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Auf dem Weg zu Gerechtigkeit für Syrien

Bislang war es kaum möglich, inmitten der anhaltenden, schweren Menschenrechtsverletzungen in Syrien Gerechtigkeit herzustellen. Nun beginnt die Mauer der Straflosigkeit zu bröckeln.

Mehrere Staaten, darunter Schweden, Deutschland und Frankreich, ermitteln derzeit gegen Personen, denen vorgeworfen wird, in Syrien schwerste Verbrechen verübt zu haben, darunter Folter, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Unter dem völkerrechtlichen Weltrechtsprinzip können nationale Gerichte solche Verbrechen verfolgen, unabhängig davon, wo sie verübt wurden oder woher Opfer oder Täter stammen.

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Ein Syrer trägt seine zwei Kinder über Trümmer nach einem Fassbombenanschlag auf das von Rebellen kontrollierte Gebiet al-Kalasa in der nordsyrischen Stadt Aleppo am 17. September 2015.

© 2015 Getty

Die Verfahren sind nun möglich, weil immer mehr aus Syrien geflüchtete Menschen in Europa Schutz suchen. Zuvor unerreichbare Opfer, Zeugen, Beweise und auch Täter sind jetzt greifbar für die Behörden einiger europäischer Länder. In vielen Fällen haben Asylsuchende die Behörden auf mutmaßliche Verdächtige aufmerksam gemacht. Europäische Staaten können nun einen wichtigen Beitrag dazu leisten, Gerechtigkeit für schwere Menschenrechtsverletzungen in Ländern wie Syrien herzustellen.

Schweden verurteilte als erstes, europäisches Land im Jahr 2015 einen mutmaßlichen Kriegsverbrecher aus Syrien. Die französische Staatsanwaltschaft leitete am 15. September 2015 eine Voruntersuchung der Gräueltaten ein, die die „Caesar“-Fotos enthüllt haben. Darüber hinaus ermittelt sie gegen ein französisches Unternehmen wegen mutmaßlicher Unterstützung von und Beihilfe zu Folter in Syrien. In der Schweiz eröffnete die Bundesanwaltschaft im August 2016 ein Strafverfahren gegen einen mutmaßlichen syrischen Kriegsverbrecher.

Am Donnerstag, 20. Oktober begann ein Stuttgarter Gericht, Kriegsverbrechen in Syrien zu verhandeln. Suliman A. S., der mutmaßlich Jabhat al-Nusra angehört, wird vorgeworfen, im Jahr 2013 einen UN-Beobachter in Damaskus entführt zu haben.

All diese Verfahren haben Schwachstellen. Aber angesichts dessen, dass andere Wege wie Ermittlungen des Internationalen Strafgerichtshofs derzeit verstellt sind, stellen sie kleine, wichtige Schritte hin zum Ende der Straflosigkeit in Syrien dar.

„Wenn es [in Syrien] keine Gerechtigkeit gibt, dann setzt das für die Opfer die Gewalt fort, die sie erlitten haben. Das Leid der Opfer endet nicht in dem Moment, in dem sie nicht mehr gefoltert oder aus dem Gefängnis entlassen werden“, so Mazen Darwish, ein langjähriger Menschenrechtsverteidiger, der von den syrischen Behörden inhaftiert und gefoltert wurde. „Ich weiß sicher, dass es ohne Gerechtigkeit keinen Frieden geben kann und, dass die psychischen Wunden der Opfer nicht heilen werden.“

aus dem Englischen von Daniela Turß

Kategorien: Menschenrechte

Fragen und Antworten: Straflosigkeit in Syrien und im Irak beginnt zu bröckeln

 

  1. Auf welcher Grundlage verhandeln europäische Gerichte schwere Verbrechen, die in Syrien und im Irak begangen wurden? Was ist das Weltrechtsprinzip?
  2. Bedeutet das Weltrechtsprinzip, dass jedes Land alle schweren Völkerrechtsverbrechen untersuchen kann, die in Syrien und im Irak begangen wurden?
  3. Was für Verfahren wegen schwerer Verbrechen in Syrien und im Irak wurden in Europa eröffnet?
  4. Welche Probleme bestehen bei den europäischen Prozessen zu Verbrechen in Syrien und im Irak und wie können sie verbessert werden?
  5. Was hat das mit den Terrorismus-Fällen vor europäischen Gerichten zu tun?
  6. Welche Bedeutung haben die Verfahren gegen Kriegsverbrecher aus Syrien und dem Irak, bei denen das Weltrechtsprinzip angewandt wird?
  7. Warum werden seit kurzem mehr Kriegsverbrecher aus Syrien und dem Irak in Europa vor Gericht gestellt?
  8. Heißt das, dass sich unter den Asylsuchenden zahlreiche Kriegsverbrecher verbergen? Gibt es Grund zur Sorge?
  9. Was sagt das Asylrecht zu Asylsuchenden, die schwerer Völkerrechtsverbrechen verdächtig sind?
  10. Wie können Personen identifiziert werden, die schwerer Verbrechen verdächtig sind?
  11. Welche Rolle spielt die syrische und die irakische Diaspora, die nun in Europa existiert?
  12. Müssen europäische Länder Personen ermitteln und verfolgen, die schwerer Verbrechen in Syrien und im Irak verdächtig sind?
  13. Vor welchen Herausforderungen stehen europäische Gerichte, die in schweren Verbrechen ermitteln, die in Syrien oder im Irak verübt wurden?
  14. Wie versuchen europäische Staaten, mit diesen Herausforderungen umzugehen?
  15. Welche Rolle spielen die verschiedenen Stellen, die schwere Verbrechen in Syrien und im Irak dokumentieren?
  16. Könnte Baschar al-Assad unter dem Weltrechtsprinzip strafrechtlich verfolgt werden?
  17. Wie kann auf lange Sicht in Syrien und im Irak Gerechtigkeit hergestellt werden?
  18. Wie ist die Situation in Syrien und im Irak?
  19. Sind Verbrechen in Syrien und im Irak die einzigen, die unter dem Weltrechtsprinzip verhandelt werden?

In einigen europäischen Ländern finden derzeit wegweisende Ermittlungen und Strafverfahren gegen Personen statt, denen Folter, Gewalt und Entführungen in Syrien und im Irak vorgeworfen werden. Möglich werden diese Verfahren, weil sowohl Opfer als auch Verdächtige als Asylsuchende nach Europa gekommen sind.

Die Verfahren sind die ersten Schritte dahin, dass Verbrechen in den betreffenden Ländern nicht länger straffrei bleiben. Sie stellen die ersten glaubwürdigen Versuche dar, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die in den aktuellen Konflikten in Syrien und im Irak die Zivilbevölkerung terrorisieren. Außerdem zeigen die Verfahren, dass schwere Verbrechen die Menschheit insgesamt betreffen und auch dann verfolgt werden können, wenn die Täter ins Ausland fliehen.

Diese „Fragen und Antworten“ erläutern, wie und warum europäische Gerichte Verbrechen verhandeln können, die in Syrien und im Irak verübt wurden; welche Bedeutung es hat, dass einige mutmaßliche Kriegsverbrecher nach Europa geflohen sind; und warum es wichtig ist, sie zu identifizieren, die Vorwürfe gegen sie zu untersuchen und sie, sofern die Beweislage es zulässt, vor Gericht zu bringen, obwohl die Verbrechen Tausende Kilometer entfernt verübt wurden.

Nach den erschreckenden Anschlägen in Frankreich, Belgien und Deutschland konzentrieren sich die europäischen Strafverfolgungsbehörden darauf, Personen zu identifizieren und zu verfolgen, die möglicherweise ähnliche Taten planen. Das ist ebenfalls wichtig, unterscheidet sich aber grundlegend davon, die Verbrechen zu untersuchen, die in Syrien und im Irak begangen wurden.

1. Auf welcher Grundlage verhandeln europäische Gerichte schwere Verbrechen, die in Syrien und im Irak begangen wurden? Was ist das Weltrechtsprinzip?

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Ein Syrer trägt seine zwei Kinder über Trümmer nach einem Fassbombenanschlag auf das von Rebellen kontrollierte Gebiet al-Kalasa in der nordsyrischen Stadt Aleppo am 17. September 2015.

© 2015 Getty

Nationale Gerichte sind grundsätzlich befugt, in Verbrechen zu ermitteln, die einen nationalen Bezug haben. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn das Verbrechen im Gerichtsland verübt wurde (Territorialitätsprinzip) oder wenn der Verdächtige oder das Opfer ein Staatsangehöriger dieses Landes ist (Täter- bzw. Opferprinzip).

Allerdings können nationale Gerichte bei bestimmten, klar definierten Verbrechen auch dann tätig werden, wenn es keinen direkten Bezug zum Land gibt. Darunter fallen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Folter, Völkermord, Piraterie, Angriffe auf Mitarbeiter der Vereinten Nationen und erzwungenes „Verschwindenlassen“. Auch, wenn sie im Ausland verübt wurden und sowohl die Täter als auch die Opfer Ausländer sind, können nationale Gerichte diese Verbrechen untersuchen und Strafverfahren einleiten, weil sie so schwer wiegen, dass es im Interesse der Menschheit insgesamt ist, dass sie geahndet werden.

Dieser völkerrechtliche Grundsatz wird als Weltrechtsprinzip bezeichnet. Obwohl es schon seit sehr langer Zeit existiert, haben nationale Gerichte bis vor wenigen Jahren kaum von ihm Gebrauch gemacht.

Internationale Verträge verpflichten alle Staaten, die sie ratifiziert haben, dazu, das Weltrechtsprinzip anzuwenden bei Kriegsverbrechen, die in einem internationalen, bewaffneten Konflikt verübt wurden (Genfer Konventionen aus dem Jahr 1949), beim Verbrechen der Apartheid (Anti-Apartheid-Konvention aus dem Jahr 1973), bei Folter (Antifolterkonvention aus dem Jahr 1984) und bei erzwungenem „Verschwindenlassen“ (Konvention gegen Verschwindenlassen aus dem Jahr 2006). Die Abkommen verpflichten die Vertragsstaaten dazu, Verdächtige, die sich in ihrem Hoheitsgebiet befinden, „auszuliefern oder gegen sie zu ermitteln“. Außerdem ist es allgemein anerkannt, dass das Völkergewohnheitsrecht es zulässt, das Weltrechtsprinzip auch bei Verbrechen anzuwenden, die die internationale Staatengemeinschaft als besonders grausam klassifiziert, etwa bei Kriegsverbrechen in einem nationalen, bewaffneten Konflikt, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord.

Einige europäische Staaten, darunter Deutschland, Frankreich und Schweden, wenden das Weltrechtsprinzip an, um Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord in Syrien und im Irak zu untersuchen.

Prinzipiell wäre es wünschenswert, dass in den Ländern Recht gesprochen wird, in denen die Verbrechen begangen wurden. Aber das ist oft nicht möglich. Wenn das Weltrechtsprinzip angewandt wird, reduziert es die „sicheren Rückzugsorte“, an denen Täter straffrei leben können, und zeigt deutlich, wie schwer ihre Verbrechen wiegen.

2. Bedeutet das Weltrechtsprinzip, dass jedes Land alle schweren Völkerrechtsverbrechen untersuchen kann, die in Syrien und im Irak begangen wurden?

Nein, denn nicht alle Staaten haben das Völkerrecht und das Weltrechtsprinzip in ihre nationale Gesetzgebung übernommen. In manchen Ländern kann das Weltrechtsprinzip auf bestimmte Verbrechen angewandt werden, aber nicht auf andere. Auch die Zeitpunkte, ab denen Völkerrechtsverstöße in den Zuständigkeitsbereich nationaler Gerichte fallen können, variieren.

Die Weltrechtsgesetze in den meisten Ländern ermöglichen, das Prinzip anzuwenden, wenn sich der Verdächtige im Hoheitsgebiet des Gerichtslandes aufhält. Gesetze in Frankreich, Großbritannien und Spanien schreiben darüber hinaus vor, dass die betreffende Person eine Aufenthaltsgenehmigung haben muss, damit nationale Gerichte gegen sie wegen im Ausland verübten Kriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermitteln können.

Deutschland und Norwegen sind die einzigen europäischen Länder, die das Weltrechtsprinzip ohne Einschränkungen bei Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit undVölkermord anwenden können - das heißt, in diesen beiden Ländern ist gar kein nationaler Bezug erforderlich. Allerdings verfügen die Staatsanwaltschaften über einen breiten Ermessensspielraum bei der Entscheidung, gegen Verdächtige zu ermitteln, die sich nicht im Land befinden. Entsprechend konzentrieren sich auch Deutschland und Norwegen in der Praxis auf Verdächtige, die sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten.

3. Was für Verfahren wegen schwerer Verbrechen in Syrien und im Irak wurden in Europa eröffnet?

Mehrere europäische Länder untersuchen derzeit schwere Völkerrechtsverbrechen, die in Syrien und im Irak verübt wurden. Die meisten Verfahren richten sich gegen Verdächtige, die sich in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten.

Beim ersten europäischen Prozess gegen einen Kriegsverbrecher aus Syrien sprach ein Stockholmer Gericht im Februar 2015 den syrischen Staatsbürger Mohannad Droubi der Folter als Kriegsverbrechen schuldig. Droubi, der im Jahr 2013 eine Aufenthaltsgenehmigung in Schweden erhielt, kämpfte in der Freien Syrischen Armee und wurde beschuldigt, einen Mann misshandelt zu haben, der angeblich Beziehungen zu den syrischen Streitkräften unterhielt. In diesem Fall wurde Folter eines Gefangenen als Kriegsverbrechen eingestuft. Droubi hatte ein Video des Übergriffs auf Facebook veröffentlicht. Seine fünfjährige Gefängnisstrafe wurde vor kurzem bei einem Wiederaufnahmeverfahren auf acht Jahre erhöht.

Im März 2016 verhaftete die schwedische Polizei ein anderes Mitglied einer bewaffneten Gruppe in Syrien, das im Jahr 2013 nach Schweden gekommen war, wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen. Der Mann soll an der von Kampfhandlungen unabhängigen Ermordung von sieben syrischen Soldaten im Jahr 2012 im Gouvernement Idlib im Nordwesten Syriens beteiligt gewesen sein. Der Prozess soll in diesem Jahr beginnen.

Ein anderer syrischer Staatsbürger stand im Februar in Stockholm vor Gericht, nachdem Fotos von ihm in Internet auftauchten, auf denen er in einer Militäruniform auf Leichen in Zivilkleidung steht. Er gab zu, für die syrischen Streitkräfte gearbeitet zu haben, stritt aber ab, sich an Kampfhandlungen beteiligt zu haben. Das Verfahren wurde schließlich aus Mangel an eindeutigen Beweisen und Zeugen fallen gelassen.

In Deutschland wurden nach Angaben der Polizei bereits 13 Ermittlungsverfahren mit Bezug zu Syrien eröffnet. Zusätzlich wurde ein „Strukturverfahren“ zu Syrien eingeleitet. Dabei handelt es sich um breit angelegte Ermittlungen ohne konkrete Tatverdächtige, in deren Zuge in Deutschland verfügbare Beweise gesammelt werden, um zukünftige Strafverfahren vor deutschen oder anderen Gerichten zu ermöglichen. Mindestens zwei syrische Staatsbürger, die Angehörige bewaffneter Gruppen waren, befinden sich in Deutschland wegen des Verdachts auf Kriegsverbrechen in Haft. Einem von ihnen wird vorgeworfen, im Jahr 2013 einen UN-Beobachter entführt zu haben. Der andere ist der mutmaßliche Kommandant einer Rebellenmiliz in Aleppo. Er soll die Folter mehrerer Gefangener übersehen und mindestens zwei Personen selbst misshandelt haben.

In Frankreich haben die Staatsanwälte der Pariser Abteilung für Kriegsverbrechen im September 2015 eine vorläufige Untersuchung von Verbrechen der syrischen Regierung eingeleitet, die auf einer Sammlung von Fotos toter, syrischer Häftlinge beruht. Diese hatte ein Überläufer außer Landes geschmuggelt, der unter dem Namen Caesar bekannt wurde. Die Fotos enthüllen systematisch organisierte, weit verbreitete Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen der syrischen Regierung, in denen Gefangene gefoltert, ausgehungert, verprügelt und Erkrankungen nicht behandelt werden. Die Staatsanwaltschaft prüft derzeit, ob sie entsprechend der Anforderungen der französischen Gesetzgebung für diese Verbrechen zuständig ist.

Darüber hinaus deuten Medienberichte darauf hin, dass die französischen Einwanderungsbehörden Informationen über mehrere Verdächtige an die Staatsanwaltschaft weitergegeben haben, etwa über einen Überläufer, der an der Folter und Ermordung von Regierungsgegnern in den Jahren 2011 und 2012 beteiligt gewesen sein soll.

Berichten zufolge ermitteln die norwegischen Behörden derzeit gegen 20 ehemalige Angehörige der syrischen Streitkräfte und bewaffneter Gruppen.

Im Jahr 2015 gaben niederländische Behörden bekannt, dass sie zehn Syrer in ihrem Hoheitsgebiet identifiziert haben, die unter dem Verdacht stehen, schwere Völkerrechtsverstöße begangen zu haben. Gegen sie wird derzeit ermittelt.

Die schweizerische Bundesanwaltschaft eröffnete im August 2016 ein Strafverfahren wegen Kriegsverbrechen in Syrien.

In Finnland wurden zwei ehemalige irakische Soldaten, Jebbar Salman Ammar and Hadi Habeeb Hilal, eines Kriegsverbrechens schuldig gesprochen. Sie hatten die Leichen von Kämpfern der extremistischen Gruppe Islamischer Staat (ISIS) geschändet. Einer wurde zu 16 Monaten, der andere zu 13 Monaten Haft verurteilt. Beide Männer, die Ende des Jahres 2015 nach Finnland gekommen waren, hatten Fotos von sich auf Facebook veröffentlicht, auf denen sie abgetrennte Köpfe in den Händen hielten. Es war nicht möglich, festzustellen, ob sie die Kämpfer getötet hatten, und unter welchen Umständen. Außerdem wurden zwei Brüder, die ISIS angehörten und im September 2015 in Finnland angekommen waren, verhaften, weil sie unter Verdacht stehen, elf unbewaffnete irakische Soldaten bei einem Massaker in der irakischen Stadt Tikrit im Juni 2014 hingerichtet zu haben.

Mit all diesen Verfahren haben europäische, nationale Gerichte wichtige, erste Schritte unternommen, um die Verantwortlichen für Gräueltaten in Syrien und im Irak zur Rechenschaft zu ziehen. Weitere Länder sollten gegen Verdächtige in ihrem Hoheitsgebiet ermitteln und - wenn die Beweislage es zu lässt - Strafverfahren einleiten. Möglicherweise werden derzeit weitere Verfahren vorbereitet, zu denen noch keine Informationen öffentlich zugänglich sind.

4. Welche Probleme bestehen bei den europäischen Prozessen zu Verbrechen in Syrien und im Irak und wie können sie verbessert werden?

Da es in Bezug auf Syrien derzeit keine Alternative gibt, weckt die Anwendung des Weltrechtsprinzips große Erwartungen. Unabhängig davon, dass die ersten Fälle sehr wichtig sind und auch andere Länder dringend ihre Weltrechtsgesetze anwenden sollten, haben die Verfahren Grenzen. Die aktuelle Rechtslandschaft könnte gestärkt werden und noch mehr dazu beitragen, dass schwere Verbrechen in Syrien und im Irak geahndet werden.

Da es in vielen Fällen unmöglich ist, dorthin zu reisen, wo die Verbrechen verübt wurden, und auch die Regierungen auf juristischer Ebene nicht zusammenarbeiten, ist es für europäische Ermittler und Staatsanwälte oft schwierig, ausreichend Beweise für eine Anklageerhebung zusammenzutragen. Zum Beispiel gibt es den Justizbehörden der Regionen Kurdistan im Irak und der irakischen Zentralregierung zufolge keine vertragliche Basis für eine juristische Zusammenarbeit mit europäischen Behörden in Weltrechtsverfahren.

Außerdem ist es unwahrscheinlich, dass hochrangige Beamte oder Militärangehörige nach Europa kommen, und einige würden strafrechtliche Immunität genießen. Wegen der Anwesenheitspflicht bei Verfahren und, weil sich Staatsanwaltschaften derzeit darauf konzentrieren, gegen Personen in ihrem Hoheitsgebiet zu ermitteln, ist es anzunehmen, dass sich Weltrechtsfälle weiterhin auf Verdächtige aus den niedrigeren und mittleren Verantwortungsebenen beschränken werden.

Allerdings sollten europäische Staatsanwaltschaften ausloten, wie sie auch gegen Verdächtige aus den Führungsebenen vorgehen können, die sich nicht notwendigerweise in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten. Das wäre möglich, wenn das Opfer ein Staatsbürger des ermittelnden Landes ist, oder unter dem Prinzip der Befehlsverantwortung, nach dem militärisches und ziviles Führungspersonal für Verbrechen seiner Untergebenen zur Rechenschaft gezogen werden kann, wenn es diese nicht verhindert, beendet oder bestraft.

