zum 10. November insgesamt 18 von 36 Krankenhäusern und 46 von 72 Ambulanzen geschlossen werden. Die Schließung dieser Einrichtungen ist auf die durch die Angriffe verursachten Schäden sowie auf den Mangel an Strom und Treibstoff zurückzuführen.

Medizinisches Personal in den Krankenhäusern des Gazastreifens berichtete Human Rights Watch von einer noch nie dagewesenen Zahl von Verletzten. Darüber hinaus sind Tausende von Binnenvertriebenen, die in den Krankenhäusern untergebracht sind, durch den Mangel an Lebensmitteln und Medikamenten gefährdet. Die Krankenhäuser im Gazastreifen sind gezwungen, diese Probleme trotz Personalmangel anzugehen, da einige der Mitarbeitenden außerhalb der Arbeit verletzt oder getötet wurden.

Ein Arzt des Nasser Medical Center berichtete: „Um 3 Uhr morgens hatte ich eine 60-jährige Frau zu versorgen, die eine Schnittwunde am Kopf hatte. Ich kann die Wunde nicht ordentlich nähen - keine Handschuhe, keine Ausstattung - also müssen wir nicht sterile Techniken anwenden.“

Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen sind zivile Objekte, die nach dem humanitären Völkerrecht bzw. dem Kriegsrecht besonderen Schutz genießen. Krankenhäuser verlieren nur dann ihren Schutz vor Angriffen, wenn sie genutzt werden, um „für den Feind schädliche Handlungen“ zu verüben. Auch in diesem Fall muss vorab eine Warnung erfolgen. Selbst wenn Streitkräfte ein Krankenhaus unrechtmäßig zur Lagerung von Waffen oder zur Unterbringung von kampffähigen Personen nutzen, muss die angreifende Partei eine Warnung aussprechen, um diesen Missbrauch zu beenden und eine angemessene Frist für die Beendigung des Missbrauchs setzen. Sie darf erst dann rechtmäßig angreifen, wenn auf eine solche Warnung nicht reagiert wurde. Die Evakuierung von Patient*innen, medizinischem Personal und anderen Personen aus einem Krankenhaus sollte nur als letztes Mittel eingesetzt werden. Das medizinische Personal muss geschützt werden und seine Arbeit verrichten können.

Alle Kriegsparteien müssen stets darauf achten, dass die Zivilbevölkerung so wenig wie möglich zu Schaden kommt. Angriffe auf Krankenhäuser, die zur Begehung von „für den Feind schädlichen Handlungen“ genutzt werden, sind auch dann rechtswidrig, wenn sie wahllos oder unverhältnismäßig sind. Der Einsatz von Explosionswaffen in dicht besiedelten Gebieten erhöht das Risiko wahlloser Angriffe. Angriffe, bei denen die zu erwartenden Verluste an Menschenleben und Eigentum in der Zivilbevölkerung im Vergleich zum konkreten und unmittelbaren militärischen Nutzen überwiegen, sind unverhältnismäßig. Die Sorge bezüglich unverhältnismäßiger Angriffe ist bei Krankenhäusern besonders groß, da selbst die Androhung eines Angriffs oder geringfügige Schäden massive Auswirkungen auf Patient*innen und Personal haben können.

Das israelische Militär behauptete am 27. Oktober, dass „die Hamas Krankenhäuser als Terrorinfrastrukturen nutzt“, und veröffentlichte Bildmaterial, auf dem zu sehen war, wie die Hamas vom größten Krankenhaus des Gazastreifens, al-Shifa, aus operierte. Israel behauptete außerdem, dass die Hamas das Indonesische Krankenhaus als Versteck für eine unterirdische Kommando- und Kontrollzentrale benutze und 75 Meter vom Krankenhaus entfernt eine Abschussrampe für Raketen aufgestellt habe.

Diese Behauptungen sind umstritten. Human Rights Watch konnte sie nicht bestätigen und hat auch keine Hinweise darauf, dass Angriffe auf Krankenhäuser in Gaza gerechtfertigt wären. Als ein Journalist auf einer Pressekonferenz, bei der Videomaterial zu den Schäden am Katar-Krankenhaus gezeigt wurde, um weitere Informationen bat, um die Tonaufnahmen und Bilder zu verifizieren, sagte ein israelische Sprecher: „Unsere Angriffe basieren auf Geheimdienstinformationen“. Selbst wenn dies zutrifft, muss Israel immer noch nachweisen, dass die darauf folgenden Angriffe auf das Krankenhaus nicht unverhältnismäßig waren.

Israels allgemeine Aufforderung zur Evakuierung vom 13. Oktober an 22 Krankenhäuser im nördlichen Gazastreifen stellte keine wirksame Warnung dar, da sie die spezifischen Anforderungen an Krankenhäuser, einschließlich der Gewährleistung der Sicherheit von Patient*innen und Personal, nicht berücksichtigte. Der pauschale Charakter der Aufforderung und die mangelnden Möglichkeiten, ihr sicher nachzukommen, da es im Gazastreifen weder sichere Fluchtwege noch Zufluchtsorte gibt, ließen vermuten, dass es hierbei nicht um den Schutz der Zivilbevölkerung ging, sondern darum, diese in Angst und Schrecken zu versetzen. Die Generaldirektorin der WHO hat erklärt, dass „es unmöglich ist, Krankenhäuser voller Patient*innen zu evakuieren, ohne deren Leben zu gefährden“.

Die israelische Regierung sollte die unrechtmäßigen Angriffe auf Krankenhäuser, Krankenwagen und andere zivile Objekte sowie die totale Blockade des Gazastreifens, die auf das Kriegsverbrechen der kollektiven Bestrafung hinausläuft, sofort einstellen bzw. aufheben, so Human Rights Watch. Die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen müssen alle erdenklichen Vorkehrungen treffen, um die Zivilbevölkerung vor Angriffen zu schützen. Sie dürfen Zivilist*innen nicht als „menschliche Schutzschilde“ benutzen.

Die Unabhängige Internationale Untersuchungskommission für die besetzten palästinensischen Gebiete, einschließlich Ost-Jerusalem, sowie Israel sollten die rechtswidrigen israelischen Angriffe auf die Gesundheitsinfrastruktur in Gaza untersuchen.

Die aktuellen Feindseligkeiten zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen unterliegen der Gerichtsbarkeit des IStGH. Diese erstreckt sich auf rechtswidriges Verhalten aller Parteien. Das Römische Statut des IStGH verbietet als Kriegsverbrechen „vorsätzliche Angriffe auf … Sanitätseinheiten, Sanitätstransportmittel und Personal“. Israelische und palästinensische Beamte sollten mit der Kommission und dem IStGH zusammenarbeiten, so Human Rights Watch.

Die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kanada, Deutschland und andere Länder sollten Militärhilfen und Waffenverkäufe an Israel aussetzen, solange die israelischen Streitkräfte weiterhin ungestraft umfangreiche, schwerwiegende Übergriffe gegen palästinensische Zivilist*innen begehen, die Kriegsverbrechen gleichkommen. Alle Regierungen sollten von Israel verlangen, die Strom- und Wasserversorgung des Gazastreifens wiederherzustellen und die Einfuhr von Treibstoff und humanitären Hilfsgütern zu ermöglichen, um sicherzustellen, dass Wasser, Lebensmittel und Medikamente die Zivilbevölkerung des Gazastreifens erreichen.

„Israels breit angelegter Angriff auf das Gesundheitssystem des Gazastreifens ist ein Angriff auf Kranke und Verletzte, auf Babys in Brutkästen, auf Schwangere, auf Krebspatient*innen“, sagte Ahmed. „Diese Aktionen müssen als Kriegsverbrechen untersucht werden.“

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Menschenrechte ins Zentrum bei deutsch-türkischen Gesprächen

Click to expand Image Bundeskanzler Olaf Scholz, links, und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan in Ankara, Türkei, 14. März 2022 © 2022 Burhan Ozbilici/AP Photo

Am 17. November wird der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Berlin treffen.

Die Kämpfe zwischen den israelischen Streitkräften und bewaffneten palästinensischen Gruppen werden wahrscheinlich die Tagesordnung bestimmen. Deutschland und die Türkei mögen die Lage in Israel und Palästina unterschiedlich beurteilen. Dennoch sollten sich Scholz und Erdogan dringend auf Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung einigen, der Massengräuel drohen. Beide Politiker sollten Kriegsverbrechen verurteilen, unabhängig davon, wer sie verübt hat. Sie sollten sich außerdem zu dem Recht auf friedlichen Protest bekennen und sich verpflichten, Antisemitismus und Islamophobie zu bekämpfen.

Bundeskanzler Scholz, der behauptet hat, Israel handle gemäβ den Regeln des Völkerrechts, sollte die israelischen Behörden dafür verurteilen, die Versorgung der Bevölkerung des Gazastreifens mit Lebensmitteln, Wasser, Treibstoff und Strom unterbrochen zu haben, und sie auffordern, von rechtswidrigen, wahllosen und unverhältnismäßigen Angriffen abzusehen.

Erdogan wiederum sollte die Angriffe der Hamas auf die Zivilbevölkerung am 7. Oktober und die anschließenden wahllosen Raketenangriffe verurteilen sowie die Hamas und andere palästinensische Gruppen auffordern, die als Geiseln genommenen Zivilist*innen unverzüglich freizulassen.

Human Rights Watch hat die Verbündeten Israels, darunter auch Deutschland, sowie die Unterstützer der bewaffneten palästinensischen Gruppen aufgefordert, ihre Waffenlieferungen an die Kriegsparteien in Israel und im Gazastreifen auszusetzen, da die reale Gefahr besteht, dass die Waffen für schwere Verstöße gegen das Kriegsrecht eingesetzt werden.

Bei dem Treffen in Berlin müssen Bundeskanzler Scholz und Präsident Erdogan auch dringend über die kritische Situation in der Türkei in Sachen Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien sprechen. Mit der Weigerung, den Menschenrechtsverteidiger Osman Kavala und den kurdischen Politiker Selahattin Demirtas freizulassen, so wie es der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem Urteil fordert, ist das Land auf Kollisionskurs mit dem Europarat gegangen, der führenden Menschenrechtsinstitution Europas. Deutschland muss den türkischen Präsidenten daran erinnern, dass die Nichtumsetzung der Entscheidung des Gerichtshofs Konsequenzen für die Türkei nach sich ziehen könnte, z. B. den Verlust des Stimmrechts in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats.

