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Deutschland: Bundeswirtschaftsministerium versucht, Unternehmensmonitoring zu schwächen

Human Rights Watch: Frauenrechte - Mi, 27.05.2020 - 12:01
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Bangladeshis work at Snowtex garment factory in Dhamrai, near Dhaka, Bangladesh, April 19, 2018. 

© 2019 AP Photo/A.M. Ahad

(Berlin) - Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie versucht, Maßnahmen zu schwächen, mittels derer geprüft werden soll, wie gut Unternehmen im Land potentielle Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten ermitteln und auf diese reagieren, so Human Rights Watch heute. Die Regierungskoalition sollte bei einem heute stattfindenden Staatsministertreffen standhaft bleiben und ein Monitoringsystem einführen, das deutsche Unternehmen zur Einhaltung hoher Standards bei der verantwortungsvollen Materialbeschaffung anhält. Die Unternehmen sollten sicherstellen, dass es - gemäß international anerkannter Normen - in keinem Schritt ihrer Lieferketten zu Menschenrechtsverletzungen kommt.

„Der Vorschlag des Wirtschaftsministeriums macht es den Firmen viel zu einfach, sich als Unternehmen einzustufen, die internationale Menschenrechtsstandards erfüllt, auch wenn dies nicht der Fall ist“, sagte Juliane Kippenberg, stellvertretende Leiterin der Abteilung Kinderrechte bei Human Rights Watch. „Es besteht die Gefahr, dass das Monitoringsystem als politisches Instrument missbraucht wird, um strengere staatliche Maßnahmen gegen Unternehmen zu vermeiden, allen voran die Verabschiedung eines dringend benötigten Gesetzes zu Lieferketten.“ Eine Lieferkette besteht aus allen Schritten, die für die Herstellung eines Produkts erforderlich sind, von der Beschaffung der Rohstoffe bis hin zu deren Transport, Verarbeitung und Verkauf.

Die Parteien der Großen Koalition haben sich im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, dass die Regierung gesetzlich tätig werden wird, wenn die freiwilligen Maßnahmen großer Firmen zum Schutz von Menschenrechten in ihren Lieferketten bis 2020 nicht ausreichen. Unternehmen müssten demnach die Auswirkungen ihrer Aktivitäten auf die Menschenrechte ermitteln, mindern und öffentlich kommunizieren. Ob die Regierung einen Gesetzesvorschlag zu Lieferketten erarbeitet und einbringt, hängt daher zu einem großen Teil davon ab, wie gründlich das Monitoring der Unternehmen ausfällt. Das vorgeschlagene Monitoringsystem ist jedoch bereits durch Meinungsverschiedenheiten zwischen Ministerien gefährdet. Ein Fragebogen zur Selbstauskunft zum Thema sollte an Unternehmen verschickt werden, die ihren Sitz in Deutschland haben und mehr als 500 Menschen beschäftigen. Diese hätten dann zwischen Mai und Juli ihre Antworten einreichen sollen. Dieser Prozess ist jedoch ins Stocken geraten, und die Fragebögen sind noch nicht an die Firmen gegangen, da das Bundeswirtschaftsministerium mit der Umfragemethodik nicht einverstanden ist.

Das Ministerium schlägt ein Monitoringsystem vor, das es der Regierung ermöglichen würde, mehr Unternehmen als solche zu kategorisieren, welche die staatlichen Standards für menschenrechtliche Sorgfaltspflicht erfüllen. Gemäß dem Vorschlag soll es neben den beiden Kategorien „erfüllt“ und „nicht erfüllt“ auch die Kategorien „Unternehmen mit Umsetzungsplanung“ und „teilweise erfüllt“ („Unternehmen auf einem guten Wege“) geben.

Der Nationale Aktionsplan für Wirtschaft und Menschenrechte von 2016 sieht ein „robustes“ Monitoringverfahren zur Beurteilung der Umsetzung durch Unternehmen vor, hinter dem der aktuelle Vorschlag des Wirtschaftsministeriums weit zurückbleibt.

Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) gehen mehr als 450 Millionen Menschen Tätigkeiten nach, die mit einer Lieferkette zusammenhängen. Human Rights Watch hat Arbeitsrechtsverletzungen wie Kinderarbeit, Zwangsarbeit, gefährliche Arbeitsbedingungen, Angriffe auf Gewerkschafter und andere schwere Menschenrechtsverletzungen in globalen Lieferketten dokumentiert.

So riskieren beispielsweise Kinderarbeiter und Erwachsene in Ghana, auf den Philippinen und in vielen anderen Ländern ihre Gesundheit und ihr Leben, wenn sie Gold in einsturzgefährdeten Gruben abbauen und Erz mit giftigem Quecksilber verarbeiten. Human Rights Watch hat zudem Verletzungen von Arbeiterrechten in den globalen Lieferketten von Bekleidungsunternehmen dokumentiert, darunter exzessive oder erzwungene Überstundenarbeit, Verweigerung von Pausen, Diskriminierung von Schwangeren und Angriffe auf Gewerkschafter.

Zwar hat sich eine Reihe deutscher Bekleidungsunternehmen dem Bündnis für nachhaltige Textilien angeschlossen, viele dieser Unternehmen kommen jedoch noch immer nicht ihren grundlegenden menschenrechtlichen Sorgfaltspflichten nach, wie beispielsweise der Pflicht zur Transparenz in ihren Lieferketten. Außerdem sollten Bekleidungsunternehmen ihre Einkaufspraktiken ändern und Beschwerdemechanismen zu Missständen in den globalen Zulieferfabriken einführen, um die Verletzungen von Arbeiterrechten in globalen Lieferketten zu mindern. Human Rights Watch hat zudem dokumentiert, dass deutsche Unternehmen wie der Juwelier Christ und die Bekleidungsmarke KiK keine ausreichenden Mechanismen zum Schutz der Menschenrechte in ihren Lieferketten haben.

„Die Verzögerungstaktik des Wirtschaftsministeriums und die Vorschläge zur Umetikettierung von Firmen sind unwürdig“, sagte Kippenberg. „Die Regierung sollte zeigen, dass die Achtung der internationalen Menschenrechtsnormen im In- und Ausland und die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands einander nicht ausschließen, sondern dass die Unterstützung ethischer Geschäftspraktiken das Wirtschaftswachstum sogar fördern kann.“

Kategorien: Menschenrechte

Geschäftspraktiken von Modemarken befeuern Menschenrechtsverletzungen

Human Rights Watch: Frauenrechte - Mi, 27.05.2020 - 12:01

(London) – Bekleidungs- und Schuhmarken sollen Geschäftspraktiken beenden, die in Fabriken Verstöße gegen das Arbeitsrecht fördern, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 66-seitige Bericht „‘Paying for a Bus Ticket and Expecting to Fly’: How Apparel Brand Purchasing Practices Drive Labor Abuses“ dokumentiert, mit welchen Praktiken Modemarken ihre Fabriken zu Kosteneinsparungen drängen, die sich auf die Arbeitnehmer negativ auswirken. Viele weltbekannte Marken schmücken sich damit, dass sie bei ihren Lieferanten für gute Arbeitsbedingungen sorgen wollen. Allerdings unterminieren sie diese Bemühungen, indem sie massiven Druck auf ihre Zulieferer ausüben, die Preise zu senken oder schneller zu produzieren. Viele Lieferanten reagieren auf diesem Druck, indem sie Maßnahmen zur Kosteneinsparung ergreifen, unter denen die Arbeitnehmer leiden. Ein Fabrikbesitzer fasst das Problem zusammen: „Die Marken bezahlen für ein Busticket und wollen aber damit fliegen“.

„Wenn Modemarken von ihren Zulieferern fordern, auf dem Rücken der Arbeiter Kosten zu sparen, dann sind sie immer nur einen Schritt von der nächsten Menschenrechtskatastrophe entfernt“, so Aruna Kashyap, Expertin für Frauenrechte bei Human Rights Watch. „Markenunternehmen müssen ihre Geschäftspraktiken überwachen und anpassen, damit sie in den Fabriken nicht genau die Verstöße verursachen, die sie angeblich vermeiden wollen.”

April 23, 2019 Report “Paying for a Bus Ticket and Expecting to Fly”

How Apparel Brand Purchasing Practices Drive Labor Abuses

Human Rights Watch befragte Arbeiterinnen und Arbeiter in Bangladesch, Kambodscha, Indien, Myanmar und Pakistan sowie Stofflieferanten aus Süd- und Südostasien. Zudem wurden Experten mit mindestens zehnjähriger Erfahrung in der Auswahl von und Bestellung bei Lieferfabriken und andere Branchenexperten interviewt.

Am 24. April jährt sich die Rana Plaza-Tragödie in Bangladesch zum sechsten Mal. Im Jahr 2013 stürzte ein sechsgeschossiges Gebäude in einem Außenbezirk von Dhaka ein. Dabei starben 1.138 Arbeiter, mehr als 2.000 wurden verletzt. Die Katastrophe erinnert eindrücklich an die Gefahren, gegen welche Modemarken vorgehen müssen.

Modeunternehmen lassen ihre Waren in der Regel in zahlreichen Fabriken in mehreren Ländern produzieren. Entsprechend groß und komplex ist die Herausforderung, die Arbeitsbedingungen in allen Fabriken zu überwachen. Die Produktion jedes Markenprodukts basiert auf komplexen Kaufentscheidungen. Jede einzelne dieser Entscheidungen wirkt sich positiv oder negativ darauf aus, wie die Lieferanten ihre Arbeitnehmer behandeln.

Fabriken reagieren auf schlechte Geschäftspraktiken, indem sie Maßnahmen zur Kosteneinsparung ergreifen, die gegen das Arbeitsrecht verstoßen. Beispielsweise beschäftigen sie unerlaubterweise Subunternehmer, in deren Einrichtungen es zu massiven Arbeitsrechtsverletzungen kommt. Andere Verstöße, die bei Kosteneinsparungen typischerweise in Kauf genommen werden, sind ausbleibende oder unvollständige Lohnzahlungen, Anweisungen, schneller und ohne angemessene Pausen zu arbeiten, sowie gefährliche oder ungesunde Arbeitsbedingungen.

Fawzia Khan, eine 24-jährige, unverheiratete Fabrikarbeiterin aus Pakistan, schildert den massiven Druck auf die Arbeiterinnen und Arbeiter, schneller zu arbeiten:

Ich hasse diese Gefängnisatmosphäre bei der Arbeit, das Verbot, zur Toilette zu gehen, das Verbot, aufzustehen, um etwas zu trinken, das Verbot, während der Arbeitszeit überhaupt aufzustehen… Die eine Stunde, die wir eigentlich täglich Pause haben, ist in der Praxis nur eine halbe. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine ganz Stunde Pause machen konnte.

Für Modeunternehmen ist es oft schwierig, die Arbeitsbedingungen in ihren weltweiten Liefernetzwerken zu überwachen. Viele verschärfen dieses Problem, indem sie sich weigern, ihre Lieferanten bekannt zu geben. Durch diese Intransparenz ist es äußert schwierig, Arbeitsbedingungen zu prüfen und Verstöße zu identifizieren, die einem Modeunternehmen entgangen sind. Zudem beauftragen einige Modemarken Beschaffungsagenten, um Produktionsfabriken auszuwählen, und bestehen nicht auf Informationen über deren Standort, Arbeitsbedingungen und Preispraktiken.

Modemarken müssen ihre Waren heute schneller produzieren und verkaufen als je zuvor, um auf die sich rasch verändernde Nachfrage zu reagieren. Aber die Marken riskieren Arbeitsrechtsverletzungen, wenn sie die Herstellungszeit für ihre Produkte minimieren, ohne die Kapazitäten der Fabrik zu überprüfen oder den Arbeitern angemessen viel Zeit zu geben – auch unter Berücksichtigung nationaler Feiertage und wöchentlicher Ruhetage.