Darüber hinaus sollten europäische Staatsanwaltschaften erwägen, gegen diejenigen zu ermitteln und sie - wenn die Beweislage es zulässt - anzuklagen, die Verbrechen in Syrien und im Irak unterstützen. In Frankreich wurde zum Beispiel eine strafrechtliche Untersuchungen des französischen Unternehmens Qosmos eingeleitet, weil dieses Überwachungsequipment an die syrische Regierung verkauft hat, das dieser mutmaßlich ermöglicht, Personen zu verhaften und anschließend zu foltern.

Die meisten Verfahren, in denen das Weltrechtsprinzip bislang angewandt wurde, richteten sich gegen Angehörige oppositioneller bewaffneter Gruppen in Syrien oder islamistischer Gruppen wie ISIS. Das hat höchstwahrscheinlich keine politischen Gründe, sondern hängt damit zusammen, welche Informationen für europäische Staatsanwaltschaften zugänglich sind. Nichtsdestotrotz reflektieren die europäischen Verfahren die umfangreichen Gräueltaten der syrischen Regierung gegen die Zivilbevölkerung nicht angemessen.

Immer, wenn es möglich ist, sollten Staatsanwaltschaften Anklagen erheben, die die Schwere der Verbrechen angemessen repräsentieren. In einigen Fällen wird den Verdächtigen vorgeworfen, einer als „terroristisch“ eingestuften, bewaffneten Gruppe in Syrien oder im Irak anzugehören, ohne dass dabei geklärt wird, ob sie schwere Verbrechen begangen haben, bei denen es sich um Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit handeln könnte. Verstöße gegen Anti-Terror-Gesetze sind zwar einfacher zu untersuchen und festzustellen, aber solche Verfahren berücksichtigen die Schwere der Verbrechen in Syrien und im Irak und ihre verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung nicht ausreichend.

Abteilungen, die Kriegsverbrechen untersuchen, sollten Strafverfolgungsstrategien anwenden, die repräsentativere Verfahren ermöglichen, sowohl in Hinblick auf deren Zielpersonen als auch auf die Anklagepunkte. So könnten sie besonders bedeutsame Beiträge dazu leisten, dass Verbrechen in Syrien und im Irak geahndet werden.

5. Was hat das mit den Terrorismus-Fällen vor europäischen Gerichten zu tun?

Angesichts der schweren Anschläge, die seit Januar 2015 Dutzenden Menschen in Frankreich, Belgien und Deutschland das Leben gekostet haben, konzentrieren sich Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften überall in Europa verständlicherweise auf Terrorismus-Fälle. Diese Ermittlungen und Verfahren betreffen vor allem Personen, die möglicherweise Anschläge in Europa, nicht im Ausland, planen. Derzeit laufen zahlreiche Verfahren gegen europäische Staatsbürger, die nach Syrien oder in den Irak gereist sind oder es versucht haben, um mit extremistischen Gruppen zu kämpfen, und die nun in ihre Heimatländer zurückgekehrt sind.

Bis heute wurde die große Mehrzahl der Anschläge in Europa nicht von Asylsuchenden verübt, sondern von europäischen Staatsbürgern oder dauerhaften Anwohnern. Unabhängig von ihrer Herkunft und ihren individuellen Hintergründen sollten diejenigen vor Gericht gestellt werden, die Anschläge in Europa planen oder verüben.

6. Welche Bedeutung haben die Verfahren gegen Kriegsverbrecher aus Syrien und dem Irak, bei denen das Weltrechtsprinzip angewandt wird?

Die Weltrechtsverfahren vor europäischen Gerichte eröffnen den Opfern von Gräueltaten ein kleines Fenster zur Gerechtigkeit. Da ihnen alle anderen Wege versperrt sind, sind diese Verfahren die einzige verfügbare Möglichkeit, in einem begrenzten Rahmen Gerechtigkeit herzustellen. Nationale Gerichte in Syrien funktionieren nicht überall, sind nicht unabhängig und glaubwürdig, und bei Verfahren im Irak bestehen gravierende Probleme.

Nachdem die Zivilbevölkerungen in Syrien und im Irak jahrelang Gräueltaten ausgesetzt waren, die das Völkerrecht, das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte verletzt haben, erinnern die europäischen Verfahren daran, dass diejenigen, die ihre völkerrechtlichen Pflichten verletzen, mit Konsequenzen rechnen müssen. Sie vermitteln die Botschaft, dass die Verantwortlichen für schwere Verbrechen für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden können und dass die Zahl der Orte schrumpft, an die sie fliehen können, ohne mit Verfolgung rechnen zu müssen.

Weder Syrien noch der Irak gehören dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) an. Die Europäische Union und ihre 28 Mitgliedsstaaten haben den UN-Sicherheitsrat mehrfach dazu aufgerufen, die Situation in Syrien an den IStGH zu verweisen. Die irakische Regierung haben sie aufgefordert, dem IStGH die Zuständigkeit zu übertragen und das Römische Statut zu ratifizieren, um ein IStGH-Mitgliedsstaat zu werden, zum Beispiel mit der „EU-Regionalstrategie für Syrien und Irak sowie zur Bewältigung der Bedrohung durch ISIL/Da'esh“, die die Außenminister im März 2015 angenommen haben. Allerdings folgen weder die EU noch ihre Mitgliedsstaaten ihren eigenen Forderungen konsequent, insbesondere mit Blick darauf, dass Druck von oberster Stelle erforderlich ist, um die irakische Regierung dazu zu bewegen, dem IStGH als letzter, gerichtlicher Instanz bei schwersten Verbrechen beizutreten. Russland und China haben eine Resolution des UN-Sicherheitsrats blockiert, mit der der IStGH mit Ermittlungen in Syrien betraut werden sollte.

Die europäischen Verfahren sind in ihrer Zahl und ihrem Umfang begrenzt. Aber sie vermitteln den syrischen und irakischen Opfern ein wenig Hoffnung darauf, dass nationale Gerichte in Ländern, die Geflüchtete aufnehmen, Gerechtigkeit ermöglichen können. Darüber hinaus sichern nationale Ermittlungen unter dem Weltrechtsprinzip Beweise, die in zukünftigen Verfahren vor internationalen oder nationalen Gerichten verwendet werden können.

Verfahren unter dem Weltrechtsprinzip sind ein wichtiger, erster Schritt, um die Straflosigkeit in Syrien und im Irak zu beenden. Sie unterstreichen, dass schwere Völkerrechtsverstöße bei Friedensverhandlungen nicht beiseitegeschoben werden dürfen und werden ein Schlüsselelement aller zukünftiger Übergangspläne für Syrien und den Irak sein.

7. Warum werden seit kurzem mehr Kriegsverbrecher aus Syrien und dem Irak in Europa vor Gericht gestellt?

In den vergangenen Jahren sind Millionen Menschen aus Kriegsgebieten geflohen, auch aus Syrien und dem Irak. Die große Mehrheit von ihnen sucht in Nachbarländern Schutz, etwa im Libanon, Jordanien und in der Türkei, aber zunehmend mehr Asylsuchende kommen auch nach Europa.

Das bedeutet, dass sich Opfer, Zeugen, materielle Beweise und manchmal auch Verdächtige, die bislang für europäische Ermittler und Staatsanwälte unerreichbar waren, jetzt in europäischen Ländern befinden, die über die erforderlichen Weltrechtsgesetze verfügen. Deshalb können diese Länder nun schwere Völkerrechtsverbrechen in Syrien und im Irak untersuchen.

8. Heißt das, dass sich unter den Asylsuchenden zahlreiche Kriegsverbrecher verbergen? Gibt es Grund zur Sorge?

Die europäischen Gerichtsverfahren zeigen, dass Strafverfolgungsbehörden Hinweise darauf gefunden haben, dass sich einige Personen, die schwerer Völkerrechtsverbrechen verdächtig sind, als Asylsuchende tarnen. Nicht zum ersten Mal kommen sowohl Opfer als auch Verdächtige in europäische Länder. Das gleiche ist nach dem Genozid in Ruanda im Jahr 1994 passiert, und nach den Balkan-Kriegen in den 1990er Jahren.

Allerdings sucht die überwältigende Mehrheit der Menschen, die in den vergangenen Jahren aus Kriegsgebieten nach Europa geflohen sind, aus berechtigten Gründen Schutz vor Verfolgung, grauenhaften Verbrechen und allgemeiner Gewalt.

Es ist angemessen, die Identität von Asylsuchenden zu überprüfen, um Personen zu identifizieren und gegen sie zu ermitteln, die schwerer Verbrechen verdächtig sind. Nur so kann Gerechtigkeit hergestellt werden. Allerdings ist der Umstand, dass sich eine kleine Zahl mutmaßlicher Kriegsverbrecher möglicherweise in Europa aufhält, kein Grund, ganze Gruppen asylsuchender Menschen zu stigmatisieren und darf nicht zu rassistischen und fremdenfeindlichen Reaktionen führen. Die meisten Menschen, die nach Europa kommen, fliehen vor ungeheuerlichen Menschenrechtsverletzungen.

9. Was sagt das Asylrecht zu Asylsuchenden, die schwerer Völkerrechtsverbrechen verdächtig sind?

Unter Artikel 1F des UN-Abkommens über die Rechtsstellung von Flüchtlingen (Flüchtlingskonvention) aus dem Jahr 1951 sind Personen, bei denen der ernste Verdacht besteht, dass sie ein Verbrechen gegen den Frieden, ein Kriegsverbrechen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt haben, vom Flüchtlingsschutz ausgenommen.

Artikel 1F gewährleistet, dass sich die Verantwortlichen für schwere Völkerrechtsverstöße nicht ihrer Verfolgung entziehen können, und, dass das Asylsystem nicht missbraucht wird. In einer Erläuterung zu Personen, die von der Flüchtlingskonvention ausgenommen sind, erklärt die Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen (UNHCR):

Wenn der asylgesetzliche Schutz auch auf Verantwortliche für schwere Verbrechen anwendbar wäre, stünde das Prinzip des internationalen Schutzes in direktem Konflikt mit dem nationalen und dem Völkerrecht, und würde dem humanitären und friedlichen Kern des Asyl-Konzepts widersprechen.

Es ist also wichtig, die Identität von Asylsuchenden festzustellen und diejenigen auszuschließen, die schwere Verbrechen begangen haben, um die Integrität des gesamten Asylsystems zu wahren. Gleichzeitig können sich die Aufnahmeländer so sicher sein, dass die Menschen, die sie als Flüchtlinge anerkennen, diesen Status tatsächlich verdienen.

Eine Person unter Artikel 1F vom Asylverfahren auszuschließen, kann für diese schwere Folgen haben und sollte daher nur mit äußerster Vorsicht erfolgen. Artikel 1F bezieht sich nur auf Taten, die eine Person verübt hat, bevor sie in das Land einreist, in dem sie Asyl beantragt. Ob ein schweres Verbrechen begangen wurde, sollte individuell, nicht kollektiv geprüft werden, etwa bei einem Angehörigen einer bewaffneten Gruppe, dem schwere Verbrechen zur Last gelegt werden. Die Verdächtigen sollten die Möglichkeit haben, sich bei einer fairen Anhörung gegen die Vorwürfe zu verteidigen.

10. Wie können Personen identifiziert werden, die schwerer Verbrechen verdächtig sind?

Die Einwanderungsbehörden sind dafür zuständig, mögliche Verdächtige durch angemessen Identitätsfeststellungsverfahren und Verfahren zur Prüfung der Asylberechtigung zu identifizieren.

Wenn sie Asylsuchende befragen, entdecken Beamte Hinweise, die zu weitergehenden Untersuchungen führen. Das könnte zum Beispiel die Anwesenheit eines Verdächtigen an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit sein, zu der ein schweres Verbrechen verübt wurde, oder die Mitgliedschaft in den bewaffneten Streitkräften eines Landes oder in einer Miliz. Die Einwanderungsbehörden können auch bei der Befragung von Opfern und Zeugen wichtige Informationen ermitteln. In Deutschland erhalten syrische Asylsuchende einen Fragebogen, in dem sie auch angeben können, ob sie Kriegsverbrechen in Syrien bezeugen können und, wenn ja, ob sie weitere Informationen haben und die Verantwortlichen benennen können. Diese Fragen zu beantworten ist freiwillig und unabhängig vom Asylverfahren. Wenn sich dieser Ansatz als hilfreich dabei erweist, verwertbare Informationen zu generieren und Zeugen zu identifizieren, könnte er auf Asylsuchende aus dem Irak ausgedehnt werden.

Die Niederlande und Großbritannien haben „IF“-Abteilungen in ihren Einwanderungsbehörden eingerichtet, deren Personal die erforderliche, spezielle Expertise und Erfahrungen entwickelt, um mit diesen Fällen umzugehen, auch, indem es umfangreiche Informationen über die spezifischen Konfliktlagen sammelt.

Die Einwanderungsbehörden können dazu beitragen, dass gegen Verdächtige ermittelt wird, indem sie die nationalen Strafverfolgungsbehörden in Kenntnis setzen und Informationen mit ihnen teilen. In Frankreich hat die Einwanderungsbehörde Berichten zufolge einen ehemaligen Offizier der syrischen Streitkräfte identifiziert, der unter dem Verdacht steht, in den Jahren 2011 und 2012 Folter und Morde verübt zu haben. Die Einwanderungsbehörde der Niederlande gab an, im Jahr 2015 unter 170 Asylbewerbern zehn Verdächtige aus Syrien identifiziert zu haben.

Allerdings sollte die Zusammenarbeit zwischen Einwanderungs- und Strafverfolgungsbehörden die Rechte der Asylsuchenden achten und die Integrität des Asylverfahrens nicht gefährden. Asylsuchende müssen darüber informiert werden, dass ihre Aussagen möglicherweise an andere Regierungsstellen weitergeben werden. Verdächtige sollten rechtliche Unterstützung erhalten und Informationen sollten erst an Strafverfolgungsbehörden weitergeben werden, nachdem ein Asylantrag auf der Basis von Artikel 1F abgelehnt wurde.

11. Welche Rolle spielt die syrische und die irakische Diaspora, die nun in Europa existiert?

Diasporagemeinschaften spielen eine wichtige Rolle dabei, Verdächtige zu identifizieren. Zeugen und Opfer erkennen Verdächtige manchmal wieder. Aktuellen Medienberichten zufolge entdeckte eine kurdische, jesidische Frau auf einem Markt in Baden, Deutschland, einen der Männer, die sie monatelang in einem ISIS-Lager im Irak misshandelt haben, und informierte die Polizei.

Medienberichten zufolge haben nationale Strafverfolgungsbehörden zahlreiche Hinweise von geflüchteten Menschen erhalten. Das deutsche Bundeskriminalamt gab bekannt, dass es täglich 25 bis 30 Hinweise auf Kriegsverbrechen in Syrien erhält, merkte allerdings an, dass die meisten Berichte keine aussagekräftigen Beweise enthalten und möglicherweise nur Gerüchte darstellen. Norwegische Behörden haben in der zweiten Hälfte des Jahres 2015 nach eigener Aussage mehr als 100 Hinweise von Geflüchteten erhalten. Die Schweizer Einwanderungsbehörde erhielt im Jahr 2015 mehr als 400 Hinweise von syrischen Asylsuchenden.

Dass sie mit solchen Informationen zur örtlichen Polizei gehen können, ist Angehörigen von Diasporagemeinschaften nicht unbedingt bewusst, und es ist oft kein leichter Schritt. Viele wissen nicht, dass europäische Gerichte Verbrechen untersuchen können, die in ihren Heimatländern verübt wurden. Nach aufreibenden Reisen nach Europa wollen manche lieber in die Zukunft blicken. Und andere haben unter Umständen Angst davor, dass ihre Aussagen ihr Asylverfahren beeinträchtigen oder Familienangehörige gefährden könnten, die sie zurückgelassen haben. Es ist wichtig, dass die europäischen Behörden mit diesen Ängsten sensibel umgehen. Ebenso zentral ist es, dass Beamte mögliche, rechtliche Szenarien erläutern, um keine unrealistischen Erwartungen zu wecken. Sie sollten Informationen darüber, unter welchen Voraussetzungen das Weltrechtsprinzip angewandt werden kann, an geflüchtete Menschen weitergeben. In den Niederlanden und in Deutschland werden mehrsprachige Flyer in Aufnahmeeinrichtungen verteilt und Asylsuchende dazu ermuntert, wichtige Informationen weiterzugeben.

Auf immer mehr Websites und Facebook-Seiten wird ebenfalls behauptet, Verdächtige seien in Europa identifiziert worden. Die Informationen aus diesen Quellen lassen sich allerdings schwer verifizieren und sollten sehr vorsichtig verwendet werden, da sich hinter ihnen möglicherweise persönliche Motive wie Rache verbergen.

12. Müssen europäische Länder Personen ermitteln und verfolgen, die schwerer Verbrechen in Syrien und im Irak verdächtig sind?

Zwar schließt das internationale Asylrecht schwerer Völkerrechtsverstöße verdächtige Personen aus, aber mit der Ablehnung eines Asylantrags ist die völkerrechtliche Pflicht eines Landes noch nicht erfüllt, bei diesen Verbrechen Gerechtigkeit herzustellen.

In den vergangenen 50 Jahren haben immer mehr Regierungen anerkannt, dass manche Verbrechen so schwer wiegen, dass sie nicht straffrei bleiben dürfen, unabhängig davon, wo sie verübt wurden. Internationale Abkommen und das Völkergewohnheitsrecht verpflichten die internationale Staatengemeinschaft dazu, die Verantwortlichen für schwere Völkerrechtsverstöße zu verfolgen, darunter Folter, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und erzwungenes „Verschwindenlassen“.

Das Weltrechtsprinzips weitet diese Verpflichtung auf Verbrechen aus, die im Ausland verübt wurden, und zwar für alle Länder, die die Abkommen gegen Folter, Kriegsverbrechen und erzwungenes „Verschwindenlassen“ ratifiziert haben.

Angesichts dieser Verpflichtung sollten die Einwanderungsbehörden Informationen, die sie unter Artikel 1F der Flüchtlingskonvention gesammelt haben, nicht nur nutzen, um Verdächtigen die Einreise zu verweigern oder sie abzuschieben, sondern sie in den relevanten Fällen auch an die Strafverfolgungsbehörden weitergeben, so dass die Verdächtigen vor Gericht gestellt werden können. In den Niederlanden werden unter Artikel 1F verdächtige Personen zunehmend abgeschoben, statt dass in ihren Fällen strafrechtlich ermittelt wird.

Einige Verdächtige, deren Asylanträge auf der Basis von Artikel 1F abgelehnt werden und die entsprechend der Flüchtlingskonvention abgeschoben werden dürfen, können nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren, weil andere Menschenrechtsabkommen dies verbieten. Die Konvention gegen Folter und der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte in seiner Auslegung durch den UN-Menschenrechtsausschuss verbieten es kategorisch, eine Person in ein Land abzuschieben, in dem ihr droht, gefoltert oder grausam, unmenschlich oder erniedrigend behandelt oder bestraft zu werden. Das wird als Grundsatz der Nicht-Zurückweisung bezeichnet und ist ein internationales, menschenrechtliches Prinzip.

Auch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) verbietet, jemanden an einen Ort abzuschieben, an dem ihm Folter, die Todesstrafe, willkürliche Haft und offensichtlich unfaire Gerichtsverfahren drohen.

Das bedeutet, dass Personen, die wegen des Verdachts auf schwere Verbrechen auf Grund von Artikel 1F keinen Flüchtlingsstatus erhalten und nicht in ihre Heimatländer abgeschoben werden können, faktisch Straflosigkeit in ihrem Aufnahmeland genießen würden, wenn nicht strafrechtlich gegen sie ermittelt wird.

Personen, die unter Artikel 1F vom Flüchtlingsschutz ausgeschlossen werden, droht ein unfairer, rechtlicher Schwebezustand, wenn in ihren Fällen nicht ermittelt wird, um die Vorwürfe gegen sie entweder zu bestätigen oder fallen zu lassen. Außerdem haben sie rechtlich keine Möglichkeit, in einen Drittstaat umzuziehen.

13. Vor welchen Herausforderungen stehen europäische Gerichte, die in schweren Verbrechen ermitteln, die in Syrien oder im Irak verübt wurden?

Es ist keine einfache Aufgabe, Verbrechen, die Tausende Kilometer entfernt in einer Konfliktsituation verübt wurden, zu untersuchen und völkerstrafrechtlich zu verfolgen. Zunächst müssen nationale Gesetze solche Verfahren ermöglichen. Zusätzlich ist ein gutes Verständnis des Völkerrechts erforderlich, um in diesen Fällen tätig zu werden. Und die Ermittlungen selbst sind oft schwierig und berühren großangelegte und komplexe Verbrechen.

Europäische Fahnder und Staatsanwälte können häufig nicht in den Ländern ermitteln, in denen ein Verbrechen begangen wurde - wie derzeit in Syrien und im Irak, wo die Kampfhandlungen anhalten. Das verkompliziert die Sammlung stichhaltiger Beweise massiv.