Auch das Thema Migration wird wahrscheinlich auf der Tagesordnung stehen. Die EU-Mitgliedstaaten, darunter auch Deutschland, unterstützen Erdogan mit Milliarden Euro bei der Aufnahme von schätzungsweise 3,3 Millionen syrischen Geflüchteten. Sie sollten ihm klar machen, dass diese finanzielle Unterstützung kein Freibrief für die Türkei darstellt, Asylbewerber*innen völkerrechtswidrig zurückzuweisen oder syrische Geflüchtete zur angeblich „freiwilligen“ Rückführung in sogenannte sichere Zonen in Nordsyrien zu drängen.

Deutschland sollte beim Thema Migration innerhalb der Europäischen Union die Menschenrechte ins Zentrum stellen. Die Türkei sollte aufgefordert werden, den Schutz für Syrer*innen, Afghan*innen und andere Geflüchtete aufrechtzuerhalten und Menschen mit glaubwürdigen Schutzansprüchen nicht länger willkürlich festzuhalten und in Länder abzuschieben, in denen sie großen Gefahren ausgesetzt sind.

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Gaza: Israelischer Angriff auf Krankenwagen offensichtlich rechtswidrig

Click to expand Image Menschen versammeln sich um einen Krankenwagen, der bei einem Angriff vor dem Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt beschädigt wurde, am 3. November 2023. © 2023 Momen Al-Halabi/AFP via Getty Images

(Jerusalem) - Der Angriff des israelischen Militärs auf einen gekennzeichneten Krankenwagen in der Nähe des Al-Shifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt am 3. November 2023 war offensichtlich unrechtmäßig und soll als mögliches Kriegsverbrechen untersucht werden, so Human Rights Watch. Videoaufnahmen und Fotos, die kurz nach dem Angriff gemacht und von Human Rights Watch überprüft wurden, zeigen eine Frau auf einer Bahre in dem Krankenwagen und mindestens 21 tote oder verletzte Menschen in der Umgebung des Krankenwagens, darunter fünf Kinder.

Ein Sprecher der israelischen Verteidigungsstreitkräfte sagte in einem Fernsehinterview an diesem Tag: „Unsere Streitkräfte sahen, dass Terroristen Krankenwagen als Transportmittel benutzten, um sich fortzubewegen. Sie sahen in dem Krankenwagen eine Bedrohung. Deshalb haben wir ihn angegriffen.“ Nach humanitärem Völkerrecht, das im bewaffneten Konflikt zwischen Israel und den palästinensischen Streitkräften gilt, müssen Krankenwagen, die ausschließlich für medizinische Transporte eingesetzt werden, unter allen Umständen geschont und geschützt werden. Sie verlieren diesen besonderen Schutz nur dann, wenn sie für Handlungen eingesetzt werden, die der jeweils anderen Konfliktpartei schaden. 

„Verwundete sicher in Krankenhäuser zu bringen, ist in bewaffneten Konflikten von entscheidender Bedeutung. Daher sehen die Kriegsgesetze einen besonderen Schutz für Krankenwagen vor, die ausschließlich zu diesem Zweck verwendet werden“, sagte Lama Fakih, Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. „Um glaubhaft zu versichern, dass ihr tödlicher Angriff auf einen Krankenwagen am 3. November in einem belebten Gebiet rechtmäßig war, müssen die israelischen Behörden mehr tun, als nur behaupten, dass palästinensische Kämpfer Krankenwagen als Transportmittel benutzt haben.“

Nach Angaben des Gesundheitsministeriums von Gaza wurden bei dem Angriff 15 Menschen getötet und 60 verletzt. Der Palästinensische Rote Halbmond teilte mit, dass der Krankenwagen eine 35-jährige Frau mit Splitterwunden in das al-Shifa-Krankenhaus transportierte und dass ein Sanitäter und der Fahrer des Krankenwagens bei dem Angriff verletzt wurden. Der Direktor des al-Quds-Krankenhauses, das unter der Schirmherrschaft des Palästinensischen Roten Halbmonds steht, erklärte gegenüber Human Rights Watch, das israelische Militär habe vor dem Angriff keine Warnung ausgesprochen.

Human Rights Watch befragte einen Zeugen des Angriffs und überprüfte Videos und Fotos des beschädigten Krankenwagens und der Umgebung, die nach dem Angriff kurz vor 16:30 Uhr Ortszeit auf einer belebten Straße wenige Meter vom Eingang der Notaufnahme des al-Shifa-Krankenhauses aufgenommen wurden. Diese Videos und Fotos, die in sozialen Medien gepostet oder von Journalist*innen kurz nach dem Angriff aufgenommen wurden, zeigen mindestens 21 Verletzte und Tote, darunter mindestens fünf Kinder, drei Frauen und 13 Männer. Augenscheinlich wurde auch ein Pferd, das einen Wagen hinter dem Krankenwagen zog, getötet.

In einem Video, das um 16:41 Uhr in den sozialen Medien hochgeladen wurde, ist zu sehen, wie Menschen sich um Verletzte und Tote kümmern, die in Blutlachen auf dem Boden neben dem Krankenwagen liegen. Ein weiteres Video, das um 16:47 Uhr hochgeladen wurde, zeigt dieselbe Szene sowie das Innere des Krankenwagens, wo eine Frau in einem Krankenhauskittel und einem medizinischen Haarnetz auf einer Bahre liegt. Sie scheint bei dem Angriff nicht verletzt worden zu sein.

Der Fotograf Ali Jadallah teilte Human Rights Watch telefonisch mit, er habe gesehen, wie eine Rakete direkt vor einem Krankenwagen eingeschlagen sei, der auf den Eingang der Notaufnahme des Al-Shifa-Krankenhauses zufuhr. Er sagte, seine Schwester sei bei dem Angriff an den Beinen verwundet worden.

„Ich rannte zu den Verletzten und Getöteten und suchte nach meiner Schwester“, so Jadallah. „Ich konnte sie nicht finden, ich konnte nichts sehen, weil es so viel Rauch gab. Ich habe nach ihr gerufen. Die Leute öffneten die Tür des Krankenwagens, um nach den Menschen darin zu sehen, und ich sah eine Frau darin liegen. Der Fahrer war verletzt.“

Nach humanitärem Völkerrecht bzw. dem Kriegsrecht sind Kriegsparteien verpflichtet, Verwundete und Kranke aufzunehmen und zu versorgen. Krankenwagen stehen ebenso wie Krankenhäuser unter besonderem Schutz. Sie dürfen nicht angegriffen werden, wenn sie für die medizinische Versorgung von Menschen eingesetzt werden, auch dann nicht, wenn es sich bei den Verwundeten um feindliche Kämpfer handelt.

Krankenwagen und andere medizinische Transportmittel müssen unter allen Umständen geschont und geschützt werden. Sie müssen als zivil gelten und verlieren ihren Schutz nur dann, wenn sie für „eine den Feind schädigende Handlung“ eingesetzt werden, wie den Transport von Munition oder gesunden Kämpfern. Der Einsatz eines Krankenwagens für militärische Operationen würde schwerwiegende Bedenken hinsichtlich der Sicherheit von Patient*innen und medizinischem Personal hervorrufen und damit gegen das Kriegsrecht verstoßen.

Human Rights Watch hat jedoch keine Belege dafür gefunden, dass der betroffene Krankenwagen für militärische Zwecke eingesetzt wurde.

Sollte ein medizinischer Transport dahingehend missbraucht werden, müssen die angreifenden Streitkräfte eine Warnung aussprechen, um diesen Missbrauch zu beenden. Sie dürfen erst dann angreifen, wenn eine solche Warnung unbeachtet bleibt. Auch wenn die Warnpflicht streng auszulegen ist, kann es Umstände geben, unter denen eine Warnung nicht erforderlich ist, weil die angreifenden Kräfte sich unmittelbar verteidigen müssen.

In einem Kommentar des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz heißt es: „Eine solche Entscheidung ist nur in Ausnahmefällen zulässig, wenn das Leben der vorrückenden Kämpfer unmittelbar bedroht ist und klar ist, dass eine Warnung nicht befolgt werden würde.“

Konfliktparteien müssen alle möglichen Vorkehrungen treffen, um sicherzustellen, dass es sich bei einem Angriffsziel um ein militärisches Ziel und kein ziviles Objekt handelt. Angriffe, die vorsätzlich gegen Zivilist*innen oder zivile Objekte gerichtet sind oder bei denen es kein militärisches Ziel gibt, sind unzulässig. In Anbetracht der offensichtlich hohen Zahl ziviler Opfer könnte dieser Angriff unverhältnismäßig und somit rechtswidrig gewesen sein, selbst wenn es ein gültiges militärisches Ziel gab. Ein Angriff gilt dann als unverhältnismäßig, wenn der zu erwartende Verlust von Menschenleben in der Zivilbevölkerung in keinem Verhältnis zum zu erwartenden konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht.

Personen, die vorsätzlich oder fahrlässig rechtswidrige Angriffe anordnen oder durchführen, sind verantwortlich für Kriegsverbrechen. Die Staaten sind nach dem Kriegsrecht verpflichtet, mutmaßliche Kriegsverbrechen zu untersuchen und die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen.

Die unabhängige internationale Untersuchungskommission des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen für die besetzten palästinensischen Gebiete, einschließlich Ost-Jerusalem, sowie Israel, sollte den Angriff untersuchen, so Human Rights Watch. Am 10. Oktober hat die Untersuchungskommission festgestellt, dass es „eindeutige Beweise“ für Kriegsverbrechen in Israel und im Gazastreifen gebe und dass sie Informationen mit den zuständigen Justizbehörden, insbesondere dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH), teilen werde.

Die aktuellen Feindseligkeiten zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen unterliegen der Gerichtsbarkeit des IStGH. Diese erstreckt sich auf rechtswidriges Verhalten aller Parteien. Das Römische Statut des IStGH verbietet als Kriegsverbrechen „vorsätzliche Angriffe auf … Sanitätseinheiten, Sanitätstransportmittel und Personal“. Israelische und palästinensische Beamte sollten mit der Kommission und dem IStGH zusammenarbeiten.

Das israelische Militär hat seit dem 7. Oktober nach einem von der Hamas geführten Angriff Tausende von Luftangriffen auf den Gazastreifen geflogen. Bei dem Hamas-geführten Angriff auf Israel wurden nach Angaben der israelischen Behörden schätzungsweise 1.400 Menschen, darunter Kinder und Hunderte Zivilist*innen, getötet und mehr als 200 Menschen als Geiseln genommen. Bis zum 6. November wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen mehr als 10.000 Menschen getötet, darunter mehr als 4.000 Kinder. Die israelischen Behörden haben die Versorgung des Gazastreifens mit lebenswichtigen Gütern unterbrochen und verhindern, dass humanitäre Hilfsgüter nach Gaza gelangen.


