Menschenrechte

Streumunition: Ächtung wieder in den Fokus rücken

Click to expand Image Gesammelte Überreste russischer Streumunitionsraketen, die beim Angriff auf die ukrainische Stadt Charkiw eingesetzt wurden, auf einem Lagerplatz in Charkiw am 22. Dezember 2022. © 2022 Evgeniy Maloletka / AP

(Washington DC) - Es bedarf größerer globaler Anstrengungen, um sicherzustellen, dass der internationale Vertrag über das Verbot von Streumunition sein Ziel erreicht und das Leid und die Schäden durch diese wahllosen Waffen beendet. Am 30. Mai 2023 ist es genau 15 Jahre her, dass das Übereinkommen über Streumunition in Irlands Hauptstadt Dublin verabschiedet wurde.

„Fünfzehn Jahre nach ihrer Verabschiedung hat die internationale Ächtung von Streumunition nichts an Bedeutung verloren “, sagte Steve Goose, Direktor der Abteilung Waffen bei Human Rights Watch und Vorsitzender der internationalen Cluster Munition Coalition. „Um weiteres menschliches Leid zu verhindern, müssen die Regierungen größere Anstrengungen unternehmen, um sicherzustellen, dass der Vertrag über das Verbot von Streumunition diese schrecklichen Waffen vollständig abschafft.“

Streumunition wird mittels Artillerie, Raketen, Flugkörpern und Flugzeugen eingesetzt. Die Munition öffnet sich in der Luft und streut Dutzende oder Hunderte von Submunitionen, auch Bomblets genannt, über ein großes Gebiet. Viele Submunitionen detonieren beim ersten Aufprall nicht und hinterlassen Blindgänger, die wie Landminen jahrelang wahllos Menschen verletzen und töten können, wenn sie nicht geräumt oder kontrolliert gesprengt werden.

Das Übereinkommen über Streumunition verbietet den Einsatz, die Herstellung, den Erwerb, die Weitergabe und die Lagerung von Streumunition und schreibt die Vernichtung von entsprechenden Lagerbeständen vor. Die humanitären Bestimmungen des Übereinkommens verpflichten die Länder außerdem, von Streumunitionsresten kontaminierte Gebiete zu räumen und die Opfer zu unterstützen.

Zu den 123 Ländern, die das Übereinkommen unterzeichnet oder ratifiziert haben, liegen keine Berichte oder Anschuldigungen über einen erneuten Einsatz, die Herstellung oder die Weitergabe von Streumunition vor. Eine Handvoll Länder, die das Übereinkommens nicht unterzeichnet haben, stellen jedoch weiterhin Streumunition her oder setzen diese ein.

In einem Bericht von Human Rights Watch aus dem Jahr 2023 wird detailliert beschrieben, wie die russischen Streitkräfte seit ihrem Einmarsch am 24. Februar 2022 wiederholt Streumunition in der Ukraine eingesetzt haben. Dabei kam es zu Hunderten Opfern unter der Zivilbevölkerung. Zudem wurden zivile Einrichtungen wie Häuser, Krankenhäuser und Schulen beschädigt. Bei einem einzigen russischen Streumunitionsangriff auf einen Bahnhof in Kramatorsk am 8. April 2022 wurden mindestens 58 Zivilist*innen getötet und 100 weitere verwundet. Das durch das Übereinkommen geschaffene Stigma hat zu einer breiten internationalen Verurteilung dieser Angriffe geführt.

Auch die ukrainischen Streitkräfte haben bei mehreren Gelegenheiten Streumunition eingesetzt.

In Syrien setzte die syrisch-russische Militärallianz am 6. November 2022 Streumunitionsraketen bei Angriffen auf Lager für Binnenvertriebene im Gouvernement Idlib ein und tötete und verletzte dabei Zivilist*innen. Amnesty International und dem Cluster Munition Monitor zufolge setzte die Luftwaffe Myanmars bei einem Angriff am 2. Juli 2022 eine offensichtlich im eigenen Land hergestellte Streubombe ein.

Zu den Mitgliedsstaaten des Übereinkommens über Streumunition gehören 17 ehemalige Herstellerstaaten von Streumunition. Allerdings haben 16 der Staaten, die das Übereinkommen nicht unterzeichnet haben, die Produktion nicht eingestellt, darunter China und Russland, die beide aktiv an der Erforschung und Entwicklung neuer Typen von Streumunition arbeiten. Die Vereinigten Staaten stellten zuletzt 2016 Streumunition her, sind aber immer noch nicht der Aufforderung nachgekommen, eine Regelung aus dem Jahr 2017 rückgängig zu machen, die ihnen die Wiederaufnahme der Produktion dieser Waffen ermöglicht.

Seit der Verabschiedung des Übereinkommens haben 37 Vertragsstaaten insgesamt fast 1,5 Millionen gelagerte Streumunitionen und mehr als 178 Millionen Submunitionen vernichtet. Das sind 99 Prozent aller Streumunitionsbestände, die die Vertragsstaaten gemeldet hatten.

Die Vertragsstaaten Bulgarien, Peru und die Slowakei machen weiterhin Fortschritte bei der Erfüllung der Vertragsverpflichtung zur Vernichtung der Bestände. Im Jahr 2021 und in der ersten Hälfte des Jahres 2022 haben die drei Länder zusammen mindestens 1.658 gelagerte Streumunitionenen und 46.733 Submunitionen zerstört. Südafrika lagert ebenfalls Streumunition, scheint aber seiner Verpflichtung, diese bis zum 1. November 2023 zu vernichten, nicht nachzukommen.

Die Zahl der Länder, die der Konvention über Streumunition beitreten, steigt zwar nur noch langsam an, doch im Februar ratifizierte Nigeria als erstes Land seit mehr als drei Jahren die Konvention.

Human Rights Watch ist Mitbegründer und hat den Vorsitz der Cluster Munition Coalition, einer globalen Koalition von Nichtregierungsorganisationen, die sich für die weltweite Einhaltung des Übereinkommens über Streumunition einsetzt.

Die 11. Jahrestagung des Übereinkommens über Streumunition wird vom 11. bis 14. September bei den Vereinten Nationen in Genf unter dem Vorsitz des irakischen Botschafters Abdul-Karim Hashim Mostafa stattfinden.

„Die Bilanz der Länder, die das Übereinkommen über Streumunition ratifiziert haben, ist beeindruckend, aber die heutigen Herausforderungen müssen bewältigt werden, wenn der Vertrag seine Ziele erreichen soll“, sagte Goose. „Die Länder, die dem Verbot von Streumunition zugestimmt haben, tragen eine kollektive Verantwortung, das durch diese Waffen verursachte Leid zu beenden.“

Kategorien: Menschenrechte

Neue Details zu Russlands Zwangsüberführung ukrainischer Kinder

Click to expand Image Kinderheim Kherson, ein Waisenhaus, aus dem russische Streitkräfte angeblich 49 Kinder in entführt haben, im ukrainischen Kherson, am  27. November 2022. © 2022 Chris McGrath/Getty Images

Die Verschleppung und Abschiebung ukrainischer Kinder durch russische Behörden hat Schlagzeilen gemacht und das Treffen zwischen der Russlands Kinderrechtsbeauftragten Maria Lvova-Belova und einem hochrangigen UN-Vertreter für Kinder und bewaffnete Konflikte hat letzte Woche für Aufruhr gesorgt. Erstere wird vom Internationalen Strafgerichtshof wegen ihrer mutmaßlichen Rolle bei diesen Verbrechen gesucht.

Anfang des Monats kamen durch die Ergebnisse einer Untersuchung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) weitere Einzelheiten zu diesen Überführungen ans Licht.

Human Rights Watch hat ausführlich dokumentiert, wie russische Beamte und ihre Bevollmächtigten Zwangsmaßnahmen einsetzten, um ukrainische Zivilpersonen nach Russland oder in von Russland besetzte Teile der Ukraine zu bringen – darunter Menschen, die vor dem Krieg flohen. Wir haben auch die Zwangsumsiedlung von Kindern und die verheerenden Auswirkungen des Krieges auf Kinder in Heimen dokumentiert.

Der neue Bericht, der im Rahmen des Moskauer Mechanismus der OSZE veröffentlicht wurde, räumt zwar ein, dass die genauen Zahlen ungewiss sind, doch seine Schlussfolgerungen sind eindeutig: Ukrainische Kinder wurden gewaltsam nach Russland deportiert oder in das von Russland kontrollierte Gebiet verschleppt. Dies stellt ein Kriegsverbrechen dar. Der Bericht kommt außerdem zu dem Schluss, dass es bei den zwangsdeportierten ukrainischen Kinder zu „zahlreichen und sich überschneidenden Rechteverletzungen“ kam.

Im Bericht wird festgestellt, dass die zwangsdeportierten Kinder in einer fremden Umgebung untergebracht wurden, die weit von der ukrainischen Sprache, Kultur, Bräuchen und Religion entfernt war. Der Bericht stellt auch fest, dass viele dieser Kinder einer militärischen Ausbildung und „pro-russischen Informationskampagnen ausgesetzt waren, die oft einer gezielten Umerziehung gleichkamen“.

Der Bericht unterstreicht auch, wie Änderungen in der russischen Gesetzgebung es den Behörden ermöglichten, ukrainischen Kindern schnell die russische Staatsbürgerschaft zu verleihen. Das erleichterte die Vormundschaft und Adoption durch russische Familien in Russland, obwohl viele der Kinder möglicherweise lebende Verwandte haben, auch in der Ukraine.

Der Bericht stellt fest, dass russische Behörden weder die Rückkehr ukrainischer Kinder in ihr Heimatland gefördert haben noch die Wiedervereinigung mit ihren Familien. Dem Bericht zufolge scheint Russland sogar Hindernisse für die Wiedervereinigung zu schaffen. Russland hat keine zentralisierte Liste der überführten Kinder. Außerdem werden die Kinder immer wieder von Ort zu Ort gebracht und manchmal mit russischen, anstatt ukrainischen Namen registriert. Selbst wenn es ukrainischen Familien gelingt, ein Kind ausfindig zu machen, stoßen sie bei der Rückführung des Kindes in die Ukraine auf zahlreiche logistische und finanzielle Schwierigkeiten.

Russland sollte seinen internationalen Verpflichtungen nachkommen und die sofortige Rückkehr der ukrainischen Kinder in ihr Land und zu ihren Familien sicherstellen.

Kategorien: Menschenrechte

Vereinigte Arabische Emirate laden Syriens Präsident Assad zum COP28 ein

Click to expand Image Scheich Mohamed bin Zayed Al Nahyan, Präsident der Vereinigten Arabischen Emirate, trifft Bashar Al Assad, Präsident von Syrien, während eines Empfangs in Qasr Al Watan in Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten, 19. März 2023. © 2023 Hamad Al Kaabi/UAE Presidential Court via AP Photo

Die Vereinigten Arabischen Emirate werden Berichten zufolge den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad, der in zügellose Gräueltaten verwickelt ist, auf der globalen Klimakonferenz der Vereinten Nationen COP28 empfangen. Die Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidiger*innen bleiben derweil außen vor.

Sollte Assad teilnehmen, wäre dies sein erster Auftritt auf einer globalen Konferenz seit dem Ausbruch des Syrienkriegs im Jahr 2011.

Die Vereinigten Arabischen Emirate, die bei der COP28 wenig Führungsstärke zu Kernthemen wie dem Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und dem Stopp von neuem Öl- und Gasausbau gezeigt haben, sind nun offenbar bereit, Assad bei seiner Imagepolitur zu helfen, obwohl seine Regierung Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen sein eigenes Volk begangen hat. Wenn Assad nach Dubai reist, wäre dies sein dritter Besuch im Land seit 2022. Die Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate hat sich bei keinem seiner Besuche öffentlich zu den Verbrechen unter seiner Herrschaft geäußert.

Syriens Regierung hat schwere Verbrechen in großem Ausmaß begangen und Millionen von Menschen vertrieben. Humanitäre Hilfe wird von der Regierung weiterhin als Waffe eingesetzt und abgezweigt bevor sie die Bevölkerung erreicht, die sich Assads Herrschaft widersetzt. Und die Kriegsverbrechen dauern weiter an: Erst im November 2022 warfen syrische Regierungstruppen verbotene Streumunition auf Lager für Binnenvertriebene im Nordwesten Syriens ab.

In der Zwischenzeit haben die arabischen Länder, allen voran die Vereinigten Arabischen Emirate, in aller Eile ihre Beziehungen zu Assads Regierung normalisiert, ohne Rechenschaft für die schweren Menschenrechtsverletzungen der letzten 12 Jahre zu einzufordern. Die Arabische Liga hat Syrien am 7. Mai 2023 wieder aufgenommen, nachdem sie das Land 2011 suspendiert hatte, und hat offenbar nicht verlangt, dass Syrien die Menschenrechte seiner Bevölkerung respektiert.

Während Assad willkommen geheißen wird, ist unklar, ob unabhängige Mitglieder der emiratischen Zivilgesellschaft angesichts der starken Repressionen im Land und der vollständigen Schließung des zivilgesellschaftlichen Raums in der Lage sein werden, effektiv an den Klimaverhandlungen der COP28-Konferenz teilzunehmen. Seit 2011 haben die Behörden der VAE das Recht auf freie Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit nachhaltig angegriffen und zahlreiche Regierungskritiker*innen und Aktivist*innen verhaftet und inhaftiert, darunter Ahmed Mansoor, einen führenden emiratischen Menschenrechtsverteidiger.

Darüber hinaus haben die VAE Sultan Ahmed Al Jaber, den Geschäftsführer der Abu Dhabi National Oil Company (ADNOC), des wichtigsten Unternehmens der Regierung für fossile Brennstoffe, zum Präsidenten der COP28 ernannt. Er wird seine Rolle bei ADNOC beibehalten, während er als COP-Präsident fungiert. ADNOC hat vor kurzem angekündigt, dass es alle Aktivitäten im Bereich der fossilen Brennstoffe ausbaut.

Es ist empörend, dass eine Konferenz, die ehrgeizige Klimaschutzmaßnahmen vorantreiben soll, dazu missbraucht wird, die Assad-Regierung wieder in die internationale Gemeinschaft einzubinden, ohne einen Versuch, die Rechenschaftspflicht für die weit verbreiteten Menschenrechtsverletzungen sicherzustellen. Die an der COP28 teilnehmenden Regierungen sollten sicherstellen, dass schwere Verbrechen, die unter Assad begangen wurden, untersucht und strafrechtlich verfolgt werden.

Kategorien: Menschenrechte

Schwere Entscheidungen in Afghanistans humanitärer Krise

Click to expand Image Eine Nichtregierungsorganisation liefert Nahrungsmittel in Kabul, Afghanistan, 3. Januar 2023. © 2023 Wail Koshar/AP Photo

Afghanistan ist weitgehend aus den Medien verschwunden, aber im Land herrscht weiter eine der schlimmsten humanitären Katastrophen weltweit. Zwei Drittel der Bevölkerung sind von Ernährungsunsicherheit betroffen, darunter 875.000 Kinder, die von akuter Unterernährung betroffen sind. Frauen und Mädchen sind nach wie vor am stärksten gefährdet.

Die anhaltende Krise hat den Vereinten Nationen in Afghanistan zwei lebenswichtige, aber scheinbar unvereinbare Aufgaben auferlegt: die Versorgung der Bedürftigsten mit Hilfsgütern aufrechtzuerhalten und gleichzeitig den Druck auf die Taliban aufrechtzuerhalten, damit sie ihre entsetzlichen Menschenrechtsverletzungen beenden.

Der abrupte Verlust eines Großteils der internationalen Hilfe nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 löste die anfängliche Krise aus. Aber die zunehmend repressive Politik der Taliban, die beispielsweise Frauen die Arbeit für die UN und Nichtregierungsorganisationen verbietet, hat die Lage weitaus verschlimmert. Nun müssen humanitäre Organisationen versuchen, wichtige Hilfe zu leisten und gleichzeitig sicherzustellen, dass sie die missbräuchlichen Anordnungen der Taliban nicht noch verstärken. Das lässt kaum mit Hashtag-Kampagnen vermitteln. Für die Helfer, die versuchen, sowohl dem humanitären Gebot der Lebensrettung als auch den Grundsätzen der Neutralität und Unparteilichkeit gerecht zu werden, sind es schwierige Zeiten.

Humanitäre Organisationen in Afghanistan sind seit langem auf ein gewisses Maß an Flexibilität und Handlungsspielraum angewiesen, um dringende Hilfsmaßnahmen aufrechtzuerhalten - ob beim Aushandeln von Zugang über die Frontlinien hinaus, beim Betrieb von Mädchenschulen in den 1990er Jahren oder beim Umgang mit den derzeitigen inoffiziellen Ausnahmeregelungen, damit Frauen in den Bereichen Gesundheit, Ernährung und Bildung arbeiten dürfen.

Zuletzt hatten UN-Erklärungen jedoch für Verwirrung gesorgt und für Vorwürfe der Inkohärenz zwischen UN-Organisationen. Einige hatten männlichen Mitarbeitern erlaubt, weiterzuarbeiten, Frauen hingegen nicht. Auch wenn die Notwendigkeit lokaler Flexibilität anerkannt wird, ist es wichtig, dass die Leiter wichtiger Organisationen wie des Welternährungsprogramms und von UNICEF eine klare und konsequente Haltung einnehmen, dass das Vorgehen der Taliban gegen internationale Menschenrechte und die UN-Charta verstößt.

Bei einem kürzlichen Treffen der UN-Sondergesandten in Doha wurde Berichten zufolge vereinbart, die Arbeit ohne Anerkennung der Taliban fortzusetzen, bis Fortschritte bei den Menschenrechten erzielt werden. Während einige Gruppen der afghanischen Zivilgesellschaft jegliche Zusammenarbeit ablehnen, halten andere sie für notwendig, um die Wirtschaftskrise zu lindern.

All das wird jedoch wenig Auswirkungen haben, solange die finanziellen Mittel für humanitäre Hilfe nicht ebenfalls ausgeweitet werden. Ein drastischer Rückgang von Hilfen wird viele in Afghanistan ärmer und hungriger machen.