Da große Bevölkerungsteile aus Syrien und dem Irak vertrieben wurden, sind Opfer und Zeugen oft verstreut und schwer zu finden. Außerdem müssen europäische Ermittler und Staatsanwälte sehr vorsichtig vorgehen, um die Zeugen und Opfer oder ihre Familien nicht zu gefährden. Sprachliche und kulturelle Unterschiede können die Ermittlungen beeinträchtigen, die oft lange dauern und kostenintensiv sind. Videos und Fotos wie die, die in sozialen Medien veröffentlicht werden, können verwertbare Beweise darstellen, allerdings muss dazu zweifelsfrei festgestellt werden, dass sie authentisch sind, und zu welcher Zeit und an welchem Ort sie aufgenommen wurden.

14. Wie versuchen einige europäische Staaten, mit diesen Herausforderungen umzugehen?

Mehrere europäische Staaten, darunter die Niederlande, Belgien, Dänemark, Schweden, Frankreich, Norwegen, Deutschland, Großbritannien und die Schweiz, haben spezielle Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen eingerichtet, die aus Polizisten und Staatsanwälten bestehen und über spezifische Expertise für diese Art von Fällen verfügen.

Untersuchungen von Human Rights Watch zeigen, dass diese Abteilungen nationalen Strafverfolgungsbehörden und Staatsanwaltschaften dabei helfen können, Hürden zu überwinden. Mitarbeiter der Sonderabteilungen haben sich wichtiges Wissen und Expertise angeeignet, die ihre Arbeitsfähigkeit verbessern. Wenn sie über motiviertes und erfahrenes Personal und zweckgebundene Mittel verfügen, können die Abteilungen sich auf die Ermittlungen in schweren Verbrechen konzentrieren. Ihre bloße Existenz reflektiert oft den politischen Willen von Staaten, Straflosigkeit für Gräueltaten zu bekämpfen.

Allerdings sind die Sonderabteilungen in Frankreich, Deutschland, Schweden und der Schweiz personell und finanziell unzureichend ausgestattet und mit einem wachsenden Arbeitspensum konfrontiert. Einige Abteilungen sind neben Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch für Terrorismus zuständig. Es ist verständlich, dass die innere Sicherheit für die Behörden prioritär ist. Aber dieser Schwerpunkt sollte keine Ressourcen von Fällen unter dem Weltrechtsprinzip abziehen, die wesentlich dafür sind, die Verantwortlichen für Verbrechen in Syrien und im Irak zur Rechenschaft zu ziehen.

Länder, die über Sonderabteilungen für Kriegsverbrechen verfügen, sollten diese mit den für effektive Arbeit notwendigen Ressourcen ausstatten. Außerdem sollten weitere Länder in Erwägung ziehen, solche Abteilungen einzurichten.

Darüber hinaus ist internationale Zusammenarbeit essentiell, insbesondere weil Opfer, Zeugen und mögliche Verdächtigen nach ihrer Flucht in unterschiedlichen europäischen Länder leben.

Um diese Zusammenarbeit zu stärken, hat die EU im Jahr 2002 ein „Europäisches Netz von Anlaufstellen für Fragen betreffend Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen“ geschaffen. Das EU Genozid-Netzwerk intensiviert die Zusammenarbeit und den Austausch über gute Arbeitsmethoden zwischen den EU-Mitgliedsstaaten und einigen Beobachterstaaten durch zweijährige Treffen. Das Netzwerk hat außerdem mindestens zwei Treffen organisiert, die sich ausschließlich mit Ermittlungen in schweren Völkerrechtsverbrechen in Syrien befassten.

15. Welche Rolle spielen die verschiedenen Stellen, die schwere Verbrechen in Syrien und im Irak dokumentieren?

Mehrere internationale Organisationen sammeln und bewahren Informationen über Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in Syrien, darunter das Syria Justice and Accountability Centre, die Commission for International Justice and Accountability (CIJA) und die UN-Untersuchungskommission zu Syrien. Darüber hinaus hat die CIJA Mittel erhalten, um Verbrechen gegen die jesidische Minderheit im Irak zu beobachten und Justice Rapid Response hat gemeinsam mit UN Women ein Projekt zur Dokumentation von Verbrechen im Irak durchgeführt.

Diese Dokumentationsarbeit ist essentiell, um Beweise für und andere Informationen über schwere Verbrechen in Syrien und im Irak zu sichern. Die Informationen können dazu beitragen, die Systematik von Verbrechen zu erkennen und die Befehlsverantwortung hochrangiger Beamter festzustellen, sobald es einen glaubwürdigen Rechtsmechanismus gibt, um gegen sie vorzugehen – das kann sowohl auf nationaler, als auch auf internationaler Ebene geschehen, auch unter dem Weltrechtsprinzip.

Dokumentationsinitiativen sammeln unter Umständen auch Hintergrundinformationen über den Konflikt oder die Organisation bewaffneter Streitkräfte, die bei Verfahren unter dem Weltrechtsprinzip genutzt werden können.

Einige Organisationen, etwa die UN-Untersuchungskommission, stehen im Kontakt mit europäischen Spezialeinheiten zu Kriegsverbrechen. Derzeit suchen europäische Staatsanwaltschaften nach Informationen zu spezifischen Fällen, für die sie zuständig werden können – also zu Fällen, bei denen sich eine verdächtige Person auf ihrem Hoheitsgebiet befindet oder die Opfer Staatsbürger ihres Landes sind.

16. Könnte Baschar al-Assad unter dem Weltrechtsprinzip strafrechtlich verfolgt werden?

Nicht sofort. Baschar al-Assad ist das Staatsoberhaupt Syriens. Der Internationale Gerichtshof hat in seinem Yerodia-Urteil Belgien das Recht abgesprochen, einen Haftbefehl gegen den kongolesischen Außenminister auszustellen. Das Gericht kam zu dem Ergebnis, dass Staatsoberhäupter und einige Minister während ihrer Amtszeit Immunität genießen, die sie auch davor schützt, von einem Drittstaat strafrechtlich verfolgt zu werden.

Allerdings könnte unter dem Weltrechtsprinzip gegen al-Assad ermittelt werden, wenn er nicht mehr im Amt ist. In einem wegweisenden Verfahren haben senegalesische Gerichte den ehemaligen Präsidenten des Tschad, Hissène Habré, wegen Verbrechen in seinem Land in den 1980er Jahren verurteilt. Das war der erste Fall, in dem ein ehemaliges Staatsoberhaupt in einem anderen Land vor Gericht stand.

Darüber hinaus können Personen, die Immunität genießen, von internationalen Gerichten wie dem IStGH verurteilt werden.

17. Wie kann auf lange Sicht in Syrien und im Irak Gerechtigkeit hergestellt werden?

Zu gewährleisten, dass schwere Verbrechen geahndet werden, ist für sich genommen wichtig – und es ist wesentlich dafür, in Syrien einen dauerhaften und stabilen Frieden herzustellen. Daher sollte die juristische Aufarbeitung des Konflikts in jedem Übergangsplan eine zentrale Rolle spielen. Fälle unter dem Weltrechtsprinzip sind erste, wichtige Schritte in einer ansonsten öden Landschaft.

Aber um Gerechtigkeit in Syrien näher zu kommen, bedarf es eines mehrschichtigen Konzepts aus nationalen und internationalen juristischen Anstrengungen. Zwar ist der Versuch des UN-Sicherheitsrates, den IStGH mit Ermittlungen in Syrien zu betrauen, gescheitert, aber nichtsdestotrotz ist dieser Gerichtshof das internationale Organ, das am besten dafür geeignet ist, die Hauptverantwortlichen für die schrecklichen Verbrechen zu ermitteln und zu verfolgen - solange die syrischen Behörden keine überzeugenden Maßnahmen ergreifen.

Auf längere Sicht müssen auch in Syrien Prozesse stattfinden, um die Straflosigkeit einzudämmen. Sobald das möglich ist, wird das syrische Strafrechtssystem unter Umständen internationale Unterstützung benötigen. Außerdem sind Gerichtsverfahren nur ein Teil eines größeren Prozesses hin zu Gerechtigkeit und Verantwortungsübernahme. Begleitmaßnahmen werden erforderlich sein, um die Gesellschaft dabei zu unterstützen, mit den schweren Menschenrechtsverletzungen umzugehen, zum Beispiel in Form von Wahrheitskommissionen, Entschädigungszahlungen und Sicherheitssektorreformen.

Im Irak müssen ISIS auf der einen und Regierungs- und Koalitionskräfte auf der anderen Seite für Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht und gegen die Menschenrechte zur Rechenschaft gezogen werden. Im Februar wurde ein nationaler Prozess gegen Personen abgeschlossen, die das Massaker an bis zu 1.700 schiitischen Militärkadetten aus Camp Speicher im Norden von Tikrit im Juni 2014 verübt haben sollen. Sie wurden des Terrorismus angeklagt und der Prozess verstieß gegen internationale Standards für faire Verfahren.

Der Irak sollte Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord als Straftaten in sein nationales Recht aufnehmen und ein Mitgliedsstaat des IStGH werden. Damit wäre der Gerichtshof nicht nur für die schweren Verbrechen zuständig, die von allen Konfliktparteien im Land verübt wurden, sondern könnte durch seine Aufsicht auch den Anstoß dazu geben, dass der Irak selbst die Verantwortlichen für die schwersten Verbrechen auf allen Seiten zur Rechenschaft zieht.

18. Wie ist die Situation in Syrien und im Irak?

Syrien

In Folge des Aufstands gegen das Assad-Regime im März 2011 tobt in Syrien ein brutaler, bewaffneter Konflikt. Die Konfliktparteien verüben vorsätzliche Gräueltaten und greifen die Zivilbevölkerung willkürlich an. Bis Oktober 2015 sind mehr als 250.000 Menschen gestorben, 100.000 waren Zivilisten. Mehr als 640.000 Menschen lebten zu diesem Zeitpunkt in Belagerungszuständen, 6,6 Millionen Menschen flohen in andere Landesteile, 4,8 Millionen in Nachbarländer, und mehr als 1 Millionen in die EU.

Syrische Regierungskräfte und ihre Verbündeten führen vorsätzlich willkürliche Luftangriffe durch. Unter anderem haben sie über Wohngebieten Fassbomben abgeworfen, die zum Teil mit giftigen Chemikalien gefüllt waren. Darüber hinaus belagern Regierungskräfte Gebiete, um die Zivilbevölkerung auszuhungern und Verhandlungen zu erzwingen, durch die sie die Kontrolle zurückerlangen wollen. Willkürliche und geheime Verhaftungen, Misshandlungen, Folter, und erzwungenes „Verschwindenlassen“ sind in Regierungsgefängnissen weiterhin an der Tagesordnung. Das verschlimmert die Situation in den Gefängnissen zusätzlich, in denen schreckliche Zustände herrschen. Unzählige Todesfälle in Haft zeugen davon, dass die Grundversorgung mangelhaft ist. Es fehlt an Nahrung und Hygiene, chronische Krankheiten werden oft nicht behandelt.

Auch nichtstaatliche, bewaffnete Gruppen haben schwere Völkerrechtsverbrechen begangen, etwa willkürliche und vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung in von der Regierung kontrollierten Gebieten, Rekrutierung von Kindersoldaten, Morde, Entführungen und Geiselnahmen. Extremistische islamistische Gruppen wie Jabhat al-Nusra und ISIS sind verantwortlich für systematische Menschenrechtsverletzungen, die als Kriegsverbrechen gewertet werden können, etwa grausame, außergerichtliche Tötungen. ISIS hat systematisch Frauen und Mädchen vergewaltigt, sexuell versklavt und zwangsverheiratet.

Irak

Nachdem die extremistische islamistische Gruppe ISIS im Juni 2014 die Stadt Mosul eingenommen hat, hat sich der Aufstand im Irak zu einem bewaffneten Bürgerkrieg entwickelt, in dessen Zuge sich die Menschenrechtslage rapide verschlechtert. Eine Koalition aus kurdischen und zentralirakischen Regierungskräften und regierungsnahen Milizen kämpft gegen ISIS und wird durch von der USA geführte Luftangriffe unterstützt. Bis Januar 2016 wurden mehr als 3,2 Millionen Iraker vertrieben, 3 Millionen Kinder können wegen des Konflikts die Schule nicht mehr besuchen, und der Zugang zu medizinischer Versorgung, Nahrung und Trinkwasser ist begrenzt.

Alle Konfliktparteien haben das humanitäre Völkerrecht und Menschenrechtsstandards verletzt. ISIS hat Hunderte Zivilisten hingerichtet und Frauen sexuelle versklavt. Sowohl ISIS als auch regierungsnahe Milizen rekrutieren Kindersoldaten für den bewaffneten Kampf. Erzwungenes „Verschwindenlassen“ und Folter sind anhaltende Probleme. ISIS hält Zivilisten davon ab, Konfliktgebiete zu verlassen und Regierungsstellen verwehren Menschen, die vor ISIS fliehen, zum Teil den Zugang zu sicheren Gebieten oder die Rückkehr in ihre Heimat. Regierungsnahe Milizen zerstören im Nachgang von Kampfhandlungen im großen Umfang Wohnhäuser und Geschäfte. Regierungskräfte führen mutmaßlich willkürliche Luft- und Artillerieangriffe durch.

19. Sind Verbrechen in Syrien und im Irak die einzigen, die unter dem Weltrechtsprinzip verhandelt werden?

Nein. In den vergangenen 20 Jahren hat sich die Strafverfolgung nationaler Gerichte auf völkerrechtlicher Grundlage deutlich weiterentwickelt. Europäische, kanadische und US-amerikanische Gerichte haben sich mit Verbrechen befasst, die unter anderem in Ruanda, der Demokratischen Republik Kongo, Afghanistan, Guatemala, dem Kosovo, dem Irak, Liberia, Bosnien-Herzegowina und Argentinien verübt wurden.

Ein senegalesisches Sondergericht hat vor kurzem den ehemaligen Präsidenten des Tschad, Hissène Habré, verurteilt. Außerdem haben Argentinien, der Senegal und Südafrika damit begonnen, massive Menschenrechtsverletzungen in China, der Demokratischen Republik Kongo, Spanien, Paraguay und Simbabwe zu untersuchen.

Kategorien: Menschenrechte

Verfolgung von Kriegsverbrechen in Europa

Oktober 20, 2016 Video Verfolgung von Kriegsverbrechen in Europa

Human Rights Watch veröffentlicht heute ein „Fragen und Antworten“-Dokument und ein Video über bahnbrechende Ermittlungen und Strafverfahren in europäischen Ländern gegen Personen, denen Entführungen, Misshandlungen und Folter in Syrien und im Irak vorgeworfen werden. Die Verfahren wurden möglich, weil Zeugen und Verdächtige als Asylsuchende nach Europa gekommen sind.

 

(Brüssel) - Human Rights Watch veröffentlicht heute ein „Fragen und Antworten“-Dokument und ein Video über bahnbrechende Ermittlungen und Strafverfahren in europäischen Ländern gegen Personen, denen Entführungen, Misshandlungen und Folter in Syrien und im Irak vorgeworfen werden. Die Verfahren wurden möglich, weil Zeugen und Verdächtige als Asylsuchende nach Europa gekommen sind.

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Ein Syrer trägt seine zwei Kinder über Trümmer nach einem Fassbombenanschlag auf das von Rebellen kontrollierte Gebiet al-Kalasa in der nordsyrischen Stadt Aleppo am 17. September 2015.

© 2015 Getty

Die derzeit in einer Reihe von europäischen Ländern laufenden Untersuchungen beruhen auf dem Weltrechtsprinzip. Dieses befugt nationale Gerichte dazu, gegen Personen zu ermitteln, die verdächtigt werden, in einem anderen Land ein schweres Völkerrechtsverbrechen begangen zu haben. Die europäischen Ermittlungen stellen die ersten glaubhaften Versuche dar, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für brutale Übergriffe auf die Zivilbevölkerung in Syrien und im Irak verantwortlich sind. Die Verfahren unterstreichen, dass schwerste Verbrechen in diesen Ländern die Menschheit insgesamt betreffen und auch dann verfolgt werden können, wenn die Täter versuchen, im Ausland unterzutauchen.

„Mehrere europäische Länder geben den Menschen, die aus Syrien und dem Irak geflohen sind und deren Leben massiv erschüttert wurden, einen Funken Hoffnung darauf, dass die Verbrechen gegen sie nicht ungestraft bleiben werden“, so Balkees Jarrah, Völkerrechtsexpertin bei Human Rights Watch. „Außerdem stärken die Weltrechtsverfahren die Grundlage dafür, Fragen der Gerechtigkeit in die zukünftigen Friedensabkommen aufzunehmen.“

Die „Fragen und Antworten“ erläutern, wie das Weltrechtsprinzip funktioniert, stellen Verfahren aus unterschiedlichen europäischen Ländern vor, und informieren darüber, wie diese gestärkt werden können. Das Video beinhaltet Interviews mit Experten und einem syrischen Aktivisten, die das genaue Vorgehen erklären.

Kategorien: Menschenrechte

Verfolgung von Kriegsverbrechen in Europa

Human Rights Watch veröffentlicht heute ein „Fragen und Antworten“-Dokument und ein Video über bahnbrechende Ermittlungen und Strafverfahren in europäischen Ländern gegen Personen, denen Entführungen, Misshandlungen und Folter in Syrien und im Irak vorgeworfen werden. Die Verfahren wurden möglich, weil Zeugen und Verdächtige als Asylsuchende nach Europa gekommen sind.

Die derzeit in einer Reihe von europäischen Ländern laufenden Untersuchungen beruhen auf dem Weltrechtsprinzip. Dieses befugt nationale Gerichte dazu, gegen Personen zu ermitteln, die verdächtigt werden, in einem anderen Land ein schweres Völkerrechtsverbrechen begangen zu haben. Die europäischen Ermittlungen stellen die ersten glaubhaften Versuche dar, diejenigen zur Rechenschaft zu ziehen, die für brutale Übergriffe auf die Zivilbevölkerung in Syrien und im Irak verantwortlich sind. Die Verfahren unterstreichen, dass schwerste Verbrechen in diesen Ländern die Menschheit insgesamt betreffen und auch dann verfolgt werden können, wenn die Täter versuchen, im Ausland unterzutauchen.

Kategorien: Menschenrechte

Warum Deutschland Folter-Verbrechen der USA untersuchen kann und soll

Im Jahr 2004 erstatteten vier Iraker beim deutschen Generalbundesanwalt Strafanzeige gegen leitende US-Beamte wegen Folter und anderer Verbrechen der amerikanischen Streitkräfte im Gefängnis Abu Ghraib im Irak. Die US-Regierung protestierte vehement dagegen und drohte damit, dass dieser Fall die deutsch-amerikanischen Beziehungen belasten könnte. Der Generalbundesanwalt untersuchte die einzelnen Vorwürfe erst gar nicht, sondern wies die Klage zurück. Die pauschale Begründung dafür lautete: Es bestünden keine Anhaltspunkte, daß die Behörden und Gerichte der Vereinigten Staaten von Amerika von strafrechtlichen Maßnahmen wegen Folter in amerikanischen Hafteinrichtungen im Irak Abstand genommen hätten oder Abstand nehmen würden.

Zehn Jahre später ist klar, dass die USA die meisten in Abu Ghraib verübten Verbrechen nicht effektiv und unabhängig untersucht haben. Das gleiche gilt, für das noch viel umfangreichere, staatlich geförderte Folterprogramm, das nach den Anschlägen vom 11. September aufgebaut wurde.

Genau vor einem Jahr veröffentlichte der US-Senat eine vernichtende, 499-seitige Zusammenfassung seiner Untersuchung des geheimen Entführungs-, Haft- und Verhörprogramms der CIA. Dieser Kurzbericht bestätigte frühere Meldungen über schwere Misshandlungen von Gefangenen und enthüllte, dass US-Beamte brutaler, systematischer und umfangreicher gefoltert haben, als dies zuvor bekannt war. Gefangene wurden wochen-, monate- oder jahrelang in stockfinstere, fensterlose Zellen gesperrt und nackt oder mit Windeln an Wände gekettet. Andere wurden auf schockierende Art „rektal ernährt“ oder dem sogenannten „Waterboarding“ unterzogen. Ein Gefangener musste ohne Schlaf tagelang mit gebrochenen Knochen stehen.

US-Beamte haben im völkerrechtlichen Sinne schwerste Verbrechen verübt. Die US-Regierung ist rechtlich dazu verpflichtet, die Verantwortlichen zu identifizieren und zur Rechenschaft zu ziehen. Aber offensichtlich fehlt den Behörden jeder politische Wille, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Umso wichtiger ist es, dass andere Länder, auch Deutschland, im Rahmen ihrer Möglichkeiten aktiv werden und verhindern, dass die CIA-Folterer ihrer Strafe entgehen.

In einem am 1. Dezember veröffentlichten Bericht weist Human Rights Watch die Argumente zurück, mit denen die US-Behörden die Straflosigkeit rechtfertigen, darunter die Position von Präsident Obama, es sei „Zeit, nach vorne statt nach hinten zu sehen“, und Behauptungen, dass rechtliche Hindernisse strafrechtliche Untersuchungen unmöglich machten. Der Bericht zeigt, dass es nach US-Recht möglich ist, die Verbrechen zu untersuchen. Wenn die Regierung weiter untätig bleibt, verletzt sie nicht nur ihre völkerrechtlichen Pflichten, sondern lässt auch die Möglichkeit offen, dass zukünftige US-Beamte erneut menschenrechtswidrige Praktiken anwenden. Diese Sorge ist nicht unbegründet, denn einige Präsidentschaftskandidaten für die Wahlen im kommenden Jahr haben bereits angedeutet, dass sie die Folter-Politik wiederbeleben wollen, wenn sie gewählt werden.