Ohne konkret die Verantwortlichen zu nennen, erklärte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 1. November, sie habe seit dem 7. Oktober insgesamt 93 „Angriffe auf die Gesundheitsversorgung“ im Gazastreifen dokumentiert, bei denen 491 Menschen, darunter 16 Angestellte des Gesundheitswesens, getötet wurden und von denen 39 medizinische Einrichtungen und 28 Krankenwagen betroffen waren. Berichten zufolge wurden im Rahmen der aktuellen Feindseligkeiten Dutzende von medizinischen Einrichtungen im gesamten Gazastreifen angegriffen.

Die Staaten sollten die Militärhilfe und die Waffenverkäufe an Israel aussetzen, solange die israelischen Streitkräfte ungestraft umfangreiche, schwerwiegende Übergriffe begehen, die Kriegsverbrechen gegen die palästinensische Zivilbevölkerung darstellen. Regierungen sollten die Lieferung von Waffen an bewaffnete palästinensische Gruppen, einschließlich der Hamas und des Islamischen Dschihad, einstellen, solange diese systematisch Angriffe verüben, die Kriegsverbrechen gegen israelische Zivilist*innen darstellen.

„Ärzt*innen, Krankenpersonal und Krankenwagen müssen in der Lage sein, ihre Arbeit zu machen und unter allen Umständen geschützt zu werden“, sagte Fakih. „Die Staaten riskieren Mitschuld, wenn sie dem israelischen Militär weiterhin Waffen liefern, denn es besteht die reale Gefahr, dass diese bei unrechtmäßigen Angriffen eingesetzt werden.“

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Ukraine: Folgen des Krieges für Schulen und Zukunft der Kinder

Click to expand Image Der zerstörte Spielplatz eines Kindergartens in der Stadt Kupiansk, Region Charkiwska, Ukraine, 26. Mai 2023.   © 2023 Serbei Bobok/AFP via Getty Images Russlands groß angelegter Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Schulen und Kindergärten im ganzen Land verwüstet. Seit Februar 2022 wurden über 3.790 Bildungseinrichtungen beschädigt oder zerstört. Ukrainische Kinder müssen angesichts der Kriegshandlungen einen hohen Preis bezahlen, denn Angriffe auf Bildungseinrichtungen sind Angriffe auf ihre Zukunft. Internationale Geber und Hilfsorganisationen sollten die ukrainische Regierung beim gerechten Wiederaufbau von Schulen in allen Regionen der Ukraine unterstützen.


(Kiew, 9. November 2023) – Russlands groß angelegter Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Schulen und Kindergärten im ganzen Land verwüstet, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht und Video. Seit Februar 2022 wurden nach Angaben der ukrainischen Regierung mehr als 3.790 Bildungseinrichtungen beschädigt oder zerstört. Für Millionen von Kindern ist der Zugang zu Bildung damit stark beeinträchtigt.

November 9, 2023 “Tanks on the Playground”

Der 71-seitige Bericht „Tanks on the Playground“ dokumentiert die Beschädigung und Zerstörung von Schulen und Kindergärten in vier ukrainischen Regionen während der Kampfhandlungen der ersten Kriegsmonate. Die meisten Schäden an Bildungseinrichtungen, wie stark beschädigte Dächer und Klassenzimmer oder eingestürzte Wände, entstanden durch Luftangriffe, Artilleriebeschuss, Raketeneinschläge und in einigen Fällen durch Streumunition. Zudem plünderten und brandschatzten russische Streitkräfte häufig die von ihnen besetzten Schulen, was ein Kriegsverbrechen darstellt.

„Ukrainische Kinder müssen für diesen Krieg einen hohen Preis bezahlen, denn Angriffe auf die Bildung sind Angriffe auf ihre Zukunft“, erklärte Hugh Williamson, Direktor der Abteilung Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Die internationale Gemeinschaft sollte die Beschädigung und Zerstörung von Schulen in der Ukraine sowie die Plünderungen durch russische Truppen verurteilen.“

Read a text description of this video

VO:

Broken windows, burned out classrooms and vandalized property stand as somber reminders of Russia’s war against Ukraine, which engulfed these once vibrant schools.

SOUNDBITE: Hrianyk Oleksandr Principal of School *62, Kharkiv

The building was hit by two artillery shells.

The Classroom was destroyed, all the windows and doors in all the classrooms, halls, and passages were blown out.

VO:

Since Russia’s full-scale invasion of Ukraine in February 2022, numerous schools and kindergartens were hit by airstrikes, artillery, and rockets.

Many were looted and ransacked.

SOUNDBITE:

I was lying on the floor in the basement, and I thought the building was going to collapse.

The enemy has brought us so much pain.

VO:

The war has killed, injured, and traumatized Ukrainian children.

It has also had devastating impact on their access to education.

Russian forces occupied schools, turning them into bases and barracks, where soldiers took shelter, launched military operations, stored weapons, and parked armored vehicles.

SOUNDBITE: Valentina Zarytska Principal, Kukhari School

Of course, we all, children, and parents, want our school to be restored.

We want to be able to work here again.

We want our life to get back to normal.

VO:

Russian soldiers scrawled graffiti on walls, expressing hatred and vitriol towards Ukraine and Ukrainians.

The looted computers and other equipment, which are war crimes.

In some cases, Russian military use of schools made them targets for Ukrainian attacks.

This school in Borodianka, Kyivska region was reduced to ruins after a battle between Russian and Ukrainian forces.

Ukrainian forces in some instances also used schools for military purposes, which may have increased the risk of Russian attacks.

Overall, thousands of schools have been damaged.

SOUNDBITE: Romaniuk Inna Director of Education, Borodianka

It was impossible to hold back the tears.

The school was destroyed, everything was ruined.

The classrooms were looted, no equipment was left.

It was a terrible situation.

VO:

Ukraine, unlike Russia, has endorsed the Safe Schools Declaration and instructed its forces to avoid using schools and kindergartens for military purposes.

 

Human Rights Watch hat 50 Bildungseinrichtungen in den Oblasten Kiew, Charkiw, Tschernihiw und Mykolajiw besucht und fast 90 Schulbeamt*innen, Vertreter*innen lokaler Behörden und Zeug*innen militärischer Operationen befragt.

Seit Russlands Einmarsch in die Ostukraine im Jahr 2014 und insbesondere seit der russischen Invasion im Jahr 2022 stehen ukrainische Bildungseinrichtungen immer wieder unter Beschuss oder werden militärisch genutzt. Neben anderen Kriegsfolgen ist auch der Schulbetrieb stark eingeschränkt, nachdem er bereits durch Schulschließungen im Zuge der Corona-Pandemie beeinträchtigt war. Viele Schüler*innen aus beschädigten oder zerstörten Schulen mussten ihren Unterricht an anderen Schulen fortsetzen oder konnten nur zu bestimmten Zeiten oder von zu Hause aus lernen, was sich negativ auf die Qualität der Bildung auswirkt, so Human Rights Watch. Hinzu kommt, dass die Angriffe der russischen Streitkräfte auf die Energie-Infrastruktur und die daraus resultierenden Strom- und Internetausfälle auch den Fernunterricht häufig unmöglich machen.

Die ukrainische Regierung hat mehrere Schritte unternommen, um Bildungseinrichtungen vor Angriffen zu schützen. Im Jahr 2019 unterzeichnete das Land eine rechtlich nicht bindende politische Erklärung zum Schutz von Schulen in bewaffneten Konflikten, die Safe Schools Declaration, die darauf abzielt, Bildungseinrichtungen vor verheerenden Auswirkungen bewaffneter Konflikte zu schützen. Im August 2021 verabschiedete die Ukraine einen Aktionsplan, um in der Lage zu sein, die Anforderungen der Erklärung zu erfüllen. Bis Januar 2022 erhielten 1000 ukrainische Militärbedienstete eine Schulung zur Safe Schools Declaration und den darin enthaltenen „Leitlinien für den Schutz von Schulen und Universitäten vor militärischer Nutzung während bewaffneter Konflikte“.

Laut dem ukrainischen Verteidigungsministerium erging im Juli 2022 eine militärische Anordnung, die Räumlichkeiten von Bildungseinrichtungen nicht als vorübergehende militärische Hauptquartiere oder zur Unterbringung von Einheiten zu nutzen.

Zu den von Human Rights Watch dokumentierten Schäden und der Zerstörung von Schulen kam es vor allem in den ersten Wochen der Kämpfe im Jahr 2022, als russische Streitkräfte Städte und Ortschaften einnahmen und Schulen besetzten. In mehreren Fällen feuerten die russischen Streitkräfte beim Rückzug aus den besetzten Gebieten auf die Schulen, in denen sie sich verschanzt hatten, und richteten damit noch größeren Schaden an.

Bei der Besetzung der Schulen nahmen russische Truppen alles mit, was nicht bereits zerstört worden war, wie Computer, Laptops, Fernsehgeräte, interaktive Whiteboards, andere Schulausrüstung und Heizungsanlagen. Nach ihrem Abzug blieben ausgebrannte und geplünderte Klassenzimmer zurück. An manchen Wänden waren Schmierereien mit Hassbotschaften gegen die ukrainische Bevölkerung zu sehen.

So besetzten russische Soldaten beispielsweise die Borodianska-Schule in der Oblast Kiew und nutzten sie für militärische Zwecke. Ukrainisches Gegenfeuer führte daraufhin zu schweren Schäden. Beim Abzug hinterließen russische Soldaten anti-ukrainische Parolen und eine Flagge mit einem Hakenkreuz an den Wänden der Klassenräume.

„Ich konnte die Tränen nicht zurückhalten“, sagte der Direktor der Schule. „Die Cafeteria haben sie [die russischen Streitkräfte] als Bad benutzt [die Waschbecken]. In einem anderen Raum war Blut an den Wänden zu sehen. […] Sie machten alle Computer kaputt […] und hinterließen einen Haufen Dreck. […] Die Laptops haben sie einfach mitgenommen.“

Werden Schulen zur Unterbringung von Truppen oder zur Lagerung von Munition genutzt oder Militärfahrzeuge auf dem Schulgelände abgestellt, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass diese Schulen angegriffen werden. Die Streitkräfte sind nach dem Kriegsrecht verpflichtet, alles Erdenkliche zu tun, um Schulen und andere zivile Objekte unter ihrer Kontrolle vor den Folgen eines Angriffs zu schützen.

In früheren Berichten hat Human Rights Watch dokumentiert, dass russische Streitkräfte Schulen und Kindergärten, darunter auch Schulen für Kinder mit Behinderungen, angriffen, Kriegsgefangene gefoltert, vergewaltigt und anderweitig misshandelt sowie Zivilist*innen in Schulen festgehalten haben.