Kategorien: Menschenrechte

China: Handy-Durchsuchungen verletzen Rechte von Uigur*innen

Click to expand Image A Chinese security officer watches a woman pass through a checkpoint, equipped with a metal detector and facial recognition technology, to enter the main bazaar in Urumqi in the Xinjiang region of China, November 6, 2018.  © 2018 Bloomberg/Getty Images

(New York) - Die Polizei in der chinesischen Region Xinjiang verhört uigurische und andere turkstämmige Muslim*innen auf der Grundlage einer Masterliste mit

50.000 Multimediadateien, die sie als „gewalttätig und terroristisch“ einstuft, so Human Rights Watch heute.

Eine forensische Untersuchung der Metadaten dieser Liste durch Human Rights Watch ergab, dass die Polizei in neun Monaten von 2017 bis 2018 fast 11 Millionen Durchsuchungen von insgesamt 1,2 Millionen Mobiltelefonen in Urumqi, der Hauptstadt von Xinjiang mit 3,5 Millionen Einwohner*innen, durchgeführt hat. Die automatisierten polizeilichen Massenüberwachungssysteme in Xinjiang ermöglichten diese Telefondurchsuchungen.

„Der menschenrechtsverletzende Einsatz von Überwachungstechnologien durch die chinesische Regierung in Xinjiang bedeutet, dass Uigur*innen, die einfach nur den Koran auf ihrem Telefon gespeichert haben, von der Polizei verhört werden können“, sagte Maya Wang, stellvertretende China-Direktorin bei Human Rights Watch. „Besorgte Regierungen sollten die Technologieunternehmen identifizieren, die in diese Massenüberwachung und die soziale Kontrollmaschinerie involviert sind, und geeignete Maßnahmen ergreifen, um ihre Beteiligung zu beenden.“

Human Rights Watch hat wiederholt Bedenken angesichts Chinas Ansatz zur Bekämpfung von Handlungen geäußert, die im Land als „Terrorismus“ und „Extremismus“ bezeichnet werden. Chinas Anti-Terror-Gesetz definiert „Terrorismus“ und „Extremismus“ in einer zu weit gefassten und vagen Weise. Dies erleichtert Strafverfolgung, Freiheitsentzug und andere Einschränkungen für Handlungen, die keineswegs darauf abzielen, den Tod oder schwere körperliche Schäden zur Erreichung politischer, religiöser oder ideologischer Ziele zu verursachen.

Bei den Recherchen von Human Rights Watch wurden auf den Telefonen von etwa 1.400 Einwohner*innen von Urumqi insgesamt mehr als 1.000 eindeutige Dateien gefunden, die mit denen auf der Masterliste der Polizei übereinstimmten. Die Analyse dieser übereinstimmenden Dateien ergab, dass es sich bei mehr als der Hälfte von ihnen - 57 Prozent - offenbar um allgemeines islamisches religiöses Material handelt, darunter Lesungen aller Suren des Koran, des zentralen religiösen Textes des Islam.

Die Liste ist Teil einer großen Datenbank (52 GB) mit über 1.600 Datentabellen aus der Uigurischen Autonomen Region Xinjiang, die der US-amerikanischen Medienorganisation The Intercept im Jahr 2019 zugespielt wurde. The Intercept berichtete, dass die Polizei in Urumqi von 2015 bis 2019 Überwachungen und Verhaftungen auf der Grundlage von Texten von Polizeiberichten durchgeführt hat, die Teil dieser Datenbank waren.

Die Masterliste der Multimediadateien, die Human Rights Watch untersuchte, befindet sich in einem anderen Teil der gleichen Datenbank. Über diese wurde bislang weder berichtet noch wurde sie analysiert. Einige der Zahlen in diesem Bericht wurden gerundet, damit die Behörden die Informationsquelle nicht identifizieren können.

Die Analyse der Metadaten dieser Masterliste zeigt Foto-, Audio- und Videodateien, die gewalttätige Inhalte enthalten, aber auch anderes Material, das keinen offensichtlichen Bezug zu Gewalt hat. Die Mediendateien enthalten Materialien, die:

gewalttätig oder grausam sind, darunter Inhalte, die Enthauptungen oder Formen der Folter zeigen, die anscheinend von bewaffneten Gruppen wie mexikanischen und anderen Drogenkartellen, tschetschenischen Kämpfern oder dem sog. Islamischen Staat (IS) durchgeführt wurden; im Zusammenhang mit ausländischen Organisationen stehen, darunter die Unabhängigkeitsbewegung Ostturkestans, eine islamische Separatistengruppe, der World Uyghur Congress, eine von im Exil lebenden Uigur*innen geleitete Gruppe, und eine uigurischsprachige Sendung von Radio Free Asia, einem von der US-Regierung finanzierten Medienunternehmen; audiovisuelle, prodemokratische Inhalte zeigen, wie z.B. „Das Tor des himmlischen Friedens“, ein Dokumentarfilm über die Niederschlagung der Studentenproteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens durch die chinesische Regierung im Jahr 1989; Namen von Städten in Syrien nennen, sowie Dokumentarfilme über die syrische Geschichte und zwei 2015 ausgestrahlte Folgen der beliebten chinesischen Reisesendung „On the Road“ (侣行), in denen der Syrienkonflikt erwähnt wird; gängige islamisch-religiöse Inhalte darstellen, darunter Koranlesungen und Hochzeitslieder.

Human Rights Watch fand in der Datenbank auch eine weitere verwandte Liste mit denselben MD5-Hashes - der eindeutigen Signatur dieser Dateien. Diese Liste enthält offenbar die Suchergebnisse der Überwachungsapp Jingwang Weishi.

Die Suchergebnisse stammen aus einem Zeitraum, der sich über 9 Monate zwischen 2017 und 2018 erstreckt. Diese Daten zeigen, dass die App heimlich fast 11 Millionen Suchvorgänge auf insgesamt 1,2 Millionen Telefonen durchgeführt und insgesamt 11.000 Übereinstimmungen von über 1.000 verschiedenen Dateien auf 1.400 Telefonen gefunden hat.

Die Human Rights Watch-Analyse der Dateinamen und der polizeieigenen Kennzeichnung oder Kodierung der rund 1.000 Dateien ergibt Folgendes:

57 Prozent der 1.000 Dateien sind allgemeines religiöses Material, darunter Lesungen der Suren des Korans. Fast 9 Prozent der abgeglichenen Dateien enthalten gewalttätige Inhalte, darunter Verbrechen, die von Mitgliedern des sog. Islamischen Staates (IS) begangen wurden; 4 Prozent der abgeglichenen Dateien enthalten Aufrufe zur Gewalt, z.B. durch Aufforderung zum „Dschihad“. 28 % der abgeglichenen Dateien können nicht allein anhand der verfügbaren Informationen (z.B. Dateiname und Polizeibezeichnung) identifiziert werden.

Human Rights Watch hat die 1.400 Telefone, die von der Polizei markiert wurden, weitergehend analysiert:

Fast 42 Prozent der Telefone enthielten gewalttätiges oder grausames Material; 12 Prozent der Telefone enthielten allgemeines islamisches religiöses Material; 6 Prozent der Telefone enthielten Dateien mit offenkundig politischem Inhalt, z.B. eine Hymne auf „Ostturkestan“ - der Name, mit dem einige turkstämmige Muslim*innen die Region bezeichnen, die die chinesische Regierung „Xinjiang“ nennt -, Videos über den Krieg in Syrien und prodemokratische Proteste in Hongkong; 4 Prozent der Telefone enthielten Dateien, die zu Gewalt aufrufen, wie z.B. zum „Dschihad“. 48 Prozent der Telefone enthielten Dateien, die Human Rights Watch nicht identifizieren konnte.

Das Völkerrecht verpflichtet Regierungen, Straftatbestände genau zu definieren und das Recht auf freie Meinungsäußerung und Gedankenfreiheit zu respektieren, einschließlich des Rechts, Ansichten zu vertreten, die als anstößig gelten. Die Kriminalisierung des bloßen Besitzes von als extremistisch eingestuftem Material, wenn die betroffene Person nicht die Absicht hat, damit anderen Schaden zuzufügen, stellt eine besonders schwerwiegende Bedrohung der Glaubensfreiheit, der Privatsphäre und der Meinungsfreiheit dar. Diese Rechte werden durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte garantiert, den China zwar unterzeichnet, aber nicht ratifiziert hat.

Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen sollte dringend eine unabhängige, internationale Untersuchung der schweren Menschenrechtsverletzungen und der Unterdrückung der Grundfreiheiten in Xinjiang durch die chinesische Regierung von Uigur*innen und anderen turkstämmigen Muslim*innen einleiten, so Human Rights Watch. Eine historische hohe Anzahl unabhängiger UN-Menschenrechtsexpert*innen sowie Hunderte von Nichtregierungsorganisationen aus aller Welt haben solche Maßnahmen empfohlen.

„Die chinesische Regierung vermischt auf empörende und gefährliche Weise den Islam mit gewalttätigem Extremismus, um ihre abscheulichen Übergriffe gegen turkstämmige Muslim*innen in Xinjiang zu rechtfertigen“, sagte Wang. „Der UN-Menschenrechtsrat sollte längst überfällige Maßnahmen ergreifen und die Übergriffe der chinesischen Regierung in Xinjiang und darüber hinaus untersuchen.“

 

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Kroatien: Anhaltende, gewaltsame Pushbacks

Click to expand Image Ein Mann und seine Tochter, die nach eigenen Angaben elfmal von der kroatischen Polizei nach Bosnien und Herzegowina zurückgedrängt wurden, tragen ein 10 Monate altes Baby im Kinderwagen durch den Wald nahe der kroatischen Grenze, Januar 2021. © 2021 Alessio Mamo / Guardian / eyevine Die kroatische Polizei drängt Geflüchtete, Asylsuchende und Migrant*innen regelmäßig und oft gewaltsam nach Bosnien und Herzegowina zurück, ohne die Asylanträge oder den Schutzbedarf der Betroffenen zu prüfen. Pushbacks sind schon lange eine Standardmaßnahme der kroatischen Grenzpolizei, und die Regierung hat die EU-Institutionen mit Ablenkungsmanövern und leeren Versprechungen hinters Licht geführt. Kroatien sollte kollektive Abschiebungen unverzüglich beenden. Die Europäische Kommission sollte konkrete, überprüfbare Informationen zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen verlangen.

(Brüssel) - Die kroatische Polizei drängt Geflüchtete, Asylsuchende und Migrant*innen regelmäßig und oft gewaltsam nach Bosnien und Herzegowina zurück, ohne die Asylanträge oder den Schutzbedarf der Betroffenen zu prüfen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Mai 3, 2023 “Like We Were Just Animals”

Der 94-seitige Bericht, „'Like We Were Just Animals': Pushbacks of People Seeking Protection from Croatia to Bosnia and Herzegovina“ stellt fest, dass die kroatischen Behörden auch unbegleitete Kinder und Familien mit kleinen Kindern zurückdrängen. Diese Praxis wird fort trotz offizieller Dementis, angeblicher Überwachungsmaßnahmen und wiederholter - jedoch nicht eingehaltener - Zusagen, das Recht auf Asyl und andere Menschenrechtsnormen zu respektieren, fortgesetzt. Die Grenzpolizei stiehlt oder zerstört regelmäßig Telefone, Geld, Ausweispapiere und andere persönliche Gegenstände von Betroffenen und setzt Kinder und Erwachsene oft einer erniedrigenden und entwürdigenden Behandlung aus, manchmal auf eine offen rassistische Art und Weise.

„Die kroatische Regierung hat die Institutionen der Europäischen Union mit Ablenkungsmanövern und leeren Versprechungen hinters Licht geführt“, so Michael Garcia Bochenek, Senior Children's Rights Counsel bei Human Rights Watch und Autor des Berichts. „Diese abscheulichen Menschenrechtsverletzungen - und die offizielle Heuchelei, die sie begünstigt - sollten ein Ende nehmen“.

Human Rights Watch befragte über 100 Personen, darunter mehr als 20 unbegleitete Kinder und zwei Dutzend Eltern, die mit kleinen Kindern reisten, die von oft brutalen Pushbacks berichteten. Die jüngsten Pushbacks, von denen die Menschen berichteten, ereigneten sich erst im April 2023. Einige der Befragten sagten, die kroatische Polizei habe sie Dutzende Male zurückgedrängt und ihre Asylanträge routinemäßig ignoriert.

Die kroatischen Behörden haben fast immer geleugnet, für die Zurückdrängung von Asylsuchenden verantwortlich zu sein. Das kroatische Innenministerium reagierte nicht auf die Bitten von Human Rights Watch um ein Treffen oder um eine Stellungnahme zu den Ergebnissen der Recherchen.

Kroatien, ein Mitgliedstaat der Europäischen Union an der EU-Außengrenze, ist im Januar 2023 dem Schengen-Raum beigetreten, der freies Reisen innerhalb des Raums quasi ohne Grenzkontrollen erlaubt. In den Monaten vor dem Beitritt schien die Grenzpolizei weniger Menschen zurückzudrängen und einige ihrer brutalsten Praktiken einzuschränken. Im März wurden die Pushbacks jedoch wieder in großem Umfang durchgeführt, wie Human Rights Watch feststellte.

Zwischen Januar 2020 und Dezember 2022 verzeichnete der Dänische Flüchtlingsrat fast 30.000 Pushbacks. Etwa 13 Prozent der im Jahr 2022 erfassten Pushbacks betrafen Kinder, die allein oder mit ihren Familien unterwegs waren. Die meisten der Betroffenen kamen aus Afghanistan.

Bei einem typischen Pushback übergibt die kroatische Polizei die Personen nicht an den regulären Grenzposten an die Behörden von Bosnien und Herzegowina. Stattdessen bringt die kroatische Polizei die Menschen zu anderen Punkten entlang der Grenze und weist sie dort an, diese zu überqueren. Die Menschen berichteten, dass sie durch Flüsse oder Bäche waten, über Felsen klettern oder sich einen Weg durch dichte Wälder bahnen mussten, oft nachts und ohne zu wissen, wie sie die nächste Stadt erreichen können.

Klemens Danner, ein Freiwilliger des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Bosnien und Herzegowina, verteilt Kleidung an eine Gruppe von Menschen aus Afghanistan. Sie berichteten, dass sie von der kroatischen Polizei früh morgens über die Grenze zurückgedrängt worden waren, ohne dass sie die Möglichkeit hatten, Asyl zu beantragen, April 2023. © 2023 Kiana Hayeri/Human Rights WatchDie Leiterin des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes, Roberta Nikšić, hier im April 2023, besucht regelmäßig besetzte Häuser und andere Orte, an denen sich Asylsuchende und Migrant*innen im Nordwesten Bosniens und Herzegowinas aufhalten. © 2023 Kiana Hayeri/Human Rights WatchMehr als ein Dutzend Migrant*innen, die im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina auf dem Weg nach Kroatien starben, sind auf dem Humci-Friedhof in Bihać begraben, viele in Gräbern mit der Aufschrift „NN Lice“ („Unbekannte Person“). © 2023 Kiana Hayeri/Human Rights WatchEin junger Mann beschreibt, wie die kroatische Polizei ihn am Vorabend zurückdrängte und ihm befahl, durch den Fluss an der Grenze zu Bosnien und Herzegowina zu waten, April 2023. © 2023 Kiana Hayeri/Human Rights WatchEin 16-jähriger Junge aus Afghanistan ruht sich in einem besetzten Haus im Nordwesten von Bosnien und Herzegowina aus. Einige Tage davor wurden er und seine Freunde durch Push-backs von der kroatischen Polizei über die Grenze zurückgedrängt, April 2023. © 2023 Kiana Hayeri/Human Rights WatchDie Caritas der Erzdiözese Rijeka, der Jesuiten-Flüchtlingsdienst und das Rote Kreuz bieten Asylsuchenden und Migrant*innen, die den Bahnhof in Rijeka, Kroatien, passieren, einen Ort zum Duschen, Ausruhen und Essen, bevor sie ihre Reise fortsetzen. © 2023 Kiana Hayeri/Human Rights WatchFreiwillige der Caritas und des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes verteilen Mahlzeiten an Asylsuchende und Migrant*innen am Bahnhof in Rijeka, Kroatien. © 2023 Kiana Hayeri/Human Rights WatchEine Gruppe von Menschen aus Afghanistan lädt ihre Telefone in einer Einrichtung der Caritas und des Jesuiten-Flüchtlingsdienstes in Rijeka, Kroatien, April 2023. © 2023 Kiana Hayeri/Human Rights WatchZwei junge Männer aus Afghanistan fliehen vor dem Eintreffen der kroatischen Polizei vom Bahnhof in Rijeka, April 2023. © 2023 Kiana Hayeri/Human Rights WatchDie kroatische Polizei verlässt die von der Caritas und dem Jesuiten-Flüchtlingsdienst organisierte Anlaufstelle, nachdem sie Asylsuchende und Migrant*innen vertrieben hat, April 2023. © 2023 Kiana Hayeri/Human Rights Watch

Das Asylsystem in Bosnien und Herzegowina ist ineffektiv, was bedeutet, dass es für die meisten Menschen, die internationalen Schutz suchen, keine Option ist. Nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) wurden im Jahr 2021 nur fünf Menschen als Flüchtlinge anerkannt, 2020 war es nur einer und im Jahr 2019 drei.

In der zweiten Jahreshälfte 2022, als sich die EU in der Endphase der Prüfung des kroatischen Antrags auf Beitritt zum Schengen-Raum befand, griff die kroatische Polizei zunehmend auf eine alternative Taktik zurück. Sie erstellte Ausweisungsbeschlüsse im Schnellverfahren, bei denen weder die Schutzbedürfnisse berücksichtigt noch ein ordnungsgemäßes Verfahren gewährleistet wurde. Ende März 2023 schien die kroatische Polizei diese Praxis eingestellt zu haben.

Im März und April überstellte die kroatische Polizei außerdem mehrere hundert Personen im Rahmen eines „Rückübernahmeabkommens“ nach Bosnien und Herzegowina und deutete an, dass diese Rückübernahmen fortgesetzt würden. Die Rückübernahme ist ein förmliches Verfahren, das an regulären Grenzübergängen durchgeführt wird. Bei Rückübernahmen aus Kroatien nach Bosnien und Herzegowina werden jedoch die Schutzbedürfnisse nicht berücksichtigt, und es gibt keine wichtigen Verfahrensgarantien, somit auch kein Recht auf Widerspruch. Laut Human Rights Watch handelt es sich bei diesen Rückübernahmen um Massenabschiebungen im Schnellverfahren.