Die Gefahren für die Arbeitnehmer erhöhen sich deutlich, wenn Modemarken keine schriftlichen Verträge aufsetzen oder einseitige Verträge nutzen, die keine flexiblen Liefertermine und den Verzicht auf Geldstrafen vorsehen, wenn die Modemarken selbst zu Verzögerungen beitragen. Mit solchen einseitigen Verträgen versuchen die Marken, die Kosten für ihre eigenen Fehler vollständig auf die Fabriken abzuwälzen. In solchen Fällen setzen Fabriken verstärkt darauf, auf dem Rücken ihrer Arbeiterinnen und Arbeiter Kosten einzusparen. Darüber hinaus nehmen Unternehmen, die ihre Lieferanten nicht rechtzeitig bezahlen, in Kauf, dass deren Arbeiterinnen und Arbeiter ihren Lohn und weitere Bezüge zu spät erhalten. Zahlungsverzögerungen führen auch dazu, dass Fabrikbesitzer keine Kredite aufnehmen können, um in Brandschutz und Gebäudesicherheit zu investieren. Der britische Kodex für sofortige Bezahlung („Prompt Payment Code“), eine freiwillige Selbstverpflichtung, ist ein gutes Praxisbeispiel dafür, wie Unternehmen solchen Missständen begegnen können.

Der Bericht identifiziert die wichtigsten Maßnahmen, die Modemarken ergreifen sollen, um mangelhafte Beschaffungspraktiken zu korrigieren und das Risiko, dass es in ihrer Lieferkette zu Menschenrechtsverletzungen kommt, zu minimieren. Die Unternehmen sollen Kodizes für verantwortungsbewusste Beschaffung entwickeln, veröffentlichen und in allen Abteilungen umsetzen. Sie sollen Listen ihrer Lieferfabriken veröffentlichen, die im Einklang mit dem Transparency Pledge stehen, einem Mindeststandard, den ein Bündnis aus Arbeits- und Menschenrechtsorganisationen im Jahr 2016 entwickelt hat. Zudem sollen sie evaluieren, wann und unter welchen Bedingungen sie Beschaffungsagenturen beauftragen und gewährleisten, dass ihre Verträge mit Lieferanten schriftlich vorliegen und fair sind.

Darüber hinaus sollen sich Modeunternehmen an Umfragen wie Better Buying beteiligen, die es Lieferanten ermöglichen, die Beschaffungspraktiken von Marken zu bewerten, und über die Ergebnisse berichten. Zudem sollen sie Arbeitskosten ganzheitlich kalkulieren, indem sie auch die Kosten für die Einhaltung von Arbeits- und Sozialstandards einbeziehen. Dazu eignet sich beispielsweise die von der Fair Wear Foundation entwickelte Kalkulation. Empfohlen werden auch Initiativen, die eine Reform der Beschaffungspraktiken mit Branchentarifverträgen verbinden, etwa die ACT-Initiative ( „Action, Collaboration, Transformation“). Die Marken sollen öffentlich über die Zahl der Gewerkschaften und Tarifverträge bei ihren Lieferanten informieren, sowie über die Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Beschaffungspraktiken, die sich auf die Arbeit der Fabriken auswirken.

Regierungen sollen Gesetze verabschieden, die Unternehmen dazu verpflichten, die menschenrechtliche Sorgfaltspflicht in ihren weltweiten Lieferketten einzuhalten. Diese Gesetze sollen auch Verfahren einführen, um Geschäftspraktiken zu überwachen und zu korrigieren.

„Die Konsumenten sollten nicht zulassen, dass Modemarken sich mit Maßnahmen und Verpflichtungen schmücken, die nur auf dem Papier existieren. Auch gibt es immer wieder Initiativen mit heeren Zielen, über deren Ergebnisse nicht berichtet wird“, so Kashyap. „Modeunternehmen müssen ihren Konsumenten, Investoren, Arbeitnehmern und Arbeitsrechtlern dringend zeigen, was sie tun. Nur so werden schlechte Beschaffungspraktiken beendet.“

Ausgewählte Zitate

„Beschaffungsteams und Käufer stehen unter dem ständigen Druck, ein besseren [niedrigeren] Preis [für die Fabrikproduktion] zu finden… Was überhaupt nicht stattfindet, ist, es aktiv miteinander in Verbindung zu bringen, dass sich Druck auf einen Punkt [den Preis] auf einen anderen Punkt [die Arbeitsbedingungen in der Fabrik] auswirkt. So sieht das Geschäftsmodell aus.“

– Branchenexperte mit mehr als 25 Jahren Erfahrung in der Beschaffung von Bekleidung, Schuhen und nichttextilen Produkten für unterschiedliche Marken, London, 15. Januar 2019.

„Es gibt keine Preisverhandlung. Sie haben einfach zu viele Optionen [andere Lieferanten]… Es ist, als würde man Eier für sie [die Marken] kaufen.“

– Lieferant aus Pakistan, der anonym bleiben wollte, Juni 2018.

„Es ist für mich billiger, den Arbeiterinnen und Arbeitern Überstunden zu geben und so das Lieferdatum für die Verschiffung zu halten, als wenn wir uns verspäten und ich die Flugkosten tragen muss.“

– Mitarbeiter einer Gruppe, die in China, Südostasien und Asien Textilfabriken betreibt und 17 bis 20 internationale Modemarken beliefert, der anonym bleiben wollte, Südostasien, April und Mai 2018.

„Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen wegen der Bestellungen manchmal Überstunden machen. Manchmal nehmen wir Bestellungen mit Lieferterminen an, bevor wir die Zusagen für den Stil, die Vorlagen etc. haben. In solchen Fällen entsteht oft starker Zeitdruck. Dann müssen wir tun, was wir können, um den Liefertermin einzuhalten. Einige Unternehmen [Fabriken] sind schlauer und rechnen aus, was mehr kostet – Überstunden oder Luftfracht.“

– Lieferant aus Pakistan, der anonym bleiben wollte, Juni 2018.

„Einer der Agenten legen pauschal 10 Rupien (0,13 €) pro Stück fest. Es ist egal, ob das ganze Kleidungsstück am Ende 50 oder 500 Rupien (0,64 oder 6,39 €) kostet.“

– Lieferant aus Indien, der anonym bleiben wollte, über die „Provisionen“, die Agenten von Lieferanten verlangen, September 2018.

„Wenn eine Marke [zur Fabrik] sagt, sie werde 150.000 Stück bestellen und es sich dann, wenn sie die Bestellung tatsächlich aufgibt, anders überlegt und 250.000 Stück will, dann müssen Überstunden angeordnet oder Subunternehmer beauftragt werden.“

– Beschaffungsexperte mit mehr als 30 Jahren Branchenerfahrung, der anonym bleiben wollte, USA, Oktober 2018 und Januar 2019.

Kategorien: Menschenrechte

Nordkorea: Sexuelle Gewalt gegen Frauen

Human Rights Watch: Frauenrechte - Mi, 27.05.2020 - 12:01
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Eine Frau, die von der Geheimpolizei verhört wird. Ehemalige Gefangene berichten, dass Frauen bei Verhören der Geheimpolizei immer wieder belästigt werden. Die Abbildungen stammen von dem früheren nordkoreanischen Propagandakünstler Choi Seong Guk. Sie sind geprägt von den Erfahrungen des Künstlers in Nordkorea und den Aussagen von Überlebenden in diesem Bericht. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig; die Abbildungen zeigen keine Personen oder wahren Ereignissen, sondern stehen für charakteristische Szenarien.

 

Nordkoreanische Regierungsmitarbeiter sind für sexuelle Gewalt verantwortlich, ohne sich Sorgen um mögliche Konsequenzen machen zu müssen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Entsprechende Beschwerden werden von der Regierung weder untersucht noch verfolgt. Die Opfer erhalten keinen Schutz oder Hilfsleistungen. Die Regierung behauptet sogar, das Land sei geradezu frei von Sexismus oder sexueller Gewalt.

November 1, 2018 Report “You Cry at Night but Don’t Know Why”

Sexual Violence against Women in North Korea

Der 86-seitige Bericht „‘You Cry at Night, but Don’t Know Why’: Sexual Violence against Women in North Korea“ dokumentiert unerwünschte sexuelle Kontakte und sexuelle Gewalt, die in Nordkorea so verbreitet sind, dass sie als Teil des Alltags akzeptiert werden. Viele Nordkoreanerinnen sagten Human Rights Watch gegenüber, wenn ein hochrangiger Funktionär eine Frau „auswählt“, habe diese keine andere Wahl, als alle Forderungen zu erfüllen, die er stellt, unabhängig davon ob es hierbei um Sex, Geld oder andere Gefälligkeiten geht. Die befragten Frauen sagten, dass es sich bei den Verantwortlichen für sexuelle Straftaten u.a. um hochrangige Parteifunktionäre, Gefängniswächter und Vernehmungsbeamte, Mitarbeiter der regulären Polizei oder der Geheimpolizei, Staatsanwälte und Soldaten handle. Aus Angst vor sozialer Stigmatisierung und Vergeltung und da es nur wenige, wenn überhaupt, Rechtsbehelfe gibt, melden nordkoreanische Frauen derartige Menschenrechtsverletzungen nur sehr selten.

„Sexuelle Gewalt in Nordkorea ist ein offenes, nicht angesprochenes und weitgehend toleriertes Geheimnis“, sagte Kenneth Roth, Executive Director von Human Rights Watch. „Auch die Frauen in Nordkorea würden wahrscheinlich „Me Too" sagen, wenn es einen Weg gäbe, Gerechtigkeit zu erlangen. In der Diktatur von Kim Jong Un aber werden ihre Stimmen zum Schweigen gebracht. ”

Human Rights Watch führte Interviews mit 54 Nordkoreanerinnen und Nordkoreanern, die das Land nach 2011 verlassen hatten, als der derzeitige Führer Kim Jong Un an die Macht kam, sowie mit 8 ehemaligen nordkoreanischen Regierungsmitarbeitern, die aus dem Land flohen. Acht ehemalige Häftlinge oder Gefangene gaben an, dass sie eine Kombination aus sexueller Gewalt, verbaler Belästigung und demütigender Behandlung durch Ermittler, Mitarbeiter von Haftanstalten oder Gefängniswärter erfahren hatten. Bei den Tätern handelte es sich um Mitarbeiter der regulären Polizei oder der nordkoreanischen Geheimpolizei (Bowiseong). 21 Händlerinnen sagten, dass sie sexuelle Gewalt und unerwünschte sexuelle Annäherungsversuche durch die Polizei oder andere Regierungsmitarbeiter erlebt hatten, während sie für ihre Arbeit unterwegs waren.

Launch Gallery Seit Ende der 90er Jahre arbeiteten viele verheiratete Frauen, die keinen staatlich eingerichteten Arbeitsplatz annehmen mussten, als Händlerinnen und wurden zu den Haupternährerinnen ihrer Familien. Ihre Arbeit setzte sie jedoch dem Risiko sexueller Gewalt aus in einem Land, in dem geschlechtsspezifische Diskriminierung und die Unterdrückung von Frauen weit verbreitet sind.