Russland hat die Safe Schools Declaration nicht unterzeichnet. Die Vereinten Nationen und andere Organisationen sollten die russische Regierung dazu drängen, absichtliche, wahllose und unverhältnismäßige Angriffe auf die Zivilbevölkerung und zivile Objekte, einschließlich Schulen, unverzüglich einzustellen, und Russland auffordern, ukrainische Bildungseinrichtungen nicht für militärische Zwecke zu nutzen. Russland sollte die Bestimmungen der Safe Schools Declaration einhalten und ihre Grundsätze in Militärschulungen einbeziehen.

In einigen wenigen Fällen, die Human Rights Watch dokumentiert hat, haben auch die ukrainischen Streitkräfte Soldat*innen in Schulen stationiert, Kontrollpunkte in der Nähe von Schulgebäuden eingerichtet oder eine geringe Zahl von Mitgliedern der Territorialverteidigung der Ukraine eingesetzt, um die Sicherheit von Zivilist*innen zu gewährleisten, die sich in Schulen aufhalten. Solche Maßnahmen können das Risiko von Angriffen erhöhen.

Das Bildungsministerium berichtete, dass im Januar 2023 mehr als 95 Prozent der schulpflichtigen Kinder in den Schulen eingeschrieben waren, eine bedeutende Leistung in Kriegszeiten, so Human Rights Watch. Trotz dieser Bemühungen zeigen die kriegsbedingten Lernunterbrechungen und die weltweiten Erkenntnisse aus der Corona-Pandemie, dass die Umstellung von Präsenz- auf Fernunterricht oft zu Lernverlusten und Ungleichheit führt und dass massive Anstrengungen erforderlich sind, um den Bildungsverlust bei ukrainischen Kindern wieder aufzuholen.

Eine Frau aus Izium in der Oblast Charkiw berichtete Human Rights Watch gegenüber von den Schwierigkeiten ihres 14-jährigen Sohnes beim Fernunterricht. „Es gibt kein Internet, also auch keinen Online-Unterricht“, sagte sie. „Man kann [Schulaufgaben] nicht einfach an die [Lehrkräfte] per Telefon übermitteln, man braucht einen Laptop. Er kann das virtuelle Klassenzimmer nicht über sein Telefon einrichten.“

Um den Kindern eine Rückkehr in die Klassenzimmer zu ermöglichen, muss die Ukraine die beschädigten Bildungseinrichtungen unter Berücksichtigung von Sicherheits- und Zugänglichkeitsstandards mit Unterstützung internationaler Partner so schnell wie möglich wiederherstellen, so Human Rights Watch.

Internationale Geber und humanitäre Organisationen sollten die ukrainische Regierung beim gerechten Wiederaufbau von Schulen in allen Regionen der Ukraine unterstützen und sie auffordern, das in der ukrainischen Verfassung verankerte Recht auf Zugang zu Bildung und Schulunterricht streng einzuhalten.

„Die meisten Länder der Welt, einschließlich der Mitglieder der Europäischen Union und der NATO, haben sich verpflichtet, Bildungseinrichtungen vor Angriffen zu schützen, und sie sollten der Ukraine helfen, dieses Ziel zu erreichen“, so Williamson. „Die Kinder in der Ukraine haben das gleiche Recht auf Bildung wie Kinder überall. Auch im Angesicht des Krieges sollte dieses grundlegende Recht geschützt werden.“

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Waffenlieferungen an Israel und bewaffnete palästinensische Gruppen aussetzen

Click to expand Image Artilleriebeschuss mit weißem Phosphor über dem Hafen von Gaza-Stadt, 11. Oktober 2023 © 2023 Mohammed Adeb/AFP via Getty Images

(Jerusalem) - Verbündete Israels und Unterstützer bewaffneter palästinensischer Gruppen sollten Waffenlieferungen an die Konfliktparteien in Israel und im Gazastreifen aussetzen. Es besteht ein reales Risiko, dass der Einsatz dieser Waffen zu schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen führt, so Human Rights Watch heute. Länder, die Waffen liefern, welche offenkundig und in erheblichem Maße bei unrechtmäßigen Angriffen eingesetzt werden, können sich so mitschuldig an Kriegsverbrechen machen.  

Israel und bewaffnete palästinensische Gruppen haben während der aktuellen Feindseligkeiten schwere Menschenrechtsverletzungen begangen, die Kriegsverbrechen gleichkommen. Die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen haben am 7. Oktober 2023 vorsätzlich Hunderte von Zivilist*innen in Israel getötet und mehr als 200 Geiseln verschleppt. Israel hat daraufhin die Versorgung der Bevölkerung des Gazastreifens mit Strom, Treibstoff, Lebensmitteln und Wasser unterbrochen und die lebensrettende humanitäre Hilfe stark eingeschränkt – alles Akte einer kollektiven Bestrafung.

„Zivilist*innen werden in einem Ausmaß bestraft und getötet wie nie zuvor in der jüngeren Geschichte Israels und Palästinas“, sagte Bruno Stagno, Chief Advocacy Officer bei Human Rights Watch. „Die Vereinigten Staaten, der Iran und andere Regierungen riskieren, sich mitschuldig an schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen zu machen, wenn sie weiterhin Parteien unterstützen, die bekanntermaßen Menschenrechtsverletzungen begehen.“
 
Israels wichtigste Verbündete - die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kanada und Deutschland - sollten ihre Militärhilfen und Waffenverkäufe an Israel aussetzen, solange die israelischen Streitkräfte ungestraft umfangreiche, schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen begehen, die Kriegsverbrechen gegen die palästinensische Zivilbevölkerung gleichkommen. Der Iran und andere Regierungen sollten die Lieferung von Waffen an bewaffnete palästinensische Gruppen, einschließlich der Hamas und des Islamischen Dschihad, einstellen, solange diese systematisch Angriffe verüben, die Kriegsverbrechen gegen israelische Zivilist*innen darstellen.

Seit dem 7. Oktober wurden nach Angaben der örtlichen Behörden etwa 1.400 Menschen in Israel und mehr als 9.700 Palästinenser*innen getötet. Viele der Opfer waren Zivilist*innen.

Im Rahmen der aktuellen Feindseligkeiten wird die Zivilbevölkerung im Gazastreifen Opfer einer Kollektivstrafe durch die israelischen Streitkräfte, die ihr Wasser, Strom und Nahrungsmittel verweigern und die Lieferung humanitärer Hilfsgüter in den Gazastreifen mutwillig erschweren.

Die israelischen Streitkräfte haben zudem wiederholt Sprengstoff mit großflächiger Wirkung in dicht besiedelten Gebieten eingesetzt, wodurch ganze Häuserblocks und große Teile von Stadtvierteln in Schutt und Asche gelegt wurden. Dies ließ den Verdacht aufkommen, dass es sich um wahllose Angriffe handelte. Ferner haben sie in besiedelten Gebieten im Gazastreifen und im Libanon wahllos weißen Phosphor eingesetzt, eine hochentzündliche Substanz, die schwere Verbrennungen und lebenslanges Leid bei Menschen verursachen kann. Amnesty International hat zudem Fotos verifiziert, die den Einsatz von 155-mm-Artilleriegeschossen mit weißem Phosphor der Serie M825 durch die israelischen Streitkräfte in der Nähe der libanesischen Grenze und der Zäune des Gazastreifens zeigen.

Das israelische Militär hat außerdem mehr als eine Million Menschen im nördlichen Gazastreifen aufgefordert, sich aufgrund der Militäroperationen im Norden in den Süden des Gazastreifens zu begeben, obwohl die Menschen dort nirgendwohin können und es keine sicheren Evakuierungsrouten gibt. Breit angelegte statt konkreter Warnungen vor bevorstehenden Angriffen deuten darauf hin, dass der gesamte nördliche Gazastreifen von militärischen Angriffen bedroht ist. Diese Anordnung zur Evakuierung birgt die Gefahr einer Massenvertreibung, welche wiederum ein Kriegsverbrechen darstellt. Israel hat außerdem seine Grenzübergänge für alle abgeriegelt, die versuchen zu fliehen.

Die Hamas und andere bewaffnete palästinensische Gruppen haben vorsätzlich Zivilist*innen getötet und weitere Zivilist*innen als Geiseln genommen, welche sie noch immer gefangen halten. Zudem haben sie Tausende Raketen auf israelische Gemeinden abgefeuert - all das sind Kriegsverbrechen.

Click to expand Image Raketen, die aus dem Gazastreifen auf Israel abgefeuert werden, 8. Oktober 2023. © 2023 AP

Die Führung Israels und der bewaffneten palästinensischen Gruppen haben Erklärungen abgegeben, die vermuten lassen, dass die schwerwiegenden Übergriffe ihrer Streitkräfte weitergehen werden. Israelische Beamte haben versucht, die gesamte Bevölkerung des Gazastreifens für den Angriff vom 7. Oktober verantwortlich zu machen; ein Minister sagte, es gebe „keinen Grund“, der Bevölkerung humanitäre Hilfe zu leisten, solange die israelischen Streitkräfte die Hamas nicht „eliminiert haben“. Ein Sprecher des militärischen Flügels der Hamas drohte damit, die „Hinrichtung einer feindlichen zivilen Geisel“ in Ton und Bild zu übertragen.

Künftige Waffenlieferungen an Israel angesichts der anhaltenden schweren Verstöße gegen das Kriegsrecht bergen die Gefahr, dass sich die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Kanada und Deutschland an diesen Verstößen mitschuldig machen, wenn sie wissentlich und in erheblichem Maße zu ihnen beitragen, so Human Rights Watch. Die Lieferung von Waffen an bewaffnete palästinensische Gruppen wiederum birgt die Gefahr, dass sich der Iran an diesen Verstößen mitschuldig macht, da die bewaffneten Gruppen weiterhin völkerrechtswidrige Angriffe durchführen.

Die gegenwärtigen Verstöße folgen auf jahrelange systematische Verstöße, darunter rechtswidrige Luftangriffe auf den Gazastreifen durch israelische Streitkräfte, das wahllose Abfeuern von Raketen auf zivile Gemeinden in Israel durch bewaffnete palästinensische Gruppen und Israels Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Form von Apartheid und Verfolgung an Palästinenser*innen, die bislang ungestraft geblieben sind.