Österreich, Italien und Slowenien haben ihre Rückübernahmeabkommen untereinander und mit Kroatien in ähnlicher Weise angewandt. Das bedeutet, dass Menschen, die Slowenien oder ein anderes EU-Land erreichen, nacheinander in jedes Land zurückgeschickt werden können, das sie auf ihrer Reise durch Europa passiert haben. Die Rückübernahme aus Österreich, Italien und Slowenien ist derzeit ausgesetzt, aber die italienische Regierung hat angedeutet, dass sie die Rückübernahme nach Slowenien so bald wie möglich wieder aufnehmen würde.

Die Europäische Union hat beträchtliche Mittel für die kroatische Grenzverwaltung bereitgestellt, ohne die Einhaltung der internationalen Menschenrechtsnormen und des EU-Rechts durch Kroatien dabei zu garantieren. Ein von der EU finanzierter Grenzüberwachungsmechanismus, der 2021 eingerichtet wurde, erwies sich als nicht unabhängig.

Die kroatischen Pushback-Praktiken verstoßen gegen die internationalen Verbote von Folter, kollektiver Ausweisung und anderen Menschenrechtsverletzungen sowie den Grundsatz der Nichtzurückweisung. Dieser völkerrechtliche Grundsatz besagt, dass die Rückführung von Menschen in Staaten verboten ist, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.

Kroatien sollte Pushbacks und andere kollektive Abschiebungen nach Bosnien und Herzegowina sofort beenden, so Human Rights Watch. Andere EU-Länder, darunter Italien und Slowenien, sollten versuchen, Menschen solange nicht nach Kroatien zurückzuschicken, bis die kroatischen Behörden die kollektiven Abschiebungen beenden und die Achtung des Rechts, Asyl zu beantragen, sicherstellen.

Die Europäische Kommission sollte von den kroatischen Behörden verlangen, Pushbacks und andere Menschenrechtsverletzungen an der Grenze zu beenden und konkrete, überprüfbare Informationen zur Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen gegen Migrant*innen, Asylsuchende und Geflüchtete vorzulegen.

„Pushbacks sollten kein Standardverfahren sein“, sagte Bochenek. „Die EU-Institutionen müssen entschlossen handeln, um Kroatien für diese regelmäßigen Verstöße gegen das EU-Recht und internationale Normen zur Rechenschaft zu ziehen.“

Aussagen von Betroffenen:

„Die Polizei kam. Wir mussten uns ausziehen. Sie nahmen unsere Telefone mit. Sie durchsuchten uns. Wir sagten, wir wollen in Kroatien Asyl beantragen. Wir sagten, wir bräuchten medizinische Hilfe. Sie sagten: ‚Verschwindet.‘ Sie haben uns abgeschoben, ohne Rücksicht auf unsere Situation zu nehmen. Das war das fünfte Mal, dass uns das passiert ist.“
Stephanie M., eine 35-jährige Frau aus Kamerun, interviewt im Mai 2022.

Firooz D., ein 15-jähriger Junge aus Afghanistan, erzählte Human Rights Watch, dass die kroatische Polizei ihn und einen anderen 15-jährigen Jungen getreten, ihm 500 Euro und alles andere in seinem Rucksack abgenommen und ihn dann im April 2023 zurück nach Bosnien und Herzegowina geschickt hat. „Sie sagten, wenn sie uns noch einmal erwischen, würden sie uns verprügeln.“

Rozad N., 17, sagte, als er und seine Familie das erste Mal nach Kroatien einreisten, „nahm mir ein Polizist mein Handy weg und steckte es in seine Tasche.... Ich war überrascht. Ich sagte: ‚Was tun Sie da? Das ist mein Handy.‘ Er sagte: ‚Oh, es war mal deins. Jetzt gehört es mir.‘ Ich verstand nicht, was los war. Ich fing an zu schreien, und er schlug mich.“ Bei späteren Versuchen, nach Kroatien einzureisen, nahm die Polizei ihm immer wieder das Telefon ab: „Sie zwingen dich, das Telefon zu entsperren, und sie sehen auf den Karten nach, was du markiert hast. Sie überprüfen die Fotos. Sie sehen nach, ob es irgendwelche Gruppenchats gibt. Sie wollen sehen, ob du Kontakt zu Schleusern hattest. Und wenn ihnen das Handy gefällt, zwingen sie dich, den Code einzugeben, damit sie alle Werkseinstellungen wiederherstellen können, und behalten es.“
Rozad N., ein 17-jähriger Junge aus dem Irak, interviewt im November 2021.

„Warum behandeln sie uns so? Das ist nicht richtig. Schickt uns nicht zurück. Enttäuscht uns nicht so. Jetzt habe ich kein Geld. Ich habe nichts zu essen. Wie soll ich überleben? Gestern Abend wollte sich ein Mann umbringen.“
Emmanuel J., ein 25-jähriger Mann aus Ghana, im Gespräch mit Human Rights Watch im Mai 2022, einen Tag nachdem er aus Kroatien zurückgedrängt wurde.

Kategorien: Menschenrechte

Usbekistan/Deutschland: Menschenrechte in den Mittelpunkt der Gespräche stellen

Click to expand Image Der Präsident der Republik Usbekistan Shavkat Mirziyoyev hält eine Rede auf der 46. Sitzung des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen am 22. Februar 2021. © Government of Uzbekistan

(Berlin, 28. April 2023) – Deutsche Regierungsvertreter*innen sollten sicherstellen, dass bei den Gesprächen mit dem usbekischen Präsidenten Shavkat Mirziyoyev Anfang Mai dieses Jahres Menschenrechte eine zentrale Rolle einnehmen, so Human Rights Watch heute.

Der Besuch des usbekischen Präsidenten in Deutschland findet nur wenige Tage nach dem Referendum über eine neue Verfassung am 30. April statt, die usbekischen Regierungsvertreter*innen zufolge ein „neues Usbekistan“ hervorbringen wird. Der usbekische Präsident wird am 3. Mai Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und weitere hochrangige deutsche Regierungsvertreter*innen treffen.

„Deutschland wird dem usbekischen Präsidenten einen warmen Empfang bereiten, was einem offenen Austausch zu Menschenrechtsfragen jedoch nicht im Weg stehen sollte“, sagte Hugh Williamson, Direktor für Europa und Asien im Berlin-Büro von Human Rights Watch. „Vor dem Hintergrund der bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Usbekistan kommt der deutschen Seite eine bedeutende Rolle dabei zu, Präsident Mirziyoyev zur Umsetzung seiner vielen Reformversprechen anzuhalten.“

Im Mittelpunkt der Gespräche werden voraussichtlich die Themen Handel und Investitionen stehen. In der letzten Zeit war im bilateralen Handel zwischen Deutschland und Usbekistan ein „dynamisches Wachstum“ zu verzeichnen. Der gesamte Umsatz betrug 2022 schätzungsweise 1,3 Mrd. Euro. Darüber hinaus ist die Bundesregierung angesichts der Unterstützung der Ukraine nach der russischen Invasion daran interessiert, auch die politischen Beziehungen zu Usbekistan zu stärken. Zu diesem Zweck besuchte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock das Land im Oktober 2022.

An der Menschenrechtsentwicklung in Usbekistan im letzten Jahr zeigt sich allerdings, wie dringlich es ist, dass Präsident Mirziyoyev seine Reformagenda erneut zum Schwerpunkt seiner Politik macht und dass die Bundesregierung den Präsidenten und andere Regierungsvertreter*innen dazu anhält, ihre Menschenrechtsversprechen tatsächlich einzuhalten, so Human Rights Watch.

Schließlich müssen usbekische Behörden noch immer dafür sorgen, dass die Verantwortlichen für 21 tote und mehr als 270 verletzte Demonstrant*innen zur Rechenschaft gezogen werden. Zu den gewaltsamen Auseinandersetzungen war es bei Straßenprotesten in der autonomen Region Karakalpakstan im Juli 2022 gekommen. Die Proteste richteten sich gegen vorgeschlagene Änderungen der Verfassung, in der der Autonomiestatus der Region Karakalpakstan nicht mehr erwähnt war, und mit der die Region das Recht verloren hätte, in einem Referendum über eine mögliche Unabhängigkeit von Usbekistan abzustimmen. Die Änderungsvorschläge wurden später zurückgenommen.

Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass usbekische Sicherheitskräfte übermäßige und tödliche Gewalt eingesetzt hatten, um vornehmlich friedliche Protestversammlungen aufzulösen. Während usbekische Behörden mehr als 60 Personen wegen angeblicher Beteiligung an den Protesten angeklagt haben, darunter auch Anwält*innen und Journalist*innen, wurde bislang kein einziger Sicherheitsbeamter für den Tod oder die Verletzung der Demonstrant*innen zur Verantwortung gezogen.

Das Gericht, vor dem die Fälle gegen die Demonstrant*innen aus Karakalpakstan verhandelt wurden, ignorierte die Vorwürfe des Hauptangeklagten, Dauletmurat Tajimuratov, über Folter und Misshandlungen und verurteilte ihn zu 16 Jahren Haft. Am 19. April veröffentlichte Tajimuratovs Anwalt eine Videobotschaft, in der dieser beklagt, sein Mandant leide in Haft weiterhin unter Misshandlungen und Schlägen. In Usbekistan bleibt Straffreiheit in Fällen von Folter und Misshandlung weiterhin die Norm.

Deutsche Regierungsvertreter*innen sollten zudem darauf drängen, dass der usbekische Präsident mehr als nur Lippenbekenntnisse zur Bedeutung der Presse- und Meinungsfreiheit abgibt, so Human Rights Watch. Usbekische Behörden haben in den letzten Jahren verstärkt streitbare und kritische Blogger*innen ins Visier genommen und sie unter fadenscheinigen Begründungen angeklagt und zu Haftstrafen verurteilt. Anfang März unterzeichneten beinahe 50 Journalist*innen und Aktivist*innen in Usbekistan einen offenen Brief an Präsident Mirziyoyev, in dem sie auf „die ernsthaften Hindernisse, den Druck und die Einschüchterung“ hinwiesen, denen Medienschaffende in Usbekistan heute ausgesetzt sind.

Verleumdung und Beleidigung, einschließlich der Beleidigung des Präsidenten, bleiben strafbare Handlungen – trotz eines Versprechens von Präsident Mirziyoyev von 2020, beide Straftatbestände zu entkriminalisieren. Ein Mitte Dezember 2022 veröffentlichter Entwurf für ein Informationsgesetz enthält Bestimmungen, die bei einer Verabschiedung des Gesetzes die Meinungsfreiheit einschränken würden.

Die usbekische Generalstaatsanwaltschaft veröffentlichte im Februar 2021 den Entwurf für ein neues Strafgesetzbuch. Der Überarbeitungsprozess ist seitdem jedoch nicht weiter fortgeschritten. Der Entwurf enthält zahlreiche problematische Artikel, die den internationalen Menschenrechtsnormen widersprechen, etwa viel zu weitreichende Bestimmungen zu Extremismus und Aufstachelung sowie die Kriminalisierung einvernehmlicher sexueller Beziehungen zwischen Männern.

Nicht zuletzt haben usbekische Behörden in den vergangenen Jahren keine Anstalten gemacht, den blockierten Entwurf für ein NGO-Gesetz weiter zu bearbeiten. Im Juni 2022 wurde allerdings ein Dekret erlassen, das von lokalen Nichtregierungsorganisationen, die Geldmittel aus dem Ausland erhalten, erfordert, mit einem staatlich bestimmten inländischen Partner zu kooperieren, wodurch die Regierung die Kontrolle über ihre Aktivitäten erlangt.

Die Bundesregierung sollte darauf drängen, dass Präsident Mirziyoyev sicherstellt, dass sich unabhängige Organisationen registrieren und ohne Einmischung der Regierung aktiv werden können und dass im neuen Strafgesetzbuch alle Bestimmungen, die Rechte verletzen, entweder entfernt oder abgeändert werden, sagte Human Rights Watch.

Am 30. April stimmen die usbekischen Bürger*innen in einem Referendum über eine neue Verfassung ab. Neben anderen Fortschritten sieht der Vorschlag vor, dass Bürger*innen die Möglichkeit haben, bei einer Verletzung ihrer verfassungsgemäßen Rechte und Freiheiten vor das Verfassungsgericht zu ziehen (Art. 54). Zudem garantiert die neue Verfassung die Gleichstellung von Männern und Frauen (Art. 44) und sie würde die Todesstrafe abschaffen (Art. 25). Sollte die neue Verfassung tatsächlich angenommen werden, würde sich die Amtszeit des Präsidenten allerdings von 5 auf 7 Jahre verlängern und würde Präsident Mirziyoyev die Möglichkeit geben, zwei weitere Amtszeiten zu bestreiten.

„Angesichts einer Verfassungsreform, die Präsident Mirziyoyev den Weg für einen langjährigen Machterhalt ebnet, ist es von herausragender Bedeutung, dass Deutschland den Menschenrechtsbedenken eine ebenso zentrale Rolle zumisst wie den anderen Punkten auf seiner bilateralen Agenda mit Usbekistan“, sagte Williamson. „Präsident Mirziyoyev sollte laut und klar zu hören bekommen, dass in seinem ‚neuen Usbekistan‘ umgehend Menschenrechtsreformen vonnöten sind.“

Kategorien: Menschenrechte

Usbekistan/Deutschland: Menschenrechte in den Mittelpunkt der Gespräche stellen

(Berlin, 28. April 2023) – Deutsche Regierungsvertreter*innen sollten sicherstellen, dass bei den Gesprächen mit dem usbekischen Präsidenten Shavkat Mirziyoyev Anfang Mai dieses Jahres Menschenrechte eine zentrale Rolle einnehmen, so Human Rights Watch heute.

Der Besuch des usbekischen Präsidenten in Deutschland findet nur wenige Tage nach dem Referendum über eine neue Verfassung am 30. April statt, die usbekischen Regierungsvertreter*innen zufolge ein „neues Usbekistan“ hervorbringen wird. Der usbekische Präsident wird am 3. Mai Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und weitere hochrangige deutsche Regierungsvertreter*innen treffen.

„Deutschland wird dem usbekischen Präsidenten einen warmen Empfang bereiten, was einem offenen Austausch zu Menschenrechtsfragen jedoch nicht im Weg stehen sollte“, sagte Hugh Williamson, Direktor für Europa und Asien im Berlin-Büro von Human Rights Watch. „Vor dem Hintergrund der bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland und Usbekistan kommt der deutschen Seite eine bedeutende Rolle dabei zu, Präsident Mirziyoyev zur Umsetzung seiner vielen Reformversprechen anzuhalten.“

Im Mittelpunkt der Gespräche werden voraussichtlich die Themen Handel und Investitionen stehen. In der letzten Zeit war im bilateralen Handel zwischen Deutschland und Usbekistan ein „dynamisches Wachstum“ zu verzeichnen. Der gesamte Umsatz betrug 2022 schätzungsweise 1,3 Mrd. Euro. Darüber hinaus ist die Bundesregierung angesichts der Unterstützung der Ukraine nach der russischen Invasion daran interessiert, auch die politischen Beziehungen zu Usbekistan zu stärken. Zu diesem Zweck besuchte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock das Land im Oktober 2022.

An der Menschenrechtsentwicklung in Usbekistan im letzten Jahr zeigt sich allerdings, wie dringlich es ist, dass Präsident Mirziyoyev seine Reformagenda erneut zum Schwerpunkt seiner Politik macht und dass die Bundesregierung den Präsidenten und andere Regierungsvertreter*innen dazu anhält, ihre Menschenrechtsversprechen tatsächlich einzuhalten, so Human Rights Watch.

Schließlich müssen usbekische Behörden noch immer dafür sorgen, dass die Verantwortlichen für 21 tote und mehr als 270 verletzte Demonstrant*innen zur Rechenschaft gezogen werden. Zu den gewaltsamen Auseinandersetzungen war es bei Straßenprotesten in der autonomen Region Karakalpakstan im Juli 2022 gekommen. Die Proteste richteten sich gegen vorgeschlagene Änderungen der Verfassung, in der der Autonomiestatus der Region Karakalpakstan nicht mehr erwähnt war, und mit der die Region das Recht verloren hätte, in einem Referendum über eine mögliche Unabhängigkeit von Usbekistan abzustimmen. Die Änderungsvorschläge wurden später zurückgenommen.

Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass usbekische Sicherheitskräfte übermäßige und tödliche Gewalt eingesetzt hatten, um vornehmlich friedliche Protestversammlungen aufzulösen. Während usbekische Behörden mehr als 60 Personen wegen angeblicher Beteiligung an den Protesten angeklagt haben, darunter auch Anwält*innen und Journalist*innen, wurde bislang kein einziger Sicherheitsbeamter für den Tod oder die Verletzung der Demonstrant*innen zur Verantwortung gezogen.

Das Gericht, vor dem die Fälle gegen die Demonstrant*innen aus Karakalpakstan verhandelt wurden, ignorierte die Vorwürfe des Hauptangeklagten, Dauletmurat Tajimuratov, über Folter und Misshandlungen und verurteilte ihn zu 16 Jahren Haft. Am 19. April veröffentlichte Tajimuratovs Anwalt eine Videobotschaft, in der dieser beklagt, sein Mandant leide in Haft weiterhin unter Misshandlungen und Schlägen. In Usbekistan bleibt Straffreiheit in Fällen von Folter und Misshandlung weiterhin die Norm.

Deutsche Regierungsvertreter*innen sollten zudem darauf drängen, dass der usbekische Präsident mehr als nur Lippenbekenntnisse zur Bedeutung der Presse- und Meinungsfreiheit abgibt, so Human Rights Watch. Usbekische Behörden haben in den letzten Jahren verstärkt streitbare und kritische Blogger*innen ins Visier genommen und sie unter fadenscheinigen Begründungen angeklagt und zu Haftstrafen verurteilt. Anfang März unterzeichneten beinahe 50 Journalist*innen und Aktivist*innen in Usbekistan einen offenen Brief an Präsident Mirziyoyev, in dem sie auf „die ernsthaften Hindernisse, den Druck und die Einschüchterung“ hinwiesen, denen Medienschaffende in Usbekistan heute ausgesetzt sind.