„An den Tagen, an denen sie sich danach fühlten, konnten Marktwächter oder Polizisten mich bitten, ihnen in einen leeren Raum außerhalb des Marktgeländes oder an einen anderen Ort zu folgen, den sie sich ausgesucht hatten“, so Oh Jung Hee, eine ehemalige Händlerin in den 40ern aus der Provinz Ryanggang, die 2014 das Land verließ und beschrieb, dass sie mehrmals sexuell missbraucht wurde. „Sie betrachten uns als [Sex] Spielzeug. Wir [Frauen] sind der Gnade der Männer ausgeliefert.“ Sie sagte, es sei so normal, dass den Männern gar nicht in den Sinn käme, dass das, was sie tun, falsch sein könnte. Sie gehen davon aus, dass Frauen es mittlerweile einfach akzeptieren. Dann aber „fängst du mitten in der Nacht einfach an zu weinen, und du weißt nicht, warum.“  

Human Rights Watch sagte, dass zu den beitragenden Faktoren tief verwurzelte Muster der Geschlechterungleichheit und ein Mangel an sexueller Aufklärung oder Bewusstsein über sexuelle Gewalt gehören. Weitere Faktoren sind der unkontrollierte Machtmissbrauch, die durch sozioökonomische Veränderungen verschärfte Korruption, die fehlende Rechtsstaatlichkeit, die Stigmatisierung von Opfern sexueller Gewalt sowie der Mangel an sozialer Unterstützung und Rechtsberatung.

Yoon Mi Hwa, eine ehemalige Händlerin in den 30ern aus der Provinz Nordhamgyong, die 2014 aus Nordkorea floh, beschrieb, was geschah, als sie 2009 nach einem früheren Fluchtversuch nach China im Chongjin jipkyulso (Holding Center) festgehalten wurde:

Jede Nacht wurde eine Frau gezwungen, mit einem Wärter mitzugehen, der sie dann vergewaltigte. Es gab einen besonders schrecklichen Polizisten, der, wie ich später erfuhr, für seine Grausamkeit berüchtigt war. Jeden Tag, wenn neue Häftlinge ankamen, fand er einen Grund, einen der Gefangenen schlimm zu verprügeln, damit jeder gleich wusste, dass man ihm zu gehorchen hatte.

Sie fügte hinzu:

Klick, klick, klick, war das schrecklichste Geräusch, das ich je gehört habe. Es war das Geräusch des Schlüssels, wenn unsere Zellen geöffnet wurden. Jede Nacht öffnete ein Gefängniswärter die Zelle. Ich stand still da und tat so, als ob ich es nicht bemerkt hätte, in der Hoffnung, dass ich nicht diejenige sein würde, die dem Wächter folgen musste und in der Hoffnung, dass es nicht dieser Wächter sein würde.

Park Young Hee, eine ehemalige Bäuerin in den 40ern, ebenfalls aus der Provinz Ryanggang, die Nordkorea 2011 zum zweiten Mal verließ, musste im Frühjahr 2010 nach ihrem ersten Fluchtversuch aus China nach Nordkorea zurückkehren. Nachdem sie von der Geheimpolizei (bowiseong) entlassen und der örtlichen Polizei in der Nähe von Musan City in der Provinz North Hamgyong übergeben wurde, berührte sie der Polizist, der sie in einer Untersuchungshaftanstalt befragte, und penetrierte sie mehrfach mit seinen Fingern. Sie sagte, er habe sie wiederholt nach den sexuellen Beziehungen gefragt, die sie mit dem Chinesen gehabt hatte, an den sie während ihres Aufenthalts in China verkauft worden war. Sie sagte zu Human Rights Watch: „Mein Leben lag in seinen Händen, also tat ich alles, was er wollte, und sagte ihm alles, was er hören wollte. Was hätte ich sonst tun können? .... Alles, was wir in Nordkorea tun, kann als illegal angesehen werden, so dass alles von der Wahrnehmung oder Einstellung desjenigen abhängen kann, der auf dein Leben blickt.”

Die nordkoreanische Regierung soll das Problem der sexuellen Gewalt anerkennen. Die Polizei, Staatsanwälte und Gerichte sollen sexuelle Gewalt als Verbrechen behandeln und entsprechende Anschuldigungen unverzüglich untersuchen und gegebenenfalls strafrechtlich verfolgen. Die Regierung soll Programme zur reproduktiven Gesundheit und Sexualaufklärung einführen und Leistungen für Opfer anbieten, einschließlich Beratung, medizinische und rechtliche Unterstützung und Programme zur Unterstützung von Frauen bei der Bekämpfung sozialer Stigmatisierung.

Die Untersuchungskommission der Vereinten Nationen für Menschenrechte in der Demokratischen Volksrepublik Korea kam 2014 ebenfalls zu dem Schluss, dass systematische, weit verbreitete und schwere Menschenrechtsverletzungen durch die nordkoreanische Regierung Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen. Dazu gehören Zwangsabtreibung, Vergewaltigung und andere sexuelle Gewalt sowie Mord, Inhaftierung, Versklavung und Folter von Nordkoreanerinnen in Gefängnissen oder in Polizeigewahrsam. Die Kommission sagte, Zeugen hätten ausgesagt, dass „Gewalt gegen Frauen nicht nur Zuhause vorkommt und dass es üblich sei, Frauen in der Öffentlichkeit zu schlagen und sexuell zu misshandeln".

„Frauen in Nordkorea sollten nicht in Gefahr sein, von Regierungsmitarbeitern vergewaltigt zu werden, wenn sie ihre Häuser verlassen, um Geld zu verdienen, um ihre Familien zu ernähren“, sagte Roth. „Kim Jong Un und seine Regierung sollten das Problem anerkennen und dringend Schritte unternehmen, um Frauen zu schützen und den Opfern sexueller Gewalt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.“

 

Kategorien: Menschenrechte

"Bald gibt es nicht mehr viel zu verstecken"

Human Rights Watch: Frauenrechte - Mi, 27.05.2020 - 12:01

Shabana arbeitete im April 2013 wie jeden Tag in einer Textilfabrik, wo sie als Näherin Stunde um Stunde, Tag um Tag die unersättlichen Nähmaschinen mit Stoff fütterte. Hierbei war sie eine von Hunderten Frauen in einem Raum, die alle das Gleiche taten.

Am Abend steckte Shabana fest unter dem Schutt des achtstöckigen Fabrikgebäudes am Stadtrand von Dhaka in Bangladesch. Sie wurde Opfer eines der verheerendsten Unglücke in einer Textilfabrik in jüngster Vergangenheit. Shabana überlebte. Mindestens 1134 andere Arbeiter kamen jedoch ums Leben, mehr als 2000 weitere wurden verletzt.

„Manchmal kann ich nur mit Tabletten einschlafen. Ich muss immer daran denken, wie viele Menschen an diesem Tag gestorben sind“, sagt sie noch Jahre später. Sie wirkt zerbrechlich und ausgebrannt. „Vielleicht hätte ich auch besser sterben sollen.“

Wie durch ein Wunder hat Shabana überlebt. Drei Tage lang lag sie unter den Trümmern des Rana Plaza-Gebäudes. Das Unglück löste weltweit Entsetzen aus und strafte die großen Modelabel Lügen, die behauptet hatten, sie würden ausreichende Maßnahmen ergreifen, um die Arbeiter zu schützen, die für ihre Produkte schuften.  

Anwälte, die sich für eine Entschädigung der Opfer einsetzen wollten, mussten hierfür wissen, welche Modelabel in einer der fünf Fabriken produzieren ließen, die in dem eingestürzten Gebäude untergebracht waren. Damals wusste das jedoch niemand. Aktivisten, die sich für Arbeiterrechte einsetzen, und andere suchten in den Trümmern nach Firmenetiketten, noch während die Leichen der Arbeiter geborgen wurden. Die traumatisierten Überlebenden des Unglücks konnten sich häufig nicht an die Marken erinnern, für die sie gearbeitet hatten und für die sie fast gestorben wären.

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Als Verbraucher machen wir uns nicht viel Gedanken über die „Made in…”-Etiketten, die in unsere Kleidungsstücke eingenäht oder auf unsere Schuhsohlen gedruckt sind. Häufig fallen sie uns nicht einmal auf. Aber die Geschichten von Menschen – häufig sind es Frauen – sind unsichtbar mit in unserer Kleidung vernäht. Es sind die Geschichten der Frauen, die die Schuhe, Hemden und Hosen schneidern, nähen und kleben, bevor wir sie dann aus den Regalen holen und in unseren Kleiderschrank hängen.

Einstürzende Fabrikgebäude und Brände sind nicht die einzigen Probleme in der Welt der Textilproduktion. In der Bekleidungsindustrie, die mittlerweile einen Umsatz von 2,4 Billionen US-Dollar erzielt und in der weltweit Millionen Arbeiter beschäftigt sind, sind Verletzungen von Arbeitsrechten weit verbreitet. Überall auf der Welt kündigen Fabrikbesitzer und Manager häufig schwangeren Frauen oder verweigern ihnen einen Mutterschaftsurlaub. Arbeiter, die sich zusammenschließen oder Gewerkschaften gründen, werden schikaniert. Sie werden gezwungen, Überstunden zu leisten, andernfalls droht der Jobverlust. Fabrikbesitzer schauen weg, wenn Manager oder männliche Arbeiter ihre Kolleginnen sexuell belästigen.

Warum sollte das globale Bekleidungsfirmen interessieren? Und welche Rolle spielen sie dabei?

In erster Linie sind die Regierungen der Produktionsländer weltweit verantwortlich für die Arbeitsbedingungen und die Einhaltung von Arbeitsrechtsvorschriften in den Fabriken. Internationale Standards, die jedoch nicht bindend sind, besagen allerdings, dass globale Bekleidungs- und Schuhfirmen oder „Marken“, die in solchen Fabriken produzieren lassen, ebenfalls Verantwortung dafür tragen, dass die Rechte von Arbeitern entlang der gesamten Lieferkette eingehalten werden. Auch sie müssen Maßnahmen ergreifen, um Menschenrechtsverletzungen zu ahnden und ihnen vorzubeugen.

Zu allererst sollten sie sicherstellen, dass Arbeiter und die Öffentlichkeit erfahren, in welcher Fabrik für welche Marken produziert wird. Zudem muss es Transparenz über die gesamte Lieferkette geben. Die Unternehmen gehen ihrer Verantwortung jedoch allzu oft aus dem Weg und veröffentlichen wichtige Informationen nicht, wie etwa Namen, Adressen und andere Angaben zu den Fabriken, in denen ihre Produkte hergestellt werden.

Diese Art der Offenlegung von Informationen bildet die Grundlage für Corporate Responsibility, die Unternehmensverantwortung. Immer mehr Firmen legen solche Informationen offen und zeigen, wo sie produzieren lassen und welche Produktionsstätten sie kontrollieren. Ende 2016 gehörten hierzu adidas, C&A, Columbia Sportswear, Cotton On Group, Disney, Esprit, Forever New, Fruit of the Loom, Gap Inc., G-Star RAW, Hanesbrands, H&M, Hudson’s Bay Company, Jeanswest, Levi Strauss, Lindex, Marks and Spencer, Mountain Equipment Co-op, New Balance, Nike, Pacific Brands, PAS Group, Patagonia, Puma, Specialty Fashion Group, Target USA, VF Corporation, Wesfarmers Group (Kmart, Target Australia und Coles) und Woolworth.

Das ist besonders wichtig, da unerlaubte Vereinbarungen mit Subunternehmern gerade in der Textilbranche ein häufiges Problem sind. Einige der schlimmsten Verletzungen von Arbeiterrechten ereigneten sich in den Produktionsstätten eben solcher Zulieferer, wo nicht ermittelt und niemand zur Verantwortung gezogen wird.

Derartige Offenlegungen zeigen also nicht nur, dass eine Firma ihre eigene Lieferkette lückenlos nachverfolgen kann, sie helfen ebenso dabei, gute Subunternehmer von schlechten zu unterscheiden, und sorgen dafür, dass verstärkte Überwachung dort stattfindet, wo sie am meisten gebraucht wird. Auch die Arbeiter brauchen diese Informationen, ebenso wie jene, die sich für sie einsetzen wollen, darunter Gewerkschaftsvertreter, lokale und internationale Nichtregierungsorganisationen, Anwälte, Journalisten und Wissenschaftler. Je mehr Informationen zur Lieferkette verfügbar sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass menschenrechtswidrige Arbeitsbedingungen entweder dem entsprechenden Modelabel gemeldet oder an die Öffentlichkeit getragen werden. Das wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass solche Probleme auch tatsächlich gelöst werden.