US-Präsident Biden hat 14,3 Milliarden US-Dollar für weitere Waffen für Israel beantragt, zusätzlich zu den 3,8 Milliarden US-Dollar, die Israel ohnehin jährlich an Militärhilfe erhält. Am 2. November verabschiedete das US-Repräsentantenhaus einen Gesetzentwurf, der diese Militärhilfe für Israel billigt. Seit dem 7. Oktober haben die Vereinigten Staaten unter anderem Bomben mit kleinem Durchmesser, JDAM-Lenkungssätze (Joint Direct Attack Munition), 155-mm-Artilleriegeschosse und eine Million Schuss Munition an Israel geliefert bzw. entsprechende Lieferungen angekündigt.  

Großbritannien hat seit 2015 den Verkauf von Waffen im Wert von umgerechnet 539 Millionen US-Dollar an die israelischen Streitkräfte genehmigt, darunter Flugzeuge, Bomben und Munition. Kanada exportierte in den Jahren 2021 und 2022 Waffen im Wert von umgerechnet 33 Millionen US-Dollar. Deutschland hat zwischen 2015 und 2019 Lizenzen für Waffenverkäufe an Israel im Wert von 862 Millionen Euro erteilt.

Die Hamas-Führung erklärte im Januar 2022 öffentlich, dass sie mindestens 70 Millionen US-Dollar an militärischer Unterstützung aus dem Iran erhalten hat, machte aber keine Angaben darüber, in welchem Zeitraum diese Unterstützung geleistet wurde.

„Wie viele Zivilist*innen müssen noch sterben, wie viele Opfer von Kriegsverbrechen werden, bevor die Länder, die Waffen an Israel und bewaffnete palästinensische Gruppen liefern, den Stecker ziehen und so vermeiden, sich mitschuldig an diesen Gräueltaten zu machen?“, so Stagno.

Kategorien: Menschenrechte

Israelisch-palästinensischer Konflikt beeinträchtigt Rechte in Europa

Click to expand Image Eine Demonstration zur Unterstützung des palästinensischen Volkes in Straßburg, Frankreich, am 13. Oktober 2023. © 2023 Sipa via AP Images. (Oben rechts): Ein Demonstrant hält ein Schild während einer Mahnwache vor einem Gemeindezentrum und einer Synagoge in Berlin, Deutschland, am 20. Oktober 2023. © 2023 Sean Gallup/Getty Images. (Unten links) Ein pro-palästinensischer Demonstrant wird am 22. Oktober 2023 bei einer Demonstration in Berlin, Deutschland, von der Polizei festgenommen. © 2023 Sipa via AP Images. (Unten rechts): Eine Mahnwache vor einem Gemeindezentrum und einer Synagoge in Berlin, Deutschland, am 20. Oktober 2023. © 2023 Sean Gallup/Getty Images

(London) – Die Reaktionen der europäischen Regierungen auf die Feindseligkeiten zwischen Israel und bewaffneten palästinensischen Gruppen im Gazastreifen wirken sich negativ auf die Menschenrechte in Europa aus, erklärte Human Rights Watch heute. Grund zur Sorge geben hier die unzureichenden Reaktionen auf die zunehmenden Berichte über Antisemitismus und Islamophobie, die Einwanderungspolitik, die bisweilen eine Diskriminierung von Menschen riskiert, die als arabisch, palästinensisch oder muslimisch wahrgenommen werden, sowie Einschränkungen und Verbote von friedlichen pro-palästinensischen Protesten und Äußerungen.

„Die Behörden in den europäischen Ländern tragen die Verantwortung, für die Sicherheit aller Menschen zu sorgen und sie vor Gewalt und Diskriminierung zu schützen“, sagte Benjamin Ward, stellvertretender Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Es ist zudem wichtig, dass die Behörden das Recht der Menschen auf friedliche Proteste und freie Meinungsäußerung schützen und sicherstellen, dass die Sicherheitsmaßnahmen der Regierungen keine Grundrechte verletzen.“

Mehrere Länder haben seit dem Beginn der Feindseligkeiten am 7. Oktober 2023 eine Zunahme antisemitischer Vorfälle gemeldet. Die Metropolitan Police in London, die größte britische Polizeibehörde, verzeichnete in den ersten 18 Tagen im Oktober 218 antisemitische Vorfälle, im gleichen Zeitraum im Jahr 2022 waren es 15. Bei den Community Monitors in Großbritannien gingen zwischen dem 7. und 23. Oktober landesweit 600 derartige Meldungen ein, im Vergleich zu 81 im gleichen Zeitraum 2022.

In Frankreich erklärte der Innenminister am 24. Oktober, dass es seit dem 7. Oktober 588 antisemitische Taten und 336 Festnahmen im Zusammenhang mit diesen gegeben habe. In Deutschland verzeichnete der Bundesverband RIAS, eine staatlich finanzierte Forschungsstelle für Antisemitismus, zwischen dem 7. und 15. Oktober 202 antisemitische Vorfälle. In der gleichen Woche im Vorjahr waren es 59.  

Diese Statistiken differenzieren nicht zwischen körperlichen Angriffen, Drohungen oder Hassreden gegen Personen und Taten, die sich gegen jüdische Einrichtungen oder Gebäude richten, wie z.B. ein Brandanschlag auf eine Synagoge oder das Schmieren eines Davidsterns an jüdische Häuser. Sie zeigen jedoch die wachsende Zahl von Vorfällen insgesamt seit dem 7. Oktober und geben Anlass zur Sorge in den jüdischen Gemeinden um die Sicherheit der Menschen.

Auch islamfeindliche Hassverbrechen haben an Orten, an denen solche Vorfälle registriert werden, stark zugenommen. Nach Angaben der Metropolitan Police kam es in London in den ersten 18 Tagen im Oktober zu 101 islamfeindliche Straftaten, gegenüber 42 im gleichen Zeitraum des Jahres 2022. Eine Gemeindeorganisation verzeichnete vom 7. bis 19. Oktober 291 islamfeindliche Vorfälle in Großbritannien. Das sind sechsmal mehr als im Vorjahreszeitraum.

Leider haben keine weiteren Länder Statistiken über gemeldete islamfeindliche Vorfälle seit dem 7. Oktober veröffentlicht, was darauf schließen lässt, dass sie keine Hassverbrechen gegen Menschen, die als muslimisch wahrgenommen werden, erfassen. Der Mangel an Daten behindert wirksame politische Reaktionen auf solche Hassverbrechen, so Human Rights Watch.

Die Behörden in verschiedenen europäischen Ländern haben seit dem 7. Oktober unverhältnismäßige Beschränkungen für pro-palästinensische Proteste und Reden verhängt.

Die französischen Behörden verhängten ein generelles Verbot pro-palästinensischer Proteste, das vom Staatsrat, Frankreichs höchstem Verwaltungsgericht, am 18. Oktober aufgehoben wurde. Vor dieser Entscheidung waren laut Medienberichten 64 Proteste verboten worden.    

Die Berliner Behörden haben mindestens sieben pro-palästinensische Proteste verboten, obwohl mehrere andere pro-palästinensische Proteste erlaubt wurden. Die Protestverbote lösten beim Antisemitismusbeauftragten des Landes Besorgnis aus, der darauf hinwies, dass „Demonstrieren ein Grundrecht ist“. Am 13. Oktober erteilte der Berliner Senat Schulen die Befugnis, Schüler*innen das Tragen des schwarz-weißen Palästinensertuchs Keffiyeh und das Anbringen von Aufklebern mit der Aufschrift „Free Palestine“ zu verbieten, was Bedenken hinsichtlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung und möglicher Diskriminierung auslöste.

Verbote pro-palästinensischer Proteste wurden auch aus Wien, Ungarn und Teilen der Schweiz gemeldet.

Die Londoner Polizei hat seit dem 7. Oktober grundsätzlich eine differenzierte Haltung gegenüber pro-palästinensischen Protesten eingenommen, auch in Bezug auf die Verwendung von Slogans bei Protesten, die anderswo in Europa zur Rechtfertigung von Verboten angeführt wurden. Dies gilt trotz des politischen Drucks des britischen Innenministers auf die Polizei, bei pro-palästinensischen Protesten „die volle Härte des Gesetzes“ anzuwenden, und trotz einer Erklärung des britischen Außenministers, in der er pro-palästinensische Anhänger*innen aufforderte, zu Hause zu bleiben. Solche Äußerungen und die jüngsten Gesetze zur Einschränkung von Versammlungen bergen die Gefahr, dass das Recht auf Protest und freie Meinungsäußerung beeinträchtigt wird.

Am 13. Oktober wurde in Frankreich ein Lehrer in einer Schule erstochen. Die Behörden behaupten, dass der mutmaßliche Täter, ein ehemaliger Schüler, sich vor dem Angriff zum Islamischen Staat bekannt hatte. Der französische Innenminister hat angedeutet, dass er einen Zusammenhang zwischen dem Anschlag und den Ereignissen in Israel und im Gazastreifen vermutet, ohne diesen jedoch zu präzisieren. Ein Anschlag in Belgien am 16. Oktober, bei dem zwei schwedische Fußballfans starben, scheint nicht in Verbindung mit dem Konflikt zu stehen.

Frankreichs Innenminister berief sich auf den Messerangriff in der Schule, um die Verschärfung eines bereits umstrittenen Einwanderungsgesetzes zu rechtfertigen, das im vergangenen April verschoben wurde, um die Ausweisung von Ausländer*innen mit mutmaßlichen Verbindungen zu „radikalen Ideologien“ zu erleichtern. Die deutsche Innenministerin hat dazu aufgerufen, Personen auszuweisen, die ihre Unterstützung für die Hamas bekunden.

Der britische Einwanderungsminister forderte den Entzug der Visa von Personen, die „Hass und Spaltung“ verbreiten, „zu Antisemitismus anstiften“ oder verbotene Organisationen unterstützen, zu denen im Vereinigten Königreich und in der Europäischen Union auch die Hamas gehört. Diese politischen Ansätze und der Kontext ihrer Einführung bergen die Gefahr der Diskriminierung von muslimischen und arabischen Migrant*innen und Asylsuchenden, so Human Rights Watch.

Staaten sind gemäß der Menschenrechtsnormen verpflichtet, das Recht auf Leben und Sicherheit aller Menschen in ihrem Land ohne Diskriminierung zu schützen. Dazu gehört auch der Schutz der Menschen vor antisemitischer und islamfeindlicher Hassgewalt. Die Regierungen sollten nach ethnischer Zugehörigkeit aufgeschlüsselte Daten erheben, um effektiver auf strukturellen und andere Formen von Rassismus und Diskriminierung reagieren zu können, so Human Rights Watch.

Die Behörden sollten zudem sicherstellen, dass sie ihre Polizei- und Sicherheitsaufgaben ohne Diskriminierung wahrnehmen und die Rechte aller Menschen schützen. Die Notwendigkeit, Hassverbrechen zu bekämpfen und Menschen zu schützen, sollte jedoch niemals als Rechtfertigung für staatliche Diskriminierung oder eine menschenrechtsverletzende Einwanderungspolitik dienen.  