Verleumdung und Beleidigung, einschließlich der Beleidigung des Präsidenten, bleiben strafbare Handlungen – trotz eines Versprechens von Präsident Mirziyoyev von 2020, beide Straftatbestände zu entkriminalisieren. Ein Mitte Dezember 2022 veröffentlichter Entwurf für ein Informationsgesetz enthält Bestimmungen, die bei einer Verabschiedung des Gesetzes die Meinungsfreiheit einschränken würden.

Die usbekische Generalstaatsanwaltschaft veröffentlichte im Februar 2021 den Entwurf für ein neues Strafgesetzbuch. Der Überarbeitungsprozess ist seitdem jedoch nicht weiter fortgeschritten. Der Entwurf enthält zahlreiche problematische Artikel, die den internationalen Menschenrechtsnormen widersprechen, etwa viel zu weitreichende Bestimmungen zu Extremismus und Aufstachelung sowie die Kriminalisierung einvernehmlicher sexueller Beziehungen zwischen Männern.

Nicht zuletzt haben usbekische Behörden in den vergangenen Jahren keine Anstalten gemacht, den blockierten Entwurf für ein NGO-Gesetz weiter zu bearbeiten. Im Juni 2022 wurde allerdings ein Dekret erlassen, das von lokalen Nichtregierungsorganisationen, die Geldmittel aus dem Ausland erhalten, erfordert, mit einem staatlich bestimmten inländischen Partner zu kooperieren, wodurch die Regierung die Kontrolle über ihre Aktivitäten erlangt.

Die Bundesregierung sollte darauf drängen, dass Präsident Mirziyoyev sicherstellt, dass sich unabhängige Organisationen registrieren und ohne Einmischung der Regierung aktiv werden können und dass im neuen Strafgesetzbuch alle Bestimmungen, die Rechte verletzen, entweder entfernt oder abgeändert werden, sagte Human Rights Watch.

Am 30. April stimmen die usbekischen Bürger*innen in einem Referendum über eine neue Verfassung ab. Neben anderen Fortschritten sieht der Vorschlag vor, dass Bürger*innen die Möglichkeit haben, bei einer Verletzung ihrer verfassungsgemäßen Rechte und Freiheiten vor das Verfassungsgericht zu ziehen (Art. 54). Zudem garantiert die neue Verfassung die Gleichstellung von Männern und Frauen (Art. 44) und sie würde die Todesstrafe abschaffen (Art. 25). Sollte die neue Verfassung tatsächlich angenommen werden, würde sich die Amtszeit des Präsidenten allerdings von 5 auf 7 Jahre verlängern und würde Präsident Mirziyoyev die Möglichkeit geben, zwei weitere Amtszeiten zu bestreiten.

„Angesichts einer Verfassungsreform, die Präsident Mirziyoyev den Weg für einen langjährigen Machterhalt ebnet, ist es von herausragender Bedeutung, dass Deutschland den Menschenrechtsbedenken eine ebenso zentrale Rolle zumisst wie den anderen Punkten auf seiner bilateralen Agenda mit Usbekistan“, sagte Williamson. „Präsident Mirziyoyev sollte laut und klar zu hören bekommen, dass in seinem ‚neuen Usbekistan‘ umgehend Menschenrechtsreformen vonnöten sind.“

Kategorien: Menschenrechte

Äthiopien: Unternehmen haben Verschmutzung durch Goldmine lange ignoriert

Click to expand Image Ein 16-jähriger Junge sammelt Wasser aus einer Quelle in der Nähe der Goldmine Lega Dembi in der Region Oromia in Äthiopien.  © 2020 Tom Gardner Der Betreiber einer äthiopischen Goldmine und die Raffinerie, die dieses Gold bezog, haben jahrelang nicht auf Bedenken wegen Umweltverschmutzung durch die Mine reagiert. Die Mine wurde wieder in Betrieb genommen, obwohl die Regierung den Betrieb nach Protesten untersagt hatte. Untersuchungen zufolge waren Anwohner*innen giftigen Schwermetallen ausgesetzt. Die Regierung sollte den Minenbetrieb einstellen. Die beteiligten Unternehmen sollten die betroffenen Anwohner*innen entschädigen und medizinisch versorgen und die Umweltschäden beseitigen.

(Nairobi) – Das Unternehmen Midroc Investment Group, das eine Goldmine in Äthiopien betreibt, und die Schweizer Raffinerie Argor-Heraeus, die das Gold von Midroc bezog, haben jahrelang nicht auf Medienberichte über Umweltschäden durch die Mine reagiert, so Human Rights Watch heute. Eine auf Ersuchen der äthiopischen Regierung durchgeführte Untersuchung ergab, dass die Anwohner*innen der Mine schwere gesundheitliche Schäden erlitten hatten. Obgleich die Regierung angekündigt hatte, die Lizenz zum Betrieb der Mine solange auszusetzen, bis die Umweltprobleme behoben sind, nahm die Midroc Investment Group den Betrieb wieder auf – offenbar mit einer Lizenz der Regierung, allerdings ohne erkennbare Maßnahmen zur Verringerung der Umweltverschmutzung.

Die äthiopische Regierung hatte die Lizenz für die Goldmine Lega Dembi im Mai 2018 nach Protesten gegen die Umweltverschmutzung und die damit verbundenen Gesundheitsschäden ausgesetzt. Wissenschaftlichen Studien zufolge, die 2018 veröffentlicht wurden, waren Anwohner*innen giftigen Schwermetallen ausgesetzt. Damit hat der Betreiber der Mine ihr Recht auf Gesundheit und eine sichere, saubere und gesunde Umwelt verletzt. Die Regierung erklärte damals, sie werde dem Unternehmen den Betrieb der Mine solange untersagen, bis die Probleme „gelöst“ seien und der Giftmüll „keine Gefahr mehr darstellt“. Nachforschungen von Human Rights Watch ergaben jedoch, dass Midroc die Mine im März 2021 wieder in Betrieb nahm, ohne erkennbare Schritte zur Verringerung der Umweltverschmutzung eingeleitet zu haben.

Satellitenbilder von Lega Dembi in der äthiopischen Region Oromia, die sichtbare Anzeichen von Aktivitäten in und um die Mine zwischen dem 6. März 2021 und dem 26. Januar 2023 zeigen. Bild © 2023 Planet Labs PBC

„Indem die äthiopische Regierung die Wiederinbetriebnahme der Lega Dembi Mine ohne Maßnahmen zur Verringerung der Umweltverschmutzung zugelassen hat, verletzt sie das Recht auf Gesundheit von Kindern und Erwachsenen, die in der Nähe leben“, sagte Juliane Kippenberg, stellvertretende Direktorin für die Abteilung Kinderrechte bei Human Rights Watch. „Die Regierung sollte den Betrieb aussetzen, bis Maßnahmen ergriffen wurden, die sicherstellen, dass die schädlichen Chemikalien im Wasser und im Boden die internationalen Standards nicht überschreiten und dass die von der Verschmutzung betroffenen Menschen entschädigt und medizinisch versorgt werden.“

Die Anwohner*innen der Mine, die sich in der Nähe der Stadt Shakiso in der Guji-Zone in der Region Oromia befindet, klagen seit Jahren über Krankheiten und Behinderungen, insbesondere bei Neugeborenen.

Ein 6-jähriger Junge, der in der Nähe der Goldmine Lega Dembi in der Region Oromia in Äthiopien geboren wurde, hat keine Knochen im rechten Fuß und drei Zehen am linken Fuß.  © 2020 Tom GardnerEin 7-jähriges Mädchen mit einer körperlichen Behinderung in der Nähe der Goldmine Lega Dembi, Region Oromia, Äthiopien.  © 2020 Tom Gardner

Die äthiopische Regierung sollte den Betrieb der Lega Dembi-Mine unverzüglich einstellen, bis wirksame Maßnahmen zur Verringerung der Umweltverschmutzung ergriffen wurden. Die Midroc Investment Group und Argor-Heraeus, die Schweizer Goldraffinerie, die von Midroc bis 2018 beliefert wurde, sollten die betroffenen Anwohner*innen entschädigen, medizinisch versorgen und die verheerenden Umweltschäden in der Region beseitigen.

Human Rights Watch befragte 26 Personen, die in der Nähe der Mine leben, ehemalige Midroc-Mitarbeiter*innen sowie ehemalige lokale und regionale Regierungsvertreter*innen und Umwelt- und Gesundheitsexpert*innen. Zudem hat Human Rights Watch zahlreiche Umwelt- und Gesundheitsstudien und andere Dokumente im Zusammenhang mit der Mine geprüft.

Umweltstudien der Universität Addis Abeba aus dem Jahr 2018 ergaben eine hohe Arsenbelastung von Wasserproben, die flussabwärts des Minengeländes entnommen wurden, sowie eine hohe Nickel-, Chrom- und Arsenbelastung des Bodens außerhalb der Mine.

Eine Studie des äthiopischen Instituts für öffentliche Gesundheit aus dem Jahr 2018, die im Auftrag der äthiopischen Regierung durchgeführt und Human Rights Watch zur Verfügung gestellt wurde, ergab, dass die Anwohner*innen schwerwiegende Gesundheitsschäden erlitten haben. Die Studie kam zu dem Schluss, dass „die Gemeinschaften, die in der Nähe des Bergbaugebiets Lega Dembi leben, Gesundheitsrisiken durch schädliche Stoffe wie etwa Schwermetallen ausgesetzt sind. Diese wurden im direkten Minenbetrieb sowie bei anderen minenbezogenen Arbeiten freigesetzt“. Die Ergebnisse der Studie wurden nie veröffentlicht.

Die Midroc Investment Group, eines der größten privaten Unternehmen Äthiopiens, hat die Mine 1997 von der äthiopischen Regierung übernommen. Nach Informationen von Argor-Heraeus scheint Midroc wenig unternommen zu haben, um Beschwerden über Umwelt- und Gesundheitsschäden nachzugehen, so Human Rights Watch. Nachfragen von Human Rights Watch ließ Midroc unbeantwortet.

Argor-Heraeus, eine der größten Goldraffinerien weltweit, sagt, dass die Firma mindestens von 2013 bis März 2018 Gold aus der Lega Dembi-Mine bezog. Allerdings war es das einzige Unternehmen, das Midroc 2007 in einem Jahresbericht als Geschäftspartner auswies. Nach Informationen, die Argor-Heraeus an Human Rights Watch weitergegeben hat, hat die Raffinerie erst im Jahr 2018 Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen in Lega Dembi festgestellt – und das trotz Medienberichten und öffentlichen Protesten über Umwelt- und Gesundheitsschäden in den Jahren 2009–10, 2015–2016 und 2017. Infolgedessen hat Argor-Heraeus es versäumt, seinen Einfluss dafür zu nutzen, Midroc zur Behebung dieser Schäden zu bewegen.

Argor-Heraeus reagierte auf die Recherchen von Human Rights Watch: „Wir waren sehr schockiert über die Berichte, aus denen Human Rights Watch zitiert hat. Wir haben die Geschäftsbeziehung mit Midroc vor fünf Jahren beendet, unmittelbar nachdem wir auf die erheblichen Probleme vor Ort aufmerksam wurden. Leider gibt es nur sehr wenige vereinzelte international zugängliche Medienberichte aus der Region. Die Studien, aus denen Human Rights Watch zitiert, wurden erst nach Bekanntwerden der Situation erstellt.“ Argor-Heraeus beantwortete die Fragen von Human Rights Watch zudem mit zwei Schreiben.

Unternehmen sind nach festgelegten Standards der Vereinten Nationen und der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) dafür verantwortlich sicherzustellen, dass sie keine Rechte verletzen oder zu solchen Verletzungen beitragen. Das heißt, dass Unternehmen die Auswirkungen ihrer Aktivitäten auf Menschenrechte und Umwelt durch Maßnahmen der „Sorgfaltspflicht“ ermitteln, verhindern und abmildern sollten. Wenn Unternehmen Menschenrechtsverletzungen verursachen oder zu ihnen beitragen, sollten sie für Abhilfe sorgen. Das gilt auch dann, wenn sie es versäumt haben, ihren Einfluss auf einen Zulieferer geltend zu machen und diesen dazu zu bewegen, Umweltschäden zu minimieren.

„Der Minenbesitzer Midroc scheint sich trotz jahrelanger öffentlicher Proteste der Anwohner*innen nicht ernsthaft mit den Menschenrechts- und Umweltproblemen in Lega Dembi auseinandergesetzt zu haben“, sagte Felix Horne, leitender Researcher in der Abteilung Umwelt bei Human Rights Watch. „Es ist sehr besorgniserregend, dass die Goldraffinerie Argor-Heraeus jahrelang Gold aus der Mine bezog, ohne öffentlich auf die Menschenrechtsrisiken hinzuweisen.“

Click to expand Image © 2023 Human Rights Watch

Als Argor-Heraeus begann, Gold aus der Lega-Dembi-Mine zu beziehen, bescheinigten zwei Branchenverbände eine „verantwortungsvolle“ Beschaffung auf der Grundlage von Audits, die die Einhaltung der Verhaltenskodizes der beiden Branchenverbände bestätigten. Der Responsible Jewellery Council (RJC), dem über 1.600 Unternehmen der Schmucklieferkette angehören, hat Argor-Heraeus 2011, 2014, 2017 und 2020 zertifiziert. Der derzeit geltende RJC-Standard verlangt von seinen Mitgliedern, dass sie in ihrer Lieferkette eine Sorgfaltsprüfung in Bezug auf die Menschenrechte durchführen und „legitime Prozesse vorsehen oder in solchen kooperieren, um die Behebung“ von negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte zu ermöglichen, sollten Mitglieder zu diesen beigetragen haben.

Die London Bullion Market Association (LBMA), der Handelsverband der großen Goldraffinerien, Goldhändler und Banken, hat Argor-Heraeus mindestens seit 2013 im Rahmen seiner Richtlinien für den verantwortungsvollen Goldhandel „Responsible Gold Guidance“ jährlich zertifiziert. Die Richtlinien verlangen, dass die Mitglieder eine Sorgfaltsprüfung im Hinblick auf Menschenrechte durchführen, um Menschenrechtsverletzungen in ihrer Lieferkette zu erkennen, zu verhindern und abzumildern, und dass sie keine Produkte von Lieferanten beziehen, die schwere Menschenrechtsverletzungen begehen.

Argor-Heraeus sagte dazu: „Unsere Prozesse der Sorgfaltspflicht gehören heute zu den strengsten der Welt. Dennoch haben wir diesen Fall zum Anlass genommen, unsere internen Prozesse noch einmal zu überprüfen.“

Midroc sollte mit Unterstützung von Argor-Heraeus umfassende, integrative und transparente Umweltschutzmaßnahmen umsetzen, so Human Rights Watch.

„Zwei branchenspezifische Zertifizierungssysteme haben Argor-Heraeus gute Beschaffungspraktiken bestätigt, obwohl das Unternehmen es versäumt hat, die Umweltschäden und Menschenrechtsverletzungen durch seinen Lieferanten zu erkennen und zu beheben“, sagte Kippenberg. „Die Lega-Dembi-Goldmine ist ein gutes Beispiel dafür, dass eine Zertifizierung durch freiwillige Programme keine Garantie dafür ist, dass Lieferanten Rechte respektieren, und dass damit sogar das Risiko eines ‚Greenwashings‘ verheerender Zustände einhergeht.“

Kategorien: Menschenrechte

Iran: Sicherheitskräfte töten, foltern und missbrauchen Kinder

Click to expand Image Gedenken an im Iran getötete Kinder vor dem UNICEF-Büro in der US-Hauptstadt Washington am 30. November 2022.  © 2022 Bryan Olin Dozier/NurPhoto via AP

(Beirut) – Die iranischen Sicherheitskräfte, die weit verbreitete Proteste unterdrücken, haben Kinder unrechtmäßig getötet, gefoltert, sexuell missbraucht und verschwinden lassen.

Die iranischen Behörden haben zudem Kinder unter Verletzung der gesetzlichen Bestimmungen verhaftet, verhört und strafrechtlich verfolgt. Richter haben den Familien von Kindern untersagt, einen Rechtsbeistand ihrer Wahl für die Verteidigung ihrer Kinder zu beauftragen. Kinder wurden aufgrund vager Anschuldigungen verurteilt und ihnen wurde außerhalb der Jugendgerichte, die für Kinderangelegenheiten zuständig sind, der Prozess gemacht. Sicherheitskräfte haben Kinder verhaftet und festgehalten, ohne ihre Familien zu benachrichtigen, manchmal über Wochen hinweg. Schüler*innen, die aus der Haft entlassen werden, dürfen nicht in die Schule zurückkehren, oder die Behörden streichen ihren Familien die Sozialhilfe, so dass die Kinder arbeiten gehen müssen.

„Die iranische Führung hat ihre brutalen Sicherheitskräfte auf Kinder angesetzt, um diese sexuell zu missbrauchen und zu foltern, und sie hat Kinder nicht vor grotesk unfairen Prozessen verschont“, sagte Tara Sepehri Far, leitende Iran-Forscherin bei Human Rights Watch. „In den vergangenen sieben Monaten haben die Behörden nicht gezögert, die Zwangsgewalt des Staates auszuweiten, um sogar Kinder zum Schweigen zu bringen.“

Human Rights Watch untersuchte die Misshandlungen von 11 Kindern zwischen September 2022 und Februar 2023 und dokumentierte neue Details zu zwei zuvor berichteten Fällen.

Die iranischen Behörden haben weit verbreitete Proteste und abweichende Meinungen von Menschen, die grundlegende Veränderungen fordern, brutal unterdrückt. Human Rights Watch, Amnesty International und andere Menschenrechtsgruppen haben den häufigen Einsatz tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende, darunter auch Kinder, dokumentiert. Die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für den Iran sollte diese schwerwiegenden Übergriffe auf Kinder als Teil ihrer umfassenderen Berichterstattung über die Menschenrechtsverletzungen der iranischen Regierung untersuchen, die mittlerweile an der Tagesordnung sind, so Human Rights Watch.