Einsatz für mehr Transparenz

2016 schloss sich Human Rights Watch mit acht internationalen Arbeitsrechtsorganisationen und globalen Gewerkschaften zusammen, um sich für ein Mindestmaß an Transparenz in der Bekleidungsindustrie einzusetzen. Dieses Bündnis entwickelte das „Transparenzversprechen“, ein einheitlicher Mindeststandard für Transparenz, abgeleitet aus bewährten Praktiken der Branche. Dieses Versprechen ist ein bescheidener Anfang dazu, wie Modeunternehmen Informationen offenlegen sollen. Sie können jedoch viel mehr tun als das, was das Versprechen ihnen abverlangt - beispielsweise auch veröffentlichen, woher sie ihre Baumwolle und andere Materialien beziehen.

Das Bündnis wandte sich an insgesamt 72 Modeunternehmen – darunter Vorreiter, was die Transparenz betrifft, und solche, die hinterherhinken – und drängte sie dazu, ihre Geschäftspraktiken mit dem Transparenzversprechen in Einklang zu bringen. Bis heute haben sich siebzehn der weltweit führenden Bekleidungs- und Schuhunternehmen dazu verpflichtet, alle in dem Versprechen gelisteten Informationen zu veröffentlichen.

Jedes dieser Unternehmen verpflichtet sich damit dazu, regelmäßig auf der eigenen Firmenwebsite eine Liste zu veröffentlichen mit allen Zulieferfabriken, in denen ihre Produkte hergestellt werden. Diese Liste sollte die vollständigen Namen aller zugelassenen Produktionseinheiten und Verarbeitungsstätten beinhalten, ebenso wie alle Standortadressen, Informationen zu den Mutterfirmen der Produktionseinheiten, die Art der hergestellten Produkte sowie eine grobe Angabe der Anzahl der Arbeiter jeder Produktionsstätte.

Zu den Unternehmen, die bereits vorher Informationen zu ihren Zulieferfabriken veröffentlicht hatten und die sich nun vollständig dem Transparenzversprechen verschrieben haben, gehören: adidas, C&A, Cotton On Group, Esprit, G-Star RAW, H&M Group, Hanesbrands, Levi’s, Lindex, Nike und Patagonia. Folgende Unternehmen haben erstmalig die entsprechenden Informationen veröffentlicht und sich ebenfalls dem Transparenzversprechen verschrieben: ASICS, ASOS, Clarks, New Look, Next und Pentland Brands.

Weitere 17 Unternehmen, die zwar die Kriterien des Versprechens nicht vollständig erfüllen, bewegten sich zumindest in eine positive Richtung und sicherten zu, Informationen zu ihren Zulieferfabriken zu veröffentlichen. Enttäuschend wiederum ist, dass viele Modeunternehmen sich schlichtweg weigerten, Transparenz zu schaffen, oder auf unsere wiederholten Bemühungen, mit ihnen zu arbeiten, gar nicht reagierten.

Transparenz ist keine Wunderwaffe, sie ist jedoch ein mächtiges Werkzeug, um Menschenrechtsverletzungen von Arbeitern und Gefahren in Fabrikgebäuden in den Fokus zu rücken und Aktivisten mit wichtigen Informationen zu versorgen, an wen sie sich mit Problemen wenden können. Transparenz sorgt auch für Vertrauen seitens der Verbraucher, denen eine ethische Geschäftspraxis von Modeunternehmen wichtig ist. Und schließlich lässt Transparenz Arbeiter hoffen, dass die Unternehmen, die von ihrer Arbeit profitieren, von ihren Problemen erfahren und entsprechend einschreiten.

Informationsbarrieren

2016 lernte ich einen Arbeiter einer Textilfabrik in Burma kennen. Das Management hatte den Arbeitern freigegeben, um das buddhistische Wasserfestival „Thingyan“ zu feiern, das jährlich begangen wird und ein nationaler Feiertag ist. Als die Arbeiter zurück in die Fabrik kamen, wurden sie gezwungen, an aufeinanderfolgenden Sonntagen zu arbeiten, um den Produktivitätsverlust auzusgleichen. Der Sonntag ist ohnehin ihr einziger freier Tag in der Woche. Die Fabrikchefs griffen sich die Arbeiter heraus, die sich weigerten, und gestatteten ihnen zwei Monate lang keine Überstunden, so dass die Niedriglohnarbeiter mit noch weniger Geld nach Hause gingen. Dieses Vorgehen war eine eklatante Verletzung der in Burma geltenden Gesetze.

Die Arbeiter verzweifelten: sie wollten den Modemarken, für die sie arbeiteten, von den Geschehnissen berichten, konnten aber nicht herausfinden, welche Unternehmen dies waren. So litten sie im Stillen weiter.

In einem anderen Fall erzählte mir eine im achten Monat schwangere Frau aus Kambodscha, dass eine Textilfabrik ihr aufgrund ihrer Schwangerschaft gekündigt hatte. Die Fabrik weigerte sich, die der Frau rechtlich zustehenden Mutterschaftsleistungen zu zahlen. Ihr wurde gesagt, sie solle nicht wiederkommen. Sie wand sich an eine lokale Nichtregierungsorganisation, die ihr helfen wollte, das entsprechende Modeunternehmen zu informieren. Es wusste jedoch niemand, welches Unternehmen Bestellungen in jener Fabrik aufgegeben hatte. Sie steckten in einer Sackgasse.

Bekleidungsfirmen wissen, auf welche Hindernisse Arbeiter treffen, die herausfinden wollen, für welche Modeunternehmen sie eigentlich arbeiten. Zu diesen Hindernissen gehören eine Kombination aus schlechten Lese- und Schreibkenntnissen, Sprachbarrieren und mangelndem Wissen über relevante Teile von Etiketten, die gesammelt werden müssen. Zudem haben sie keine Smartphones, um Fotos von den Etiketten zu machen, und es herrscht Angst vor Vergeltungsmaßnahmen.

Die Arbeiter in der Bekleidungsindustrie, die ich in Bangladesch,  Burma und Kambodscha interviewt habe, gaben oft an, sie hätten zu viel Angst vor Vergeltung. Deshalb machten sie keine Fotos und sammelten keine Markenetiketten in Fabriken. Manchmal werden die Labels auch gar nicht in der Fabrik angebracht. Es ist schlicht und einfach unfair, den Arbeitern die Beweislast aufzubürden und sie so zu zwingen, herumzuschnüffeln, um herauszufinden, für welches Modelabel sie eigentlich arbeiten. Das macht ihre Lage nur noch prekärer.

Der lange Weg zu mehr Transparenz

In der Vergangenheit setzten die Verbraucher ihr Recht darauf durch, zu erfahren, wo ihre Produkte gefertigt wurden. Damit veränderten sie die Textilbranche. In den späten 1990er und frühen 2000er Jahren setzte sich die Studentenorganisation United Students Against Sweatshops (USAS) an vielen US-Universitäten dafür ein, dass Modefirmen, die lizensierte Kleidung mit ihrem Universitätslogo herstellten, die Namen und Standorte ihrer Fabriken angeben mussten. Dies führte dazu, dass Firmen wie Nike und adidas die Informationen über die Fabriken, in denen sie herstellen ließen, veröffentlichten - ein bedeutender Durchbruch im jahrzehntelangen Kampf für mehr Transparenz.

Seit 2005 veröffentlichen Nike und adidas Informationen zu ihren Zulieferfabriken. Ihrem Beispiel sind weitere Modelabels gefolgt. Einige Unternehmen, die Fabriknamen aus „Wettbewerbsgründen“ unter Verschluss gehalten hatten, gaben diese Daten schließlich frei. 2013 veröffentlichte das führende Unternehmen H&M, das laut einem Sprecher die Liste seiner Zulieferfabriken früher in einem Safe in Stockholm unter Verschluss gehalten hatte, als erstes Modelabel die Namen und Adressen aller ihrer Zulieferfabriken. Andere Unternehmen folgten diesem Beispiel an Transparenz im Jahr 2016, darunter große Namen wie C&A, Esprit, Marks and Spencer und Gap Inc.

Modeunternehmen, die sich ethischen Standards verpflichtet haben, schrecken nicht vor ihrer Verantwortung zurück, die ihnen die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte auferlegen. Diese besagen, dass Unternehmen „wissen und zeigen” sollen, dass sie entlang ihrer gesamten Lieferkette Menschenrechte respektieren, u.a. indem sie ihre Zulieferfabriken identifizieren. Branchenführer haben die Standards für ein solches „Zeigen“ gesetzt, indem sie die Informationen zu ihren Zulieferfabriken veröffentlichten. Der ehemalige UN-Sonderbeauftragte für Wirtschaft und Menschenrechte, Prof. John Ruggie, der die Leitprinzipien entworfen hat, erklärte gegenüber Human Rights Watch, warum es so wichtig ist, dass Unternehmen die Informationen zu ihren Zulieferern veröffentlichen, um die Leitprinzipien sinnvoll umzusetzen:

Im Zentrum der Leitprinzipien und der Unternehmensverantwortung stehen die Begriffe „wissen und zeigen”. Weiß ein Unternehmen etwas nicht und kann etwas nicht zeigen oder möchte etwas nicht zeigen, dann wirft das Fragen auf… ein Unternehmen, das die Menschenrechte respektiert,… schneidet sich ins eigene Fleisch, wenn es nicht transparent arbeitet. Wenn das Unternehmen glaubt, dass seine Geschäftspraktiken im Einklang mit den Menschenrechten stehen, dann sollte es offenlegen, welche Produktionsstätten es kontrolliert und darauf auch stolz sein.

Transparenz als Wettbewerbsvorteil

Einige Modelabel, die sich weigern, für mehr Transparenz zu sorgen, berufen sich häufig auf den angeblichen Wettbewerbsnachteil, der damit mehr einherginge. Sie behaupten, dass die Veröffentlichung der Namen und Standorte der Fabriken, in denen sie produzieren lassen, ihrer Wettbewerbsfähigkeit schaden würde. Doch das ist ein Trugschluss.

Zum einen ist die Vorstellung, dass solch ein Mindestmaß an Transparenz einen Wettbewerbsnachteil bedeutet, durch die Tatsache widerlegt, dass führende Unternehmen diese Informationen bereits veröffentlicht und über keinerlei daraus resultierende Einbußen berichtet haben.

Zum anderen teilen die meisten Modelabels diese Informationen bereits auf entsprechenden Industrie-Plattformen, so z.B. Sedex und the Fair Factory Clearinghouse. Auf diesen Plattformen tauschen sie Informationen über Zulieferfabriken aus, darunter auch Berichte zu den Arbeitsbedingungen.

Einige dieser angeblich „geheimen” Informationen zu Fabriknamen und Standorten sind für Mitbewerber auch in Datenbanken einsehbar, darunter Import Genius und Panjiva, die US-Zolldaten sammeln.

Die Veröffentlichung von Informationen zu Zulieferfabriken würde es Unternehmen, die in denselben Fabriken produzieren lassen, erlauben, wichtige Informationen über die dort herrschenden Arbeitsbedingungen auszutauschen. Somit könnten sie zusammenarbeiten, um die Verletzung von Arbeiterrechten oder gefährliche Arbeitsbedingungen zu verhindern.