Die USA tragen die Hauptverantwortung dafür, Vorwürfe gegen ihre Beamten zu untersuchen und Folter-Opfer zu entschädigen. Das US-Justizministerium sollte neue Ermittlungen einleiten. Aber Prozesse sind auch in anderen Ländern möglich.

Nach deutschem Recht sind hiesige Gerichte für bestimmte, schwerste internationale Verbrechen zuständig, auch wenn diese im Ausland gegen Ausländer oder von Ausländern verübt wurden. Das entspricht dem wichtigen, völkerrechtlichen „Weltrechtsprinzip“. Im Jahr 2009 richtete die deutsche Regierung eine hochspezialisierte Zentralstelle für Kriegsverbrechen beim Bundeskriminalamt und bei der Generalbundesanwaltschaft ein. Es wurden bereits zwei Prozesse gegen Verantwortliche für in Ruanda und in der Demokratischen Republik Kongo verübte Verbrechen geführt. Mehrere andere Untersuchungen laufen noch, darunter auch „strukturelle Ermittlungen“, in deren Zuge ohne konkrete Tatverdächtige Informationen und Beweise gesammelt werden - etwa für anhaltende Völkerrechtsverstöße in Syrien.

Die völkerrechtlichen Grundlagen und der politische Wille, Straflosigkeit für unvorstellbare Gräueltaten zu beenden, haben ihren Ursprung in der Verurteilung der nationalsozialistischen Verbrechen und in den Nürnberger Prozessen nach dem Zweiten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund seiner Geschichte zählt Deutschland heute zu den Ländern, die eine Führungsrolle dabei spielen, dass schwerste Verbrechen nicht ungeahndet bleiben.

Nach der Veröffentlichung des US-Senatsberichts wurde im Dezember 2014 in Deutschland erneut Strafanzeige gegen US-Beamte im Zusammenhang mit Folter gestellt.

Der Generalbundesanwalt sollte erwägen, eine „strukturelle Untersuchung“ schwerster Verbrechen von US-Beamten nach dem 11. September einzuleiten. Das wäre ein deutliches Signal, dass sogar die Vertreter eines mächtigen Staates wie der USA nicht außerhalb des Rechts stehen, wenn sie foltern oder auf andere Art massiv gegen das Völkerrecht verstoßen. Und es würde beweisen, dass Deutschland sich überall gegen Straflosigkeit einsetzt - egal, ob die Verantwortlichen aus Ruanda, Syrien oder den USA stammen.

Die im Zuge einer strukturellen Untersuchung gesammelten Informationen können in zukünftigen Strafverfahren genutzt werden, sofern die Verdächtigen jemals nach Deutschland kommen. Und selbst dann, wenn sie niemals in Deutschland oder andere Länder einreisen, in denen derartige Ermittlungen eingeleitet werden können, wäre nichts verloren. Die Reisefreiheit mutmaßlicher Täter einzuschränken und Beweise zur späteren Verwendung zu sammeln, ist nur ein kleiner Schritt für die Gerechtigkeit. Doch es ist ein Schritt in die richtige Richtung.

Kategorien: Menschenrechte

DR Kongo: Deutsches Gericht verurteilt zwei ruandische Rebellen-Führer

(Stuttgart) – Die Verurteilung durch ein deutsches Gericht von zwei ruandischen Rebellen-Führern wegen Verbrechen in der Demokratischen Republik Kongo ist ein wichtiger Beitrag, um den Opfern von Massenverbrechen im Kongo Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, so Human Rights Watch heute.

Am 28. September 2015 verurteilte ein Gericht in Stuttgart Ignace Murwanashyaka und Straton Musoni, den Präsidenten und den Vize-Präsidenten der Demokratischen Kräfte zur Befreiung Ruandas (Forces Démocratiques pour la Libération du Rwanda, FDLR), zu 13 beziehungsweise acht Jahren Haft. Das Gericht sprach Murwanashyaka schuldig wegen Kriegsverbrechen im Zusammenhang mit fünf Angriffen der FDLR im Osten des Kongos und wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung. Musoni wurde ebenfalls wegen Rädelsführerschaft in einer terroristischen Vereinigung verurteilt, allerdings von den Vorwürfen freigesprochen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt zu haben.

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Nach dem Einmarsch der ruandischen Armee fliehen diese Menschen aus Angst vor Vergeltungsschlägen der FDLR aus ihren Dörfern. Region Masisi, Nord-Kivu, Demokratische Republik Kongo, Februar 2009.

© 2009 Michael Kavanagh

„Das Urteil eines deutschen Gerichts gegen ruandische Rebellen-Führer wegen Verbrechen im Kongo zeigt, dass die Welt für Kriegsverbrecher kleiner geworden ist“, so Géraldine Mattioli-Zeltner, Advocacy-Direktorin der Abteilung Internationale Justiz von Human Rights Watch. „Das Stuttgarter Gericht ist zwar weit entfernt vom Osten des Kongos, aber seine Richter haben Tausenden Kongolesen endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen, deren Menschenrechte die FDLR auf schrecklichste Weise verletzt hat.“

Die FDLR wurde lange Zeit nicht strafrechtlich wegen der schweren Gräueltaten verfolgt, die sie an der kongolesischen Zivilbevölkerung begangen hat. Dies war der erste Prozess, bei dem sich zwei Führer der Rebellengruppe verantworten mussten. Die deutschen Behörden sollen Maßnahmen ergreifen, damit die betroffene Bevölkerung im Kongo von diesem wichtigen Urteil erfährt, etwa indem die Opfer Zugang zu relevanten Informationen erhalten.

Die FDLR ist eine überwiegend ruandische Hutu-Rebellengruppe im Osten des Kongo. Einige ihrer Führer waren im Jahr 1994 am Genozid im benachbarten Ruanda beteiligt. Murwanashyaka und Musoni lebten seit mehreren Jahren in Deutschland,als sie im November 2009 verhaftet wurden. Beiden wurden Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Last gelegt, die zwischen den Jahren 2008 und 2010 von FDLR-Kämpfern im Osten des Kongos verübt worden sein sollen, sowie die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.

Der Prozess begann im Mai 2011. Ein schriftliches Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt veröffentlicht. Murwanashyaka und Musoni können gegen das Urteil und das Strafmaß Berufung einlegen.

Das Verfahren war das erste unter dem deutschen Völkerstrafgesetzbuch, das das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in das deutsche Recht integriert. Es befugt deutsche Gerichte, zu Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid zu ermitteln und die Verantwortlichen zu verfolgen, unabhängig davon, wo die Verbrechen verübt wurden. Im April 2009 wurde im Bundeskriminalamt eine Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen und weiteren Straftaten nach dem Völkerstrafgesetzbuch (ZBKV) geschaffen, die darauf spezialisiert ist, Ermittlungen zu schwersten internationalen Verbrechen durchzuführen.

Die Ermittlungen in und die Verfolgung von komplexen Verbrechen, die Tausende Kilometer entfernt verübt wurden, stellt das deutsche Justizsystem vor große Herausforderungen.

Etwa wurden mehrere Anklagepunkte aus den Bereichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Laufe des Verfahrens fallen gelassen, da Beweise fehlten. Das warf Fragen auf, wie gründlich die deutschen Behörden ermittelt haben. Besondere Maßnahmen waren nötig, um die Sicherheit und den Schutz von Opfern und Zeugen zu gewährleisten. Die zum Teil schlechte Qualität von Übersetzungen aus Sprachen, die im Kongo und in Ruanda gesprochen werden, ins Deutsche führte vor Gericht zu Auseinandersetzungen darüber, wie verwertbar einzelne Aussagen waren.

Auch sind manche Vorschriften des deutschen Verfahrensrechts für diese Art von Prozessen ungeeignet. So müssen etwa die Namen von Opfern, die als Zivilparteien im Prozess auftreten, veröffentlicht werden. Dadurch konnten kongolesische Opfer aus Sicherheitsgründen nicht am Prozess teilnehmen.

Die deutschen Justizbehörden sollen aus diesem Prozess lernen, um zukünftige Strafverfahren wegen schwerster internationaler Verbrechen zu verbessern.

Deutschland und andere Länder, die über entsprechende Gesetze verfügen, sollen weiterhin zu schwerwiegenden, im Ausland verübten Verbrechen ermitteln, insbesondere wenn eine Strafverfolgung in den Ländern selbst nicht möglich ist.

Im Jahr 2012 erließ der IStGH einen Haftbefehl gegen den militärischen Führer der FDLR, General Sylvestre Mucacumura, der sich mutmaßlich im Ost-Kongo aufhält und sich bislang erfolgreich den Justizbehörden entzieht.

Der Stuttgarter Schuldspruch unterstreicht, wie wichtig es ist, den Militärkommandanten der FDLR zu verhaften, dessen Truppen grauenhafte Menschenrechtsverletzungen im Ost-Kongo verübt haben. Die kongolesischen Behörden und die UN-Friedensmission sollen dringend dem Haftbefehl des IStGH folgen und sicherstellen, dass sich auch Mudacumura vor Gericht verantworten muss.

„Trotz der Komplexität des Verfahrens haben die deutschen Behörden das Richtige gemacht. Mit diesem Prozess haben sie bewiesen, dass Deutschland kein sicherer Hafen für Kriegsverbrecher ist“, so Mattioli-Zeltner. „Die Regierung soll daran arbeiten, zukünftige Verfahren unter dem Völkerstrafgesetzbuch zu verbessern. Zudem soll die Arbeit der Zentralstelle für die Bekämpfung von Kriegsverbrechen politisch und finanziell weiterhin starke Unterstützung erhalten.“

Kategorien: Menschenrechte

Europa: Nationale Gerichtshöfe bauen Reichweite der Justiz aus

(Den Haag) - Regierungen sollen sich drei europäische Länder mit Führungsrolle zum Vorbild nehmen, wenn sie die Straflosigkeit für schwerste internationale Verbrechen bekämpfen wollen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Spezialisierte Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen mit Vertretern der Polizei, der Staatsanwaltschaft und der Einwanderungsbehörde können die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen weltweit vor Gericht bringen und gewährleisten, dass Kriegsverbrecher selbst nach der Flucht aus dem eigenen Land keinen sicheren Aufenthaltsort finden.

In dem 109-seitigen Bericht „The Long Arm of Justice: Lessons from Specialized War Crimes Units in France, Germany, and the Netherlands” wird untersucht, wie Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen in den drei Ländern agieren und welche wichtigen Erfahrungen sie gemacht haben. An den Orten, wo derartige Verbrechen begangen werden, ist es um die Justiz zumeist schlecht bestellt, deshalb wenden die Gerichte der drei Staaten wie auch in anderen Ländern häufiger das seit langem geltende Prinzip der „weltrechstprinzip“ an, um Personen strafrechtlich zu verfolgen, die des Völkermords, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Kriegsverbrechen verdächtigt werden, und zwar unabhängig davon, wo die Verbrechen begangen wurden und welche Nationalität Opfer und Angeklagte haben.

„Universelle Gerichtsbarkeit ist ein wichtiges Sicherheitsnetz für Opfer, die sich ansonsten nirgendwo an die Justiz wenden können“, sagte Leslie Haskell, Expertin für internationale Justiz von Human Rights Watch und Autorin des Berichts. „Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen sorgen dafür, dass in diesen Fällen etwas geschieht – und vermitteln Personen, die die Menschenrechte verletzen, eine ganz klare Botschaft: Die Zeiten sind vorbei, in denen derartige Verbrechen straffrei blieben und man es sich in einem hübschen Exil gemütlich machen konnte.“

Häufig sind nationale Gerichtshöfe der Länder, in denen Verbrechen begangen wurden, nicht imstande, der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Dies kann mit zerstörten juristischen Institutionen, unzureichender Gesetzgebung oder fehlenden Ressourcen zu tun haben. Manche Staaten tun sich auch schwer damit, der Gerechtigkeit Genüge zu tun, wenn ranghohe Regierungsvertreter in die Verbrechen verwickelt sind. Internationale Tribunale, einschließlich des Internationalen Strafgerichtshofs, können in derartigen Fällen zwar Abhilfe schaffen, doch aufgrund von Einschränkungen ihrer Jurisdiktion und ihrer Ressourcen nicht den vollen Anforderungen der Justiz gerecht werden. Die von den speziellen Abteilungen propagierte universelle Gerichtsbarkeit hat sich dagegen zu einem wichtigen Instrument entwickelt, um Personen, die für schwere völkerrechtliche Straftaten verantwortlich sind, strafrechtlich zu verfolgen.

Für den Bericht wurden Staatsanwälte, Ermittlungsrichter, Polizeiermittler, Beamte von Einwanderungsbehörden, Anwälte der Verteidigung und der Opfer, Regierungsvertreter, Akademiker, Aktivisten und Gerichtsbeobachter in den drei Ländern befragt. Auf dieser Grundlage wurden die Erfolge der Abteilungen für Kriegsverbrechen beurteilt und untersucht, welchen Problemen diese Abteilungen weiterhin ausgesetzt sind. Die dienstälteste und stabilste Abteilung zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen ist in den Niederlanden. Sie kann gut als Vorbild für Regierungen dienen, die über die Gründung einer ähnlichen Einrichtung nachdenken. In dem Bericht wird auf Verfahren in jedem der Länder eingegangen sowie auf den Abschluss der ersten Gerichtsverfahren, die von den entsprechenden Abteilungen in Frankreich und Deutschland initiiert worden waren.

Die meisten schwebenden Verfahren gibt es in Frankreich, wo noch mehr als zwei Dutzend Fälle gegen ruandische Staatsbürger offen sind, denen Beteiligung am Völkermord von 1994 vorgeworfen wird. In Frankreich finden zudem bahnbrechende Ermittlungen gegen zwei französische Unternehmen statt, die Überwachungstechnik nach Libyen und Syrien verkauft haben – Technik, die mutmaßlich dazu verwendet wurde, Regierungsgegner zu kontrollieren, was letztlich dazu führte, dass diese Personen verhaftet und gefoltert wurden.

Schwere völkerrechtliche Verstöße auf der Grundlage der weltrechstprinzipzu untersuchen, ist eine besonders komplexe Angelegenheit, weil die Verbrechen vor vielen Jahren im Ausland und in großem Umfang stattfanden. Zudem könnenBeweise über verschiedene Länder verteilt sein. Zwei der wichtigsten Leistungen der Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen stellen die innovativen Ermittlungstechniken dar sowie die Fähigkeit von Polizei und Staatsanwaltschaft, im Ausland zu ermitteln, und zwar auch in den Ländern, wo die Verbrechen begangen wurden.

„Für Polizisten und Staatsanwälte, die den Umgang mit nationalen Verbrechen gewohnt sind, kann es eine einschüchternde Erfahrung sein, gegen Völkermörder und Kriegsverbrecher aus weit entfernten Ländern zu ermitteln und sie anzuklagen“, so Haskell. „Um dieser Herausforderung bestmöglich Herr zu werden, sollte die Erfahrung in spezialisierten Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen mit dem notwendigen Personal, der notwendigen Erfahrung und den notwendigen Ressourcen gebündelt werden.“

Polizei und Staatsanwaltschaft in den Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen haben gelernt, mit den vielen Schwierigkeiten umzugehen, die diese Fälle in der Praxis mit sich bringen – beispielsweise glaubwürdige Opfer und Zeugen zu finden, beim Umgang mit Dolmetschern und anderen Experten oder wenn es darum geht, die Kooperation ausländischer Justizbehörden zu gewährleisten. Wie Human Rights Watch feststellte, hat das Personal dieser spezialisierten Abteilungen seine Ermittlungstechniken durch Versuch-und-Irrtum- verbessert und wertvolle Erfahrungen gemacht, die in künftigen Fällen von Nutzen sein können.

Darüber hinaus hat Human Rights Watch Bereiche ausgemacht, in denen Verbesserungsbedarf besteht, beispielsweise wenn es darum geht, sich bei Ermittlungen im Ausland nicht unnötig abhängig von den dortigen Behörden zu machen, oder beim besseren Zeugen- und Opferschutz. Dokumentarische oder forensische Beweise sind häufig nur schwer zu finden, deshalb kommt in derartigen Verfahren den Aussagen von Zeugen und Opfern – von denen viele noch immer in dem Land leben, in dem die Verbrechen begangen wurden – ganz besondere Bedeutung zu. Diese Personen gehen für sich und ihre Angehörigen oftmals hohe Risiken ein, wenn sie mit den Justizbehörden kooperieren. In nahezu allen Fällen sei der Zeugenschutz eine Hauptsorge gewesen, sagen Polizei und Staatsanwaltschaft der drei Länder.

In Deutschland hat die Bundesstaatsanwaltschaft auch ohne spezifische Verdächtige breit angelegte vorläufige Untersuchungen zu Verbrechen in mehreren Konfliktländern, darunter Syrien, eingeilet. Diese „strukturellen Ermittlungen“ dienen dazu, Informationen zu Verbrechen zusammenzutragen und mögliche Opfer und Zeugen in Deutschland zu identifizieren, die von Nutzen sein könnten, wenn zu einem späteren Zeitpunkt in Deutschland oder einem anderen Land Verbrecher zur Rechenschaft gezogen werden sollen. Seit Ende 2013 bittet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Asylsuchende aus Syrien, in einem Formular zu beantworten, ob sie Zeuge von Kriegsverbrechen wurden und ob sie die Verantwortlichen benennen können.

„Spezialisierte Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen haben die Erfahrung gemacht, dass es einfacher ist, kurz nach dem Verbrechen Beweise zu sammeln als nach vielen Jahren. Syrien ist hervorragend dafür geeignet, diese Lektion in die Praxis umzusetzen“, so Haskell. „Die nationalen Behörden sollen alle in ihrem Land zur Verfügung stehenden Beweise für schwere Völkerrechtsverstöße sammeln lassen, auch durch Flüchtlinge, damit diese Beweise später für Anklagen genutzt werden können.“

Ohne den politischen Willen ist die Gründung von Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen nicht machbar. Genauso ist der politische Wille unerlässlich, damit die spezialisierten Abteilungen erfolgreich arbeiten können. Schließlich sind die Fälle, mit denen sie sich befassen, oftmals politisch heikel und von Spannungen auf diplomatischer Ebene begleitet – vor allem dann, wenn sich die Ermittlungen auf ranghohe ausländische Staatsvertreter erstrecken.

Der in den Niederlanden herrschende starke politische Wille, der Straflosigkeit einen Riegel vorzuschieben, hat zur Gründung einer spezialisierten Abteilung der Einwanderungsbehörde geführt. Diese überprüft Asylsuchende mit dem Ziel, Personen keinen Flüchtlingsstatus zu gewähren, denen schwere völkerrechtliche Verbrechen vorgeworfen werden. Haben Beamte der Einwanderungsbehörde den Verdacht, eine Person könnte ein schweres völkerrechtliches Verbrechen begangen haben, alarmieren sie die Polizei und die Staatsanwaltschaft und übergeben alle Informationen, die für eine strafrechtliche Ermittlung von Belang sein könnten.

Ebenfalls von zentraler Bedeutung für die erfolgreiche Arbeit von Abteilungen zur Bekämpfung von Kriegsverbrechen ist die Kooperation untereinander. Die Europäische Union hat ein Netzwerk erschaffen, in dem Vertreter nahezu aller 28 EU-Mitgliedstaaten sowie eine Handvoll Beobachterstaaten zwei Mal im Jahr zusammenkommen, um über rechtliche und praxisbezogene Themen ihrer Arbeit zu sprechen und Informationen zu speziellen Fällen zu teilen. Die beeindruckenden Erfolge dieser Initiative haben zu ähnliche Bemühungen anderer Kooperationsgremien der EU sowie der Afrikanischen Union geführt.

„Das Genozid-Netzwerk der EU hat die internationale Zusammenarbeit beträchtlich verbessert und könnte noch mehr erreichen, wenn die Brüsseler Institutionen mehr politische Rückendeckung und zusätzliche Ressourcen bereitstellen würden“, sagte Haskell. „Die EU-Staaten verfügen über das Potenzial, bei der weltrechstprinzipan vorderster Front zu stehen und eine Führungsrolle zu übernehmen, damit die Verantwortlichen für die abscheulichen Verbrechen in Syrien, in der Zentralafrikanischen Republik und in anderen Konfliktgebieten zur Verantwortung gezogen werden.“

Kategorien: Menschenrechte

UN-Mitgliedstaaten sollen sich gegen Besuch al-Bashirs aussprechen

(New York) – Die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats und andere UN-Mitgliedstaaten sollen sich öffentlich gegen eine Teilnahme des sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir an der UN-Vollversammlung aussprechen, da gegen diesen ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichts (IStGH) wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen in Darfur besteht. Die Regierungen sollen klarstellen, dass sie mit al-Bashir, falls dieser nicht von seinem Besuch absieht, keinerlei Umgang pflegen und nicht an Veranstaltungen teinehmen werden, an denen al-Bashir teilnimmt.