Human Rights Watch dokumentierte, wie Sicherheitskräfte der Regierung Kinder in Haft fesselten, ihnen die Augen verbanden und sie folterten. Ein 17-jähriger Junge wurde von den Behörden geschlagen und sexuell missbraucht, wobei er Prellungen am ganzen Körper erlitt und aus dem Anus blutete, wie ein Familienmitglied berichtete. Eine Gymnasiastin gab an, dass die Sicherheitskräfte sie bei der Festnahme auf einen brennenden Gasherd stießen, wodurch ihre Kleidung in Brand geriet, und dass sie während des Verhörs geschlagen und ausgepeitscht wurde. Ein anderer Junge wurde gefoltert, indem man ihm Nadeln unter die Nägel schob. Zwei Kinder wurden gefoltert, weil sie so dazu gebracht werden sollten, den Aufenthaltsort von Familienmitgliedern verraten. Ein 16-Jähriger hat zweimal versucht, sich das Leben zu nehmen, nachdem er geschlagen, mit Elektroschocks malträtiert und sexuell missbraucht worden war.

Die Behörden haben es versäumt, Kinder, die von den Einsatzkräften verletzt wurden, medizinisch zu versorgen, darunter einen 13-jährigen Jungen, dessen Rippe durch Schläge gebrochen wurde. Die Behörden bedrohten Familienangehörige, damit diese nichts über die Misshandlungen an die Öffentlichkeit brachten. Diese Misshandlungen stimmen mit Dutzenden anderer Berichte von Aktivist*innen und Menschenrechtsgruppen überein.

Nach iranischem Recht dürfen Kinder nur von speziellen Jugendstaatsanwälten befragt und nur vor Jugendgerichten verurteilt werden. In einem Fall, an dem 16 Angeklagte, darunter drei Kinder, beteiligt waren, ernannte das Oberhaupt der iranischen Justiz einen Revolutionsrichter, einen Geistlichen, zum Jugendrichter. Keinem der Angeklagten wurde jedoch der Schutz der Jugendgerichtsbarkeit gewährt und keinem war gestattet, einen eigenen Rechtsbeistand zu stellen. Die betroffenen Kinder wurden zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Der Oberste Gerichtshof des Iran hob die Verurteilungen der drei Jungen wegen mangelnder Beweise auf, ordnete jedoch eine Wiederaufnahme des Verfahrens durch denselben Richter an. Der verurteilte sie daraufhin zu drei, fünf bzw. zehn Jahren Haft.

Ein iranischer Anwalt sagte, er wisse von 28 Kindern, die wegen „Feindseligkeit gegen Gott“ und „Korruption auf Erden“ angeklagt worden seien, vage definierte Verbrechen, die mit der Todesstrafe oder der Amputation der rechten Hand und des linken Fußes geahndet werden können.

Bis Anfang April 2023 verzeichneten iranische Menschenrechtsgruppen die Tötung von 537 Menschen durch Sicherheitskräfte im Zusammenhang mit den Protesten, die Ende August 2022 nach dem Tod von Mahsa Jina Amini in Polizeigewahrsam begonnen hatten. Unter den zu Tode gekommenen waren mindestens 68 Kinder. Human Rights Watch hatte bereits zuvor über getötete Kinder berichtet, u.a. über die 16-jährigen Nika Shakarami, deren Familie ihre Leiche zehn Tage nach ihrem Verschwinden während der Proteste in Teheran am 20. September fand, und die 16-jährige Sarina Esmailzadeh, die am 23. September in Gohardasht in der Provinz Alborz starb, nachdem sie von Sicherheitskräften geschlagen wurde. Die iranischen Behörden behaupten, beide Mädchen seien durch Sprünge oder Stürze von Gebäuden ums Leben gekommen. Die Familienangehörigen der Mädchen wurden schikaniert und inhaftiert.

„Kindern, die in Haft und vor Gericht schreckliche Misshandlungen erfahren haben, drohen gravierende Langzeitschäden“, sagte Bill van Esveld, stellvertretender Direktor für Kinderrechte bei Human Rights Watch. „Die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen sollte den Ermittlungen zu diesen Misshandlungen Priorität einräumen und einen Weg zur Rechenschaftspflicht empfehlen.“

Kategorien: Menschenrechte

EU: Bedeutender Schritt hin zu entwaldungsfreien Lieferketten

Click to expand Image Europäische Abgeordnete stimmen über Fragen des Klimawandels im Europäischen Parlament in Straßburg ab, Dienstag, 13. September 2022. © 2022 AP Photo/Jean-Francois Badias © 2022 AP Photo/Jean-Francois Badias

(Berlin) – Die Europäische Union ist dabei, eine neue Verordnung zu verabschieden, der zufolge in der EU ansässige Unternehmen sicherstellen müssen, dass ihre Importe und Exporte „frei von Entwaldung“ sind und keine Menschenrechte verletzen. Mit der Verordnung werden die rechtlichen Vorgaben festgelegt, die europäische Unternehmen beim Kampf gegen Menschenrechtsverletzungen und den Verlust von Biodiversität in ihren internationalen Lieferketten einhalten müssen.

Das Europäische Parlament stimmte am 19. April für die EU-Verordnung zur Eindämmung der weltweiten Entwaldung (EUDR), die kurz nach der erwarteten Zustimmung im Europarat Ende April in Kraft treten wird.

„Europäische Agrarunternehmen sind verschiedene freiwillige Verpflichtungen in Bezug auf ihre Lieferketten eingegangen, es ist ihnen jedoch nicht gelungen, Entwaldung und Menschenrechtsverletzungen zu stoppen“, sagte Luciana Téllez Chávez, Umweltforscherin bei Human Rights Watch. „Verbindliche Vorschriften wie die EU-Verordnung zur Eindämmung der weltweiten Entwaldung sind erforderlich, damit Unternehmen Verantwortung für die Auswirkungen ihrer globalen Aktivitäten auf Umwelt und Menschenrechte übernehmen.“

Die EU-Verordnung zur Eindämmung der weltweiten Entwaldung verbietet es in EU-Mitgliedsstaaten registrierten Unternehmen, Holz, Palmöl, Soja, Kaffee, Kakao, Kautschuk und Rinder zu importieren oder zu exportieren, die auf Flächen produziert werden, die nach dem 31. Dezember 2020 entwaldet wurden. Die Verordnung verpflichtet Unternehmen, den Ursprung der Waren bis zu dem Landstück zurückzuverfolgen, auf dem sie erzeugt wurden, oder – im Fall von Rindern – die jeweiligen Flächen, auf denen die Tiere gehalten wurden.

Die Verordnung verlangt zudem von Unternehmen sicherzustellen, dass diese sieben Agrargüter unter Bedingungen produziert werden, die der „relevanten Gesetzgebung“ des Herkunftslandes entsprechen. Darunter fallen Rechte zur Landnutzung, Arbeitsrechte, international verankerte Menschenrechte, eine freiwillige, vorherige und informierte Einverständniserklärung, wie sie in der Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte der indigenen Völker gefordert ist, sowie Anti-Korruptions-Gesetze.

Was den Anteil am globalen Ausstoß von Treibhausgasen angeht, liegt die Entwaldung hinter den fossilen Energieträgern an zweiter Stelle und heizt damit den Klimawandel maßgeblich an. Weltweit gesehen ist die industrielle Landwirtschaft wiederum der wichtigste Treiber der Entwaldung. Im Zusammenhang mit der industriellen Landwirtschaft kommt es immer wieder zu einer ganzen Reihe an Menschenrechtsverletzungen, einschließlich: Zwangs- und Kinderarbeit, gesundheitsgefährdende Pestizideinsätze, Zwangsräumungen und -vertreibungen, Inbesitznahme traditioneller Territorien indigener Völker, Gewaltausübung und Einschüchterung gegenüber Umweltaktivist*innen usw.

Die EU importiert jährlich Holz und Agrarprodukte aus aller Welt im Wert von mehreren Milliarden Euro. Die den EU-Importen zugerechnete Entwaldung liegt, so eine Studie des World Wildlife Fund (WWF) und Trase von 2021, auf dem zweiten Platz nach China. Hier sind einige Beispiele aufgeführt:

Laut Daten der Handelsdatenbank Observatory of Economic Complexity (OEC) ging beinahe ein Zehntel (9,6 Prozent) der Schnittholzexporte von Malaysia 2021 in die EU. Die Holzbranche Malaysias ist maßgeblich für die weiträumige Entwaldung verantwortlich ebenso wie für die mutmaßliche Landnahme in indigenen Gebieten ohne vorherige Konsultation oder freiwillige und informierte Einwilligung. Beinahe die Hälfte aller Kakaobohnen (44 Prozent) und mehr als die Hälfte (54 Prozent der Kakaopaste, die in die EU importiert wurden, stammten 2021 laut Daten der OEC aus der Elfenbeinküste. Die Kakaoindustrie der Elfenbeinküste treibt die Entwaldung in erschreckendem Maße voran, fördert den illegalen Holzhandel und war wiederholt in Fälle von Kinderarbeit verwickelt. Mehr als ein Viertel (26 Prozent) des aus Brasilien exportierten Leders geht, gemessen am Wert, in den EU-Markt, so die Zahlen der brasilianischen Lederindustrie. Angaben der OEC zufolge stammte 2021 mehr als die Hälfte (54 Prozent) des von der EU importierten gefrorenen Rindfleischs aus Brasilien. Viehzucht ist der größte einzelne Treiber der größtenteils illegalen Abholzung im Amazonas; brasilianische Viehzüchter*innen waren ebenfalls an der Landnahme in indigenen Territorien beteiligt. Der OEC zufolge stammte 2021 mehr als ein Zehntel (11 Prozent) der EU-Kaffee-Importe aus Vietnam. Die vietnamesische Kaffeebranche ist in erschreckendem Ausmaß für Entwaldung verantwortlich und beschäftigt mutmaßlich Kinder ab einem Alter von sechs Jahren, vornehmlich aus ethnischen Minderheiten. Daten der OEC zufolge geht mehr als ein Drittel (39 Prozent) der kolumbianischen Palmölexporte in EU-Länder. Einige Palmölplantagen in Kolumbien werden mit großflächiger Entwaldung und der Landnahme in indigenen Gebieten in Verbindung gebracht sowie mit Massakern in ländlichen Gemeinschaften.

Nach der neuen Verordnung müssen europäische Unternehmen zudem sicherstellen, dass auch im Inland produzierte Waren den Bestimmungen entsprechen. Daraus ergeben sich Fragen zu den Praktiken bestimmter EU-Mitgliedsstaaten. Beispielsweise hat die schwedische Holzindustrie des Öfteren Landflächen in Besitz genommen, die die indigenen Sami für ihre Rentierzucht benötigen, die ein wesentlicher Aspekt ihrer kulturellen Identität ist.

Einer der Grundpfeiler für die erfolgreiche Umsetzung der Verordnung wird das Risiko-Benchmarking sein. Innerhalb von 18 Monaten nach Inkrafttreten wird die EU-Kommission bekanntgeben, in welche Kategorie die produzierenden Länder – inklusive EU-Mitgliedsstaaten – fallen: niedriges, mittleres oder hohes Risiko. Grundlage der Einstufung sind unter anderem die Entwaldungsrate und das Maß an Walddegradation sowie das Vorhandensein, die Einhaltung und effektive Durchsetzung von Gesetzen zum Schutz von Menschenrechten sowie der Rechte indigener Völker, lokaler Gemeinschaften und anderer traditioneller Inhaber*innen von Landrechten.

Produkte aus Ländern, die in die Kategorie mit „hohem Risiko“ fallen, werden sich strengeren Zollkontrollen ausgesetzt sehen, während europäische Unternehmen angehalten sein werden, umfassendere Due-Diligence-Prozesse durchzuführen, wenn sie Waren aus diesen Standorten beziehen.

Die Kommission wird politischem Druck von Handelspartnern und den eigenen EU-Mitgliedsstaaten widerstehen müssen, will sie gewährleisten, dass das Benchmarking tatsächlich die Bedingungen vor Ort widerspiegelt und zu einer effektiven Durchsetzung der Verordnung beiträgt, so Human Rights Watch.

Größere Unternehmen werden nach dem Inkrafttreten der Verordnung 18 Monate Zeit haben, um die erforderlichen Anpassungen vorzunehmen, bevor bei Zuwiderhandeln Strafen fällig werden. Während die Mitgliedsstaaten die Strafen exakt beziffern werden, macht die Verordnung bereits gewisse Vorgaben für Strafen in allen Ländern. Die Mitgliedsstaaten sind angehalten, die Strafen abzustimmen, um zu verhindern, dass manche Länder zu einer Art „Zufluchtsort“ für „schmutzige“ Waren werden, so Human Rights Watch.

Die Verordnung sieht vor, dass interessierte Parteien gegen EU-Behörden rechtlich vorgehen können, wenn sie der Ansicht sind, dass die EU die Verordnung nicht in angemessener Weise durchsetzt. Diese Option stärkt die Durchsetzung der Verordnung und bietet Gemeinschaften, die von Unternehmen geschädigt wurden, die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen, so Human Rights Watch. Die EU-Mitgliedsstaaten sollten allerdings sicherstellen, dass diese Option spätestens 18 Monate nach Inkrafttreten der Verordnung tatsächlich zur Verfügung steht.

Wie effektiv die Umsetzung ausfällt, wird davon abhängen, ob die Mitgliedsstaaten zuständige Durchsetzungsstellen einsetzen und zudem gewährleisten, dass diese Stellen und die Zollbeamt*innen über eine angemessene Schulung und Ressourcen verfügen, um für eine Einhaltung der Vorgaben zu sorgen, so Human Rights Watch. Die Strafen, die die Mitgliedsstaaten festlegen, sollten eine deutlich abschreckende Wirkung haben, damit Strafzahlungen nicht einfach nur ein Teil der Betriebskosten werden.

Die EU sollte ihr Augenmerk auf Partnerschaften legen, die große produzierende Länder dabei unterstützen, nachhaltige Lieferketten und effektive Durchsetzungsmechanismen zu etablieren. Derartige Partnerschaften sollten darauf ausgerichtet sein, produzierende Länder bei der Einhaltung ihrer eigenen Klimaziele zu unterstützen, die sie im Rahmen des Pariser Abkommens und des Globalen Biodiversitätsrahmens 2022 definiert haben, erklärte Human Rights Watch.

Die Verordnung ist Teil eines weitergehenden Trends zu Beschränkungen auf der Nachfrageseite, bei dem große Abnehmer landwirtschaftlicher Produkte ihre Marktmacht dazu nutzen, nachhaltige Produktionsbedingungen einzufordern. Großbritannien stimmte kürzlich einer ähnlichen Bestimmung zu, auch US-Kongressabgeordnete haben einen ähnlichen Gesetzesentwurf eingebracht. Im März kündigte die chinesische Regierung eine gemeinsame Initiative mit der größten brasilianischen Lobbyorganisation der Rindfleischproduzenten an. Dabei sollen Rindfleischexporte gefördert werden, die nicht mit Entwaldung einhergehen.

In den kommenden Monaten wird Human Rights Watch gemeinsam mit lokalen und internationalen Organisationen Fakten sammeln und entsprechende Empfehlungen formulieren, die dabei helfen sollen, eine robuste Infrastruktur zur Umsetzung zu entwickeln.

„Die EU-Verordnung zur Eindämmung der weltweiten Entwaldung ist sehr vielversprechend. Wie effektiv sie jedoch sein wird, wird von der strikten Umsetzung durch jeden einzelnen EU-Mitgliedsstaat und von der konkreten Unterstützung abhängen, die die EU ihren Handelspartnern anbieten wird, um die Einhaltung der Vorgaben zu fördern“, sagte Téllez Chávez.

Kategorien: Menschenrechte

Ukraine: Russisches Folterzentrum in Cherson

Click to expand Image Ein Untersuchungsgefängnis in der Teploenerhetykiv-Straße im ukrainischen Cherson, das von den russischen Streitkräften zur Folter von Zivilpersonen genutzt wurde. © 2022 Roman Baklazhov Es sind neue Beweise dafür aufgetaucht, dass russische Streitkräfte während ihrer Besetzung des Gebiets zwischen März und November 2022 Menschen in einem Folterzentrum und in anderen Einrichtungen in Cherson und Umgebung unrechtmäßig festgehalten und gefoltert haben. Es ist ein Kriegsverbrechen, Zivilpersonen oder gefangene Kombattanten vorsätzlich zu misshandeln, zu foltern oder zu töten, ihnen vorsätzlich großes Leid oder schwere Verletzungen zuzufügen oder sie unrechtmäßig zu verschleppen oder zu verlegen. Die Verantwortlichen für diese schrecklichen Taten sollten nicht ungestraft bleiben, und die Opfer und ihre Familien müssen für ihr Leid entschädigt werden und Informationen über ihre Angehörigen erhalten, die noch als vermisst gelten.  

(Kiew, 13. April 2023) - Russische Streitkräfte haben während ihrer Besetzung der Stadt Cherson und der Umgebung zwischen März und November 2022 Einwohner*innen unrechtmäßig inhaftiert und gefoltert, so Human Rights Watch.

Die Opfer und ihre Familienangehörigen berichteten Human Rights Watch von Folter und anderen Misshandlungen in einem Untersuchungsgefängnis in der Teploenerhetykiv-Straße in Cherson, das von den Anwohner*innen als „Loch“ bezeichnet wurde, sowie in einer Haftanstalt in der Perekopska-Straße und in behelfsmäßigen Einrichtungen im Gebäude der Stadtverwaltung, in einer Dorfschule und einem Flughafenhangar. Ehemalige Gefangene berichteten durchweg von ähnlichen Formen der Misshandlung, darunter schwere Schläge mit Stöcken und Gummiknüppeln, Elektroschocks, Drohungen, verstümmelt oder getötet zu werden, sowie das erzwungene Verharren in schmerzhaften Positionen. Die Gefangenen erhielten keine angemessene medizinische Versorgung.