Manche sagen, ihre Mitgliedschaft in Initiativen wie dem Bangladesh Accord on Fire and Building Safety, einem verbindlichen Abkommen zwischen Modeunternehmen und globalen Gewerkschaften, das als Reaktion auf das Rana Plaza-Unglück geschlossen wurde, zeige bereits ihren Einsatz für Transparenz. Dieses Abkommen veröffentlicht eine Liste aller Bekleidungsfirmen, die sich ihm angeschlossen haben. Es veröffentlicht jedoch keine Informationen dazu, welche Fabrik für welches Label in Bangladesch produziert und erst recht nicht, wer weltweit wo produzieren lässt. Die Initiative hat sich positiv auf den Brand- und Gebäudeschutz in Bangladesch ausgewirkt, sie ist jedoch kein Ersatz für unternehmenseigene Schritte für mehr Transparenz bei der Verwaltung ihrer Zulieferfabriken weltweit.

Mindestens ein Unternehmen, Inditex (zu dem auch Zara und andere Modelabels gehören), weigerte sich, Zulieferinformationen zu veröffentlichen, mit der Begründung, dass diese Informationen „vertraulich” mit globalen Gewerkschaften geteilt würden. Mit diesen hat das Unternehmen eine globale Rahmenvereinbarung getroffen, das die Arbeitsbedingungen in allen seinen Zulieferfabriken weltweit verbessern soll.  

Die Veröffentlichung von Informationen zu Zulieferfabriken würde den Effekt einer solchen Vereinbarung jedoch verstärken. Andere Marken wie ASOS, H&M und Tchibo, die ebenfalls globale Rahmenvereinbarungen getroffen haben, veröffentlichen dennoch die Informationen zu ihren Zulieferfabriken. Das zeigt, dass diese beiden Werkzeuge – die Rahmenvereinbarungen und Transparenz – gut Hand in Hand gehen können.

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Bekleidungsunternehmen, die Zulieferinformation veröffentlichen und andere Initiativen unterstützen

Zu den Mitgliedern des Bangladesh Accord gehören: adidas, ALDI Nord und ALDI Süd, Benetton, C&A, Cotton On, Esprit, G-Star RAW, Fast Retailing, H&M, Hugo Boss, John Lewis, Kmart Australia, LIDL, Lindex, Loblaw, Marks and Spencer, Next, New Look, Puma, PVH, Target Australia, Tchibo, Tesco und Woolworth.

Zu den Mitgliedern des Bündnisses für nachhaltige Textilien (kurz Textilbündnis), die Informationen über Zulieferfabriken veröffentlichen, gehören: adidas, ALDI Nord and ALDI Süd, C&A, Esprit, H&M, Hugo Boss, LIDL, Puma und Tchibo.

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Anreize für Transparenz schaffen - die Rolle der Investoren

Multistakeholder-Initiativen, die verschiedene Interessengruppen aus der Textilbranche zusammenbringen, so etwa Modelabels und Nichtregierungsorganisationen, wie z.B. die Ethical Trading-Initiative, die Fair Labor Association und die Sustainable Apparel Coalition, sollten eine wichtige Rolle dabei spielen, die Branche zu einem Mindestmaß an Transparenz zu bewegen.

Solche Initiativen sollten nur Unternehmen aufnehmen, die sich dazu verpflichten, Informationen zu Zulieferfabriken offenzulegen und Zeitpläne entwerfen, innerhalb derer die Mitglieder dieses Transparenzziel dann erreichen sollen. Zumindest sollten die Unternehmen, die sich in prominenten Führungsrollen – etwa im Vorstand solcher Initiativen -  befinden, dazu verpflichtet werden, Informationen zu ihren Zulieferfabriken zu veröffentlichen. So ist beispielsweise Primark im Vorstand der Ethical Trading-Initiative. Das macht es umso schlimmer, dass das Unternehmen sich weigert, für Transparenz zu sorgen. Auch Wal-Mart, Gründungsmitglied der Sustainable Apparel Coalition, hat bislang keine Zulieferinformationen veröffentlicht.

Investoren, darunter Rentenversicherungen, können ihre Rolle als Eigentümer in Unternehmen nutzen, um zu mehr Transparenz zu drängen. Investoren wie APG beispielsweise und Anlegergruppen wie SHARE Canada und das Interfaith Center for Corporate Responsibility befassen sich in Unternehmen regelmäßig mit der Transparenz in der Zulieferkette.

Das ist nicht nur aus sozialen Gründen geboten, es kann auch dabei helfen, die finanziellen Risiken der Investoren zu reduzieren, indem durch die Zusammenarbeit mit anderen Unternehmen bessere Präventivmaßnahmen ermöglicht werden. Der Corporate Human Rights Benchmark - unterstützt durch Investoren wie das Londoner Vermögensverwaltungsunternehmen Aviva Investors - verlangt ebenfalls, dass Modeunternehmen zumindest die obere Ebene ihrer Zulieferkette identifizieren und offenlegen.

„Bald wird es nicht mehr viel zu verstecken geben”, sagt Professor Ruggie und betont damit, dass Investoren immer größeren Wert auf wirtschaftliche, soziale und Governance-Indikatoren legen. „Menschen, die entweder Teil der Investorengemeinschaft sind oder für diese arbeiten, werden alles aufsaugen, was es da draußen gibt. Hierbei wird alles genutzt, von GPS bis Google Earth, um Informationen zu sammeln. Für die Unternehmen ist es besser, sie veröffentlichen selbst diese Informationen, bevor ein Datenprovider diese möglicherweise falsch deutet und sie als firmeneigene Information an ein Investmentgesellschaft oder eine Vermögensverwaltungsgesellschaft verkauft. Dies könnte zu negativen Bewertungen führen. Die Unternehmen werden selbst merken, dass mehr Transparenz besser für sie ist.“

Ein Appell an die Regierungen

Auch Regierungen sollen für Transparenz und die Umsetzung anderer obligatorischer Menschenrechtspraktiken in der Lieferkette von Modeunternehmen sorgen. Nur sie können Strafen für diejenigen Firmen verhängen, die sich nicht an die gesetzten Standards halten, und nur sie können solche durchsetzbaren Standards festlegen und so für faire Bedingungen für Firmen und Arbeiter sorgen.

Tragischerweise hat der Widerwille, Firmen zu regulieren, gepaart mit einer allgemeinen Trägheit der Regierungen dazu geführt, dass es weltweit kaum nennenswerte Gesetze gibt, welche die Menschenrechtsproblematik in der Textilindustrie aufgreifen. Vorschriften und Gesetze, die gezielt Bekleidungs- und Schuhfirmen dazu anhalten, ihre Zulieferinformationen zu veröffentlichen, wären hierbei ein wichtiger Schritt.

Dennoch könnten die Versuche einiger Regierungen, Unternehmen per Gesetz zum Einhalten der Menschenrechte entlang ihrer gesamten Lieferkette zu bringen, einiges ändern. So verlangt der britische Modern Slavery Act, der u.a. Unternehmen dazu anhält, moderne Sklaverei in ihrer gesamten Zulieferkette zu unterbinden, nicht ausdrücklich, dass Unternehmen Informationen zu ihren Zulieferfabriken veröffentlichen müssen.

Das Gesetz wurde jedoch ein Katalysator für mehr Transparenz: eine Reihe von britischen Bekleidungs- und Schuhunternehmen haben Zulieferinformationen veröffentlicht als Teil ihrer Risikominderungsstrategie für moderne Sklaverei in ihrer Zulieferkette. Das französische Gesetz zur Sorgfaltspflicht von Unternehmen ist ein weiteres Gesetz, das als Vorbild dienen kann und auf dem aufgebaut werden kann.

Spätestens seit dem Rana Plaza-Unglück darf kein Modeunternehmen mehr zögern, ein Mindestmaß an Transparenz zu schaffen. Arbeiterrechte und Menschenleben müssen an erster Stelle stehen.

In Bangladesch versucht Shabana indes weiterhin, in ein normales Leben zurückzufinden. Albträume und Depressionen machen ihr das Leben und das Arbeiten schwer. Noch einmal einen Fuß in eine Textilfabrik zu setzen, ist für sie undenkbar. „Arbeiter sollten wissen, für welche Modelabels sie arbeiten, damit sie die ganze Wahrheit erzählen können“, sagt sie.

Kategorien: Menschenrechte

Irak: Fehler und Probleme bei Verfahren gegen mutmaßliche ISIS-Mitglieder

Human Rights Watch: Frauenrechte - Mi, 27.05.2020 - 12:01

(Bagdad) – Die irakische Regierung und die Regionalregierung von Kurdistan führen Tausende Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder des Islamischen Staates, ohne systematisch den unter irakischem Recht und Völkerrecht schwersten Verbrechen Vorrang einzuräumen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Das planlose Vorgehen und die grassierenden Verfahrensfehler können dazu führen, dass schwerste Menschenrechtsverletzungen während der ISIS-Besatzung in einigen Teilen des Iraks nicht verfolgt werden.

Dezember 5, 2017 Report Flawed Justice

Accountability for ISIS Crimes in Iraq

Der 76-seitige Bericht „Flawed Justice: Accountability for ISIS Crimes in Iraq“ untersucht die Überprüfung, Inhaftierung, Ermittlung und strafrechtliche Verfolgung einiger der Tausenden mutmaßlichen Mitglieder des Islamischen Staates (auch bekannt als ISIS) im Irak. Dabei traten schwere juristische Probleme zutage, die die Bemühungen unterminieren können, ISIS-Mitglieder zur Verantwortung zu ziehen. Insbesondere hat der Irak keinerlei Strategie, um eine glaubwürdige Strafverfolgung der für die schwersten Verbrechen verantwortlichen Personen zu gewährleisten. Stattdessen werden unter Anti-Terror-Gesetzen sämtliche Personen verfolgt, die selbst minimalster Verbindungen zu ISIS verdächtig sind. Dieses Vorgehen droht, sowohl zukünftige, kommunale Aussöhnungs- und Wiedereingliederungsprozesse negativ zu beeinträchtigen, als auch die Gerichte und Gefängnisse jahrzehntelang zu überlasten.

„Die ISIS-Prozesse sind eine verpasste Chance, der Bevölkerung, der Welt und auch ISIS zu beweisen, dass der Irak ein Rechtsstaat ist, in dem Verfahrensgarantien und Gerechtigkeit herrschen, die Verantwortlichen für schwerste Verbrechen vor Gericht gebracht werden und allen von diesem Krieg betroffenen Gemeinschaften Aussöhnung ermöglicht wird“, so Sarah Leah Whitson, Leiterin der Abteilung Naher Osten von Human Rights Watch. „Der irakischen Justiz gelingt es nicht, zwischen der Schuld zu unterscheiden, die Ärzte auf sich geladen haben, wenn sie unter der Herrschaft von ISIS Leben retteten, und der, die die Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit trifft.“

Der Bericht wird mit Regierungsangehörigen in Erbil und Bagdad diskutiert werden. Er basiert auf Informationen, die im Zeitraum November 2016 bis Juli 2017 in Erbil, im Gouvernement Ninawa und in Bagdad gesammelt wurden. Dazu wurden Gefängnisse besucht, in denen Tausende mutmaßliche ISIS-Mitglieder inhaftiert sind, sowie Gerichte in Ninawa, Bagdad und Erbil, in denen Prozesse gegen solche Personen geführt wurden. Zudem wurden führende Beamte der irakischen Regierung und der Regionalregierung von Kurdistan befragt, sowie mindestens 100 Familien mutmaßlicher ISIS-Mitglieder, Dutzende Personen, die unter der Herrschaft von ISIS Opfer schwerster Verbrechen wurden oder Angehörige verloren haben, Vertreter internationaler Nichtregierungsorganisationen, die zum irakischen Justizsystem arbeiten, Anwälte und anderen Rechtsexperte.

Das zentrale Ergebnis des Berichts ist, dass die irakische Regierung und die Regionalregierung von Kurdistan der Strafverfolgung schwerster Menschenrechtsverbrechen und Anklagen, die das volle Spektrum der Verbrechen von ISIS abbilden, nicht systematisch Vorrang einräumen. Augenscheinlich ermitteln die Behörden unter Anti-Terror-Gesetzen gegen alle Verdächtigen, die sich in ihrem Gewahrsam befinden, und legen ihnen vorrangig eine ISIS-Mitgliedschaft zur Last, statt sich auf konkrete Handlungen und Verbrechen zu konzentrieren.