Vertretern der amerikanischen Regierung zufolge hat al-Bashir ein Visum beantragt, um an der UN-Vollversammlung teilzunehmen, deren Generaldebatte für den Zeitraum vom 24. September bis 2. Oktober 2013 anberaumt ist. Gegen al-Bashir bestehen zwei Haftbefehle des IStGH wegen Verbrechen in Darfur, der eine wegen Völkermordes, der andere wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der IStGH hatte Ermittlungen eingeleitet, nachdem der UN-Sicherheitsrat im März 2005 in seiner Resolution Nr. 1593 die Lage in Darfur an den Gerichtshof überwiesen hatte.

„Sollte al-Bashir bei der UN-Vollversammlung erscheinen, würde er die Bemühungen des Sicherheitsrats für die Strafverfolgung der Verbrechen in Darfur in dreister Weise auf die Probe stellen“, so Elise Keppler, stellvertretende Direktorin der Abteilung Internationale Justiz von Human Rights Watch. „Das letzte, was die UN jetzt braucht, ist ein Besuch von einem IStGH-Flüchtling.“

Mit al-Bashirs Besuch würde zum ersten Mal eine Person die USA und die UN besuchen, gegen die ein Haftbefehl des IStGH vorliegt. Bislang vermieden viele Staaten – Unterzeichner und Nicht-Unterzeichner des IStGH-Statuts gleichermaßen – al-Bashirs Besuche, indem sie ihn zur Entsendung anderer Vertreter der sudanesischen Regierung aufforderten, Treffen räumlich und zeitlich verschoben oder seine Visite schlichtweg absagten. Zu diesen Staaten gehören Südafrika, Malaysia, Sambia, die Türkei, die Zentralafrikanische Republik, Kenia und Malawi.

Die USA verurteilten al-Bashirs geplanten Besuch zur UN-Vollversammlung. Am 16. September bezeichnete Samantha Power, die US-Botschafterin bei den Vereinten Nationen, diesen als „bedauerlich, zynisch und äußerst unagemessen“.

In Reaktion auf al-Bashirs geplanten UN-Besuch appellierte Human Rights Watch an alle UN-Mitgliedstaaten, die möglichen rechtlichen Konsequenzen zu bedenken. Die Vertragsstaaten des IStGH sind durch das Römische Statut verpflichtet, bei der Verhaftung Strafverdächtiger mit dem Gerichtshof zu kooperieren. Auch die UN-Sicherheitsratsresolution 1593, welche die Lage in Darfur an den IStGH verweist, fordert alle Staaten und die betroffenen regionalen sowie andere internationalen Organisationen auf, uneingeschränkt mit dem Gericht zusammenzuarbeiten. Die UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1949 verlangt in Artikel 4: „Personen, die Völkermord [...] begehen, sind zu bestrafen, gleichviel ob sie Regierungsvertreter, öffentliche Beamte oder private Einzelpersonen sind.“

Die Resolution 1593 verpflichtet den Sudan zur Kooperation mit dem IStGH. Auch in einer Präsidententerklärung des Sicherheitsrats aus dem Jahr 2008 wird der Sudan aufgefordert, mit dem Gericht zusammenzuarbeiten, damit das Land die Resolution 1593 einhält. Der Rat verfolgte diese Erklärung jedoch nicht angemessen weiter.

Menschenrechtler und Nichtregierungsorganisationen mobilisieren, insbesondere in Afrika, gegen jegliche Reisen al-Bashirs und für seine Auslieferung an den IStGH. Zuletzt reichte die nigerianische Koalition für den IStGH in Nigeria Klage ein, als al-Bashir das Land unerwartet besuchte, um an einer Konferenz der Afrikanischen Union teilzunehmen. Die öffentliche Verurteilung seines Besuchs trug zweifellos zu seiner abrupten Abreise bei.

„Al-Bashir gehört an genau einen Ort: Vor den IStGH, wo er sich wegen der abscheulichen Verbrechen in Darfur verantworten muss“, so Keppler. „Die zahllosen Opfer in Dafur verdienen es, ihn dort zu sehen - und nicht in den Sälen der Vereinten Nationen.“

Kategorien: Menschenrechte

Covid-19-Apps bergen Risiken für Menschenrechte

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20

 

(New York) – Die mobilen Tracking-Programme, mit denen Regierungen gegen die Ausbreitung von Covid-19 vorgehen wollen, bergen erhebliche Risiken für den Schutz der Menschenrechte, so Human Rights Watch heute anlässlich der Veröffentlichung eines detaillierten Frage-Antwort-Papiers. Während der Nutzen dieser Programme zur Eindämmung der Pandemie noch nicht bewiesen ist, könnten sie unter dem Vorwand des Gesundheitsschutzes zu unnötigen und unverhältnismäßigen Überwachungsmaßnahmen führen.

Das Frage-Antwort-Papier „Mobile Location Data and Covid-19“ analysiert verschiedene Ansätze, wie Behörden Ortungs- und Umgebungs-Daten von Mobiltelefonen und anderen Geräten nutzen wollen, und nimmt deren Risiken für den Schutz der Privatsphäre unter die Lupe. Das Papier untersucht den bisherigen Einsatz dieser Technologien in China, Israel, Südkorea, den USA und anderen Staaten und liefert Empfehlungen und Richtlinien, um die Menschenrechtsrisiken bestimmter Instrumente oder Programme zu beurteilen, die sich auf mobile Ortungsdaten stützen.

„Während eines Gesundheitsnotstands mögen gewisse Einschnitte in die Rechte der Bevölkerung zu rechtfertigen sein. Doch aktuell fordert man die Menschen auf, ihre Privatsphäre und persönlichen Daten preiszugeben, um sie in unerprobte Technologien einzuspeisen“, so Deborah Brown, Senior Digital Rights Researcher bei Human Rights Watch. „Die Eindämmung der Pandemie und die Rückkehr zur gesellschaftlichen Normalität sind wichtige Ziele, doch sie lassen sich auch ohne durchdringende Überwachungsmaßnahmen erreichen.“

Der Schutz des menschlichen Lebens und der Gesundheit sind für Entscheidungsträger in der ganzen Welt von höchster Bedeutung. Dennoch sollten Regierungen und Privatwirtschaft keine unerprobten Technologien propagieren oder zum Einsatz bringen. Die Geschichte der Notstandsmaßnahmen hat gezeigt, dass, wenn Überwachungsmaßnahmen eingeführt werden, diese üblicherweise zu weit gehen, ihre Ziele verfehlen und – einmal genehmigt – auch nach Wegfall ihrer Begründung fortbestehen. Mobile Tracking-Programme, die als vorübergehende Maßnahme bis zur Eindämmung der Pandemie und Verfügbarkeit eines Impfstoff vorgesehen sind, könnten zu dauerhaften Instrumenten eines erweiterten Überwachungsregimes werden.

Wenn die Privatsphäre in unverhältnismäßiger Weise preisgegeben wird, kann dies der Einschränkung weiterer Rechte Tür und Tor öffnen, etwa im Hinblick auf die Reisefreiheit, die freie Meinungsäußerung oder die Vereinigungsfreiheit. Die Auswertung mobiler Netzdaten liefert fein abgestufte, in Echtzeit verfügbare Möglichkeiten, gezielt bestimmte Personenkreise auszuwählen. Damit können Regierungen drakonische Quarantänemaßnahmen durchsetzen. Dies ist besonders problematisch, solange wirksame und transparente Beschränkungen für die Sammlung, Speicherung und Verwendung der Daten fehlen. Geraten die Informationen in die Hände von Regierungen, die bereits weitreichende Überwachungsmaßnahmen betreiben wie in China oder Russland, könnten sie zu verstärkter Diskriminierung und Repression führen.

Human Rights Watch warnt davor, bei der Bekämpfung von Covid-19 einseitig auf mobile Ortungsdaten zu setzen, da dies gesellschaftliche Randgruppen ohne zuverlässigen Internet- und Mobilfunkzugang ausschließt und deren Gesundheit und Lebensgrundlage gefährden kann. Randgruppen wie Wanderarbeiter, Geflüchtete und Wohnungslose leben häufig auf engem Raum, was die Genauigkeit der Kontaktverfolgung per App beeinträchtigt. Andere Minderheiten dürften den Tracking-Technologien angesichts jahrzehntelanger menschenrechtswidriger Überwachung und Unterdrückung mit großer Skepsis begegnen.

„Mobiles Tracking schafft bei der Bekämpfung der Pandemie ein Zweiklassensystem, welches die ärmsten und schutzbedürftigsten Menschen abhängt“, so Amos Toh, Experte für künstliche Intelligenz und Menschenrechte. „Wenn Minderheiten und Randgruppen nicht wirklich einbezogen werden, dann können technologiebasierte Ansätze dazu führen, die systematische Ungleichbehandlung all jener Menschen zu verstärken, die durch das Virus ohnehin schon schwer getroffen sind.“

Es bestehen ernste Zweifel, ob die Initiativen zum Tracking von Covid-19 internationale Menschenrechtsstandards hinsichtlich Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit erfüllen können. Human Rights Watch fordert alle Regierungen auf, vor dem Einsatz solcher Technologien die Frage zu beantworten, ob diese wissenschaftlich gerechtfertigt sind und inwieweit sie das Infektionsrisiko einzelner Personen falsch einschätzen oder die Öffentlichkeit irreführen könnten. Die Behörden sollten zudem prüfen, ob andere Mittel zur Pandemiebekämpfung zur Verfügung stehen, welche die Menschenrechte weniger stark einschränken. Dazu sollten auch erprobte Eindämmungsmaßnahmen wie die manuelle Kontaktverfolgung und die Ausweitung des Zugangs zu Tests und Behandlungen gehören.

„Bevor wir datengestützte Technologien einsetzen, sollten wir uns grundlegende Fragen stellen: Wird es funktionieren? Was ist der Preis für unsere Freiheit und Gesundheit?“ so Brown. „Der Faktor Zeit ist entscheidend. Doch ist eine Pandemie nicht die richtige Zeit, um hastig zu handeln und weiteren Schaden anzurichten.“

Kategorien: Menschenrechte

Internet-Shutdowns in COVID-19-Krise beenden

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20
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Mann mit seinem Handy in Srinagar, Kashmir, 30. Januar 2020.

© 2020 AP Photo/Dar Yasin

 

Update: Äthiopien hat nach dreimonatiger Unterbrechung angekündigt, die Telefon- und Internetverbindung nach West-Oromia wiederherzustellen

(New York) - Das vorsätzliche Abschalten oder die Beschränkung des Zugangs zum Internet verstößt gegen Menschenrechtsstandards und kann während einer Gesundheitskrise wie der COVID-19-Pandemie tödliche Folgen haben, so Human Rights Watch. Regierungen, die jetzt das Internet abschalten, etwa in Bangladesch, Äthiopien, Indien und Myanmar, sollen diese Maßnahme unverzüglich beenden, um Leben zu retten.

Während einer Gesundheitskrise ist der schnelle Zugang zu verlässlichen Informationen von entscheidender Bedeutung. Menschen nutzen das Internet, um sich über Gesundheitsmaßnahmen, Bewegungseinschränkungen und relevante Nachrichten zu informieren, so dass sie sich selbst und andere schützen können.

„Die Abschaltung des Internets verhindert, dass die Menschen wichtige Informationen und Dienstleistungen erhalten“, sagte Deborah Brown, Expertin für digitale Rechte. „Während dieser globalen Gesundheitskrise haben solche Shutdowns unmittelbare, negative Folgen für die Gesundheit und das Leben der Menschen. Zudem untergraben sie die Bemühungen, die Pandemie unter Kontrolle zu bringen.“

Für Menschen auf der ganzen Welt, die entweder freiwillig oder aufgrund staatlicher Vorgaben zu Hause bleiben, ist das Internet für die Kommunikation mit Ärzten, der Familie und Freunden von entscheidender Bedeutung. Für viele Kinder und andere Menschen ist der Internetzugang notwendig, um weiterhin lernen zu können, da Schulen auf der ganzen Welt geschlossen werden.

Die Abschaltung des Internets kann größere Auswirkungen auf Frauen, lesbische, schwule, bisexuelle und transgender Personen, Menschen mit Behinderungen und ältere Menschen haben, die das Internet für Online-Dienste in Anspruch nehmen. Diese Gruppen sind am ehesten auf das Internet angewiesen, um ihre physische Sicherheit zu schützen, Zugang zu Informationen und Versorgung im Bereich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit zu erhalten und am sozialen, beruflichen und wirtschaftlichen Leben teilzunehmen, insbesondere da Frauen unverhältnismäßig mehr Verantwortung für die Kinderbetreuung und Bildung übernehmen und die Isolation zu psychischem Leid führen oder dieses verschlimmern kann.

Die wirtschaftlichen Einbußen durch Internet-Störungen sind erheblich. Da Bewegungsfreiheit zunehmend eingeschränkt wird, sind viele Einzelpersonen und Unternehmen bei ihrer Arbeit nun verstärkt auf das Internet angewiesen.

In den letzten Jahren ist das Internet immer häufiger abgeschaltet worden, in der Regel während Wahlen, regierungsfeindlichen Protesten oder bewaffneten Konflikten. Dreiunddreißig Länder haben laut Access Now im Jahr 2019 insgesamt 213 Internetabschaltungen erzwungen. Die Begründungen der Regierungen reichten von der Notwendigkeit, sog. Fake News zu bekämpfen, bis hin zum Schutz der öffentlichen und nationalen Sicherheit.

In Indien wurden seit 2012 die meisten Internetabschaltungen vorgenommen. Dort waren es insgesamt mindestens 385. In Jammu und Kaschmir verhängte die indische Regierung im August 2019 einen vollständigen Kommunikationsstillstand, der Familien daran hinderte, miteinander zu kommunizieren und die lokale Wirtschaft lahmlegte. Die Telefondienste wurden nach und nach wiederhergestellt, aber erst nachdem der Oberste Gerichtshof die Internetabschaltung im Januar 2020 für rechtswidrig befunden hatte, wurde auch dieser Dienst teilweise - und auch nur mit 2G-Geschwindigkeit - wiederhergestellt.

Seit der Verbreitung von COVID-19 in Indien berichten Menschen, dass sie Websites nicht aufrufen können, die Informationen über die Pandemie enthalten, da die Geschwindigkeit stark eingeschränkt und der Zugriff auf alles, was über Textnachrichten hinausgeht, fast unmöglich ist. Die in Neu-Delhi ansässige Internet Freedom Foundation hat die Regierung aufgefordert, „Ärzten und Patienten alle Hilfsmittel, auch das Hochgeschwindigkeits-Internet, zur Verfügung zu stellen, um Leben zu retten“.

In Äthiopien haben möglicherweise Millionen von Menschen in West-Oromia keine Informationen über COVID-19, weil die Regierung die Internet- und Telefondienste schon vor Monaten abgeschaltet hat. Dies verhindern die Kommunikation von Familien untereinander, hat lebensrettende Dienste unterbrochen und zu einem Informationsstillstand während der Aufstände gegen die Regierung in der Region beigetragen.

In Myanmar blockiert die Regierung das Internet für mehr als eine Million Menschen in den Staaten Rakhaing und Chin. Im Juni vergangenen Jahres beschränkte sie erstmals den Zugang in acht Townships in Rakhaing und in einem weiteren in Chin, was Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung in Konfliktgebieten, die Bereitstellung humanitärer Hilfe und die Arbeit von Menschenrechtsbeobachtern hat. Im September hob die Regierung die Beschränkungen in fünf Townships in Rakhine und in Chin auf, setzte sie aber am 3. Februar 2020 erneut in Kraft.

In Bangladesch hindern ein Internetausfall und eine Einschränkung der Telefondienste in den Rohingya-Flüchtlingslagern humanitäre Gruppen daran, auf die Bedrohung durch COVID-19 zu reagieren. Diese Maßnahmen gefährden die Gesundheit und das Leben von fast 900.000 Flüchtlingen in Cox's Bazar und den benachbarten Orten.

Vor fast vier Jahren verurteilte der UN-Menschenrechtsrat erstmals Maßnahmen, die den Zugang zu oder die Verbreitung von Informationen im Internet verhindern oder stören, und forderte die Länder auf, von solchen Maßnahmen Abstand zu nehmen. In der vergangenen Woche sagten führende internationale Experten für Meinungsfreiheit, dass die Abschaltung des Internets während des COVID-19-Ausbruchs nicht zu rechtfertigen sei.

Am 27. März drängte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte alle Regierungen, jegliche Abschaltungen des Internets und der Telekommunikation zu beenden. „Inmitten der COVID-19-Krise müssen faktenbasierte und relevante Informationen über die Krankheit, ihre Verbreitung und die Reaktion darauf ausnahmslos alle Menschen erreichen“, so eine entsprechende Erklärung.

Nach internationalem Recht sind Regierungen verpflichtet, sicherzustellen, dass alle Beschränkungen von Online-Informationen gesetzlich legitimiert sind, eine notwendige und angemessene Reaktion auf eine bestimmte Bedrohung darstellen und im Interesse der Öffentlichkeit liegen.

Niemals sollen breit angelegte, willkürliche Abschaltungen eingesetzt werden, um den Informationsfluss zu stoppen oder die Möglichkeit der Menschen zur politischen Meinungsäußerung zu beeinträchtigen. Während einer Gesundheitskrise kann ein solches Vorgehen Leben kosten, so Human Rights Watch.

Regierungen ordnen zwar die Abschaltung des Internets zwar an, aber die Internetanbieter sind für die Umsetzung verantwortlich. Die Internetanbieter sollen alles tun, um ungerechtfertigte Internet-Shutdowns zu verhindern, indem sie unter anderem eine Rechtsgrundlage für jede Abschaltungsanordnung fordern und Anträge so interpretieren, dass sie die am wenigsten einschneidenden Einschränkungen verursachen. Sie sollen ihrer Verantwortung gemäß den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte Vorrang einräumen und eine Mitschuld an Menschenrechtsverletzungen, insbesondere während der COVID-19-Pandemie, vermeiden.

Die Anbieter sollen die Kunden im Voraus über Abschaltungen informieren und die Rolle der Regierung und die rechtliche Grundlage für die Einschränkung von Netzwerken und Diensten darlegen.

Menschenrechtsorganisationen können sich der von Access Now koordinierten #KeepItOn-Kampagne anschließen. Sie können sich an Dokumentation, Aufklärung, Engagement der politischen Entscheidungsträger, technischer Unterstützung und rechtlichen Interventionen gegen die Abschaltungen des Internets beteiligen.

„Während einer globalen Pandemie, in der Menschen auf der ganzen Welt isoliert sind und der Zugang zu Informationen über Leben oder Tod entscheiden kann, soll endlich ein Moratorium für die Abschaltung des Internets verhängt werden“, sagte Brown. „Die Regierungen sollen den sofortigen Zugang zu einem möglichst schnellen und offenem Internet für alle sicherstellen.”

Kategorien: Menschenrechte

Bekleidungsmarken lassen Arbeiter in Asien während Pandemie im Stich

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20

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Arbeiterinnen einer Textilfabrik mit Schutzmasken am Ende ihrer Schicht, nahe Phnom Penh, Kambodscha, 20. März 2020.

(c) 2020 AP Photo/Heng Sinith (London) –  Die Geschäftspraktiken von Bekleidungsmarken in der Corona-Krise verschärfen die Not von Millionen Textilarbeiterinnen und -arbeitern in Asien, so Human Rights Watch. Zahlreiche Markenanbieter und Einzelhändler haben Bestellungen storniert, ohne Verantwortung für ihre finanziellen Verpflichtungen zu übernehmen, selbst wenn die Produkte bereits fertiggestellt waren.

Dies verstärkt den Verlust von Arbeitsplätzen durch Kündigungen und vorläufige Entlassungen und widerspricht den Verpflichtungen der Unternehmen im Rahmen der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sowie dem OECD-Leitfaden zu verantwortlichen Lieferketten im Bekleidungs- und Schuhsektor. Viele Hersteller in Asien haben Liquiditätsengpässe und können aufgrund des Verhaltens der Markenanbieter die Löhne ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter sowie andere Kosten nicht bezahlen.

„Dies sind sehr schwierige Zeiten. Doch auch wenn Bekleidungsmarken harte geschäftliche Entscheidungen treffen müssen, um die COVID-19-Krise zu überstehen, sollten sie die Arbeiterinnen und Arbeiter, die ihre Markenprodukte fertigen, nicht im Stich lassen“, so Aruna Kashyap, Senior Counsel in der Frauenrechtsabteilung von Human Rights Watch. „Die Markenhersteller sollten Maßnahmen ergreifen, um den verheerenden wirtschaftlichen Folgen für die Beschäftigten in ihren globalen Lieferketten und ihre Familien Einhalt zu bieten.“

Human Rights Watch befragte elf Hersteller und Branchenexperten, darunter auch Vertreter der Markenanbieter, zu den Folgen der COVID-19-Krise für die Fertigungsbetriebe in Bangladesch, Myanmar, Kambodscha und anderen asiatischen Staaten. Zudem wurden Emails der Markenanbieter an ihre weltweiten Zulieferer ausgewertet und Organisationen zum Schutz von Arbeitnehmerrechten interviewt.