„Die russischen Besatzungstruppen haben im Folterzentrum in der Teploenerhetykiv-Straße und in zahlreichen anderen Haftanstalten Einwohner*innen von Cherson brutal gefoltert und misshandelt“, sagte Yulia Gorbunova, leitende Ukraine-Forscherin bei Human Rights Watch. „Die Verantwortlichen für diese schrecklichen Taten dürfen nicht ungestraft bleiben, und die Opfer und ihre Familien müssen für ihr Leid entschädigt werden und Informationen über ihre Angehörigen erhalten, die noch als vermisst gelten.“

Human Rights Watch befragte 34 Personen zu den Misshandlungen von Zivilist*innen während der russischen Besetzung der Region Khersonska vom 2. März 2022 bis zum Abzug der russischen Streitkräfte aus einem Großteil des Gebiets am 11. November. Zwölf ehemalige Gefangene und 10 Familienangehörige berichteten, dass sie gefoltert wurden oder die Folterung anderer Gefangener miterlebten, die in drei gemeldeten Fällen zu deren Tod führte. Diese Gespräche über Folter folgten auf Dutzende Interviews, die Human Rights Watch mit Bewohner*innen der Region Cherson in den ersten Monaten der Besatzung für einen Bericht vom Juli 2022 geführt hat.

Die russischen Streitkräfte in Cherson gingen während der gesamten Besetzung stets nach dem gleichen Muster gegen die Zivilbevölkerung vor. Sie führten rabiate Hausdurchsuchungen durch und nahmen dann eine oder mehrere Personen, die im jeweiligen Haus wohnten, aufgrund verschiedener Vorwürfe fest. Mehrere Festgenommene berichteten, dass die russischen Streitkräfte sie oder ihre Angehörigen, darunter auch ältere Menschen, schlugen und bedrohten. Die russischen Soldaten bedeckten dann die Augen oder den Kopf der Festgenommenen mit einer Mütze oder einem Beutel und zwangen sie in ein Fahrzeug. Anschließend wurden sie in eines der über 20 Haftzentren in und um Cherson gebracht.

Fast alle in jüngster Zeit in Cherson dokumentierten Folterfälle betrafen Personen, die in der Untersuchungshaftanstalt in der Teploenerhetykiv-Straße 3 festgehalten wurden. Eine Person wurde auch in behelfsmäßigen Hafteinrichtungen am internationalen Flughafen von Cherson und im Gebäude der Stadtverwaltung von Cherson festgehalten. Eine andere Person gab an, dass ihr Zellengenosse zuvor in einem Untersuchungsgefängnis in der Perekopska-Straße 10 festgehalten worden war, wo die BBC und andere Medien über Folterungen durch die russischen Besatzungstruppen berichteten. Ein anderer ehemaliger Häftling, der etwa 120 Kilometer von Cherson entfernt entführt wurde, sagte, er sei in einem 6 m² kleinen Lagerraum einer Dorfschule festgehalten worden.

Human Rights Watch hat bereits zuvor Fälle von Folter an Gefangenen, darunter auch an ukrainischen Kriegsgefangenen der Territorialverteidigung, im ehemaligen Gebäude der Nationalen Polizeidirektion in der Liuteranska-Straße 4 (früher Kirowa-Straße) dokumentiert.

Ein ehemaliger Gefangener, der in der Teploenerhetykiv-Straße festgehalten wurde, sagte: „Es waren fünf Männer.... Sie wurden alle verprügelt. Einem wurde ins Bein geschossen, ein anderer hatte eine gebrochene Rippe. Wir hörten die Schreie [von misshandelten Menschen] den ganzen Tag und die ganze Nacht. Die Leute schrien nachts um 3 Uhr und sie schrien am Abend.... Niemand wurde medizinisch versorgt.“

Das russische Wachpersonal demütigte die Gefangenen zudem, indem es sie unter Androhung von Schlägen zwang, pro-russische Parolen zu rufen, die russische Nationalhymne und patriotische Lieder zu hören und zu singen bzw. den Sängern zu applaudieren.

Die meisten der Familienmitglieder, mit denen Humann Rights Watch sprach, gaben an, dass sie keine Informationen über den Aufenthaltsort ihrer Angehörigen erhielten, was aber nach dem internationalen Besatzungsrecht vorgeschrieben ist. Viele suchten verzweifelt und versuchten, ihren Angehörigen Pakete mit Lebensmitteln und anderen lebenswichtigen Dingen zukommen zu lassen, ohne zu wissen, ob diese sie tatsächlich erreichen würden.

Inhaftierte und Familienangehörige berichteten, dass die russischen Besatzungsbehörden sie bzw. ihre Angehörigen in Gewahrsam nahmen, weil sie sich tatsächlich oder mutmaßlich freiwillig engagierten, die ukrainischen Streitkräfte oder die Regierung aktiv unterstützten bzw. ihre Unterstützung zum Ausdruck brachten oder weil sie an den Operationen der ukrainischen Sicherheitskräfte in der Donbass-Region 2014 teilgenommen hatten.

Eine Frau berichtete, dass die russischen Streitkräfte sie festhielten, weil sie ihren Ehemann nicht ausfindig machen konnten. Sie hielten sie als Geisel fest, bis ihr Mann sich am nächsten Tag stellte.

Als das ukrainische Militär im November 2022 Cherson zurückeroberte, nahmen die russischen Streitkräfte, die sich auf das linke Ufer des Flusses Dnipro zurückzogen, einige inhaftierte Zivilist*innen ohne grundlegende Schutzvorkehrungen mit und verlegten sie unrechtmäßig. Darunter befanden sich auch drei Männer, deren Familienangehörige von Human Rights Watch interviewt wurden. Zwei von ihnen wurden freigelassen, durften aber die noch besetzten Gebiete nicht verlassen. Die Russen haben auch eine inhaftierte Aktivistin rechtswidrig von Cherson nach Simferopol auf der russisch besetzten Krim verlegt und gewaltsam verschwinden lassen. Die russischen Behörden haben keine Informationen über ihren Verbleib preisgegeben und sie ohne Zugang zu einem Rechtsbeistand in Isolationshaft gehalten.

Die ukrainischen Behörden haben Fälle von unrechtmäßiger Inhaftierung, Folter und anderen Misshandlungen in Cherson und der umliegenden Region während der russischen Besetzung untersucht. Eugen Tereshenko, Staatsanwalt in der Abteilung für Kriegsverbrechen in der Region Cherson, schätzt, dass in diesem Zeitraum 4.000 bis 5.000 Fälle von inhaftierten Zivilist*innen registriert wurden, die tatsächliche Zahl dürfte jedoch wesentlich höher liegen.

Es ist ein Kriegsverbrechen, Zivilist*innen oder gefangene Kombattanten in Gewahrsam vorsätzlich zu misshandeln, zu foltern oder zu töten, ihnen vorsätzlich großes Leid oder schwere körperliche oder gesundheitliche Schäden zuzufügen oder sie unrechtmäßig zu verschleppen oder zu verlegen.

„Fünf Monate nach dem Rückzug der russischen Streitkräfte aus Cherson und den umliegenden Gebieten kratzen wir immer noch nur an der Oberfläche ihrer Gräueltaten, und die Behandlung der ukrainischen Zivilist*innen in den besetzten Gebieten wird immer besorgniserregender“, sagte Gorbunowa. „Die Militärs entlang der gesamten Befehlskette sollten wissen, dass sie für jedes Verbrechen, das sie begehen, zur Rechenschaft gezogen werden.“

Kategorien: Menschenrechte

Vereinigtes Königreich: Entschädigungsplan lässt Windrush-Opfer im Stich

Click to expand Image Thomas Tobierre, 69, der sich als Hauptantragsteller bei der Windrush-Entschädigungsregelung des Innenministeriums beworben hat, sagt, er habe erkannt, dass die Regelung eingerichtet wurde, um den Antragstellern ihr Recht auf wirksame Entschädigungen zu verweigern. © 2023 Ellie Kealey for Human Rights Watch Ein von der britischen Regierung aufgesetzter Fonds zur Entschädigung der Opfer des „Windrush-Skandals“ versagt diesen die benötigte Hilfe und verletzt ihr Recht auf wirksame Abhilfe für erlittene Menschenrechtsverletzungen. Die Windrush-Generation, die seit Jahrzehnten im Vereinigten Königreich lebt, ist in den letzten Jahren plötzlich aufgefordert, mittels unmöglich zu erfüllender Auflagen ihren Aufenthaltsstatus zu belegen, und hat dadurch mit einschneidenden Verlusten zu kämpfen. Über die Einrichtung eines unabhängigen Entschädigungsfonds hinaus bedarf es aufgrund der erheblichen Verzögerungen im Antragsverfahren auch einer transparenten und unabhängigen Aufsicht, um Betroffenen Zugang zu Rechtsmitteln und Einspruchsrechten vor unabhängigen Gerichten zu gewähren, da der aktuelle Entschädigungsfonds von derselben Behörde verwaltet wird, die für das Problem verantwortlich ist.

(London, 17. April 2023) – Ein von der britischen Regierung eingerichteter Entschädigungsfonds für die Opfer des „Windrush-Skandals“ versagt diesen die benötigte Hilfe und verletzt ihr Recht auf eine wirksame Abhilfe für erlittene Menschenrechtsverletzungen durch das Innenministerium.

Am 17. Mai 2018 entschuldigte sich die damalige Premierministerin Theresa May für den Skandal, im Zuge dessen Angehörige der Windrush-Generation – Schwarze Brit*innen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Karibik ins Vereinigte Königreich eingewandert waren und dort jahrzehntelang gelebt und gearbeitet haben – plötzlich aufgefordert waren, ihren Aufenthaltsstatus oder ihren Anspruch auf die britische Staatsangehörigkeit zu belegen. Dazu werden von den Behörden allerdings unmöglich zu erbringende Nachweise verlangt. Aufgrund des Behördenversagens haben viele ihre Arbeit, ihren Job, ihre Krankenversicherung, ihre Renten und ihren Anspruch auf staatliche Unterstützungsleistungen verloren. Opfer wurden oftmals verhaftet, abgeschoben und von ihren Familien getrennt.

„Fünf Jahre nach Bekanntwerden des Windrush-Skandals verschärft sich durch den Entschädigungsfonds des Innenministeriums die ungerechte Behandlung der Betroffenen, indem Kläger*innen das Recht auf Abhilfe für die einschneidenden Verluste und die sonstigen Beeinträchtigungen, die ihr Leben seit Jahren in Beschlag halten, verweigert wird“, sagte Almaz Teffera, Researcherin zu Rassismus in Europa bei Human Rights Watch. „Die britische Regierung sollte die Verwaltung des Entschädigungsfonds einer unabhängigen Stelle überlassen, die jedem Kläger eine faire und unabhängige Anhörung gewährleistet.“

Als Teil der Wiedergutmachungsbestrebungen der britischen Regierung richtete das Innenministerium im April 2019 den Windrush-Entschädigungsfonds ein, um Mitglieder und Familienangehörige der Windrush-Generation für die erlittenen Verluste und Notlagen zu entschädigen, nachdem sie ihren legalen Aufenthaltsstatus im Vereinigten Königreich nicht hatten nachweisen können. Die Windrush-Generation war, mit entsprechenden Rechten ausgestattet, nach dem Zweiten Weltkrieg ins Vereinigte Königreich eingewandert, um dort zu leben und zu arbeiten. Ihr Name leitet sich von der HMT Empire Windrush ab, dem Schiff, mit dem sie die Reise ins Vereinigte Königreich antraten.

Human Rights Watch sprach im Februar 2023 mit mehr als einem Dutzend Personen, die entweder unmittelbar Einsicht in den Klageprozess haben oder selbst als Kläger*innen auftreten, und kam zu dem Schluss, dass der Fonds seinem Zweck nicht genügt und dringend reformiert werden muss, um die Rechte der Kläger*innen angemessen zu schützen. Der Fonds sollte durch eine unabhängige Stelle verwaltet werden und Kläger*innen aufgrund des komplexen Antragsverfahrens die Inanspruchnahme rechtlicher Hilfe ermöglichen. Außerdem sollten die unangemessen hohe Beweislast für Antragsteller*innen gemindert und wirksame Rechtsmittel zur Verfügung gestellt werden, um Einsprüche gegen willkürliche Entscheidungen der Behörde zu ermöglichen. Stand Januar 2023 hatten gerade mal 12,8 Prozent der geschätzten 11.500 Anspruchsberechtigten eine Entschädigung erhalten.

Unter den Befragten stimmte eine ganz überwiegende Mehrheit darin überein, dass – so die Worte einer Kläger*in – der Entschädigungsfonds „so angelegt ist, dass er ausgerechnet denjenigen, die ihn in Anspruch nehmen sollen, die Hilfe versagt“.

Der Windrush-Skandal wurde 2017 aufgedeckt und im April 2018 einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Betroffen waren Tausende Staatsbürger*innen und Menschen, die seit Langem legal im Land leben. Sie waren ab 1948 als britische Bürger*innen oder als Bürger*innen ehemaliger britischer Kolonien ins Vereinigte Königreich gekommen, sind aber im Zeitraum von 2010 bis heute der sogenannten Politik der feindseligen Umgebung („hostile environment policy“) zum Opfer gefallen. Damit wird eine Reihe staatlicher Verordnungen in der britischen Einwanderungsgesetzgebung bezeichnet, die darauf abzielt, Personen, die ihren legalen Einwanderungsstatus nicht nachweisen können, aus allen sozialen Sicherungssystemen auszuschließen. Erklärtes Ziel war es dabei, die Anforderungen so strikt zu definieren, dass betroffene Menschen sich dafür entscheiden, das Land zu verlassen.

Obwohl der aus der Karibik eingewanderten Windrush-Generation dauerhafte Aufenthalts- und Arbeitstitel zugestanden wurden, hatte das Innenministerium es versäumt, ihnen entsprechende Papiere als Nachweis ihres rechtmäßigen Aufenthaltsstatus auszustellen.

2022 gelangte eine vom Innenministerium in Auftrag gegebene und unter Verschluss gehaltene Stellungnahme eines Historikers an die Öffentlichkeit. Im geleakten Dokument heißt es, dass „im Zeitraum 1950 bis 1981 jede einzelne Rechtsvorschrift in den Bereichen Einwanderung oder Staatsbürgerschaft zumindest zum Teil darauf ausgerichtet war, die Zahl der Menschen mit schwarzer oder brauner Hautfarbe zu reduzieren, die rechtmäßig im Vereinigten Königreich leben und arbeiten konnten“. Effektiv wurden damit die Bürger*innen ehemaliger Kolonien nicht als Teil des Vereinigten Königreichs definiert. Gegenüber Human Rights Watch verwies das Innenministerium darauf, dass die in dem Bericht geäußerten Ansichten ausschließlich die des Autors und damit keine offizielle Position der Behörde seien.

Wendy Williams zufolge, Autorin des Untersuchungsberichts „Windrush Lessons Learned Review“, spiegelt die Schaffung einer feindseligen Umgebung in der Migrationspolitik „institutionelle Ignoranz und Gedankenlosigkeit gegenüber der Frage von ‚Race‘ und der Geschichte der Windrush-Generation im [Innenministerium wider … und erfüllt] zum Teil die Definition für institutionellen Rassismus“.

Das Innenministerium räumte später ein, dass sich die erlassenen Richtlinien unverhältnismäßig stark auf ethnische Minderheiten auswirken würden.

2020 verließ eine Schwarze leitende Beamtin des Innenministeriums die für die Bearbeitung der Windrush-Entschädigungen zuständige Abteilung – in Reaktion auf den, wie sie es nannte, „vollständigen Mangel an Mitmenschlichkeit“ gegenüber den Windrush-Kläger*innen. Im Innenministerium habe sie eine Kultur des Rassismus erlebt.

Human Rights Watch übersandte am 10. März 2023 dem Innenministerium eine Zusammenfassung seiner Erkenntnisse mit der Bitte um Stellungnahme. Eine Antwort lag am 4. April vor.

Auf Grundlage der britischen Menschenrechtscharta steht im Inland das Recht auf wirksame Abhilfe bereit. Dieses Recht, das im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention gewährt wird, erfordert, dass Beschwerdemechanismen angemessen, zeitnah und zugänglich sind. Ein ähnliches Recht ist auch im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte sowie im Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung enthalten, die beide im Vereinigten Königreich rechtlich bindend sind.

Der UN-Ausschuss gegen Folter griff den Windrush-Skandal in seiner letzten Überprüfung des Vereinigten Königreichs 2019 auf und bemängelte die „über Jahre währende schlechte Behandlung von Menschen aus der Karibik und anderen Teilen des Commonwealth durch Migrationsbeamte und andere offizielle Stellen im Vereinigten Königreich [… Dazu zählten auch] Inhaftierung und Vorenthaltung des Zugangs zu Gesundheitsleistungen und Unterkunft“.

Die UN-Arbeitsgruppe von Sachverständigen für Menschen afrikanischer Abstammung sagte nach ihrem Besuch des Vereinigten Königreichs im Januar 2023, dass die Windrush-Generation „irreparablen Schaden“ erlitten habe und dass Abhilfe „zwingend geboten“ sei. Sie empfahl: „Entschädigungen und die Wiederherstellung der Rechte von Windrush-Klägern sollten ebenso einfach erfolgen, ohne komplexe Antragsstellung oder Meldepflichten, wobei im Zweifel im Sinne der Kläger gehandelt werden sollte.

„Das Versagen des Windrush-Entschädigungsfonds und der Skandal selbst sind eng verwoben mit einem nicht aufgearbeiteten institutionellen Rassismus, der seit der Zeit des Britischen Empires besteht“, sagte Teffera. „Um weitere Skandale im Stile von Windrush zu vermeiden, sollte die britische Regierung ihr Migrationssystem dringend reformieren, um Bedenken im In- und Ausland hinsichtlich eines tief verwurzelten Rassismus Rechnung zu tragen.“

Kategorien: Menschenrechte

Macron ignoriert Menschenrechtsverletzungen bei China-Besuch

Click to expand Image Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und der chinesische Präsident Xi Jinping bei einem Treffen des Wirtschaftsrats in Peking, 6. April 2023. © 2023 Ludovic Marin/AP Images

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron scheint der Charmeoffensive des chinesischen Präsidenten Xi Jinping während seines dreitägigen Besuchs in China in der vergangenen Woche erlegen zu sein.