Gegen mindestens 7.374 Personen wurden seit dem Jahr 2014 solche Anklagen erhoben, 92 wurden zum Tode verurteilt oder hingerichtet. Insgesamt befinden sich schätzungsweise 20.000 Personen wegen mutmaßlichen Verbindungen zu ISIS in Haft, eine Zahl, die auf Informationen von Regierungsangehörigen beruht.

Der Bericht weist auf mögliche verfahrensrechtliche Probleme bei der Überprüfung von Personen hin, die von ISIS kontrollierte Gebiete verlassen. Das betrifft beispielsweise die Art, wie Listen von Verdächtigen geprüft werden, die Sicherheitskräfte vor Ort erstellt haben. Personen, die fälschlicherweise als Verdächtige identifiziert werden, bleiben teilweise monatelang in Willkürhaft.

Darüber hinaus halten die irakischen Behörden mutmaßliche ISIS-Mitglieder in überfüllten Einrichtungen und zum Teil unter unmenschlichen Bedingungen fest. Minderjährige werden nicht getrennt von erwachsenen Häftlingen untergebracht. Zudem ignorieren Beamte das Recht auf ein faires Verfahren, auch die im irakischen Recht verbrieften Rechte darauf, innerhalb von 24 Stunden von einem Richter angehört zu werden, während Befragungen Zugang zu einem Anwalt zu haben, Familien über eine Inhaftierung zu informieren und Familienangehörigen zu gestatten, mit den Gefangenen zu kommunizieren. Einige Gefangenen warfen den Behörden außerdem Folter vor, um sie dazu zu zwingen, ihre angebliche ISIS-Mitgliedschaft zu gestehen.

Unter den übermäßig breiten Anti-Terror-Gesetzen, auf deren Grundlage die irakische Regierung und die Regionalregierung von Kurdistan mutmaßliche ISIS-Mitglieder verfolgen, können Richter Anklagen gegen Personen erheben, denen keine konkreten Verbrechen, sondern ausschließlich Verbindungen zu oder Unterstützung von ISIS vorgeworfen wird. Von solchen Anklagen sind auch Personen betroffen, die in von ISIS geführten Krankenhäusern gearbeitet haben, sowie Köche, die Essen für Kämpfer zubereitet haben. Auf Verstöße gegen die Anti-Terror-Gesetze stehen harte Strafen, darunter lebenslange Haft oder die Todesstrafe, auch für eine bloße ISIS-Mitgliedschaft.

„Gestern habe ich den Fall eines ISIS-Kochs bearbeitet, und ich habe empfohlen, ihn mit dem Tode zu bestrafen. Wie hätten die ISIS-Kämpfer Menschen hinrichten können, wenn sie nicht am Abend zuvor eine ordentliche Mahlzeit bekommen hätten?“, so ein führender Richter aus der Terrorismusbekämpfung.

Mutmaßliche ISIS-Mitglieder wegen Verstößen gegen Anti-Terror-Gesetze anzuklagen statt wegen konkreter Verbrechen unter dem Strafgesetzbuch ist aus beweistechnischer Sicht oft einfacher, insbesondere bei Verbrechen, die inmitten des chaotischen Kriegsgeschehens verübt wurden. Aber dieses Vorgehen erschwert es, den schwersten Verbrechen Vorrang einzuräumen, sie zu ahnden und ein umfassendes, rechtliches Bild der Gräueltaten zu zeichnen, die ISIS im Irak verübt hat. Zudem bemühen sich die Behörden nicht darum, den Opfern zu ermöglichen, an den Prozessen teilzunehmen, nicht einmal als Zeugen.

Wenn mutmaßliche ISIS-Mitglieder belegen können, dass sie der Organisation gegen ihren Willen beigetreten sind und an keinem Verbrechen beteiligt waren, haben sie unter Umständen das Recht darauf, nach ihrer Verurteilung entlassen zu werden. Das Gesetz über Generalamnestie vom August 2016 (Nr. 27/2016) sieht das vor, aber die Richter wenden es nicht konsequent an. Die Regionalregierung von Kurdistan hat kein Amnestiegesetz für mutmaßliche oder verurteilte ISIS-Mitglieder erlassen und hat dies Sprechern zufolge auch nicht geplant.

Die Behörden sollen der Strafverfolgung schwerster Verbrechen jeglicher Art Vorrang einräumen. Außerdem sollen sie für diejenigen Personen, deren einziges Vergehen ihre ISIS-Mitgliedschaft war, Alternativen zur Strafverfolgung ausloten, etwa die Teilnahme an landesweiten Wahrheitsfindungsprozessen.

Mindestens sollen sie die Verfahren gegen Personen fallen lassen, deren Tätigkeiten unter ISIS-Herrschaft zum Schutz der Menschenrechte von Zivilisten beitrugen, etwa Personen, die im Gesundheits- oder Sozialwesen arbeiteten. Insbesondere für Kinder sollen die Behörden Alternativen zu Inhaftierung und Strafverfolgung finden und Rehabilitierungs- und Wiedereingliederungsprogramme entwickeln, um ihre Rückkehr in die Gesellschaft zu unterstützen.

„Das irakische Amnestiegesetz ersetzt keine landesweite Strategie, die faire Verfahren gewährleistet und Alternativen zu einer Strafverfolgung von Personen entwickelt, die nicht an den Gewaltakten und schweren Verbrechen von ISIS beteiligt waren“, sagt Whitson. „Der Irak braucht genauso dringend einen Plan für Wahrheits- und Versöhnungsprozesse wie einen Plan dafür, wie die schlimmsten Verbrecher hinter Gitter gebracht werden sollen.“

Kategorien: Menschenrechte

Indien: Justiz für Vergewaltigungsopfer schwer erreichbar

Human Rights Watch: Frauenrechte - Mi, 27.05.2020 - 12:01

November 7, 2017 Video Video: Rape Survivors Face New Nightmares in Justice System

Rape survivors in India face significant barriers to obtaining justice and critical support services. Legal and other reforms adopted since the gang rape and murder of a student, Jyoti Singh Pandey, in Delhi in December 2012 have not been fully realized. 


(New York) – Vergewaltigungsopfer in Indien stehen vor erheblichen Hindernissen beim Zugang zur Justiz und zu wichtigen Unterstützungsangeboten, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die rechtlichen Reformen und anderen Maßnahmen, die nach der Massenvergewaltigung und Ermordung der Studentin Jyoti Singh Pandey in Delhi im Dezember 2012 eingeleitet wurden, sind nicht vollständig umgesetzt worden.

Der 82-seitige Bericht „‘Everyone Blames Me’: Barriers to Justice and Support Services for Sexual Assault Survivors in India“ dokumentiert, dass Frauen und Mädchen, die Opfer einer Vergewaltigung oder anderer Formen sexueller Gewalt geworden sind, in Polizeiwachen und Krankenhäusern häufig erniedrigend behandelt werden. Polizeibeamten sind oft nicht bereit, Anzeigen aufzunehmen. Opfer und Augenzeugen erhalten keinen Schutz, und medizinische Fachkräfte nötigen Frauen noch immer zu herabwürdigenden „Zwei-Finger-Tests“. Zu diesen Einschränkungen des Justizzugangs und der Menschenwürde kommt erschwerend hinzu, dass die Opfer während ihrer Gerichtsverfahren eine mangelhafte Gesundheitsversorgung, psychologische Beratung und Rechtshilfe erhalten.

„Vor fünf Jahren forderten viele Inder, die über die Brutalität der Gruppenvergewaltigung in Neu-Dehli schockiert waren, ein Ende des Schweigens beim Thema sexuelle Gewalt, und sie verlangten Reformen im Strafrecht“, so Meenakshi Ganguly, Direktorin der Süd-Asien-Abteilung von Human Rights Watch. „Heute gibt es stärkere Gesetze und Richtlinien, doch es muss noch viel getan werden, damit Polizei, Ärzte und Gerichte die Opfer mit Würde behandeln.“

Human Rights Watch führte in den vier indischen Bundesstaaten Haryana, Uttar Pradesh, Madhya Pradesh und Rajasthan Vor-Ort-Recherchen und Befragungen durch. Die Bundesstaaten wurden aufgrund der hohen Zahl der dort gemeldeten Vergewaltigungsfälle ausgewählt. Die Recherchen erstreckten sich auch auf die Städte Neu-Dehli und Mumbai. Der Bericht untersucht 21 Fälle, davon zehn, die minderjährige Mädchen betreffen. Die Ergebnisse des Berichts stützen sich auf mehr als 65 Interviews mit Opfern, Angehörigen, Rechtsanwälten, Menschenrechtlern, Ärzten, Gerichtsmedizinern sowie Regierungs- und Polizeibeamten. Hinzu kamen Recherchen indischer Organisationen. Es braucht Zeit, um Mentalitäten zu ändern, doch die indische Regierung soll schon jetzt dafür sorgen, dass die Opfer und ihre Familien medizinische, psychologische und juristische Unterstützung erhalten. Gleichzeitig soll sie mehr tun, um Polizisten, Juristen und Ärzte für einen angemessenen Umgang mit sexueller Gewalt zu sensibilisieren. Meenakshi Ganguly

Direktorin der Süd-Asien-Abteilung

Nach indischem Recht droht Polizeibeamten, die eine Anzeige wegen sexueller Übergriffe nicht aufnehmen, eine Haftstrafe von bis zu zwei Jahren. Dennoch ergaben die Recherchen von Human Rights Watch, dass die Polizei nicht immer eine schriftliche Ersterfassung (First Information Report, kurz FIR) vornimmt. Diese ist der erste Schritt zur Einleitung polizeilicher Ermittlungen, insbesondere wenn das Opfer aus einer wirtschaftlichen oder sozialen Randgruppe stammt. In mehreren Fällen wehrte sich die Polizei gegen die Ausstellung eines FIR oder drängte die Familie des Opfers zu einer „Einigung“ oder einem „Kompromiss“, insbesondere wenn die beschuldigte Person aus einer einflussreichen Familie oder Gruppe stammte.

Das Gesetz zur Änderung des Strafrechts von 2013 hat die Definition einer Sexualstraftat auch auf sexuelle Belästigung, Voyeurismus und Stalking erweitert. In den vier Fällen von sexueller Belästigung gegen Mädchen, welche Human Rights Watch dokumentierte, gab es Verzögerungen bei den Ermittlungen und der schriftlichen Erfassung der Tatvorwürfe durch die Polizei. Die Eltern der Betroffenen gaben an, nachdem sie Anzeige erstattet hätten, hätten sie Angst um die Sicherheit ihrer Töchter gehabt, weil die Beschuldigten problemlos gegen Kaution freigekommen seien und Drohungen gegen sie ausgesprochen hätten.

Da es in Indien kein Zeugenschutzgesetz gibt, sind Opfer und Zeugen von Vergewaltigung anfällig für Druckmittel, die eine Strafverfolgung vereiteln sollen. So setzen inoffizielle dörfliche Kastenräte, die Khap Panchayats, häufig Angehörige der „Unberührbaren“ und der „unteren“ Kasten unter Druck, auf eine Strafverfolgung zu verzichten oder ihre Aussagen zu ändern, falls die beschuldigte Person aus einer der höheren Kasten stammt.

Das indische Recht verpflichtet Ärzte, Frauen und Mädchen, die sich ihnen wegen einer Vergewaltigung anvertrauen, kostenfrei erste Hilfe zu leisten und sie medizinisch zu untersuchen. Die ärztliche Untersuchung dient nicht nur therapeutischen Zwecken, sondern auch der Sicherung forensischer Beweise.