Die COVID-19-Pandemie hat den Absatz der Markenanbieter und Einzelhändler im Bekleidungssektor einbrechen lassen. Viele von ihnen ließen Filialen schließen, um die Ausbreitung des Virus zu begrenzen. Bei ihrem Krisenmanagement nutzen die Anbieter häufig unfaire Praktiken im Einkauf, welche Human Rights Watch bereits im April 2019 in dem Bericht „Paying for a Bus Ticket and Expecting to Fly“ angeprangert hatte.

Im März 2020 erklärten Fertigungsbetriebe aus verschiedenen Ländern gegenüber Human Rights Watch, dass nur die wenigsten Markenanbieter sich im Rahmen ihrer Bestellungen auch an den geschäftlichen Risiken beteiligten. Der ehemalige Leiter einer Textilfabrik in Kambodscha sagte, seiner Erfahrung nach diktierten die Markenanbieter sämtliche Zahlungsbedingungen und ließen keinerlei Verhandlungsspielraum. Große Marken und Einzelhändler bezahlten nicht im Voraus und verfügten nach Lieferung der Ware über ausgedehnte Zahlungsfristen.

Im Gegensatz dazu seien mit den kleinen und mittelständischen Anbietern, mit denen die Fabrik zusammengearbeitet habe, bessere Bedingungen ausgehandelt worden. Diese hätten bis zu 30 Prozent des Bestellpreises zum Zeitpunkt des Einkaufs der Rohmaterialien bezahlt, den Rest innerhalb von sieben bis zehn Tagen nach Lieferung bzw. Fertigstellung.

Vorauszahlungen und verkürzte Zahlungsfristen ermöglichen den Herstellern einen besseren Cashflow, so dass sie Löhne pünktlich zahlen können. Die überwiegende Mehrheit der Markenanbieter und Einzelhändler bietet derartige Zahlungsbedingungen jedoch nicht an. In dem Ende 2018 erschienenen Bericht Better Buying Purchasing Practices Index Report gaben 73 Prozent der befragten Zulieferbetriebe an, die Markenanbieter und Einzelhändler, mit denen sie Geschäfte trieben, böten keine Vorkasse oder günstige Zahlungsbedingungen an.

Während der COVID-19-Krise forderten globale Markenanbieter und Einzelhändler ihre Zulieferer auf, „flexibel“ und „verständnisvoll“ zu sein. Sie stellten folgende Forderungen:

  • Stornierung von Bestellungen für Ware, welche die Arbeiterinnen und Arbeiter bereits hergestellt hatten;
  • Stornierung von Bestellungen für Ware, die sich bereits in der Fertigung befand;
  • Preisnachlässe auf Produkte, die bereits geliefert wurden, rückwirkend bis Januar;
  • keine Übernahme finanzieller Verantwortung oder Festlegung, wann Zahlungen erfolgen, selbst in Fällen, in denen Bestellungen bereits erfolgt oder in Bearbeitung waren.

Am 27. März veröffentlichten das Zentrum für Globale Arbeiterrechte (Center for Global Workers’ Rights) und das Konsortium für Arbeiterrechte (Worker Rights Consortium) eine Studie über die Folgen der COVID-19-Krise in Bangladesch, für die 316  Fertigungsbetriebe befragt wurden. Diese gaben an, dass Markenanbieter und Einzelhändler sich in über 95 Prozent der Fälle weigerten, Kurzarbeitslöhne für beurlaubte Angestellte oder Abfindungen für entlassene Mitarbeiter mitzutragen.

Gemäß der UN-Leitprinzipien und des OECD-Leifadens für den Bekleidungssektor tragen Markenanbieter eine Sorgfaltspflicht im Hinblick auf die Einhaltung der Menschenrechte. Sie sollten Risiken, welche Menschenrechtsprobleme innerhalb ihrer Lieferketten begünstigen oder hervorrufen könnten, erkennen und mindern. Dazu sollten sie tatsächliche und mögliche Auswirkungen auf die Menschenrechte abschätzen, Erkenntnisse in ihr Handeln integrieren, Gegenmaßnahmen nachverfolgen, offenlegen, wie sie gegen Missstände vorgehen, und gemeinsam mit externen Partnern dafür sorgen, dass ihre Maßnahmen zum Schutz der Menschenrecht nachweislich wirksam sind.

Bislang haben die H&M-Gruppe, Inditex (Zara und andere Marken) sowie Target USA Schritte in die richtige Richtung unternommen. Sie und wahrscheinlich auch andere Unternehmen haben sich verpflichtet, bereits fertiggestellte oder in Produktion befindliche Ware abzunehmen und vereinbarungsgemäß zu bezahlen.

Andere Markenanbieter sollten ähnliche Maßnahmen einleiten, um eine faire Behandlung ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter zu gewährleisten, einschließlich der Ausbezahlung von Löhnen und anderen Vergütungen sowie der Minimierung von Stellenstreichungen. Knapp 200 institutionelle Investoren wandten sich in einem Appell an Unternehmen und forderten sie auf, Lieferantenverhältnisse im größtmöglichen Umfang aufrecht zu erhalten und Zulieferer schnell zu bezahlen.

Einige globale Textilmarken haben ihre Lieferketten auf die Produktion von Schutzausrüstung wie Handschuhe und Masken für den medizinischen Gebrauch umgestellt. Die Unternehmen und die relevanten Regierungen sollten die Arbeiterinnen und Arbeiter, die diese lebenswichtigen medizinischen Versorgungsgüter herstellen, unterstützen. Sie sollten angemessene Schutzausrüstung erhalten und entsprechend der Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation für Gesundheit und Sicherheit am Arbeitsplatz geschützt werden.

Die Herstellung von Schutzausrüstung wird jedoch als alternative Beschäftigung nicht ausreichen. In Bangladesch wurden laut Schätzungen bereits eine Million Arbeiterinnen und Arbeiter entlassen oder in unbezahlten Urlaub geschickt. Der Großteil hat keinen Lohn oder andere Zahlungen nach örtlichem Recht erhalten. In Myanmar haben bislang 20.000 Arbeitnehmer ihren Job verloren und ein Branchenexperte schätzt, das binnen einer Woche bis zu 70.000 Textilarbeiterinnen und -arbeiter arbeitslos werden könnten. In Kambodscha rechnet eine Schätzung mit 200.000 Stellenstreichungen im Textilsektor.

Die Regierungen dieser Länder verfügen nicht über die finanziellen Möglichkeiten, um ähnliche Hilfspakete wie die Staaten des globalen Westens auf den Weg zu bringen. Internationale Geber und Finanzinstitutionen sollten sich deshalb auf die Entwicklung und Umsetzung von Plänen konzentrieren, welche die wirtschaftliche und soziale Not der Arbeiter unmittelbar lindern. Zudem sollten sie längerfristige Maßnahmen in Gang bringen, um die soziale Absicherung von Arbeitnehmern zu verbessern.

„Globale Bekleidungsmarken, internationale Geber und Finanzinstitutionen sollten ihre Kräfte mit den Organisationen zum Schutz der Arbeiterrechte bündeln und dafür sorgen, dass einkommensschwache Arbeitnehmer während der COVID-19-Krise Unterstützung erhalten“, so Kashyap. „Doch wir brauchen auch langfristige Maßnahmen: Die Pandemie hat gezeigt, dass es höchste Zeit ist für eine bessere soziale Absicherung der Textilarbeiterinnen und -arbeiter sowie für verpflichtende Regeln gegen die unfairen Geschäftspraktiken der Markenanbieter in ihren Lieferketten.“

Kategorien: Menschenrechte

Coronavirus gefährdet Millionen Beschäftigte in globalen Lieferketten

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20
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Eine Arbeiterin in einer Textilfabrik in Eldorado Park, Johannesburg, stellt Gesichtsmasken her, Dienstag, 24. März 2020

© 2020 AP Photo/Shiraaz Mohamed

Die Arbeit von etwa 450 Millionen Menschen ist abhängig von globalen Lieferketten. Vielen wird jetzt wegen der Corona-Pandemie der Lohn gekürzt oder sie verlieren ihren Job.

Weltweit schlieβen Unternehmen ihre Läden, stornieren Aufträge oder stoppen die Produktion ganz. Die Textilindustrie ist davon besonders betroffen. Doch auch andere Sektoren, wie der Bergbau, die Schmuck- oder die Autoindustrie, müssen sparen. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, die in den Lieferketten dieser Unternehmen arbeiten, leiden am meisten unter der Krise.

COVID-19 hat allen unmissverständlich klar gemacht: Unternehmen sind durch ein globales Netz von Lieferketten miteinander verbunden. Das Verhalten von groβen Firmen hat enorme Auswirkungen auf diejenigen, die am Ende der Lieferketten stehen.

Wie sollen also Unternehmen jetzt handeln, wenn sie ihrer Verantwortung gerecht werden wollen?

Einige Firmen, die jetzt vorübergehend geschlossen haben, zahlen Arbeiter und Arbeiterinnen in den Lieferketten weiter. So haben sich Zulieferfirmen und die Gewerkschaft der Textilarbeiterinnen und -arbeiter in Südafrika darauf geeinigt, dass volle Lohnzahlungen sechs Wochen lang während des Lockdowns weiterlaufen. Im Gegensatz dazu haben Zulieferer in Myanmar, Kambodscha und Bangladesch die Fabriken geschlossen, ohne auch nur die bereits abgeschlossene Arbeit zu entlohnen. Die gobalen Marken, die sich aus diesen Ländern beliefern lassen, sollten ihre Aufträge, die bereits ausgeführt sind oder noch abgeschlossen werden, jetzt auch bezahlen. Einige Unternehmen, wie H&M, haben dies bereits zugesichert. Doch viele andere lassen die Zulieferer einfach in der Luft hängen.

Dort wo Fabriken noch geöffnet sind, muss die Gesundheit der Arbeiterinnen und Arbeiter geschützt werden, indem Schutzkleidung verteilt wird, auf ausreichend Abstand geachtet wird und flexible Arbeitsvereinbarungen getroffen werden. Auch muss es in den globalen Lieferketten möglich sein, schnell bezahlten Urlaub nehmen zu können, wenn man selbst krank wird oder für Angehörige sorgen muss.

Viele Unternehmen stellt die Corona-Krise vor eine enorme Herausforderung. Doch sie dürfen deshalb nicht ihre Arbeiterinnen und Arbeiter in den Lieferketten im Stich lassen. Firmen sollen alles für deren Sicherheit tun und dafür, dass den Arbeiterinnen und Arbeitern weiter ihr Lohn gezahlt wird. Nur so können ihre Familien überleben. Insgesamt ist jetzt eine gute Zeit, um die Lieferketten genauer unter die Lupe zu nehmen. Arbeiterinnen und Arbeiter sollen gemäβ internationaler Standards geschützt sein und dieser Schutz soll  bereits in den Preisen, die Unternehmen ihren Zulieferern bezahlen, berücksichtigt sein.

Kategorien: Menschenrechte

Konzerne in die Verantwortung nehmen: Neue Impulse für Menschenrechtsverpflichtungen von Unternehmen

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20

Im Neuen Jahr sollten Sie besonders auf eine wichtige Entwicklung achten: In immer mehr Ländern könnte es nationale Gesetze geben, die die Verantwortung von Unternehmen gegenüber Arbeitern, Gemeinden und der Umwelt einfordern.

Millionen Erwachsene und Kinder auf der ganzen Welt werden als Arbeiter Opfer von Menschenrechtsverletzungen. Sie beschaffen die Rohstoffe, schuften auf den Bauernhöfen und stellen Produkte für den globalen Markt her. Sie sind das letzte Glied in der globalen Lieferketten für sämtliche Produkte, angefangen bei alltäglichen Gütern wie Gemüse und Meeresfrüchten bis hin zu Luxusartikeln wie Schmuck und Designerkleidung, die weltweit in den Verkaufsregalen landen.

„Ruth“, 13 Jahre alt, ist eine von ihnen. Wir trafen sie während unserer Recherchen auf den Philippinen bei der Goldverarbeitung in der Nähe einer Mine. Dort mischte sie mit bloßen Händen giftiges Quecksilber in zermahlenes Golderz. Sie erzählte uns, dass sie seit ihrem 9. Lebensjahr arbeitet. Die Schule hatte sie vorher abgebrochen. Häufig bekommt sie kein Geld von dem Mann, der ihr die Säcke mit Golderz zur Verarbeitung gibt.  

Es ist ein gefährliches Leben auf der untersten Stufe dieser globalen Leiter. Im Jahr 2013 starben über 1.100 Arbeiterinnen und Arbeiter und 2.000 wurden verletzt, als das Rana Plaza Fabrikgebäude in Dhaka, Bangladesch zusammenbrach. In dem Gebäude waren fünf Textilfabriken untergebracht. Seitdem gab es einige Fortschritte bei der Sicherheit in den Fabriken in Bangladesch, nachhaltige Reformen gab es jedoch weder dort noch in anderen Ländern. Um mit den Erwartungen der Verbraucher Schritt zu halten, müssen Frauen weiterhin eine ganze Reihe von Arbeiterrechtsverletzungen in Bangladesch und anderen Ländern ertragen. Im Januar 2019 brach der Tailings-Staudamm von Brumadinho in Brasilien. Mindestens 250 Menschen – die meisten davon Arbeiter – kamen hierbei ums Leben und eine Welle von Giftschlamm wurde losgetreten. Der Damm hatte Abfälle aus einem Bergwerk gesammelt, in dem Eisenerz gefördert wird. Dieses wird weltweit im Bauwesen, im Maschinenbau, in der Automobilindustrie und in anderen Industriezweigen verwendet.

Multinationale Unternehmen, einige der reichsten und mächtigsten Akteure der Welt - 69 der 100 reichsten Akteure der Welt sind Unternehmen und keine Länder - haben sich häufig ihrer Verantwortung entzogen, wenn Arbeiter, umliegende Gemeinden oder die Umwelt durch sie zu Schaden gekommen sind. Regierungen wiederum, die in Verbindung mit mächtigen Unternehmen stehen, haben oftmals die Aktivitäten von Unternehmen nicht angemessen reguliert. Oder sie haben bestehende Schutzmaßnahmen für Arbeiter, Verbraucher und die Umwelt nicht durchgesetzt oder sogar abgeschafft.

Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sind freiwillige Richtlinien für die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht von Unternehmen. Diese Richtlinien sind jedoch nicht rechtlich durchsetzbar. Von der Industrie vorangetriebene freiwillige Standards und Zertifizierungssysteme, die in den letzten Jahren zugenommen haben, können nützlich sein, reichen aber nicht aus: Viele Unternehmen werden nur dann handeln, wenn sie gesetzlich dazu verpflichtet sind. Diese Standards decken zudem wichtige Menschenrechts- und Umweltfragen in den Lieferketten der Unternehmen nicht ab, und die Systeme zur Überwachung der Einhaltung der Standards können nicht alle Probleme identifizieren und beheben. Sowohl das Rana Plaza Fabrikgebäude als auch der Staudamm von Brumadinho waren nur wenige Monate vor der jeweiligen Katastrophe von Wirtschaftsprüfern im Auftrag der Unternehmen inspiziert worden.

Die Ära, in der freiwillige Initiativen die einzige Möglichkeit waren, Unternehmen zur Achtung der Menschenrechte zu bewegen, weicht nun langsam der Erkenntnis, dass neue, rechtlich durchsetzbare Gesetze notwendig sind. Obwohl die Debatten je nach Land unterschiedlich geführt werden, ist die allgemeine Tendenz vielversprechend für die Arbeiter und Gemeinden, die Teil der Lieferketten multinationaler Unternehmen sind. Die Gesetzgeber erkennen zunehmend an, dass Unternehmen die Menschenrechte - einschließlich der Freiheit von unsicheren Arbeitsbedingungen, Zwangsarbeit und Lohndiebstahl - respektieren müssen, und schaffen entsprechende Gesetze, die sie dazu verpflichten.

In den letzten Jahren haben Frankreich, die Niederlande, Australien und Großbritannien Gesetze gegen Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen verabschiedet. Einige der bestehenden Gesetze sind jedoch zahnlose Tiger. Australien und Großbritannien beispielsweise verlangen von den Unternehmen lediglich, ihre Lieferketten transparent zu gestalten und alle Maßnahmen zu melden, die sie zur Bekämpfung von Problemen wie Zwangs- oder Kinderarbeit ergreifen. Die Unternehmen sind jedoch nicht dazu verpflichtet, diesen Problemen vorzubeugen oder sie zu beheben. Darüber hinaus sind keine Strafen für Unternehmen vorgesehen, die sich nicht an das Gesetz halten.

Das französische Gesetz von 2017 ist die derzeit umfassendste und strengste Regelung. Sie verpflichtet Unternehmen dazu, die negativen Auswirkungen ihrer Lieferketten sowohl auf die Menschenrechte als auch auf die Umwelt zu identifizieren und zu vermeiden. Das Gesetz gilt auch für die Unternehmen, die von der Regierung kontrolliert werden und mit denen die Regierung zusammenarbeitet. Unternehmen in Frankreich haben 2018 die ersten „Sorgfaltspläne“ nach diesem Gesetz veröffentlicht. Die Nichteinhaltung kann rechtliche Schritte nach sich ziehen. Die erste Klage nach dem Gesetz zur Sorgfaltspflicht wurde im Oktober 2019 eingereicht. Gesetze wie das in Frankreich, das Handlungsaufforderungen an Unternehmen beinhaltet ebenso wie Konsequenzen, wenn diesen Aufforderungen nicht nachgekommen wird, und die Möglichkeit für Arbeitnehmer, Unternehmen zur Rechenschaft zu ziehen, öffnen die Tür für einen stärkeren Schutz von Arbeitern auf der ganzen Welt.

Das Jahr 2020 verspricht weitere Fortschritte für mehr Menschen. Die Parlamente in Deutschland, der Schweiz, Dänemark, Kanada, Norwegen, Finnland und Österreich erwägen Gesetze, die den Umgang von Unternehmen mit den Menschenrechten bei ihren weltweiten Aktivitäten verändern würden. Sie gehen über reine Transparenz und Berichterstattung hinaus und verlangen, dass Menschenrechtsrisiken in den Lieferketten von Unternehmen identifiziert und Maßnahmen zu ihrer Vermeidung ergriffen werden.

In einer damit verbundenen Entwicklung prüft die Internationale Arbeitsorganisation, ob ein neues, verbindliches globales Übereinkommen über „menschenwürdige Arbeit in globalen Lieferketten“ erforderlich ist. Um diese Frage zu klären, wird die Organisation im Jahr 2020 ein Treffen mit Regierungs-, Gewerkschafts- und Arbeitgebervertretern abhalten.

Durch eine strengere Regulierung von Lieferketten werden die Staaten eine neue internationale Erwartungshaltung für ein verantwortungsbewusstes Verhalten der Unternehmen schaffen. Zudem werden dadurch die Menschenrechte von Millionen von Arbeitern, wie für Ruth, besser geschützt, die in den Minen, Fabriken und auf den Feldern ums Überleben kämpfen.

Kategorien: Menschenrechte

Komala Ramachandra

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20

Komala Ramachandra is a Senior Researcher in the Business and Human Rights Division of Human Rights Watch. Her current research focuses on inequality and predatory corporate practices that affect the poor. Before joining Human Rights Watch, Komala was a staff attorney and later the South Asia Director at Accountability Counsel, where she supported communities to defend their human rights and natural resources. She worked on cases in Peru, Mexico, India, and Nepal, holding international companies and banks accountable for harm they had caused. She has been engaged in policy advocacy around the world, seeking to ensure that national laws and institutional policies support transparency, accountability, and access to remedy. Prior to this, Komala lived and worked with mining affected communities in Oaxaca, Mexico, and with agricultural workers in Telangana, India. She has a BA in economics and political science from Northwestern University and a JD from Harvard Law School. 

Kategorien: Menschenrechte

Größere Transparenz in der Bekleidungsbranche

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20

Dezember 18, 2019 Video Surge in Garment Industry Transparency

Laws Needed to Ensure Companies Adopt Human Rights Practices

(New York) – Textilunternehmen, Schuhhersteller und deren Händler haben in den vergangenen drei Jahren große Schritte hin zur Offenlegung von Informationen über ihre Lieferketten ergriffen, so ein heute veröffentlichter Bericht eines Bündnisses von Gewerkschaften, Menschenrechtsgruppen und Arbeitsrechtsinitiativen. Mit seinem „Transparency Pledge“ hatte das Bündnis Mindeststandards für die Transparenz in Lieferketten definiert. Dadurch soll es Initiativen für den Schutz von Menschen- und Arbeitsrechten, Beschäftigten und Konsumenten möglich sein, herauszufinden, wo die Produkte einer Marke hergestellt werden.

Dem 15-seitigen Bericht „Fashion’s Next Trend: Accelerating Supply Chain Transparency in the Garment and Footwear Industry“ zufolge sind zahlreiche Marken und Einzelhändler dazu übergegangen, Informationen über ihre Zulieferbetriebe öffentlich zu machen. Das zeugt von einer gestiegenen Akzeptanz dieser Maßnahme, die es erleichtern soll, widrige Arbeitsrechtspraktiken in den Lieferketten der Bekleidungsindustrie zu erkennen und dagegen vorzugehen.