Wie bei seinem letzten Besuch 2019 ignorierte Macron die sich unter Xi verschlechternde Menschenrechtslage in China. Chinas „Präsident auf Lebenszeit“ hat seinen diktatorischen Führungsstil verschärft und schaltet abweichende Meinungen durch unerbittliche Unterdrückung und allgegenwärtige Überwachung stumm. Die Regierung hat die Grundfreiheiten in Hongkong systematisch eingeschränkt, die Tibeter*innen in großem Umfang unterdrückt und Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Uigur*innen und andere turkstämmige Muslim*innen in Xinjiang begangen. 

Unter Xi hat die chinesische Regierung die Überwachung und Einschüchterung erweitert, um Kritiker*innen im Ausland, auch in Frankreich, zum Schweigen zu bringen. Sie hat ihre Macht dazu genutzt, internationale Strukturen zum Schutz der Menschenrechte zu schwächen und sich selbst und andere repressive Regierungen vor internationaler Kontrolle zu schützen. 

Macron hat keines dieser Themen während seines Besuchs öffentlich angesprochen und auch nicht angedeutet, dass er sie hinter verschlossenen Türen angesprochen hat. Der Ukraine-Krieg war stattdessen seine oberste Priorität. Er sagte, er könne darauf zählen, dass Xi 

„Russland zur Vernunft bringt“, obwohl Xi und der russische Präsident Wladimir Putin kürzlich ihre „grenzenlose Freundschaft“ bekräftigt haben. Eine weitere Priorität Macrons war offensichtlich die Wiederaufnahme der französisch-chinesischen Geschäfte nach der Covid-19-Krise. Es wurden Wirtschaftsabkommen geschlossen, die signalisieren, dass Pekings ungeheuerliche Menschenrechtsverletzungen – darunter glaubwürdige Berichte über uigurische Zwangsarbeiter*innen – keinen Einfluss auf Frankreichs Bereitschaft haben, mit China Geschäfte zu machen. 

Die Rückkehr zum „business as usual“ signalisiert, dass Macron keine Lektion aus der Ukraine gelernt hat. Das Ignorieren zunehmender Rechtsverletzungen für kurzfristige wirtschaftliche und geopolitische Vorteile kann schwerwiegende Folgen haben.  

Wenige Tage vor Macrons Besuch in Peking wies die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, darauf hin, dass die chinesische Regierung „im eigenen Land repressiver und im Ausland selbstbewusster“ werde. Macron hätte dieser Realität in seinem Treffen mit Xi Rechnung tragen sollen. 

Peking ist bei all dem der große Gewinner, der durch Macrons unkritische Behandlung weiter ermutigt werden wird. Nur wenige Tage nach Macrons Abreise aus China wurden zwei prominente Menschenrechtsanwälte aufgrund erfundener Anschuldigungen zu harten Gefängnisstrafen verurteilt. Business as usual in China. 

Frankreichs Regierung wiederholt in China denselben Fehler, den sie mit Russland gemacht hat, dessen Gräueltaten in der Ukraine großes Leid verursachen. Die Unterstützung der Menschenrechte ist nicht nur prinzipienorientiert, sondern liegt im Interesse aller, und damit auch im Interesse Frankreichs. 

Kategorien: Menschenrechte

Konferenzteilnehmer*innen vor Kritik an emiratischer Regierung gewarnt

Click to expand Image Abu Dhabi in den Vereinigten Arabischen Emiraten, 3. Januar 2019. © 2019 Hamad Mohammed/Reuters

Laut einer aktuellen Recherche der Financial Times wurden die Teilnehmer*innen eines Klima- und Gesundheitsgipfels in Abu Dhabi von den Organisator*innen der Konferenz gewarnt, während ihres Aufenthalts in den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) nicht „den Islam, die Regierung, Unternehmen oder Einzelpersonen zu kritisieren“ oder zu protestieren.

Eine abschreckende Botschaft, wenn man bedenkt, dass die VAE Ende 2023 Gastgeber der COP28, der Weltklimakonferenz der Vereinten Nationen, sein werden.

Die Warnung ist eine deutliche Erinnerung an die Null-Toleranz-Politik der VAE-Regierung gegenüber jeglicher Kritik. Seit 2011 haben die VAE-Behörden die Meinungs- und Versammlungsfreiheit immer weiter eingeschränkt und zahlreiche unabhängige Anwält*innen, Richter*innen, Lehrer*innen, Student*innen und Aktivist*innen wie den bekannten emiratischen Menschenrechtsverteidiger Ahmed Mansoor verhaftet und strafrechtlich verfolgt. Die Regierung hat wichtige Nicht-Regierungs-Organisationen verboten, und Proteste sind per Gesetz untersagt. Ende 2021 wurden weitreichende Gesetzesänderungen eingeführt, die die Repression weiter verschärft haben.

Auf die Frage, ob Kritik an der Politik der Regierung und Unternehmen, auch in Form von Protesten, während der COP28 erlaubt sei, sagte ein Sprecher der VAE, die Organisatoren würden dafür sorgen, dass es „sichere Räume gibt, in denen alle Stimmen gehört werden können“. Es ist schwer vorstellbar, dass sich diese Aussage die Teilnehmer*innen beruhigt, wenn man bedenkt, dass die digitale Überwachung allgegenwärtig ist und dass die Null-Toleranz-Politik gegenüber Kritiker*innen sogar bis zur Festnahme ausländischer Staatsangehöriger führen kann.

Abgesehen von den spezifischen Gefahren für die Teilnehmer*innen der COP28, könnte es weitreichendere Auswirkungen für diejenigen geben, die sich für dringende und ehrgeizige Klimaschutzmaßnahmen einsetzen wollen. Die Berichterstattung und Forschung zu Gesundheits- und Klimaschäden fossiler Brennstoffe könnte in den Vereinigten Arabischen Emiraten, die zu den größten Ölproduzenten der Welt gehören und ihre Aktivitäten in diesem Feld weiter ausweiten, gefährlich sein. Zivilgesellschaftliche Organisationen agieren in einem bedrohlichen Umfeld, wenn es darum geht Regierungen und Unternehmen zu kritisieren, die versuchen, die Bewältigung der Klimakrise zu untergraben, zum Beispiel indem sie die Entscheidungen der COP28 verwässern.

Als Reaktion auf diese Bedenken betonte das Sekretariat der UN-Klimarahmenkonvention, das die COP28 unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen mitorganisiert, wie wichtig die Beteiligung der Zivilgesellschaft für den Erfolg von Klimakonferenzen ist. Wenn die Vereinten Nationen und die Regierungen letztere nicht zu einer Priorität machen und die VAE auffordern, die Möglichkeit zivilgesellschaftlicher Partizipation weniger stark einzuschränken und Menschenrechte zu schützen, besteht die reale Gefahr, dass viele Teilnehmer*innen der COP28 zu wichtigen Themen schweigen. Dies könnte katastrophale Auswirkungen auf den Erfolg des Gipfels und sein erklärtes Ziel haben, Lösungen für die immer dringlichere Klimakrise zu finden.

Kategorien: Menschenrechte

Kosovo: Kriegsverbrecherprozess in Den Haag gestartet

Click to expand Image Former Kosovo president Hashim Thaçi at the Kosovo Specialist Chambers in The Hague on November 9, 2020. © 2020 JERRY LAMPEN/EPA-EFE/Shutterstock

(Den Haag) – Der Prozess gegen den ehemaligen Präsidenten der Republik Kosovo Hashim Thaçi und drei weitere Personen, die wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt sind, macht deutlich, dass der Kampf um Gerechtigkeit auch noch 24 Jahre nach dem Kosovo-Krieg weitergeht. Der Prozess vor den Kosovo-Sonderkammern in Den Haag hat am 3. April 2023 begonnen.

Thaçi, ehemaliger Präsident und Premierminister des Kosovo, ist zusammen mit drei weiteren hochrangigen Politikern und gleichzeitig Mitgliedern der Kosovo-Befreiungsarmee (UCK) wegen Verbrechen angeklagt, die während und kurz nach dem Kosovo-Konflikt 1998/99, auch in Nordalbanien, begangen wurden. 78 Tage währte der Kosovo-Krieg, in dem die UCK gegen serbische und jugoslawische Streitkräfte kämpfte, bis ein NATO-Lufteinsatz sie aus dem Kosovo vertrieb. Thaçi trat nach der Anklageerhebung im November 2020 als Präsident zurück und wurde umgehend nach Den Haag überstellt.

„In diesem Prozess werden vier Personen beschuldigt, während und nach dem Krieg, also nach dem Ende der Kampfhandlungen, schreckliche Verbrechen begangen zu haben, auch gegen Angehörige verschiedener ethnischer Gruppen“, sagte Hugh Williamson, Direktor der Abteilung Europa- und Zentralasien von Human Rights Watch. „Dieser Prozess gibt den Opfern nach so vielen Jahren Gelegenheit zu erfahren, was passiert ist. Er zeigt, dass der Kosovo-Konflikt, aber auch die Kriege im ehemaligen Jugoslawien im Allgemeinen, noch immer mit einer allumfassenden Straflosigkeit einhergehen.“

Der Kosovo-Konflikt war von unzähligen Kriegsverbrechen geprägt, die zum allergrößten Teil durch serbische und jugoslawische Streitkräfte begangen wurden, wie etwa Morde, Vergewaltigungen, Folter, Zwangsvertreibungen und die koordinierte Überführung von mehr als 1.000 Leichen nach Serbien, wo sie in Massengräbern verscharrt wurden. Die serbische Regierung hat sich stets geweigert, die Standorte der Gräber bekannt zu geben. Nur wenige serbische Militärs und Politiker wurden wegen Kriegsverbrechen im Kosovo-Konflikt vor Gericht gestellt, darunter der ehemalige serbische und jugoslawische Präsident Slobodan Milosevic.

Die Idee für die Kosovo-Sonderkammern geht auf einen Bericht des Schweizer Europarat-Abgeordneten Dick Marty aus dem Jahr 2010 zurück, der sich mit schweren Verbrechen befasste, die mutmaßlich während und kurz nach dem Krieg von einigen UCK-Mitgliedern, darunter Thaçi, begangen wurden. Die Europäische Union richtete eine Sonderermittlungsgruppe ein, um diese Vorwürfe zu untersuchen. Sie kam 2014 zu dem Schluss, dass die Anklagen gerechtfertigt seien, und die EU richtete im Anschluss die Sonderkammern ein. Die US-amerikanische Regierung unterstützte diesen Schritt; bislang waren die Hauptankläger US-amerikanische Staatsangehörige.

Nachdem die Kosovo-Versammlung ein neues Gesetz erlassen und die Verfassung geändert hat, ist das Sondertribunal formaler Teil des kosovarischen Justizsystems. Der Sitz des Tribunals ist jedoch in den Niederlanden, da es in anderen Prozessen gegen UCK-Mitglieder zu Drohungen und Gewalt gegen Zeug*innen gekommen ist, darunter mindestens einem Todesfall. Das Tribunal setzt sich aus einem internationalen Team sowie Richter*innen, Staatsanwält*innen und einer Registrarin zusammen, da es Bedenken gibt, dass Informationen nach außen dringen und Zeug*innen eingeschüchtert werden könnten.

In dem Prozess geht es um vier Fälle von Kriegsverbrechen und sechs Fälle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darunter Mord, Verschwindenlassen, Verfolgung und Folter. Die Staatsanwaltschaft wirft Thaçi sowie Kadri Veseli, dem ehemaligen Leiter des Nachrichtendienstes der UCK, Rexhep Selimi, dem Leiter der operativen Abteilung der UCK, und Jakup Krasniqi, dem Pressesprecher der UCK, vor, Teil einer gemeinsamen kriminellen Unternehmung gewesen zu sein. Diese hätte zum Ziel gehabt, durch „rechtswidrige Einschüchterung, Misshandlung, Gewaltanwendung und Beseitigung von mutmaßlichen Oppositionellen“ den Kosovo zu kontrollieren. Zu den Opfern dieser mutmaßlichen Verbrechen gehören Serb*innen, Rom*nja und ethnische Albaner*innen, die als Kollaborateur*innen der serbischen Streitkräfte oder als politische Gegner*innen der UCK galten.

Die vier Angeklagten wurden am 4. und 5. November 2020 verhaftet und nach Den Haag überstellt. In dem Prozess vor den Kosovo-Spezialkammern haben sie Anspruch auf verschiedene Garantien für ein faires Verfahren, darunter die Unschuldsvermutung, das Recht auf Rechtsbeistand, das Recht, Beweise vorzulegen, das Recht, Zeugen zu befragen, und das Recht, Rechtsmittel gegen das Urteil einzulegen.

Angesichts der Einschüchterung von Zeug*innen in anderen Prozessen gegen ehemalige UCK-Mitglieder, ist der Zeugenschutz in diesem Prozess besonders wichtig, so Human Rights Watch. Das Gericht sollte außerdem dafür sorgen, dass die Öffentlichkeit im Kosovo und in Serbien regelmäßig über den Verlauf des Prozesses sowie über das Prinzip der individuellen strafrechtlichen Verantwortung informiert wird.

Neben Thaçi und den drei anderen Angeklagten laufen Prozesse gegen zwei ehemalige UCK-Mitglieder, Salih Mustafa und Pjetër Shala, sowie gegen zwei Mitglieder der Veteranenvereinigung der UCK. Sie wurden angeklagt und verurteilt, weil sie die Namen von Zeug*innen in anderen Fällen weitergegeben hatten. Mustafa wurde im Dezember 2022 wegen Kriegsverbrechen gegen gefangengenommene Kosovo-Albaner*innen zu 26 Jahren Gefängnis verurteilt; gegen das Urteil wurde Berufung eingelegt. Der Prozess gegen Shala begann im Februar.

Nach Angaben der Vereinten Nationen und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz werden nach wie vor über 1.600 Opfer des Kosovo-Konflikts vermisst. Mehr als 400 von ihnen verschwanden nach dem Ende des Krieges im Juni 1999 und dem Einzug der NATO-Truppen in den Kosovo. Darunter befinden sich etwa 100 ethnische Albaner*innen, die übrigen sind hauptsächlich Roma und Serb*innen. Zu dieser Zeit gab es im Land umfangreiche Missionen der Vereinten Nationen und der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, wobei der Kosovo mehrere Jahre unter Verwaltung der Vereinten Nationen stand.

Am 18. März 2023 vereinbarten der Kosovo und Serbien die Umsetzung eines von der EU unterstützten Abkommens über die Normalisierung der Beziehungen. Die Länder sagten außerdem zu, die Fälle von verschwundenen Personen gemeinsam aufzuklären.

Viele der Verbrechen, mit denen sich die Kosovo-Sonderkammern jetzt beschäftigen, wurden nicht vor den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (IStGHJ) gebracht, da sie erst nach dem Ende der Kampfhandlungen am 12. Juni 1999 begangen wurden. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) existierte wiederum zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Der IStGHJ hat Slobodan Milosevic und sechs seiner hochrangigen Mitarbeiter wegen schwerer Verbrechen im Kosovo angeklagt. Fünf von ihnen wurden verurteilt und einer freigesprochen. Milosevic starb während des Prozesses, bevor ein Urteil gesprochen werden konnte.

Vor dem IStGHJ mussten sich auch sechs ethnische Albaner wegen Kriegsverbrechen im Kosovo verantworten. Zwei von ihnen wurden verurteilt und vier freigesprochen.

Die drei Serben, die vom IStGHJ wegen Kriegsverbrechen im Kosovo verurteilt und nach Verbüßung von zwei Dritteln ihrer Strafe freigelassen wurden, sind von der serbischen Regierung als Helden gefeiert worden. Ein weiterer Verurteilter, der ehemalige serbische Polizeichef Vlastimir Djordjevic, verbüßt eine 18-jährige Haftstrafe in Deutschland, nachdem er unter anderem wegen der Leitung des „geheimen Umgangs mit sowie des Transports und der Umbettung von Leichen“ verurteilt worden war. Seine Anträge auf vorzeitige Entlassung sind abgelehnt worden.

In Serbien hat ein Gericht, das sich mit Kriegsverbrechen beschäftigt, 60 Personen wegen Verbrechen im Kosovo angeklagt und 23 von ihnen verurteilt. Die serbische Regierung hat jedoch keinen politischen Willen gezeigt, hochkarätige Funktionäre zu belangen, und einige dieser Prozesse haben sich über Jahre hingezogen.

„Der Thaçi-Prozess kann dazu beitragen, nach jahrelanger Unterdrückung im Kosovo den Weg in Richtung Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit zu bahnen“, so Williamson. „Jetzt liegt der Fokus klar auf der serbischen Regierung, die nun gefragt ist, ihre eigenen Funktionäre zur Rechenschaft zu ziehen, nachdem sie jahrelang diejenigen geschützt hat, die für schwere Verbrechen verantwortlich waren.“

Kategorien: Menschenrechte

Türkei: Übergriffe von Polizei und Gendarmerie im Erdbebengebiet

Click to expand Image Zwei Polizisten beobachten die Beseitigung der Trümmer von Gebäuden, die bei den Erdbeben vom 6. Februar eingestürzt sind, im türkischen Hatay am 23. März 2023. © 2023 Omer Urer/Anadolu Agency via Getty Images

(Istanbul) - Wie Amnesty International und Human Rights Watch heute berichteten, haben Polizist*innen in der vom Erdbeben am 6. Februar 2023 verwüsteten Region Menschen geschlagen, gefoltert und misshandelt, weil sie diese des Diebstahls und der Plünderung verdächtigten. Eine Person starb nach Folter in Gewahrsam. In einigen Fällen haben die Strafverfolgungsbehörden außerdem nicht eingegriffen, um gewaltsame Angriffe gegen Personen zu verhindern, die eines mutmaßlichen Verbrechens verdächtigt wurden.

Nach den Erdbeben ist es zu Diebstählen und Plünderungen von Häusern und Geschäften gekommen, was für die Strafverfolgungsbehörden eine enorme Sicherheitsherausforderung darstellt. Dennoch verbieten das humanitäre Völkerrecht und die nationalen türkischen Gesetze unter allen Umständen die Folter und andere Misshandlungen von Verdächtigen. Die türkische Regierung behauptet seit langem, eine Politik der „Nulltoleranz gegenüber Folter“ zu verfolgen.