Im Jahr 2014 veröffentlichte das Ministerium für Gesundheit und Familienwohl Leitlinien für die medizinisch-rechtliche Versorgung der Opfer von sexueller Gewalt, um ihre ärztliche Untersuchung und Behandlung zu vereinheitlichen. Die Richtlinien liefern wissenschaftliche Informationen und medizinische Verfahren, die zur Beseitigung weitverbreiteter Irrtümer beitragen sollen. Sie lehnen den sogenannten „Zwei-Finger-Test“ ab und schränken interne vaginale Untersuchungen auf Fälle ein, in denen sie „medizinisch angezeigt“ sind. Ebenfalls abgelehnt wird es, aufgrund medizinischer Befunde die unwissenschaftliche und herabwürdigende Einschätzung vorzunehmen, inwieweit das Opfer „an Sex gewöhnt“ war.

Da die Gesundheitsversorgung aufgrund der föderalen Struktur Indiens Sache der Bundesstaaten ist, sind deren Regierungen nicht gesetzlich verpflichtet, die Richtlinien aus dem Jahr 2014 umzusetzen. Human Rights Watch kam zu dem Ergebnis, dass auch in Bundesstaaten, welche die Leitlinien verabschiedet haben, sich viele Mediziner nicht an die Empfehlungen halten. In anderen Bundesstaaten gelten vielfach Regeln, die veraltet sind und im Hinblick auf Detailgenauigkeit und die Sensibilität hinter den zentralen Leitlinien aus dem Jahr 2014 zurückbleiben.

Während die Behörden beginnen, die Sammlung forensischer Beweismittel zu vereinheitlichen, bieten die bundesstaatlichen Gesundheitssysteme Vergewaltigungsopfern nahezu keine therapeutische Versorgung oder psychologische Beratung. Dies gilt auch für den Zugang zu sicheren Abtreibungen und Tests auf Geschlechtskrankheiten.

Opfer von sexueller Gewalt, insbesondere jene aus ärmeren und marginalisierten Bevölkerungsteilen, erhalten keine wirksame rechtliche Unterstützung. Nach einem Urteil des Verfassungsgerichts aus dem Jahr 1994 muss die Polizei den Opfern von Sexualdelikten rechtliche Hilfe anbieten und eine Liste mit Angeboten zur juristischen Unterstützung bereithalten. Dies ist jedoch nur selten der Fall. In keinem der 21 von Human Rights Watch dokumentierten Fälle informierte die Polizei das Opfer über seinen Anspruch auf Rechtshilfe oder klärte es über juristische Hilfsangebote auf.

In den Gerichtssälen benutzen Rechtsanwälte und Richter oft immer noch eine Sprache, die gegenüber den Opfern von sexueller Gewalt voreingenommen und abfällig ist. „Der Versuch, das Opfer zu beschämen, ist vor Gericht noch immer weit verbreitet“, so Rebecca Mammen John, eine erfahrene Anwältin für Strafrecht in Neu-Delhi.

Die Zentralregierung und die Regierungen der Bundesstaaten haben mehrere Initiativen ins Leben gerufen, um die Opfer sexueller Gewalt zu unterstützen. Ohne einen Rahmen zur Kontrolle und Evaluierung sind diese jedoch weitgehend unzulänglich und unwirksam, so Human Rights Watch. Landesweit gibt es 524 Gerichte für beschleunigte Verfahren, die bei Straftaten gegen Frauen und Kinder schnell Recht sprechen sollen. Dies bewirkt jedoch nur wenig, solange andere Schlüsselprobleme nicht behoben werden. So sollten etwa die Opfer juristische Unterstützung erhalten, um sich im Justizsystem zurechtzufinden.

Im Jahr 2015 wurde ein zentraler Fonds zur Entschädigung von Opfern eingerichtet, aus dem jedes Vergewaltigungsopfer mindestens 300.000 Rupi (4.650 US-Dollar) erhalten soll. Die tatsächlichen Zahlungen variieren jedoch je nach Bundesstaat. Das System ist ineffizient, viele Betroffene müssen lange warten oder erhalten überhaupt keinen Zugang. Nur in drei der 21 Fälle, welche Human Rights Watch dokumentierte, hatten die Opfer eine Entschädigung erhalten.

Das System der integrierten Zentren (One Stop Centre Scheme) ist in der Praxis noch immer wirkungslos. Die Zentren sollen sämtliche Leistungen bündeln, insbesondere polizeiliche Unterstützung, Rechtshilfe, medizinische Versorgung und psychologische Betreuung. Die Regierung hat nach eigenen Angaben landesweit 151 dieser Einrichtungen geschaffen. Einzelberichten zufolge, die Human Rights Watch und andere Organisationen gesammelt haben, ist die Koordination der verschiedenen beteiligten Behörden und Ministerien jedoch mangelhaft und die Bekanntheit der Zentren innerhalb der Bevölkerung sehr gering.

„Wenn ein Opfer eine Vergewaltigung anzeigt, soll dies nicht dazu beitragen, dass sein Albtraum noch schlimmer wird“, so Ganguly. „Es braucht Zeit, um Mentalitäten zu ändern, doch die indische Regierung soll schon jetzt dafür sorgen, dass die Opfer und ihre Familien medizinische, psychologische und juristische Unterstützung erhalten. Gleichzeitig soll sie mehr tun, um Polizisten, Juristen und Ärzte für einen angemessenen Umgang mit sexueller Gewalt zu sensibilisieren.“

Kategorien: Menschenrechte

KiK hinkt in Sachen Transparenz hinterher

Human Rights Watch: Frauenrechte - Mi, 27.05.2020 - 12:01

Das Unternehmen KiK steht alleine im Abseits. Alle anderen Bekleidungsfirmen informieren inzwischen über ihre Lieferketten. Der Gastbeitrag.

Immer mehr Bekleidungsfirmen in Deutschland veröffentlichen Informationen zu ihren Produktionsstätten. Leider hinkt KiK in Sachen Transparenz hinterher und hat sich anderen Unternehmen noch nicht angeschlossen.

Transparenz in der Bekleidungsindustrie ist wichtig, wenn es darum geht, in welchen Fabriken die Unternehmen ihre Kleidung produzieren lassen. Wenn die Label die Namen und wichtige Informationen zu ihren Produktionsstätten veröffentlichen, können Arbeiter und Arbeitsrechtler sie schnell über unsichere Arbeitsbedingungen oder über Arbeitsrechtsverletzungen informieren. Dies kann helfen, tödliche Unglücke zu verhindern.

Transparenz in der Bekleidungsindustrie ist wichtig

Viele Bekleidungsfirmen verstehen das. Seit Oktober 2016 hat sich eine internationale Koalition von neun Menschenrechtsgruppen und Gewerkschaften, darunter auch Human Rights Watch, im Rahmen des Transparency Pledge für ein Mindestmaß an Transparenz bei der Lieferkette in der Textilbranche eingesetzt. Zu diesem Bündnis gehören verschiedene Einrichtungen, darunter die deutsche Regierung, Schuh- und Bekleidungsfirmen, Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften.

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Eine Textilarbeiterin näht Kleidung in einem Gebäude in der Nähe der eingestürzten Rana Plaza-Fabrik.

© 2014 G.M.B. Akash/Panos

Diese Koalition schrieb führende Bekleidungsfirmen an, die in Deutschland Mitglied des Bündnisses für nachhaltige Textilien sind, und forderte sie auf, ihre Lieferketten offenzulegen. Zu diesem Bündnis gehören verschiedene Einrichtungen, darunter die deutsche Regierung, Schuh- und Bekleidungsfirmen, Nichtregierungsorganisationen und Gewerkschaften.

Wenn es um die Transparenz bei der Lieferkette geht, dann steht KiK allein im Abseits. Alle anderen Bündnispartner, die wir angeschrieben haben, gaben positive Antworten. Aldi Nord, Aldi Süd, Lidl, Hugo Boss und Tchibo sind von ihrer ursprünglichen Position abgerückt und haben 2017 erstmals Informationen zu ihren Produktionsstätten veröffentlicht. Adidas, C&A, Esprit, und H&M – alles Firmen, die diese Informationen bereits veröffentlicht hatten – verpflichteten sich, die Offenlegung in Einklang mit dem Transparency Pledge zu bringen. Auch Puma sicherte zu, mehr Informationen zu Produktionsstätten zu veröffentlichen, als es dies derzeit schon tut. Diese Firmen zeigen, dass sie keinen Wettbewerbsnachteil durch die Veröffentlichung von Zulieferinformationen haben. In einem Brief von KiK an Human Rights Watch sagte das Unternehmen, dass KiK ein aktives Mitglied im Bündnis für nachhaltige Textilien sei und sich verpflichtet habe, die Ziele und Vorhaben des Bündnisses nach vollsten Kräften zu unterstützen. Die Frage, ob die weltweiten Lieferketten offengelegt werden, werde zurzeit im Bündnis diskutiert. Bislang sei jedoch noch keine verbindliche Entscheidung getroffen worden, so KiK.

KiK steht im Abseits

Den Unternehmen im Bündnis steht es jedoch frei, ihre Geschäftspraktiken zu verbessern, wenn sie dies möchten. Hierzu müssen sie nicht erst die Entscheidungen des Textilbündnisses abwarten. So macht der Leitfaden für die Erstellung der Roadmap 2017 den Mitgliedern klar, dass „es auch möglich ist, die Ziele frei zu formulieren, sofern der Zusammenhang zur Schlüsselfrage und den Indikatoren plausibel ist“. So haben andere Hersteller, die dem Bündnis angehören, Informationen zu ihren Produktionsstätten bereits auf ihren Websites veröffentlicht.

Das Bündnis vorzuschieben, um schlechte Entscheidungen zu rechtfertigen, dies wirft nicht nur ein schlechtes Licht auf KiK. Es setzt auch den Ruf des Bündnisses aufs Spiel. KiK sollte nicht länger nach Ausreden suchen, sondern für Transparenz sorgen.

KiK-Produktionsstätte in Pakistan

2012 tobte ein verheerendes Feuer in einer KiK-Produktionsstätte in Pakistan. 255 Arbeiter kamen ums Leben, weitere 57 wurden verletzt. Vergangenes Jahr stimmte KIK einem Entschädigungspaket von rund fünf Millionen US-Dollar für die Opfer zu. Finanzielle Entschädigungen nach einer solchen Katastrophe sind wichtig, und es ist lobend zu erwähnen, dass hier eine Einigung erzielt wurde.

Es ist jedoch ebenso wichtig, dass Firmen alles in ihrer Macht Stehende tun, um Probleme in ihren Produktionsstätten offenzulegen, bevor es zu solchen Unglücken kommt. Dies kann am besten erreicht werden, wenn Arbeiter, Verbraucher und eine breite Öffentlichkeit erfahren, für welche Marken eine bestimmte Fabrik Waren herstellt. Ohne dieses Wissen erfahren die Firmen unter Umständen erst von Menschenrechtsverletzungen am Arbeitsplatz, Problemen bei der Arbeitssicherheit und in anderen Bereichen, wenn es schon zu spät ist.

Wenn eine Firma sich für Arbeiterrechte starkmacht, dann muss sie für Transparenz in der Lieferkette sorgen. Auch KiK soll transparent sein und sich den anderen Mitgliedern des Bündnisses anschließen, die ihre Informationen offengelegt haben. Dann sollen alle einfordern, dass dieses Vorgehen obligatorischer Bestandteil der Roadmap für jedes Mitglied wird.

Kategorien: Menschenrechte

Afghanistan: Mädchen kämpfen um Bildung

Human Rights Watch: Frauenrechte - Mi, 27.05.2020 - 12:01
Oktober 17, 2017 Video Afghanistan: Girls Struggle for an Education

“By the time we walked to school, the school day would end.” – Najiba, 15, explaining why she and her eight siblings did not go to school in Daikundi, Mazar-i Sharif, July 2016.