Um das Recht auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit zu schützen, sollten die Behörden Einschränkungen von Protesten vermeiden, es sei denn, diese sind absolut notwendig. Sollten Einschränkungen verhängt werden, dann müssen diese verhältnismäßig sein und auf einer Einzelfallprüfung beruhen. Verbote von Protesten sollten das letzte Mittel sein. Die Kriminalisierung oder das Verbot allgemeiner palästinensischer Symbole ist eine diskriminierende und unverhältnismäßige Reaktion und stellt einen ungerechtfertigten Eingriff in die Meinungsfreiheit dar, so Human Rights Watch.

„Das Recht, zu protestieren und Kritik an Regierungen zu äußern, ist einer der Grundpfeiler jeder demokratischen Gesellschaft und eine wichtige Möglichkeit für die Menschen, ihre Regierung zur Rechenschaft zu ziehen, auch in Bezug auf die Außenpolitik“, sagte Ward. „Das Verbot friedlicher Proteste beraubt die Menschen ihrer grundlegenden demokratischen Rechte.“

Kategorien: Menschenrechte

Geiselnahmen durch Hamas und Islamischer Dschihad sind Kriegsverbrechen

Click to expand Image Fotos von Israelis, die am 7. Oktober bei dem von der Hamas geführten Angriff als Geiseln verschleppt wurden. Die Bilder wurden bei einer Demonstration für die Freilassung der Geiseln am 17. Okotber 2023 auβerhalb der HaKirya-Militärbasis in Tel Aviv aufgehängt. © 2023 Kobi Wolf/Bloomberg via Getty Images

Aktualisierung, 20. Oktober 2023: Israel hat die Freilassung von zwei Geiseln, Judith Tai Raanan und Natalie Shoshana Raana, Mutter und Tochter, beide Staatsbürgerinnen der Vereinigten Staaten, bestätigt. Die Hamas und der Islamische Dschihad sollen alle anderen zivilen Geiseln unverzüglich, bedingungslos und wohlbehalten freilassen

Hamas und Islamischer Dschihad halten viele Israelis sowie weitere Personen als Geiseln in Gaza fest und wollen sie nur im Gegenzug für die Freilassung palästinensischer Gefangener in Israel freilassen. Damit verüben sie Kriegsverbrechen.  Zivilist*innen, einschließlich Kinder, älterer Menschen und Personen mit Behinderung, sollen niemals als Verhandlungsmasse dienen. Es gibt keine Situation, die Geiselnahmen rechtfertigt. Bewaffnete Gruppen sollen alle festgehaltenen Zivilist*innen sofort und unter Gewährleistung ihrer Sicherheit freilassen. Regierungen mit Einfluss auf die Hamas sollen einfordern, dass die Geiseln menschlich behandelt und freigelassen werden.

(Jerusalem) – Hamas und Islamischer Dschihad begehen Kriegsverbrechen, indem sie viele Israelis und weitere Personen als Geiseln in Gaza festhalten, so Human Rights Watch. Es gibt keine Situation, die Geiselnahmen rechtfertigt. Die Gruppen sollen alle festgehaltenen Zivilist*innen sofort und unter Gewährleistung ihrer Sicherheit freilassen.

Am 19. Oktober 2023 gaben israelische Behörden bekannt, dass mindestens 203 Geiseln in Gaza festgehalten würden. Am 16. Oktober hatte der bewaffnete Arm der Hamas erklärt, etwa 200 Menschen als Geiseln zu halten und dass auch andere palästinensische Gruppierungen Personen festhalten würden. Der islamische Dschihad behauptet, 30 Geiseln in seiner Gewalt zu haben. Darüber hinaus hält der bewaffnete Arm der Hamas seit beinahe einem Jahrzehnt zwei israelische Zivilisten mit psychosozialen Einschränkungen gefangen.

„Zivilist*innen, einschließlich Kinder, älterer Menschen und Personen mit Behinderung, dürfen niemals als Verhandlungsmasse dienen“, sagte Lama Fakih, Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. „Regierungen mit Einfluss auf die Hamas, einschließlich Katar, Ägypten und die Türkei, sollten einfordern, dass die Geiseln so bald wie möglich freigelassen und bis dahin menschlich behandelt werden.“

Die festgehaltenen Menschen wurden am 7. Oktober als Geiseln genommen, nachdem palästinensische Kämpfer den Grenzzaun zwischen Israel und Gaza durchbrochen hatten. Bei dieser Operation wurden laut Angaben der israelischen Regierung mehr als 1.400 Menschen getötet, darunter Hunderte Zivilist*innen. In einer aufgezeichneten Nachricht vom 9. Oktober drohte der bewaffnete Arm der Hamas damit, die Geiseln öffentlich hinzurichten.

Die Hamas verkündete, die Geiseln erst dann freilassen zu wollen, wenn Israel die Bombardierung von Gaza einstellt und 5.000 palästinensische Gefangene freilässt, die sich in israelischer Haft befinden, darunter auch Kinder und Frauen.

Der Islamische Dschihad verkündete ebenfalls, seine Geiseln nur im Gegenzug zur Freilassung palästinensischer Gefangener freizugeben. Bislang unbestätigten Angaben dieser Gruppierung zufolge wurden 22 Geiseln bei israelischen Luftangriffen in Gaza getötet. Laut Daten des israelischen Strafvollzugsdienstes befanden sich Stand 1. Oktober insgesamt 5.192 Palästinenser*innen aufgrund „sicherheitsrelevanter“ Vergehen in israelischen Gefängnissen, 1.319 davon ohne Anklage oder Prozess in Untersuchungshaft.

Zu den Geiseln gehören Männer, Frauen und Kinder; mindestens eine Person hat eine Behinderung. Manche sind Angehörige des israelischen Militärs. Laut Medienberichten sowie von Human Rights Watch durchgeführten Interviews sind unter den Geiseln auch Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft sowie ausländische Staatsangehörige, darunter aus Mexiko, den Vereinigten Staaten und Deutschland. Es könnten auch mindestens acht in Israel lebende palästinensische Beduin*innen darunter sein.

In den Tagen nach den Angriffen vom 7. Oktober sprach Human Rights Watch mit sechs Familienmitgliedern von zehn aktuell vermissten Personen. Alle sagten, dass ihre vermissten Angehörigen Zivilist*innen seien, darunter Kinder, ältere Menschen sowie Eltern von Kleinkindern. Das israelische Militär informierte zwei dieser Familien darüber, dass ihre (insgesamt vier) Verwandten als Geiseln in Gaza festgehalten würden.

Die Familienangehörigen der Geiseln gehen davon aus, dass palästinensische Kämpfer ihre Verwandten aus verschiedenen ländlichen Siedlungen, sogenannten Kibbuzim, im Süden Israels verschleppt haben, darunter Nir Oz, Nahal Oz und Holit sowie von einem Musikfestival nahe des Kibbuzes Re’im. Mitglieder anderer Kibbuzim, darunter Be‘eri, berichteten zudem, dass Dutzende weiterer Menschen aus der Gemeinschaft noch vermisst und vermutlich als Geiseln gehalten würden. Manche der Kibbuzim befinden sich weniger als einen Kilometer von Gaza entfernt.

Verschiedene Nachrichtenorganisationen haben dokumentiert, wie Menschen aus Israel nach Gaza verschleppt wurden. Die Washington Post versuchte, auf Grundlage von Bildmaterial das Schicksal von 64 Menschen nachzuvollziehen, die palästinensische Kämpfer am 7. Oktober aus Israel nach Gaza verschleppten. Scheinbar sind 49 von ihnen Zivilist*innen – darunter 9 Kinder –, 11 israelische Militärangehörige und bei 4 von ihnen bleibt der Status als Zivilist*innen unklar.

Human Rights Watch prüfte ein auf Social Media gepostetes Video, in dem vier Arabisch sprechende Männer zu sehen sind, die offenbar eine junge Frau auf einem Motorrad verschleppen, etwa vier Kilometer vom Ort des Festivals im Süden Israels entfernt und nahe Gaza. Die Frau, die von ihrer Familie in Medieninterviews als die 26-jährige Noa Argamani identifiziert wurde, ruft „Nein, tötet mich nicht“, während andere Männer einen Mann wegführen, der als ihr Partner Avinatan Or identifiziert wurde und die Hände hinter dem Rücken hat. In einem weiteren Social-Media-Video vom 7. Oktober ist Argamani lebend zu sehen. Offenbar wird sie in Gaza festgehalten.

Doch die Hamas-Kämpfer, die an der Offensive beteiligt waren, nahmen nicht nur Geiseln, sondern massakrierten auch Hunderte Zivilist*innen, darunter auch Kinder. Auf dem Gelände des Musikfestivals „Supernova Sukkot Gathering“ schossen sie wahllos in die Menschenmenge und töteten nach Angaben von Zaka Search and Rescue, dem israelischen Rettungsdienst, mindestens 260 Menschen. Die Angreifer drangen auch in Häuser in Siedlungen an der Grenze zu Gaza ein und töteten Zivilist*innen. Bewaffnete palästinensische Gruppen haben Tausende Raketen auf israelische Wohngebiete abgefeuert. Im Süden Israels sind Tausende Menschen vertrieben worden.

Dem Gesundheitsministerium in Gaza zufolge wurde seit dem Beginn des schweren Bombardements Gazas durch Israel am 7. Oktober mehr als 3.785 Menschen getötet, darunter 1.524 Kinder, 1.000 Frauen und 120 ältere Menschen; etwa eine Million Menschen wurde vertrieben. Israelische Behörden haben die Strom-, Wasser- und Internetversorgung sowie die Lieferung von Nahrungsmitteln in Gaza blockiert und verstoßen damit gegen das humanitäre Völkerrecht, das eine kollektive Bestrafung verbietet. Des Weiteren weigern sich die Behörden, Zivilist*innen lebenswichtige Güter bereitzustellen, etwa Medikamente. Dies verschärft die ohnehin schon verheerende humanitäre Lage nach mehr als 16 Jahren israelischer Blockade.

Geiselnahmen sind sowohl gemäß des gemeinsamen Artikels 3 der Genfer Konventionen verboten, der auf den bewaffneten Konflikt zwischen Israel und der Hamas, dem islamischen Dschihad sowie anderen bewaffneten palästinensischen Gruppierungen anwendbar ist, als auch nach Artikel 34 der 4. Genfer Konvention, die Menschen in besetzten Gebieten schützt.

Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz definiert Geiselnahmen in seinem Kommentar von 2016 zum gemeinsamen Artikel 3 als „das Ergreifen, die Inhaftierung oder anderweitiges Festhalten einer Person (die Geisel) einhergehend mit einer Drohung, diese Person zu töten, zu verletzen oder weiterhin festzuhalten, um eine dritte Partei dazu zu bewegen, etwas zu tun oder von einem Vorhaben Abstand zu nehmen, als explizite oder implizite Bedingung für die Freilassung, die Sicherheit oder das Wohlergehen der Geisel“. Artikel 8 des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) definiert Geiselnahmen in ähnlicher Weise als Kriegsverbrechen.

Geiselnahmen stehen auch in Verbindung zu anderen Kriegsverbrechen, etwa festgehaltene Zivilist*innen als menschliche Schutzschilde einzusetzen, Geiseln grausam zu behandeln und ihnen Gewalt anzudrohen sowie die oben genannte kollektive Bestrafung. Der gemeinsame Artikel 3 führt darüber hinaus aus, dass jede in Gewahrsam einer Konfliktpartei geratene Person „unter allen Umständen menschlich zu behandeln ist“ und vor „Gewalt gegen das Leben und die Person“ zu schützen ist und dass „Verwundete und Kranke […] gepflegt werden [sollen]“. Das humanitäre Gewohnheitsrecht sieht des Weiteren vor, dass Personen, die ihrer Freiheit beraubt worden sind, mit ihren Familien kommunizieren dürfen.

Auf einer Pressekonferenz in Tel Aviv am 14. Oktober mit Familienangehörigen von Geiseln und Vermissten forderten Vertreter*innen der Familien die sofortige Versorgung der Geiseln mit lebenswichtigen Medikamenten: „Unsere Angehörigen […] benötigen lebenswichtige Medikamente. Ohne diese Medikamente werden sie nicht überleben. Die Zeit rennt davon.“ Vertreter*innen der Familien zeigten sich bei der Pressekonferenz über den Gesundheitszustand ihrer Verwandten auch im Hinblick auf chronische Erkrankungen sowie auf Verletzungen besorgt, die sie beim Angriff der Hamas erlitten haben.

Adva Gutman-Tirosh sprach von ihrer Schwester, der 27-jährigen Tamara, die vom Festival aus entführt wurde. „Tamara leidet unter Morbus Crohn“, sagte Adva. „Ohne ihre Medikamente und medizinische Behandlungen könnte sie sterben.“

Als Länder, die regelmäßig in Austausch mit der Hamas stehen und Einfluss auf diese haben, sollten Katar, die Türkei und Ägypten auf die sofortige Freilassung der in Gaza festgehaltenen Geiseln drängen, sagte Human Rights Watch.

Jene, die die Geiselnahmen befohlen oder durchgeführt haben oder noch Geiseln festhalten, können strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Darüber hinaus können Kommandeure von Hamas und Islamischem Dschihad im Rahmen der „Befehlsverantwortung“ verfolgt werden, wenn sie von Verbrechen wussten oder hätten wissen müssen, die von ihren Untergebenen ausgeübt wurden, und entweder die Verbrechen nicht verhinderten oder die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft zogen.

„Geiselnahmen, menschliche Schutzschilde sowie die Drohung, Menschen im Gewahrsam zu töten, sind Kriegsverbrechen“, sagte Fakih. „Der Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs hat bereits bekundet, dass er ein Mandat zur Untersuchung dieser Vergehen hat.“

Kategorien: Menschenrechte

Israel: Einsatz von weißem Phosphor in Gaza und im Libanon

Click to expand Image Artilleriebeschuss mit weißem Phosphor über dem Hafen von Gaza-Stadt, 11. Oktober 2023 © 2023 Mohammed Adeb/AFP via Getty Images

(Beirut) – Durch den Einsatz von Munition mit weißem Phosphor bei israelischen Militäroperationen im Gazastreifen und im Libanon könnte die Zivilbevölkerung schwere und langfristige Gesundheitsschäden davontragen, so Human Rights Watch heute bei der Veröffentlichung von Fragen und Antworten zum weißen Phosphor. Human Rights Watch überprüfte Videos, die am 10. und 11. Oktober 2023 im Libanon bzw. im Gazastreifen aufgenommen wurden und die den mehrfachen Einsatz von weißem Phosphor über dem Hafen von Gaza-Stadt und zwei ländlichen Ortschaften entlang der israelisch-libanesischen Grenze zeigen. Außerdem befragte Human Rights Watch zwei Personen, die einen solchen Angriff in Gaza miterlebt haben.

Weißer Phosphor, der in Leuchtspurmunition, Signalmitteln, Vernebelungsgranaten oder als Brandwaffe gegen Menschen und Gegenstände eingesetzt werden kann, hat eine sehr starke Brandwirkung. Er kann schwere Verbrennungen bei Menschen verursachen und Gebäude, Felder und andere zivile Objekte in der Umgebung in Brand setzen. Der Einsatz von weißem Phosphor im Gazastreifen, einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt, stellt eine immense Gefahr für die Zivilbevölkerung dar und verstößt gegen das Verbot des humanitären Völkerrechts, Zivilist*innen unnötig in Gefahr zu bringen.

„Jedes Mal, wenn weißer Phosphor in dicht besiedelten zivilen Gebieten eingesetzt wird, besteht ein hohes Risiko für unerträgliche Verbrennungen und lebenslanges Leiden“, sagte Lama Fakih, Direktorin der Abteilung Naher Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. „Der Einsatz von weißem Phosphor bei Luftexplosionen in besiedelten städtischen Gebieten ist illegal und erfolgt wahllos, da der Stoff Häuser niederbrennen und der Zivilbevölkerung erheblichen Schaden zufügen kann.“

Am 11. Oktober führte Human Rights Watch ein Telefon-Interview mit zwei Personen aus dem Bezirk Al Mina in Gaza-Stadt, die den mutmaßlichen Einsatz von weißem Phosphor beobachtet hatten. Eine Person befand sich zu diesem Zeitpunkt auf der Straße, die andere in einem nahe gelegenen Bürogebäude. Beide berichteten von anhaltenden Luftangriffen in der Zeit zwischen 11.30 und 13.00 Uhr, bei denen es zu Explosionen im Himmel kam, die weiße Linien Richtung Erde zogen. Beide beschrieben einen stechenden Geruch, der so stark war, dass auch die Person im Büro ihn wahrnahm und daraufhin zum Fenster ging und von dort aus den Angriff filmte.

Human Rights Watch hat das Video überprüft und festgestellt, dass es im Hafen von Gaza-Stadt aufgenommen wurde und dass es sich bei der verwendeten Munition um 155-mm-Artilleriegeschosse mit weißem Phosphor handelte. Andere Videos aus den sozialen Medien, die Human Rights Watch überprüft hat, zeigen denselben Ort. Weißer Phosphor erzeugt dichten, weißen Rauch und hat einen markanten knoblauchartigen Geruch.

Human Rights Watch überprüfte auch zwei Videos, die am 10. Oktober an zwei Orten nahe der Grenze zwischen Israel und dem Libanon aufgenommen wurden. Beide zeigen den Einsatz von 155-mm-Artilleriegeschossen mit weißem Phosphor, die offenbar zur Erzeugung einer Rauchwand oder zu Markierungs- bzw. Signalzwecken eingesetzt wurden.

Weißer Phosphor entzündet sich durch den Kontakt mit Sauerstoff in der Luft und brennt solange weiter, bis entweder nichts mehr übrig ist oder die Sauerstoffzufuhr unterbunden wird. Seine chemische Reaktion kann starke Hitze (etwa 815 °C/1.500 °F), Licht und Rauch erzeugen.

Bei Kontakt kann weißer Phosphor thermische und chemische Verbrennungen hervorrufen, teilweise bis auf die Knochen, da er in Fett und damit im menschlichen Fleisch gut löslich ist. Fragmente von weißem Phosphor können Wunden auch nach der Behandlung verschlimmern, in den Blutkreislauf eindringen und multiples Organversagen verursachen. Bereits versorgte Wunden können sich wieder entzünden, wenn die Verbände entfernt werden und die Wunden erneut mit Sauerstoff in Kontakt kommen. Selbst relativ leichte Verbrennungen sind oft tödlich. Es entstehen großflächige Narben, die das Muskelgewebe verengen und zu körperlichen Behinderungen führen. Die traumatische Erfahrung des Angriffs, die darauffolgenden Schmerzen und das Aussehen verändernde Narben führen bei Überlebenden zu psychischen Schäden und sozialer Ausgrenzung.

Human Rights Watch zufolge verstößt der Einsatz von weißem Phosphor in dicht besiedelten Gebieten des Gazastreifens gegen das humanitäre Völkerrecht. Demnach müssen die Konfliktparteien alle erdenklichen Vorkehrungen treffen, um unter der Zivilbevölkerung Verletzungen und den Verlust von Menschenleben zu verhindern. Die gefährlichen Eigenschaften von weißem Phosphor werden zusätzlich durch die in den Videos gezeigte Abwurftechnik in Airbust-Artilleriegeschossen des Kalibers 155 Millimeter aus der Luft noch verstärkt. Jede dieser Granaten streut bei der Explosion 116 mit weißem Phosphor getränkte Filzkeile, je nach Höhe des Abschusses, in einem Umkreis von bis zu 125 bis 250 Metern vom Ort der Detonation. Dadurch werden mehr Zivilist*innen und zivile Einrichtungen gefährdet als bei einer konzentrierten Explosion am Boden.

Die israelischen Behörden haben sich nicht zum mutmaßlichen Einsatz von weißem Phosphor während der laufenden Kämpfe geäußert.

Der Einsatz von weißem Phosphor ist Teil von Israels Reaktion auf die tödlichen Angriffe der Terrormiliz Hamas am 7. Oktober und die darauffolgenden Raketenangriffe, bei denen bis zum 12. Oktober mehr als 1.300 Israelis, darunter Hunderte von Zivilist*innen, getötet wurden. Darüber hinaus wurden viele Israelis als Geiseln genommen, was einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht darstellt. Bei dem schweren israelischen Bombardement des Gazastreifens kamen nach Angaben des Gesundheitsministeriums mehr als 1.400 Palästinenser*innen ums Leben, darunter zahlreiche Zivilist*innen. Mehr als 338.000 Menschen wurden vertrieben. Viele Gemeinden im Süden Israels wurden ebenfalls vertrieben, und mehr als 1.500 bewaffnete Palästinenser wurden in Israel getötet. Die israelischen Behörden haben den Gazastreifen von der Versorgung mit Strom, Wasser, Treibstoff und Lebensmitteln abgeschnitten und damit die katastrophale humanitäre Lage noch verschlimmert, die aus der seit 16 Jahren andauernden Blockade durch Israel resultiert. Diese Blockade kommt einer kollektiven Bestrafung gleich, die nach dem humanitären Völkerrecht verboten ist.