„Glaubwürdige Berichte über Polizeikräfte, Gendarmen und Militärangehörige, die Menschen, die eines Verbrechens verdächtigt werden, brutal und über längere Zeit verprügeln und willkürlich und inoffiziell festhalten, belasten die Strafverfolgungsbehörden und ihre schockierenden Praktiken in der türkischen Erdbebenregion schwer“, sagte Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Die Strafverfolgungsbehörden sehen in dem nach der Katastrophe verhängten Ausnahmezustand einen Freibrief, um Menschen ungestraft zu foltern, zu misshandeln und sogar zu töten.“

Amnesty International und Human Rights Watch sprachen mit 34 Personen und sichteten, soweit verfügbar, Videomaterial zu 13 Fällen von Gewalt durch Polizei, Gendarmerie - also der Polizei in ländlichen Gebieten der Türkei - oder Soldaten, die in dem Gebiet eingesetzt wurden. 34 männliche Opfer waren betroffen. Die Forscher*innen hörten zusätzliche Berichte und sahen Videos von anderen Personen, die von Sicherheitskräften brutal geschlagen wurden, konnten diese Vorfälle jedoch nicht abschließend verifizieren. Zu den befragten Personen gehörten 12 Opfer von Folter oder anderen Misshandlungen, zwei Personen, die von Gendarmen mit vorgehaltener Waffe bedroht wurden, Zeug*innen und Rechtsanwält*innen.

Während in vier der von den Organisationen dokumentierten Fällen auch Privatpersonen, die bei der Erdbebenhilfe halfen, an der Gewalt gegen die Opfer beteiligt waren, lag der Schwerpunkt der Untersuchung auf Misshandlungen durch Beamte. Alle bis auf drei Fälle von Folter und anderen Misshandlungen ereigneten sich in der Stadt Antakya in der Provinz Hatay. In vier Fällen handelte es sich bei den Opfern um syrische Geflüchtete. Es gab Anzeichen dafür, dass diese Angriffe auch fremdenfeindlich motiviert waren.

Alle Vorfälle ereigneten sich in den 10 Provinzen, die unter den von Präsident Recep Tayyip Erdogan am 7. Februar ausgerufenen und zwei Tage später vom Parlament gebilligten Ausnahmezustand fallen. Der Ausnahmezustand während einer Naturkatastrophe verleiht der Regierung Befugnisse wie den Erlass von Dekreten, die den Einsatz privater und öffentlicher Ressourcen - Land, Gebäude, Fahrzeuge, Treibstoff, medizinische Versorgung und Lebensmittel - für die Rettungs- und Hilfsmaßnahmen anordnen, den Einsatz des Militärs zur Unterstützung, die Kontrolle der Öffnungszeiten von Geschäften in der betroffenen Region und die Beschränkung der Einreise in die Region.  

Ein türkischer Mann sagte, ein Gendarm habe ihn bedroht und gesagt: „Es herrscht Ausnahmezustand, wir werden dich töten... Wir werden dich töten und unter den Trümmern begraben.“ Ein Syrer sagte, dass ein Polizeikommissar, bei dem er sich beschwerte, als ein Beamter ihm ins Gesicht schlug, ihm sagte: „Hier herrscht Ausnahmezustand. Selbst wenn dieser Beamte dich tötet, wird er nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Niemand würde ihm etwas anhaben können.“


Am 17. März wandten sich Amnesty International und Human Rights Watch schriftlich an den türkischen Innenminister und den Justizminister, um die Rechercheergebnisse mitzuteilen und Informationen über die Ermittlungen zu den eingereichten Missbrauchsbeschwerden und die in den sozialen Medien kursierenden Videobeweise anzufordern. Am 29. März antwortete die Menschenrechtsabteilung des Justizministeriums im Namen beider Ministerien. Die Antwort ging weder auf die Rechercheergebnisse der Menschenrechtsorganisationen noch auf die gestellten Fragen zu konkreten Fällen oder zur Polizeipraxis in der Erdbebenregion während des Ausnahmezustands ein. Die Antwort der Ministerien konzentrierte sich auf das Ausmaß des Erdbebens, die Verwüstungen und die Hilfsmaßnahmen. Die Ministerien beteuerten, dass die türkische Regierung eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Folter verfolge, und behaupteten, die von Amnesty International und Human Rights Watch mitgeteilten Erkenntnisse seien „vage Behauptungen, die jeder sachlichen Grundlage entbehren.“

Die meisten Opfer schilderten, dass sie von Gruppen von Polizisten, Gendarmen oder Soldaten aufgegriffen wurden, während sie an den Such- und Rettungsmaßnahmen für die vom Erdbeben zerstörten Gebäude beteiligt waren oder durch die Stadt Antakya gingen. In den meisten Fällen wurden die Opfer nicht in amtlichen Gewahrsam genommen, sondern sofort geschlagen oder gezwungen, sich hinzulegen oder hinzuknien, während sie getreten, geschlagen und über längere Zeit hinweg beschimpft wurden. Manchen wurden vorab Handschellen angelegt. Einige wurden gezwungen, Straftaten zu gestehen. Aber nur in zwei Fällen wurden anschließend Ermittlungen gegen die Opfer wegen mutmaßlicher Straftaten eingeleitet, was ernsthafte Zweifel daran aufkommen lässt, dass jemals tatsächlich ein strafrechtlich relevanter Verdacht gegen sie bestand.

 „Mein Haus ist zerstört, ich lebe in einem Zelt und obendrein hat mich die Polizei geschlagen und mir eine Waffe an den Kopf gehalten“, sagte ein Mann. „Sie taten so, als wären wir im Wilden Westen.“

Ein 19-jähriges Opfer sagte: „Ich habe jedes Zeitgefühl verloren, und es kam mir vor, als würde das Ganze anderthalb oder zwei Stunden dauern. Zuerst waren es drei, dann kam eine ganze Gruppe von Polizisten und schlug und trat auf mich ein.“

In nur sechs der 13 untersuchten Fälle reichten die Opfer oder ihre Familien offizielle Beschwerden wegen der Gewalt ein, die ihnen von den Beamten angetan wurde. In einem Fall berichtete ein Mann, dass er und sein Bruder im Gewahrsam der Gendarmerie über längere Zeit gefoltert wurden und sein Bruder anschließend zusammenbrach und in der Haft starb.   

In den anderen sieben Fällen gaben die Opfer an, dass sie keine offizielle Anzeige erstatten würden, weil sie Angst vor Repressalien hätten und die Chance, Gerechtigkeit zu erlangen, als gering einschätzten. Mehrere sagten auch, dass der Tod von Familienmitgliedern und Freunden bei dem Erdbeben und die tiefgreifenden Einschnitte in ihrem eigenen Leben die Misshandlungen durch Polizei und Gendarmerie, denen sie ausgesetzt waren, in den Schatten stellten.

Vor allem Menschen aus Syrien zögerten, eine offizielle Beschwerde einzureichen. Eine Frau, die als Übersetzerin für ausländische Such- und Rettungsteams arbeitete, sagte: „Die meisten Gendarmen behandelten Syrer wie Diebe und waren ihnen gegenüber sehr aggressiv. Sie akzeptierten keine Syrer in den Rettungsteams und wurden sehr wütend.“

Ein anderer syrischer Freiwilliger, der bei der Rettung mehrerer unter Trümmern verschütteter türkischer und syrischer Menschen geholfen hat, aber selbst Opfer der Gewalt der Gendarmerie und der Menge wurde, sagte: „Ich werde keine Anzeige erstatten, weil ich glaube, dass nichts passieren wird. Ich habe Angst, aus dem Haus zu gehen, weil Bilder von meinem Auto in den sozialen Medien aufgetaucht sind und Videos von uns im Umlauf sind... Wir haben Angst, wieder angegriffen zu werden. Ich bin nicht ins Krankenhaus gegangen und habe kein ärztliches Gutachten eingeholt, weil ich Angst hatte, als Plünderer angesehen zu werden, und wir sind Syrer.“

Ein Zeuge beschrieb „drei junge Männer im Alter von etwa 20 bis 25 Jahren, die wie Arbeiter und Arme aussahen, die von Soldaten als ‚Plünderer‘ verprügelt wurden, wobei die Soldaten umstehende Privatpersonen aufforderten, sich an den Schlägen zu beteiligen.“ Ein anderer Befragter sagte, er habe gesehen, wie ein augenscheinlich ranghoher Militäroffizier in Samandağ, in der Nähe von Antakya, von seinem Auto aus zu einer Menschenmenge sprach und sagte: „Wenn ihr Plünderer erwischt, verprügelt sie, wie ihr wollt, gebt ihnen ihre gerechte Strafe, aber tötet sie nicht, sondern ruft uns.“

Die türkischen Behörden sollten alle Berichte aus der Erdbebenregion über Folterungen und andere Misshandlungen durch Polizei, Gendarmerie und Militär vollständig, unverzüglich und unparteiisch straf- und verwaltungsrechtlich untersuchen, unabhängig davon, ob sie die Opfer krimineller Handlungen verdächtigten, so Human Rights Watch und Amnesty International.

„Die erschütternden Schilderungen und Bilder von mutwilliger Gewalt durch Vollzugsbeamte, die ihre Macht inmitten der schlimmsten Naturkatastrophe, die das Land je erlebt hat, missbrauchen, können nicht einfach vom Tisch gewischt werden“, sagte Nils Muiznieks, Europadirektor von Amnesty International. „Alle Opfer - auch diejenigen, die auf der Flucht sind - haben ein Recht auf Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für das Leid, das sie erlitten haben. Die Behörden müssen unverzüglich strafrechtliche Ermittlungen in allen Fällen von Folter und anderen Misshandlungen durch Polizei, Gendarmerie und andere Vollzugsbeamte einleiten und die Verantwortlichen vor Gericht stellen.“

Kategorien: Menschenrechte

UN: Menschenrechte schützen beim Kampf gegen Antisemitismus

Click to expand Image Zentrale der Vereinten Nationen in New York am 21. Dezember 2021. © 2021 Sergi Reboredo / VWPics via AP Images

(New York) – Die Vereinten Nationen sollten bei ihren Bemühungen, Antisemitismus zu bekämpfen, die Menschenrechte achten. Das erklärten 60 Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen, darunter Human Rights Watch, in einem offenen Brief an Generalsekretär António Guterres und den Hohen Repräsentanten der UN Alliance of Civilizations Miguel Ángel Moratinos. 

Die Gruppen erklärten, dass Antisemitismus den jüdischen Gemeinden weltweit schade, und sinnvolle Maßnahmen zu seiner Bekämpfung unternommen werden müssen. Die UN-Führung sollte sicherstellen, dass ihre Bemühungen im Kampf gegen Antisemitismus nicht „unbeabsichtigt politische Maßnahmen und Gesetze fördern, die grundlegende Menschenrechte untergraben, einschließlich des Rechts, sich für die Rechte der Palästinenser*innen auszusprechen und zu engagieren und die Politik der israelischen Regierung zu kritisieren“, so die Gruppen. Sie  forderten die UN auf, die von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) verfasste Arbeitsdefinition für Antisemitismus nicht zu unterstützen oder anzunehmen. Die  Definition werde missbraucht, um Kritik an der Politik der israelischen Regierung und/oder das Eintreten für die Rechte der Palästinenser*innen fälschlicherweise als antisemitisch zu bezeichnen, so die Gruppen. Es gibt noch mindestens zwei weitere Definitionen, die nach Ansicht einer Reihe von Wissenschaftler*innen weniger leicht missbraucht werden können: die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus und das Nexus-Dokument. 

Zu den Unterzeichnern gehören neben Human Rights Watch auch die israelische Menschenrechtsgruppe B'Tselem, die American Civil Liberties Union, die palästinensische Menschenrechtsgruppe Al Haq, die Fédération Internationale des Ligues des Droits de l’Homme (FIDH) und dutzende andere Organisationen.

Kategorien: Menschenrechte

Schweizer Seniorinnen verklagen Regierung wegen Klimawandel

Click to expand Image Die KlimaSeniorinnen halten Transparente vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, Frankreich, 29. März 2023. © 2023 Emma Farge/Reuters

Am 29. März argumentierten ältere Frauen aus der Schweiz in einer bahnbrechenden Anhörung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, dass das Versäumnis ihrer Regierung, Treibhausgasemissionen zu reduzieren, ihre Menschenrechte verletzt habe. Die Klägerinnen, allesamt Frauen über 63, sagen, dass infolge des Klimawandels häufiger und intensiver gewordene Hitzewellen ihr Recht auf Leben und Gesundheit bedrohen. Untersuchungen zeigen, dass die durch den Klimawandel verursachten Hitzewellen gefährdete Bevölkerungsgruppen, darunter auch ältere Frauen in der Schweiz schädigen.

Die KlimaSeniorinnen sagen, dass die Schweizer Regierung für diese Schäden verantwortlich ist, da sie zum globalen Klimawandel beiträgt und nur unzureichende Maßnahmen zur Reduzierung der Emissionen ergreift.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat noch nie über einen Fall im Zusammenhang mit der Klimakrise entschieden. Das Urteil könnte einen wichtigen rechtlichen Präzedenzfall darstellen.

Während der Anhörung stellten die Richter*innen eine Reihe schwieriger und wichtiger Fragen: Welche Standards sollte der Gerichtshof anwenden, wenn er die Angemessenheit der Klimapolitik der Regierungen im Hinblick auf die Menschenrechte beurteilt? Wie sollte der Gerichtshof die Konvention auslegen, um die Rechte derjenigen zu schützen, die durch den Klimawandel gefährdet sind? Welche Maßnahmen müssen Regierungen ergreifen, um eine Verschärfung der Klimakrise zu verhindern?

Dieser Fall könnte eine wichtige Rolle dabei spielen, Regierungen für ihre Untätigkeit in Sachen Klimawandel zur Verantwortung zu ziehen. Es ist auch nicht der einzige Klimafall vor dem Gerichtshof, letzte Woche wurde auch eine Klage gegen die französische Regierung verhandelt. Eine von Kindern initiierte Klimaklage gegen mehrere europäische Regierungen wird im Laufe des Jahres verhandelt. In all diesen Fällen werden die Verpflichtungen der Regierungen zur Verringerung der Treibhausgasemissionen auf den Prüfstand gestellt. Die europäischen werden Regierungen aufgefordert, nachzuweisen, dass ihre Klimapolitik die Menschenrechte schützt.

Kategorien: Menschenrechte

Volksgruppen in Namibia sollten bei Reparationsabkommen mit Deutschland mitreden

Click to expand Image Oberhäupter der Nama- und Ovaherero-Völker während des jährlichen "Reparationsmarsches" im namibischen Swakopmund im April 2022. Sie fordern Entschädigungen für die anhaltenden Folgen des von der deutschen Kolonialherrschaft zwischen 1904 und 1908 begangenen Völkermordes. © 2022 OTA and NTLA

Während der deutschen Kolonialherrschaft in Namibia zwischen 1904 und 1908 haben die Kolonisatoren schätzungsweise 80 Prozent aller Ovaherero und 50 Prozent der Nama getötet sowie etwa 80 Prozent des angestammten Landes der Nama beschlagnahmt. Die Zerstörung der Lebensgrundlagen und der Identität dieser Gemeinschaften trifft ganze Generationen.   

Um das Unrecht wiedergutzumachen, sollten die Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen Entschädigungen erhalten, so lautet ein etablierter Grundsatz der Menschenrechte. Was die deutschen Menschenrechtsverletzungen zur Kolonialzeit in Namibia betrifft, hat die Bundesregierung diese Botschaft nicht verstanden. Indem die namibische Regierung sich auf die Seite Deutschlands stellt, lässt auch diese ihre Völker im Stich.  

2021 einigten sich die Bundesregierung und Namibia in einer Erklärung auf eine Zahlung von 1,1 Milliarden Euro für Entwicklungsprojekte, die in einer Zeitspanne von 30 Jahren gezahlt werden sollen. Doch die von den deutschen Kolonialverbrechen am stärksten betroffenen Volksgruppen - die Ovaherero und Nama - waren nie Teil der Verhandlungen und bekamen nur den endgültigen Text des Reparationsabkommens vorgelegt. Trotz des Drucks sei die Bundesregierung nicht dazu bereit, den Prozess wieder aufzunehmen, wie sie dem Bundestag auf Anfrage mitteilte.  

Nicht nur die Bundesregierung schaut lieber weg, wenn es darum geht, den Ovaherero und Nama eine Stimme zu geben. Im November 2022 forderte Namibias Vizepräsident Nangolo Mbumba weitere Gespräche, um den zugesicherten Betrag der Deutschen zu erhöhen und eine kürzere Zahlungsfrist einzuführen - ohne jedoch die Einbeziehung dieser betroffenen Volksgruppen zu erwähnen.  

Deutschland behauptet, dass es keine Rechtsgrundlage für individuelle oder kollektive Reparationszahlungen an die Nachkommen der Ovaherero und Nama gibt, die der deutsche koloniale Völkermord am stärksten getroffen hat. Menschenrechtsabkommen, wie der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte, besagen jedoch etwas anderes.  

Am 20. Januar haben die namibische Opposition und Vertreter*innen der Ovaherero- und Nama-Völker vor Namibias Oberstem Gerichtshof Klage eingereicht. Sie fordern, dass Namibia die gemeinsame Erklärung über Reparationen neu verhandelt. Ihrer Ansicht nach verstößt die Erklärung gegen einen Beschluss des namibischen Parlaments aus dem Jahr 2006, in dem ein dreigliedriger Prozess über Reparationen gefordert wird, der auch die Nachkommen der Opfer des kolonialen Völkermords einschließt.  

Eine Entscheidung des Gerichts steht zwar noch aus, aber es handelt sich um eine nie dagewesene Anfechtung eines zwischenstaatlichen Abkommens zur Aufarbeitung von Kolonialverbrechen vor einem Gericht einer ehemaligen Kolonie. 

Wenn Deutschland das Unrecht seiner kolonialen Vergangenheit wirklich wiedergutmachen will, gelingt das nur, wenn die betroffenen Menschen und ihre Stimmen in den Mittelpunkt des Prozesses gestellt werden. 

Kategorien: Menschenrechte