„Transparenz ist kein Allheilmittel gegen die Verletzung von Arbeitsrechten. Doch es ist ein essenzieller Schritt für Unternehmen, die ihren Geschäftsbetrieb als ethisch und nachhaltig begreifen“, so Aruna Kashyap, leitende Mitarbeiterin in der Frauenrechtsabteilung bei Human Rights Watch. „Alle Marken sollten für Transparenz in ihren Lieferketten sorgen. Letzten Endes bedarf es jedoch entsprechender Gesetze, die die Einhaltung von Transparenz verpflichtend machen und sicherstellen, dass die Menschenreche geachtet werden.“

Bislang haben 39 Unternehmen ihre Praktiken am „Transparency Pledge“-Standard ausgerichtet oder sich verpflichtet, dies zu tun. 22 von ihnen gehören zu jenen 72 Unternehmen, die das Bündnis im Jahr 2016 ansprach. Von den 74 Unternehmen, die das Bündnis insgesamt kontaktierte, haben 31 die Standards nicht eingehalten, weitere 21 weigerten sich, solche Informationen zu veröffentlichen

Dezember 18, 2019 Report Fashion’s Next Trend

Accelerating Supply Chain Transparency in the Apparel and Footwear Industry

Transparenz bei Auswahl und Praktiken der Zulieferer stellt ein mächtiges Werkzeug dar, um die Rechenschaftspflicht von Unternehmen im Bereich der Arbeitsrechte in der Bekleidungsindustrie zu erhöhen. Sie belegt, dass Unternehmen wissen, woher ihre Produkte stammen, und ermöglicht es Initiativen für den Schutz von Menschen- und Arbeitsrechten, das Unternehmen zu verständigen, sollte es in Zulieferbetrieben zu Missbrauch kommen. Mithilfe von Informationen zu den Zulieferbetrieben einer Marke können die Beschäftigten im Fall von Menschenrechtsverletzungen besser gegen beteiligte Unternehmen vorgehen.

Dem Bündnis zufolge sind die Maßnahmen der Industrie, die auf Freiwilligkeit beruhen, bislang unzureichend. Effektiver wäre daher die Verabschiedung von Gesetzen in den einzelnen Ländern, mit denen Unternehmen verpflichtet wären, die Menschenrechtssituation in ihren Lieferketten sorgfältig zu prüfen und wenigstens zu veröffentlichen, in welchen Fabriken sie produzieren.

Seit Mitte 2018 ist das Bündnis auch mit sieben Initiativen für verantwortungsvollen Geschäftsbetrieb (Responsible Business Initiatives, RBIs) im Gespräch – Zusammenschlüsse von Unternehmen und anderen Organisationen, die ethische Geschäftspraktiken ihrer Mitglieder und Transparenz in den Lieferketten fördern wollen.

Take Action: #GoTransparent

Tell clothing brands to support workers by signing the Transparency Pledge

Take Action! Die an RBIs beteiligten Unternehmen weisen der Koalition zufolge jedoch ein gänzlich unterschiedliches Maß an Transparenz auf. Indem sie nicht konsequent all ihre Mitglieder zur Offenlegung ihrer Zulieferbetriebe verpflichten, zementieren diese Initiativen den Status Quo in der Branche. Das Bündnis rief die RBIs daher dazu auf, eine Führungsrolle zu übernehmen, indem sie es im Einklang mit dem „Transparency Pledge“-Standard zur Bedingung einer Mitgliedschaft machen, spätestens ab Januar 2020 Informationen zu ihren Lieferketten zu veröffentlichen.

„Initiativen für einen verantwortungsvollen Geschäftsbetrieb sollten sich nicht länger hinter den Ausflüchten von Unternehmen verstecken, die ihre Lieferketten nicht transparent machen wollen“, sagte Christie Miedema, Kampagnenkoordinatorin der Kampagne für Saubere Kleidung. „Stattdessen sollten sie dem Beispiel der Vorreiter unter ihren Mitgliedern folgen und Transparenz zur Bedingung für eine Mitgliedschaft machen und damit Beschäftigten und Aktivisten Zugang zu jenen Informationen geben, durch die sie wirkungsvoll gegen die Verletzung von Arbeitsrechten vorgehen können.“

Die in den USA ansässige RBI Fair Labor Association hat bedeutende Maßnahmen hin zur Transparenz in den Lieferketten ihrer Mitglieder ergriffen. Im November gab sie bekannt, dass alle betroffenen Marken und Einzelhändler als Vorbedingung für eine Mitgliedschaft im Einklang mit den „Transparency Pledge“-Standard bis zum 31. März 2022 Informationen zu ihren Lieferketten veröffentlichen und diese Daten in zugänglichen offenen Datenformaten bereitstellen müssen. Die Fair Labor Association schätzt, dass von diese neuen Bestimmung mehr als 50 Marken und Einzelhändler betroffen sein werden, die bei Nichtbefolgung ab April 2022 auch einer gesonderten Prüfung durch den Vorstand unterliegen können.

Die niederländische Initiative Agreement on Sustainable Garments and Textiles (AGT) hat ihre Mitglieder zwar nicht zur Transparenz in ihren Lieferketten verpflichtet, verlangt von diesen jedoch, dass sie das AGT-Sekretariat über ihre Zulieferbetriebe informieren. Diese Daten werden dann in zusammengefasster Form über die Open Apparel Registry (OAR) der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Die OAR ist eine leicht zugängliche und durchsuchbare Datenbank zu Produktionsstätten und ihren Verbindungen zu Marken und RBIs.

Die britische Ethical Trading Initiative und die niederländische Fair Wear Foundation haben einzelne Schritte für eine Verbesserung der Transparenz in den Lieferketten ihrer Mitglieder ergriffen. Die Sustainable Apparel Coalition, amfori sowie das deutsche Bündnis für nachhaltige Textilien hingegen haben keinerlei Schritte dabei unternommen, Transparenz in den Lieferketten zur Vorbedingung für eine Mitgliedschaft zu machen.

„Regierungen spielen eine wichtige Rolle bei der Verabschiedung von Gesetzen, die Unternehmen dazu verpflichten, ihrer Sorgfaltspflicht beim Thema Menschenrechte in ihren Lieferketten nachzukommen und transparent darzustellen, wo ihre Produkte hergestellt werden“, so Bob Jeffcott, politischer Analyst beim Maquila Solidarity Network. „Eine solche Gesetzgebung ist von zentraler Bedeutung dafür, einheitliche Wettbewerbsbedingungen unter Unternehmen zu gewährleisten und die Rechte der Menschen zu schützen, die in ihren Lieferketten beschäftigt sind.“
 

Informationen über die 74 Unternehmen, an die sich die Koalition seit 2016 gewandt hat, und andere Unternehmen, die entweder Informationen veröffentlicht oder neue Verpflichtungen eingegangen sind, finden Sie unter Annex II.

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Gelegenheit jetzt nutzen

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20
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Arbeiterinnen in der Snowtex-Textilfabrik in Dhamrai, bei Dhaka, Bangladesh, 19. April 2018 © 2019 AP Photo/A.M. Ahad.

© 2019 AP Photo/A.M. Ahad

Menschenrechtsverletzungen in der Lieferkette können nur dann wirksam gestoppt werden, wenn die genaue Herkunft der Produkte bekannt ist. Eine Koalition von 64 NGOs und Gewerkschaften in Deutschland – darunter Human Rights Watch – hat heute eine Kampagne für ein Lieferkettengesetz gestartet. Die Bundesregierung soll bis 2020 einen Gesetzentwurf vorlegen, durch den deutsche Unternehmen zu Schutzmechanismen gegen Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten verpflichtet werden.

Am 11. September 2012 brach in der Textilfabrik von Ali Enterprises in Pakistan ein Feuer aus, bei dem 255 Arbeiterinnen und Arbeiter getötet sowie 57 verletzt wurden. In der Fabrik wurde Kleidung für KiK, einem bekannten deutschen Textildiscounter, produziert. Arbeitsrechtsorganisationen haben KiK dazu gebracht, Entschädigung für die Opfer der Brandkatastrophe zu zahlen. Doch die einzelnen Glieder seiner Lieferkette hat das Unternehmen immer noch nicht offengelegt. Ähnliche Tragödien in der globalen Lieferkette anderer deutscher Firmen, die zu Menschenrechtsverletzungen oder Umweltkatastrophen geführt haben, kommen immer wieder an die Öffentlichkeit.

Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um ein wirksames Gesetz einzufordern. Die Regierungskoalition hat sich bereits in ihrem Koalitionsvertrag dazu bekannt, ein Lieferkettengesetz in Betracht zu ziehen. Die nächsten Bundestagswahlen finden im September 2021 statt. Das bedeutet, dass ein entsprechender Entwurf möglichst bald vorgelegt werden muss. Durch die Kampagne sollen Abgeordnete für ein Gesetz gewonnen sowie die Öffentlichkeit mobilisiert werden, eine Petition an Angela Merkel zu unterzeichnen.

Kampagne für ein Lieferkettengesetz Lesen Sie hier mehr

Dies wird nicht einfach sein. CDU und SPD haben schon mit sich gerungen, als es darum ging, sich auf den Nationalen Aktionsplan zu einigen, um Menschenrechte in der Lieferkette von Unternehmen besser zu schützen und einen entsprechen Mechanismus zur Überprüfung zu implementieren. Ein Gesetz ist jetzt ganz wichtig, um deutsche Unternehmen zu verpflichten, die Lieferketten einer der größten Exportnation der Welt zu schützen.

Ein deutsches Gesetz hätte auch Signalwirkung für die Europäische Union. In der zweiten Hälfte des Jahres 2020 übernimmt Deutschland die EU-Präsidentschaft. Dann ist die Bundesregierung in einer ausgezeichneten Lage, auch in Europa den Weg dafür zu ebnen, dass die Sorgfaltspflicht verbindlich wird. Dadurch würden Unternehmen in vielen weiteren Ländern dazu verpflichtet, die Menschenrechte täglich in ihren Geschäftspraktiken zu achten.

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Deutschland: Bundeswirtschaftsministerium versucht, Unternehmensmonitoring zu schwächen

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20
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Bangladeshis work at Snowtex garment factory in Dhamrai, near Dhaka, Bangladesh, April 19, 2018. 

© 2019 AP Photo/A.M. Ahad

(Berlin) - Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie versucht, Maßnahmen zu schwächen, mittels derer geprüft werden soll, wie gut Unternehmen im Land potentielle Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten ermitteln und auf diese reagieren, so Human Rights Watch heute. Die Regierungskoalition sollte bei einem heute stattfindenden Staatsministertreffen standhaft bleiben und ein Monitoringsystem einführen, das deutsche Unternehmen zur Einhaltung hoher Standards bei der verantwortungsvollen Materialbeschaffung anhält. Die Unternehmen sollten sicherstellen, dass es - gemäß international anerkannter Normen - in keinem Schritt ihrer Lieferketten zu Menschenrechtsverletzungen kommt.

„Der Vorschlag des Wirtschaftsministeriums macht es den Firmen viel zu einfach, sich als Unternehmen einzustufen, die internationale Menschenrechtsstandards erfüllt, auch wenn dies nicht der Fall ist“, sagte Juliane Kippenberg, stellvertretende Leiterin der Abteilung Kinderrechte bei Human Rights Watch. „Es besteht die Gefahr, dass das Monitoringsystem als politisches Instrument missbraucht wird, um strengere staatliche Maßnahmen gegen Unternehmen zu vermeiden, allen voran die Verabschiedung eines dringend benötigten Gesetzes zu Lieferketten.“ Eine Lieferkette besteht aus allen Schritten, die für die Herstellung eines Produkts erforderlich sind, von der Beschaffung der Rohstoffe bis hin zu deren Transport, Verarbeitung und Verkauf.

Die Parteien der Großen Koalition haben sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, dass die Regierung gesetzlich tätig werden wird, wenn die freiwilligen Maßnahmen großer Firmen zum Schutz von Menschenrechten in ihren Lieferketten bis 2020 nicht ausreichen. Unternehmen müssten demnach die Auswirkungen ihrer Aktivitäten auf die Menschenrechte ermitteln, mindern und öffentlich kommunizieren. Ob die Regierung einen Gesetzesvorschlag zu Lieferketten erarbeitet und einbringt, hängt daher zu einem großen Teil davon ab, wie gründlich das Monitoring der Unternehmen ausfällt. Das vorgeschlagene Monitoringsystem ist jedoch bereits durch Meinungsverschiedenheiten zwischen Ministerien gefährdet. Ein Fragebogen zur Selbstauskunft zum Thema sollte an Unternehmen verschickt werden, die ihren Sitz in Deutschland haben und mehr als 500 Menschen beschäftigen. Diese hätten dann zwischen Mai und Juli ihre Antworten einreichen sollen. Dieser Prozess ist jedoch ins Stocken geraten, und die Fragebögen sind noch nicht an die Firmen gegangen, da das Bundeswirtschaftsministerium mit der Umfragemethodik nicht einverstanden ist.

Das Ministerium schlägt ein Monitoringsystem vor, das es der Regierung ermöglichen würde, mehr Unternehmen als solche zu kategorisieren, welche die staatlichen Standards für menschenrechtliche Sorgfaltspflicht erfüllen. Gemäß dem Vorschlag soll es neben den beiden Kategorien „erfüllt“ und „nicht erfüllt“ auch die Kategorien „Unternehmen mit Umsetzungsplanung“ und „teilweise erfüllt“ („Unternehmen auf einem guten Wege“) geben.

Der Nationale Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte von 2016 sieht ein „robustes“ Monitoringverfahren zur Beurteilung der Umsetzung durch Unternehmen vor, hinter dem der aktuelle Vorschlag des Wirtschaftsministeriums weit zurückbleibt.

Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gehen mehr als 450 Millionen Menschen Tätigkeiten nach, die mit einer Lieferkette zusammenhängen. Human Rights Watch hat Arbeitsrechtsverletzungen wie Kinderarbeit, Zwangsarbeit, gefährliche Arbeitsbedingungen, Angriffe auf Gewerkschafter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen in globalen Lieferketten dokumentiert.

So riskieren beispielsweise Kinderarbeiter und Erwachsene in Ghana, auf den Philippinen und in vielen anderen Ländern ihre Gesundheit und ihr Leben, wenn sie Gold in einsturzgefährdeten Gruben abbauen und Erz mit giftigem Quecksilber verarbeiten. Human Rights Watch hat zudem Verletzungen von Arbeiterrechten in den globalen Lieferketten von Bekleidungsunternehmen dokumentiert, darunter exzessive oder erzwungene Überstundenarbeit, Verweigerung von Pausen, Diskriminierung von Schwangeren und Angriffe auf Gewerkschafter.

Zwar hat sich eine Reihe deutscher Bekleidungsunternehmen dem Bündnis für nachhaltige Textilien angeschlossen, viele dieser Unternehmen kommen jedoch noch immer nicht ihren grundlegenden menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten nach, wie beispielsweise der Pflicht zur Transparenz in ihren Lieferketten. Außerdem sollten Bekleidungsunternehmen ihre Einkaufspraktiken ändern und Beschwerdemechanismen zu Missständen in den globalen Zulieferfabriken einführen, um die Verletzungen von Arbeiterrechten in globalen Lieferketten zu mindern. Human Rights Watch hat zudem dokumentiert, dass deutsche Unternehmen wie der Juwelier Christ und die Bekleidungsmarke KiK keine ausreichenden Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte in ihren Lieferketten haben.

„Die Verzögerungstaktik des Wirtschaftsministeriums und die Vorschläge zur Umetikettierung von Firmen sind unwürdig“, sagte Kippenberg. „Die Regierung sollte zeigen, dass die Achtung der internationalen Menschenrechtsnormen im In- und Ausland und die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands einander nicht ausschließen, sondern dass die Unterstützung ethischer Geschäftspraktiken das Wirtschaftswachstum sogar fördern kann.“

Kategorien: Menschenrechte

Anti-Boykott-Maßnahmen sind falsches Mittel gegen Antisemitismus

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20
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Vor dem Büro des Gouverneurs des Bundestaats New York Andrew Cuomo finden Demonstrationen gegen ein Gesetz statt, das dem Bundestaat Investionen in Firmen verbietet, die den Boykott Israels unterstützen, New York City, 9. Juni 2016.

© 2016 Mark Apollo/Pacific Press/LightRocket via Getty Images

Der Antisemitismus wird zu einer immer größeren Gefahr in Europa. Inmitten eines alarmierenden Anstiegs der Zahl gewalttätiger Angriffe auf Juden in Frankreich, darunter auch mehrere Morde, haben etliche Juden beschlossen, Frankreich in Richtung Israel zu verlassen. Jüdische Teenager in Deutschland, die genug von den Angriffen und Beschimpfungen haben, folgen diesem Beispiel. Ähnliche Entwicklungen sehen wir in Großbritannien, wo jeder dritte Jude sagt, er denke wegen des wachsenden Antisemitismus darüber nach auszuwandern.

Vielen Europäern mag der Judenhass der 30er und 40er Jahre eine Ewigkeit her erscheinen. Für Juden, vor allem in Deutschland, sind das Trauma und die kollektive Erinnerung jedoch nicht verblasst. 

Regierungen wie auch in Deutschland sorgen sich zu Recht über den wie ein Krebsgeschwür wuchernden Antisemitismus. Aber der gemeinsame Antrag im Bundestag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis90/Die Grünen, der vor kurzem im Bundestag verabschiedet wurde und Boykotte Israels als antisemitisch darstellt, ist der falsche Weg, um Antisemitismus zu bekämpfen. Die Bundesregierung sollte ihn deshalb zurückweisen. 

Es besteht kein Zweifel daran, dass es  Antisemiten gibt, die Begriffe „Israel“ oder „Zionist“ mittlerweile mit dem Begriff „Juden“ gleichsetzen. Das sollte offen angesprochen werden. Aber es ist genauso wahr, dass legitime Kritik an israelischen Staatshandlungen manchmal falsch als antisemitisch gedeutet wird. 

Anti-Boykott-Maßnahmen, von den USA bis Israel, haben sich oft gegen Menschen gerichtet, die besorgt sind angesichts der Menschenrechtsverletzungen in illegalen Siedlungen im von Israel besetzten Westjordanland. 27 US-Bundesstaaten haben Gesetze oder Verordnungen verabschiedet, die Unternehmen, Organisationen oder Einzelpersonen bestrafen, wenn sie sich an Boykotten Israels beteiligen oder zu solchen aufrufen. Recherchen von Human Rights Watch haben ergeben, dass viele US-Bundesstaaten diese Gesetze anwenden, um Unternehmen zu bestrafen, die keine Geschäfte mit illegalen Siedlungen im Westjordanland machen wollen.

New York zum Beispiel hat eine Liste von elf Unternehmen veröffentlicht, in die der Bundesstaat gemäß einer Anordnung von Gouverneur Andrew Cuomo aus dem Jahr 2016 nicht investieren darf. Die Liste enthält auch Unternehmen, die lediglich die

Geschäftsbeziehungen zu den Siedlungen abgebrochen haben. So stellte etwa die britische Co-operative Group, die Lebensmittel verkauft, die Geschäfte mit Lieferanten ein, die bekanntermaßen Produkte aus Siedlungen beziehen. Gleichzeitig wurde jedoch bekannt gegeben, man sei weiterhin entschlossen, Produkte von israelischen Lieferanten abzunehmen und mit diesen zu handeln, wenn diese keine Waren aus den Siedlungen beziehen. Ein anderes Unternehmen, die luxemburgische Supermarktkette Cactus, setzte den Handel israelischer Produkte aus, bis die entsprechenden Lieferanten den Nachweis erbrachten, dass ihre Waren nicht aus den Siedlungen stammen. Gleichzeitig würden jedoch weiterhin andere

israelische Importe angeboten, so eine Mitteilung einer Aktivistengruppe nach Verhandlungen mit dem Unternehmen.

Human Rights Watch lehnt jegliche Form von Antisemitismus ab, ist nicht Teil der BDS-Bewegung und ergreift keine Partei bezüglich des Boykotts Israels. Unsere jahrelangen Recherchen haben jedoch gezeigt, dass es nicht möglich ist, in den Siedlungen Geschäfte zu machen, ohne zu Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen humanitäres Völkerrecht beizutragen oder von solchen zu profitieren. Unternehmen können ihren Verpflichtungen aus den UN-Leitsätzen für Wirtschaft und Menschenrechte nur nachkommen, wenn sie ihre Tätigkeit in den Siedlungen einstellen. Anti-Boykott-Gesetze bestrafen Unternehmen, die solche Maßnahmen im Einklang mit ihrer internationalen rechtlichen Verantwortung und der Position Deutschlands und der Europäischen Union zu den Siedlungen ergreifen. 