Human Rights Watch hat den Einsatz von weißem Phosphor durch das israelische Militär bereits in früheren Konflikten im Gazastreifen dokumentiert, unter anderem im Jahr 2009. Israel sollte den Einsatz von Munition mit weißem Phosphor, die in der Luft explodiert, ausnahmslos für alle bewohnte Gebiete verbieten. Nicht tödliche Alternativen zu den Rauchgranaten aus weißem Phosphor sind leicht erhältlich, etwa solche von israelischen Unternehmen, die die israelische Armee in der Vergangenheit eingesetzt hat, um militärische Operationen zu verschleiern. Diese Alternativen haben die gleiche Wirkung und verringern den Schaden für die Zivilbevölkerung drastisch.

Im Jahr 2013 erklärte das israelische Militär als Reaktion auf eine beim israelischen Obersten Gerichtshof eingereichte Petition bezüglich der Angriffe in Gaza, dass es in besiedelten Gebieten keinen weißen Phosphor mehr verwenden würde, mit zwei Ausnahmen. Genaue Details gab das Militär nur den Richtern preis. Im Gerichtsbeschluss konstatiert Richterin Edna Arbel, dass die besprochenen Bedingungen dazu führen würden, dass der Einsatz von weißem Phosphor nur „unter ganz besonderen Umständen als eine extreme Ausnahme“ gerechtfertigt wäre. Obwohl dieses Urteil keinen offiziellen Politikwechsel bedeutete, forderte Richterin Arbel das israelische Militär auf, eine „gründliche und umfassende Prüfung“ vorzunehmen und eine grundsätzliche militärische Richtlinie dazu zu erlassen.

Angriffe mit Brandwaffen aus der Luft auf zivile Gebiete sind nach Protokoll III des Übereinkommens über konventionelle Waffen (CCW) verboten. Das Protokoll enthält zwar weniger strikte Beschränkungen für bodengestützte Brandwaffen, doch verursachen alle Arten von Brandwaffen schreckliche Verletzungen. Protokoll III gilt allerdings nur für Waffen, die „in erster Linie dazu bestimmt“ sind, Objekte in Brand zu setzen. Daher sind einige Länder der Ansicht, dass bestimmte Mehrzweckmunition mit Brandwirkung, insbesondere solche, die weißen Phosphor enthält, davon ausgeschlossen ist.

Human Rights Watch und viele Staaten fordern seit Langem, diese Schlupflöcher im Protokoll III zu schließen. Die aktuellen Angriffe sollten den Forderungen von mindestens zwei Dutzend Ländern Nachdruck verleihen, dass die CCW-Vertragsstaaten bei der im November in Genf stattfindenden Jahreskonferenz genug Zeit einplanen, um die Angemessenheit von Protokoll III zu diskutieren.

Palästina ist dem Protokoll III am 5. Januar 2015 und der Libanon am 5. April 2017 beigetreten. Israel hat das Protokoll nicht ratifiziert.

„Um zivile Schäden zu vermeiden, sollte Israel den Einsatz von weißem Phosphor in bewohnten Gebieten einstellen“, sagte Fakih. „Die Konfliktparteien sollten alles in ihrer Macht Stehende tun, um der Zivilbevölkerung weiteres Leid zu ersparen.“

Kategorien: Menschenrechte

Von der Hamas geführter Angriff in Südisrael tötet Hunderte

Click to expand Image Zerstörte Autos in der Nähe des Supernova Musikfestivals in Südisrael. © 2023 Ilia Yefimovich/picture-alliance/dpa/AP Images

Am frühen Samstagmorgen drangen Mitglieder bewaffneter Gruppen, vor allem des militärischen Flügels der Hamas, aus dem Gazastreifen in den Süden Israels ein. Nachdem sie israelische Soldaten an der Grenze überwunden hatten, verübten sie Massaker an israelischen Zivilisten. Einige Bewaffnete griffen eine nächtliche Tanzparty im Freien an und beschossen die Partygäste, wobei laut BBC mindestens 260 Menschen starben. Andere drangen in Häuser in Städten nahe der Grenze zum Gazastreifen ein, töteten Familienmitglieder und nahmen andere als Geiseln. Videos in den sozialen Medien zeigten, wie Männer Familien - Männer, Frauen, Kinder, ältere Menschen - entführten und durch die Straßen von Gaza führten. Medienberichten zufolge wurden mehr als hundert Leichen aus der Gemeinde Be'eri geborgen, wo Überlebende Reportern berichteten, dass bewaffnete Hamas-Männer ihre Häuser in Brand setzten, um die Familien aus den verschlossenen Unterkünften zu treiben.

Als Deckung für den Angriff feuerten die bewaffneten Gruppen Tausende Raketen auf israelische Städte, beschädigten Häuser und töteten und verletzten Zivilisten. Die militärischen Flügel von Hamas und des Islamischen Dschihad halten nach eigenen Angaben derzeit 130 israelische Geiseln fest. Gestern drohte der bewaffnete Flügel der Hamas in einer aufgezeichneten Botschaft damit, die Geiseln hinzurichten - dies wäre ein abscheuliches Kriegsverbrechen.

In den sozialen Medien kursieren erschütternde Bilder von Trauer und Trauma: von einer israelischen Frau, die von Bewaffneten umzingelt ist und ihr Baby und ihr Kleinkind in den Armen hält, während Kämpfer sie entführen und angeblich in den Gazastreifen bringen; von einer anderen Mutter, die ihre 13-jährige Tochter nicht mehr festhalten kann - das Mädchen, das an Autismus leidet, wurde Berichten zufolge mit ihrer Großmutter in den Gazastreifen entführt.

Click to expand Image Schild zu einem Zentrum am Flughafen Ben Gurion, in dem Unterstützung bei der Suche nach vermissten Personen angeboten wird.  © 2023 Human Rights Watch

Nach Angaben der israelischen Regierung sind 900 Israelis getötet worden. Hunderte davon sind Zivilisten.

Nach dem Angriff begann das israelische Militär mit einer massiven Bombardierung des Gazastreifens. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Gaza wurden bis zum 9. Oktober fast 700 Palästinenser getötet, darunter 140 Kinder. Die israelischen Behörden haben außerdem den 2,2 Millionen Einwohnern des Gazastreifens rechtswidrig den Strom abgestellt und die Wasserversorgung eingeschränkt, was die Auswirkungen der seit mehr als 16 Jahren andauernden illegalen Abriegelung des Gazastreifens und des Verbrechens der Apartheid und Verfolgung durch Israels gegenüber den Palästinensern noch verschärft.

Die vorsätzliche Tötung von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen, ebenso wie eine Geiselnahme. Alle Konfliktparteien sind verpflichtet, die Kriegsgesetze einzuhalten. Unabhängig davon, was die andere Seite tut, hat niemand das Recht, Zivilisten zu töten.

Kategorien: Menschenrechte

Menschenrechte bei Gesprächen mit Ländern Zentralasiens in den Mittelpunkt rücken

Click to expand Image Bundeskanzler Olaf Scholz (r) begrüßt Shavkat Mirsiyoyev, Präsident von Usbekistan, vor dem Kanzleramt in Berlin, Deutschland, 2. Mai 2023.  © 2023 Bernd von Jutrczenka/picture alliance via Getty Images

Am 29. September wird Bundeskanzler Olaf Scholz mit den Präsidenten der fünf zentralasiatischen Länder Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan zusammenkommen. Regionale Spannungen, insbesondere seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine, werden wahrscheinlich die Tagesordnung bestimmen. Deutschland sollte die Gelegenheit nutzen, um die zentralasiatischen Staatschefs mit der katastrophalen Menschenrechtslage in ihren Ländern zu konfrontieren.

Der Ukraine-Krieg hat diese strategisch wichtige und rohstoffreiche Region ins Blickfeld gerückt. Deutschland wird die fünf Länder bei dem Treffen am Freitag voraussichtlich auffordern, es nicht zuzulassen, dass Moskau Handelsrouten durch ihre Region nutzt, um Sanktionen zu umgehen. Das Treffen wird das erste seiner Art sein, das von einem deutschen Bundeskanzler oder einem anderen europäischen Staatsoberhaupt geleitet wird. Erst letzte Woche fand der erste Gipfel im C5+1-Format zwischen einem US-Präsidenten und seinen zentralasiatischen Amtskollegen statt. Im Anschluss an dieses Treffen gaben Joe Biden und die Staats- und Regierungschefs der fünf Länder eine gemeinsame Erklärung ab, in der sie sich verpflichten, für den Schutz der Menschenrechte einzutreten.

Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, ist seit Oktober letzten Jahres zweimal mit zentralasiatischen Staatschefs zusammengetroffen, und auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wird am Freitag mit seinen fünf Amtskollegen zusammenkommen.

Politisch motivierte Strafverfolgung, Unterdrückung der freien Meinungsäußerung und Straffreiheit für Folter sind in Zentralasien weit verbreitet. Bei Zusammenstößen während der Proteste in Kasachstan und Usbekistan im Jahr 2022 kamen mehr als 250 Menschen ums Leben, ohne dass die Verantwortlichen für diese Todesfälle zur Rechenschaft gezogen worden wären. In Kirgisistan greift die Regierung verstärkt die Zivilgesellschaft und unabhängige Medien an. Tadschikistan hat die Regierung die Unterdrückung der Opposition verschärft und ist gewaltsam gegen friedliche Dissident*innen in der autonomen Region Gorno-Badachschan vorgegangen. Und Turkmenistan gilt nach wie vor als eines der am stärksten abgeschotteten und repressivsten Länder der Welt.

Deutschland sollte seine Stellung als führender Handels- und Investitionspartner in Zentralasien und als zentrales Glied bei der Umsetzung der Zentralasien-Strategie der Europäischen Union nutzen, um gegenüber diesen autoritären Staaten klarzustellen, dass eine langfristige Partnerschaft mit Europa nur möglich ist, wenn sie grundlegende Menschenrechtsstandards einhalten und die Rechtsstaatlichkeit achten.

Angesichts der mit dem russischen Einmarsch in die Ukraine verbundenen Krise suchen führende zentralasiatische Politiker*innen nun engere Beziehungen zu neuen Verbündeten, auch in Europa. Deutschland sollte diese neue Chance ergreifen, allerdings zu Bedingungen, die die Rechte der Menschen in der gesamten Region fördern.

Kategorien: Menschenrechte