Die israelische Regierung hat ihre eigene Anti-Boykott-Gesetzgebung. Vor einem Jahr nutzten die Behörden eine Änderung des Einreisegesetzes aus dem Jahr 2017, durch die die Einreise für diejenigen verboten wurde, die Boykotte gegen Israel fordern, um das Arbeitsvisum meines Kollegen von Human Rights Watch, Omar Shakir, zu widerrufen. Als wir den Abschiebungsbeschluss vor Gericht anfochten, verwies die Regierung auf seine Arbeit für unsere Recherchen über Unternehmensaktivitäten, wie etwa von Airbnb, in den Siedlungen. Zudem wies die israelische Regierung auf unsere Empfehlungen hin, wonach diese Unternehmen derartige Aktivitäten einstellen sollten, da dadurch die Rechte der Palästinenser verletzt würden. Im vergangenen Monat bestätigte ein israelisches Gericht den Abschiebungsbefehl und behauptete, dass unsere Recherchen zu Geschäften in den Siedlungen einen Aufruf zum Boykott Israels darstellen. Wir haben beim Obersten Gerichtshof Israels Berufung eingelegt.

Gemäß internationalen Menschenrechtsstandards hat jeder Mensch das Recht, seine Ansichten mit gewaltfreien Mitteln zum Ausdruck zu bringen, so abscheulich man diese auch finden mag. Zu diesen Mitteln gehört auch die Teilnahme an Boykotten. Die Behörden dürfen zwar die öffentliche Rede einschränken, jedoch nur unter sehr eng gefassten und strengen Bedingungen. 

David Kaye, der UN-Sonderberichterstatter für Meinungs- und Ausdrucksfreiheit, hat erklärt, dass „Boykott.... seit langem als legitime Form der Meinungsäußerung verstanden wird, die durch Artikel 19 Absatz 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) geschützt ist“. In einer Prüfung der Anti-Boykott-Gesetze in den USA kam Kaye zu dem Schluss, dass diese Gesetzgebung „eindeutig auf die Bekämpfung der politischen Meinungsäußerung abzielt“. Zudem erfüllten „wirtschaftliche Sanktionen, die darauf abzielen, einen bestimmten politischen Standpunkt zu unterdrücken“, nicht die Bedingungen des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, die für zulässige Einschränkungen der freien Meinungsäußerung gelten. 

In Deutschland ruft der Begriff „Boykott“ Erinnerungen an den Boykott jüdischer Geschäfte in den 30er Jahren hervor. Dieses dunkelste Kapitel deutscher Geschichte mit dem Boykott Israels wegen dessen Menschenrechtsverletzungen gleichzusetzen, würde jedoch bedeuten, unsere Geschichte zu banalisieren. Aktivisten weltweit nutzen Boykotte, um Menschenrechtsverletzungen anzufechten und politischen Wandel voranzutreiben. Boykotte spielten eine Schlüsselrolle im Kampf der USA für die Rechte afroamerikanischer Bürger, ebenso wie in internationalen Kampagnen gegen die Apartheid in Südafrika und Gräueltaten in Darfur.

Anstatt die Anti-Boykott-Maßnahmen voranzutreiben, welche die freie Meinungsäußerung einschränken und auf diejenigen abzielen sollen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, sollten deutsche Behörden den wieder auflebenden Antisemitismus bekämpfen, indem sie Bedrohungen und Gewalt gegen Juden und andere Minderheiten untersuchen und bestrafen, intolerante Reden von Politikern der extremen Rechten verurteilen und die Menschen über die Gefahren von ungezügeltem Hass aufklären. Die Beamten könnten zum Beispiel auch damit beginnen, die antisemitischen Mobbingfälle an unseren Schulen anzugehen. Solche Maßnahmen wären sehr viel erfolgversprechender als die Einschränkung der freien Rede, die letztendlich nichts zur Bekämpfung des Hasses beitragen wird. 

Kategorien: Menschenrechte

Geschäftspraktiken von Modemarken befeuern Menschenrechtsverletzungen

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20

(London) – Bekleidungs- und Schuhmarken sollen Geschäftspraktiken beenden, die in Fabriken Verstöße gegen das Arbeitsrecht fördern, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 66-seitige Bericht „‘Paying for a Bus Ticket and Expecting to Fly’: How Apparel Brand Purchasing Practices Drive Labor Abuses“ dokumentiert, mit welchen Praktiken Modemarken ihre Fabriken zu Kosteneinsparungen drängen, die sich auf die Arbeitnehmer negativ auswirken. Viele weltbekannte Marken schmücken sich damit, dass sie bei ihren Lieferanten für gute Arbeitsbedingungen sorgen wollen. Allerdings unterminieren sie diese Bemühungen, indem sie massiven Druck auf ihre Zulieferer ausüben, die Preise zu senken oder schneller zu produzieren. Viele Lieferanten reagieren auf diesem Druck, indem sie Maßnahmen zur Kosteneinsparung ergreifen, unter denen die Arbeitnehmer leiden. Ein Fabrikbesitzer fasst das Problem zusammen: „Die Marken bezahlen für ein Busticket und wollen aber damit fliegen“.

„Wenn Modemarken von ihren Zulieferern fordern, auf dem Rücken der Arbeiter Kosten zu sparen, dann sind sie immer nur einen Schritt von der nächsten Menschenrechtskatastrophe entfernt“, so Aruna Kashyap, Expertin für Frauenrechte bei Human Rights Watch. „Markenunternehmen müssen ihre Geschäftspraktiken überwachen und anpassen, damit sie in den Fabriken nicht genau die Verstöße verursachen, die sie angeblich vermeiden wollen.”

April 23, 2019 Report “Paying for a Bus Ticket and Expecting to Fly”

How Apparel Brand Purchasing Practices Drive Labor Abuses

Human Rights Watch befragte Arbeiterinnen und Arbeiter in Bangladesch, Kambodscha, Indien, Myanmar und Pakistan sowie Stofflieferanten aus Süd- und Südostasien. Zudem wurden Experten mit mindestens zehnjähriger Erfahrung in der Auswahl von und Bestellung bei Lieferfabriken und andere Branchenexperten interviewt.

Am 24. April jährt sich die Rana Plaza-Tragödie in Bangladesch zum sechsten Mal. Im Jahr 2013 stürzte ein sechsgeschossiges Gebäude in einem Außenbezirk von Dhaka ein. Dabei starben 1.138 Arbeiter, mehr als 2.000 wurden verletzt. Die Katastrophe erinnert eindrücklich an die Gefahren, gegen welche Modemarken vorgehen müssen.

Modeunternehmen lassen ihre Waren in der Regel in zahlreichen Fabriken in mehreren Ländern produzieren. Entsprechend groß und komplex ist die Herausforderung, die Arbeitsbedingungen in allen Fabriken zu überwachen. Die Produktion jedes Markenprodukts basiert auf komplexen Kaufentscheidungen. Jede einzelne dieser Entscheidungen wirkt sich positiv oder negativ darauf aus, wie die Lieferanten ihre Arbeitnehmer behandeln.

Fabriken reagieren auf schlechte Geschäftspraktiken, indem sie Maßnahmen zur Kosteneinsparung ergreifen, die gegen das Arbeitsrecht verstoßen. Beispielsweise beschäftigen sie unerlaubterweise Subunternehmer, in deren Einrichtungen es zu massiven Arbeitsrechtsverletzungen kommt. Andere Verstöße, die bei Kosteneinsparungen typischerweise in Kauf genommen werden, sind ausbleibende oder unvollständige Lohnzahlungen, Anweisungen, schneller und ohne angemessene Pausen zu arbeiten, sowie gefährliche oder ungesunde Arbeitsbedingungen.

Fawzia Khan, eine 24-jährige, unverheiratete Fabrikarbeiterin aus Pakistan, schildert den massiven Druck auf die Arbeiterinnen und Arbeiter, schneller zu arbeiten:

Ich hasse diese Gefängnisatmosphäre bei der Arbeit, das Verbot, zur Toilette zu gehen, das Verbot, aufzustehen, um etwas zu trinken, das Verbot, während der Arbeitszeit überhaupt aufzustehen… Die eine Stunde, die wir eigentlich täglich Pause haben, ist in der Praxis nur eine halbe. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine ganz Stunde Pause machen konnte.

Für Modeunternehmen ist es oft schwierig, die Arbeitsbedingungen in ihren weltweiten Liefernetzwerken zu überwachen. Viele verschärfen dieses Problem, indem sie sich weigern, ihre Lieferanten bekannt zu geben. Durch diese Intransparenz ist es äußert schwierig, Arbeitsbedingungen zu prüfen und Verstöße zu identifizieren, die einem Modeunternehmen entgangen sind. Zudem beauftragen einige Modemarken Beschaffungsagenten, um Produktionsfabriken auszuwählen, und bestehen nicht auf Informationen über deren Standort, Arbeitsbedingungen und Preispraktiken.

Modemarken müssen ihre Waren heute schneller produzieren und verkaufen als je zuvor, um auf die sich rasch verändernde Nachfrage zu reagieren. Aber die Marken riskieren Arbeitsrechtsverletzungen, wenn sie die Herstellungszeit für ihre Produkte minimieren, ohne die Kapazitäten der Fabrik zu überprüfen oder den Arbeitern angemessen viel Zeit zu geben – auch unter Berücksichtigung nationaler Feiertage und wöchentlicher Ruhetage.

Die Gefahren für die Arbeitnehmer erhöhen sich deutlich, wenn Modemarken keine schriftlichen Verträge aufsetzen oder einseitige Verträge nutzen, die keine flexiblen Liefertermine und den Verzicht auf Geldstrafen vorsehen, wenn die Modemarken selbst zu Verzögerungen beitragen. Mit solchen einseitigen Verträgen versuchen die Marken, die Kosten für ihre eigenen Fehler vollständig auf die Fabriken abzuwälzen. In solchen Fällen setzen Fabriken verstärkt darauf, auf dem Rücken ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter Kosten einzusparen. Darüber hinaus nehmen Unternehmen, die ihre Lieferanten nicht rechtzeitig bezahlen, in Kauf, dass deren Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Lohn und weitere Bezüge zu spät erhalten. Zahlungsverzögerungen führen auch dazu, dass Fabrikbesitzer keine Kredite aufnehmen können, um in Brandschutz und Gebäudesicherheit zu investieren. Der britische Kodex für sofortige Bezahlung („Prompt Payment Code“), eine freiwillige Selbstverpflichtung, ist ein gutes Praxisbeispiel dafür, wie Unternehmen solchen Missständen begegnen können.

Der Bericht identifiziert die wichtigsten Maßnahmen, die Modemarken ergreifen sollen, um mangelhafte Beschaffungspraktiken zu korrigieren und das Risiko, dass es in ihrer Lieferkette zu Menschenrechtsverletzungen kommt, zu minimieren. Die Unternehmen sollen Kodizes für verantwortungsbewusste Beschaffung entwickeln, veröffentlichen und in allen Abteilungen umsetzen. Sie sollen Listen ihrer Lieferfabriken veröffentlichen, die im Einklang mit dem Transparency Pledge stehen, einem Mindeststandard, den ein Bündnis aus Arbeits- und Menschenrechtsorganisationen im Jahr 2016 entwickelt hat. Zudem sollen sie evaluieren, wann und unter welchen Bedingungen sie Beschaffungsagenturen beauftragen und gewährleisten, dass ihre Verträge mit Lieferanten schriftlich vorliegen und fair sind.

Darüber hinaus sollen sich Modeunternehmen an Umfragen wie Better Buying beteiligen, die es Lieferanten ermöglichen, die Beschaffungspraktiken von Marken zu bewerten, und über die Ergebnisse berichten. Zudem sollen sie Arbeitskosten ganzheitlich kalkulieren, indem sie auch die Kosten für die Einhaltung von Arbeits- und Sozialstandards einbeziehen. Dazu eignet sich beispielsweise die von der Fair Wear Foundation entwickelte Kalkulation. Empfohlen werden auch Initiativen, die eine Reform der Beschaffungspraktiken mit Branchentarifverträgen verbinden, etwa die ACT-Initiative ( „Action, Collaboration, Transformation“). Die Marken sollen öffentlich über die Zahl der Gewerkschaften und Tarifverträge bei ihren Lieferanten informieren, sowie über die Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Beschaffungspraktiken, die sich auf die Arbeit der Fabriken auswirken.

Regierungen sollen Gesetze verabschieden, die Unternehmen dazu verpflichten, die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht in ihren weltweiten Lieferketten einzuhalten. Diese Gesetze sollen auch Verfahren einführen, um Geschäftspraktiken zu überwachen und zu korrigieren.

„Die Konsumenten sollten nicht zulassen, dass Modemarken sich mit Maßnahmen und Verpflichtungen schmücken, die nur auf dem Papier existieren. Auch gibt es immer wieder Initiativen mit heeren Zielen, über deren Ergebnisse nicht berichtet wird“, so Kashyap. „Modeunternehmen müssen ihren Konsumenten, Investoren, Arbeitnehmern und Arbeitsrechtlern dringend zeigen, was sie tun. Nur so werden schlechte Beschaffungspraktiken beendet.“

Ausgewählte Zitate

„Beschaffungsteams und Käufer stehen unter dem ständigen Druck, ein besseren [niedrigeren] Preis [für die Fabrikproduktion] zu finden… Was überhaupt nicht stattfindet, ist, es aktiv miteinander in Verbindung zu bringen, dass sich Druck auf einen Punkt [den Preis] auf einen anderen Punkt [die Arbeitsbedingungen in der Fabrik] auswirkt. So sieht das Geschäftsmodell aus.“

– Branchenexperte mit mehr als 25 Jahren Erfahrung in der Beschaffung von Bekleidung, Schuhen und nichttextilen Produkten für unterschiedliche Marken, London, 15. Januar 2019.

„Es gibt keine Preisverhandlung. Sie haben einfach zu viele Optionen [andere Lieferanten]… Es ist, als würde man Eier für sie [die Marken] kaufen.“

– Lieferant aus Pakistan, der anonym bleiben wollte, Juni 2018.

„Es ist für mich billiger, den Arbeiterinnen und Arbeitern Überstunden zu geben und so das Lieferdatum für die Verschiffung zu halten, als wenn wir uns verspäten und ich die Flugkosten tragen muss.“

– Mitarbeiter einer Gruppe, die in China, Südostasien und Asien Textilfabriken betreibt und 17 bis 20 internationale Modemarken beliefert, der anonym bleiben wollte, Südostasien, April und Mai 2018.

„Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen wegen der Bestellungen manchmal Überstunden machen. Manchmal nehmen wir Bestellungen mit Lieferterminen an, bevor wir die Zusagen für den Stil, die Vorlagen etc. haben. In solchen Fällen entsteht oft starker Zeitdruck. Dann müssen wir tun, was wir können, um den Liefertermin einzuhalten. Einige Unternehmen [Fabriken] sind schlauer und rechnen aus, was mehr kostet – Überstunden oder Luftfracht.“

– Lieferant aus Pakistan, der anonym bleiben wollte, Juni 2018.

„Einer der Agenten legen pauschal 10 Rupien (0,13 €) pro Stück fest. Es ist egal, ob das ganze Kleidungsstück am Ende 50 oder 500 Rupien (0,64 oder 6,39 €) kostet.“

– Lieferant aus Indien, der anonym bleiben wollte, über die „Provisionen“, die Agenten von Lieferanten verlangen, September 2018.

„Wenn eine Marke [zur Fabrik] sagt, sie werde 150.000 Stück bestellen und es sich dann, wenn sie die Bestellung tatsächlich aufgibt, anders überlegt und 250.000 Stück will, dann müssen Überstunden angeordnet oder Subunternehmer beauftragt werden.“

– Beschaffungsexperte mit mehr als 30 Jahren Branchenerfahrung, der anonym bleiben wollte, USA, Oktober 2018 und Januar 2019.

Kategorien: Menschenrechte

Eine glänzende Gelegenheit für den Goldsektor

Human Rights Watch: Wirtschaft - Mi, 27.05.2020 - 03:20
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A boy and a girl work in a small gold mine in Amansie West district, Ghana.

© 2016 Juliane Kippenberg for Human Rights Watch

In den nächsten Wochen kommt auf den Ständerat eine große Entscheidung zu: Sollen Schweizer Unternehmen dazu verpflichtet werden, eine menschenrechtliche Sorgfaltsprüfungspflicht für ihr globales Handeln einzuführen?

Schweizer Geschäfte und Unternehmen beziehen ihre Rohstoffe und Produkte oft aus weit entfernten Ländern und gehen damit erhebliche Risiken für den Schutz der Menschenrechte ein. Ein Beispiel dafür ist die Lieferkette für Gold: regelmäßig werden Menschenrechtsverletzungen im Goldsektor aufgedeckt. Ein Bericht der Schweizer Regierung zum Thema hat kürzlich bestätigt, dass der Goldsektor erhebliche Risiken darstellt.

Während meinen Nachforschungen in Ghana, Mali, Tansania und den Philippinen habe ich mit eigenen Augen gesehen wie Kinder und Jugendliche in kleinen, informellen Minen unter gefährlichsten Bedingungen Gold schürfen. Sie arbeiten in oder nahe einsturzgefährdeten Schächten, graben unter Wasser in Flussbetten nach Gold-Erz und benutzen giftiges Quecksilber, um das Rohgold aus dem Erz zu gewinnen. Manche tragen gesundheitliche Schäden davon; einige sind sogar bei Minenunfällen gestorben. In Eritrea und Papua-Neuguinea hat Human Rights Watch dokumentiert, wie industrielle Goldminen Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen wie Zwangsarbeit und Vergewaltigung tragen.

Damit Unternehmen nicht zu Menschenrechtsverletzungen beitragen, sollten sie Sorgfaltsprüfungen durchführen—das heißt, Menschenrechtsrisiken in der Lieferkette prüfen und Maßnahmen ergreifen, um diesen Risiken entgegenzuwirken. Wir haben kürzlich die menschenrechtlichen Sorgfaltsprüfungen von 13 großen Juwelieren untersucht, unter anderem Rolex, Chopard und Harry Winston, das der Schweizer Firma Swatch gehört. Es hat sich herausgestellt, dass die meisten Firmen nicht genug tun, um transparent zu sein, die Lieferkette vollständig zu kennen und Menschenrechtsrisiken zu erfassen. Rolex macht gar keine Informationen über seine Lieferkette öffentlich, und Harry Winston macht nur sehr wenig über seine Sorgfaltsprüfungen publik. Während Chopard sehr viel transparenter in Bezug auf seine Goldlieferkette, ist Chopards Diamantenlieferkette ebenfalls undurchsichtig.  

Es gibt zahlreiche freiwillige Standards und Zertifizierungssystem, um Menschenrechte in Lieferketten besser zu schützen, insbesondere durch freiwillige Standards und Zertifizierungen. Aber die Umsetzung dieser Standards hängt komplett vom Willen einzelner Unternehmen ab. Dazu entsprechen Standards oft auch nicht den internationalen Normen für verantwortliche Lieferketten, wie sie die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte und—für die Minerallieferkette—die Richtlinie der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) einfordern.

Ein Beispiel im Goldsektor ist der Verhaltenskodex des internationalen Juweliersverbands Responsible Jewellery Council. Dieser fällt hinter internationale Menschenrechtsstandards für Lieferketten zurück, und bei der Zertifizierung wird meist nicht die Lieferkette nachverfolgt—so können mögliche Menschenrechtsprobleme bei der Förderung oder Weiterverarbeitung von Gold nicht ausgeschlossen werden. Die OECD hat letztes Jahr eine detaillierte Studie veröffentlicht, die zeigt, wie die Standards des RJC und anderen Industrieverbänden der Minerallieferkette hinter der internationalen Richtlinie zurückbleiben und ausreichend in die Praxis umgesetzt werden.

Nun besteht für die Schweiz die Möglichkeit, Firmen aller Sektoren für ihr Handeln in die Verantwortung zu nehmen. Im Juni 2018 hat der Nationalrat beschlossen, dass Großunternehmen internationale, durch die Schweiz ratifizierte Menschenrechts- und Umweltverträge auch im Ausland respektieren sollen. Hierzu müssen Unternehmen eine Sorgfaltsprüfung im Bereich der Menschenrechte durchführen. In besonders schwerwiegenden Fällen können Konzerne auch für Tochterunternehmen haften. Der Beschluss erfolgte als Reaktion auf die Konzernverantwortungsinitiative der Zivilgesellschaft, in Form eines Gegenvorschlags. Darin wurden wichtige Elemente der Konzernverantwortungsinitiative aufgenommen. Er geht allerdings insbesondere in Fragen der Konzernhaftung weniger weit als die ursprünglichen Forderungen.

Im Februar wird nun die Rechtskommission des Ständerats über die Initiative und den Gegenvorschlag beraten. Die Kommission sollte diese außergewöhnliche Gelegenheit nutzen um ein wirksames Gesetz für verbindliche Regeln zum Schutz von Menschenrechten und Umwelt durch Unternehmen im Einklang mit den einschlägigen internationalen Standards zu verabschieden.  

Die Verabschiedung eines solchen Kompromiss-Gesetzes wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Andernfalls liegt es in der Hand der Stimmbevölkerung mittels der Konzernverantwortungsinitiative einen Wandel herbeizuführen. Solange Regierungen es den Unternehmen überlassen, freiwillig Schritte zu ergreifen, wird eine systematische Sorgfaltsprüfung der Unternehmen die Ausnahme bleiben.

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