(Kabul) – Die seit 2001 unternommenen Anstrengungen der afghanischen Regierung und der internationalen Geber, Mädchen den Zugang zu Bildung zu ermöglichen, haben in den letzten Jahren deutlich nachgelassen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Sechzehn Jahre nachdem die Taliban durch eine US-geführte Militärintervention abgesetzt wurden, erhalten schätzungsweise zwei Drittel aller afghanischen Mädchen keine Schulbildung.

„Die afghanische Regierung und die Geber haben im Jahr 2001 großspurig versprochen, allen Mädchen eine Schulbildung zu geben. Doch Unsicherheit, Armut und Vertreibung zwingen heute viele Mädchen, der Schule fernzubleiben“, so Liesl Gerntholtz, Leiterin der Frauenrechtsabteilung von Human Rights Watch. „Die Regierung muss sich wieder darauf konzentrieren, allen Mädchen den Schulzugang zu ermöglichen, sonst könnten alle bisherigen Fortschritte verloren gehen.“

Der 132-seitige Bericht „I Won’t Be a Doctor, and One Day You’ll Be Sick: Girls’ Access to Education in Afghanistan” dokumentiert, wie sich im Zuge der Verschlechterung der Sicherheitslage viele internationale Geber von Afghanistan abwenden und so die Fortschritte beim Schulzugang für Mädchen zum Stillstand gekommen sind. Der Bericht stützt sich auf 249 Interviews, die in den Provinzen Kabul, Kandahar, Balkh und Nangarhar durchgeführt wurden. Befragt wurden vornehmlich Mädchen im Alter von 11 bis 18 Jahren, die ihre Schulbildung nicht abschließen konnten. The War for Girls' Education in Afghanistan

Families are fighting desperately to educate their daughters in the face of enormous obstacles. 

Special Feature

Das Thema Bildungschancen für Mädchen wird von den Gebern und der afghanischen Regierung häufig als Erfolgsgeschichte präsentiert. Tatsächlich gehen heute Millionen mehr Mädchen zur Schule als zur Zeit der Taliban. Doch das erklärte Ziel, alle Mädchen in die Schulen gehen zu lassen, ist noch weit von seiner Verwirklichung entfernt. Stattdessen sinkt der Anteil von Schülerinnen in einigen Landesteilen heute wieder. Nach Angaben der Regierung gehen 3,5 Millionen Kinder nicht zur Schule, 85 Prozent davon Mädchen. Nur 37 Prozent der weiblichen Jugendlichen können lesen und schreiben, gegenüber 66 Prozent bei ihren männlichen Altersgenossen.

Die afghanische Regierung betreibt weniger Schulen für Mädchen als für Jungen, sowohl Grundschulen als auch weiterführende Schulen. In der Hälfte der Provinzen sind weniger als 20 Prozent der Lehrkräfte weiblich – ein erhebliches Hindernis für die vielen Mädchen, deren Familien nicht zulassen, dass ihre Töchter von einem Mann unterrichtet werden, insbesondere im Jugendalter.

Viele Kinder leben zu weit von der nächstgelegenen Schule entfernt, was Mädchen in besonderem Maße trifft. Rund 41 Prozent der Schulen verfügen über keine festen Gebäude. Vielen Schulen fehlen Begrenzungsmauern, Wasseranschlüsse und Toiletten – auch dies betrifft Mädchen überproportional.

Die 15-jährige Kahater, die in der ländlichen Provinz Samangan aufgewachsen ist, sagte im Gespräch mit Human Rights Watch: „Es war sehr weit bis zur nächsten Mädchenschule – die war in einem anderen Dorf… Auf einem Esel oder Pferd würde man morgens bis mittags brauchen.“

Mädchen müssen zu Hause bleiben, weil in ihrem Umfeld diskriminierende Ansichten vorherrschen, die ihrer Erziehung keinen Wert bzw. keine Berechtigung zumessen. Ein Drittel aller Mädchen heiratet vor Erreichen des 18. Lebensjahrs. Sobald sie verlobt oder verheiratet sind, werden die Mädchen häufig gezwungen, die Schule abzubrechen.

Viele Familien kämpfen verzweifelt dafür, dass ihre Töchter trotz enormer Hindernisse eine Schulbildung erhalten. Sie verdienen Unterstützung. Human Rights Watch befragte Familien, die innerhalb einer Stadt oder innerhalb des Landes umgezogen waren, um eine Schule für ihre Töchter zu finden. Andere nahmen eine Trennung der Familie in Kauf, um den Mädchen den Schulbesuch zu ermöglichen. Manche Familien schickten ihre älteren Söhne auf die gefährliche Reise in den Iran, um dort illegal zu arbeiten und so die Schulgebühren für ihre jüngeren Schwestern zu bezahlen.

Nach afghanischem Recht ist die Schulbildung bis zur neunten Klasse verpflichtend. Dann sind die Kinder normalerweise etwa 14 Jahre alt. In der Praxis haben viele Kinder jedoch keinen Zugang zu einer Schulbildung bis zu dieser Stufe – oder überhaupt irgendeiner Schulbildung. Bürokratische Hürden und Korruption schaffen weitere Hindernisse, besonders für binnenvertriebene und sozial schwache Familien. Selbst wenn die Schulen gebührenfrei sind, entstehen durch den Schulbesuch der Kinder Kosten, so dass viele Familien es sich nicht leisten können, eines ihrer Kinder zur Schule zu schicken. Oft sorgen finanzielle Einschränkungen dafür, dass Söhne bevorzugt eingeschult werden. Etwa jedes vierte Kind in Afghanistan arbeitet, um seiner Familie trotz bitterer Armut ein Auskommen zu ermöglichen. Viele Mädchen weben, sticken, gehen betteln oder sammeln Müll, statt zur Schule zu gehen.

Die Taliban und andere aufständische Gruppen kontrollieren oder beanspruchen heute mehr als 40 Prozent der afghanischen Distrikte. Die Kämpfe zwischen Taliban und Regierungstruppen haben Tausende Familien gezwungen, ihre Häuser zurückzulassen. Mehr als eine Million Afghanen sind Binnenvertriebene. In vielen Gebieten, die unter der Kontrolle der Taliban stehen, ist der Schulbesuch für Mädchen verboten oder auf wenige Jahre begrenzt. In umkämpften Gebieten bedeutet der Schulbesuch ein erhöhtes Sicherheitsrisiko. Mit dem Konflikt einher geht Gesetzlosigkeit: So gibt es immer mehr Milizen und kriminelle Banden, und Mädchen sind von sexueller Belästigung, Entführungen, Säureangriffen sowie gezielten Angriffen auf ihre Schulbildung bedroht. In diesem Umfeld wird der Zugang zu Bildung zunehmend erschwert, was Mädchen überproportional trifft.

Internationale Geber haben in Kooperation mit der afghanischen Regierung innovative Modelle entwickelt, die es Mädchen erlauben sollen, trotz des eskalierenden Konflikts weiter zur Schule zu gehen. „Gemeinschaftsnahe Bildung“ besteht aus einem Netzwerk von Kursen, die oft in Privathäusern unterrichtet werden, was es vor allem Mädchen ermöglicht, auch fernab der staatlichen Schulen in ihrem sozialen Umfeld eine Schulbildung zu erhalten. Da diese speziellen Kurse jedoch ausschließlich von Gebern finanziert und von Nichtregierungsorganisationen umgesetzt werden, gibt es keine einheitliche Anbindung an das staatliche Schulsystem und der Unterricht findet wegen der unzuverlässigen Finanzierungszyklen der Nichtregierungsorganisationen nicht regelmäßig statt.

„Die Schulbildung vieler Mädchen könnte gerettet werden, indem man den gemeinschaftsnahen Unterricht in das staatliche Schulsystem integriert, nachhaltig finanziert und ihre Qualität kontrolliert“, so Gerntholtz.

Nach den internationalen Standards der UNESCO sollte die Regierung mindestens 15 bis 20 Prozent ihres Gesamtbudgets und 4 bis 6 Prozent des BIP für Bildung ausgeben. Die Vereinten Nationen fordern, dass die am wenigsten entwickelten Staaten, also auch Afghanistan, diese Spannen voll ausschöpfen oder sogar überschreiten.

Die afghanische Regierung sollte gemeinsam mit ihren internationalen Gebern den Schulzugang für Mädchen verbessern, indem sie Schulen und Schüler besser schützt sowie Bildungsmodelle, die Mädchen beim Lernen helfen, institutionalisiert und ausweitet. Sie sollten zudem konkrete Maßnahmen ergreifen, um Afghanistans internationale Verpflichtungen zu erfüllen und eine universelle, kostenlose, verpflichtende Grundschulbildung anzubieten sowie landesweit kostenlos eine weiterführende Schulbildung verfügbar zu machen. Sie sollten außerdem Angebote zur „fundamentalen Bildung“ für  Menschen, die keine Schulbildung erhalten haben oder die Grundschule nicht abschließen konnten, bewerben und ausbauen.

„Trotz der großen Probleme, mit denen Afghanistan konfrontiert ist, kann und sollte die Regierung darauf hinarbeiten, dass Mädchen und Jungen den gleichen Bildungszugang erhalten und die gemeinschaftsnahe Bildung ins staatliche Schulsystem integriert wird“, so Gerntholtz. „Die Geber sollen sich verpflichten, die Schulbildung für Mädchen langfristig zu unterstützen, und genau prüfen, wofür ihre Mittel eingesetzt werden.“

Kategorien: Menschenrechte

Burma: Militär verübt Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Human Rights Watch: Frauenrechte - Mi, 27.05.2020 - 12:01

 

(New York) – Die Sicherheitskräfte in Burma verüben Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen die Volksgruppe der Rohingya, so Human Rights Watch heute. Das Militär geht mit Zwangsabschiebungen, Mord, Vergewaltigung und Verfolgung gegen Rohingya-Muslime im nördlichen Teil der Provinz Rakhaine vor. Dies hat zu unzähligen Todesopfern und massenhafter Vertreibung gefhrt.

Der UN-Sicherheitsrat und alle betroffenen Staaten sollen umgehend gezielte Sanktionen und ein Waffenembargo gegen das burmesische Militär verhängen, um weitere Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verhindern. Der Sicherheitsrat soll Burma auffordern, Hilfsorganisationen Zugang zu den hilfsbedürftigen Menschen zu gewähren, eine UN-Ermittlermission zur Untersuchung der Menschenrechtsverletzung ins Land zu lassen und die sichere und freiwillige Rückkehr der Vertriebenen zu ermöglichen. Der Rat soll auch Maßnahmen erörtern, um die Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen, etwa vor dem Internationalen Strafgerichtshof.

„Das burmesische Militär vertreibt die Rohingya brutal aus dem nördlichen Rakhaine“, so James Ross, Leiter der Rechtsabteilung von Human Rights Watch. „Die Massaker an Dorfbewohnern und die massenhafte Brandstiftung, mit denen die Menschen vertrieben werden, stellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.“

Als Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind nach internationalem Recht Verbrechen definiert, die „im Rahmen einen ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs“ erfolgen. Die Angriffe des burmesischen Militärs auf die Rohingya  erfolgen ausgedehnt und systematisch. Aus den Erklärungen des Militärs und einiger Regierungsvertreter geht zudem hervor, dass diese Bevölkerungsgruppe gezielt angegriffen wird.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen unter die Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag und unterliegen dem Prinzip der Universellen Justiz. Solche Akte können folglich auch von nationalen Gerichten außerhalb Burmas verfolgt werden, selbst wenn weder Opfer noch Täter Staatsbürger des betreffenden Landes sind.

Die Recherchen von Human Rights Watch in der Region und die Auswertung von Satellitenfotos belegen Deportationen und Zwangsumsiedlungen, Morde und versuchte Morde, Vergewaltigungen und andere sexuelle Übergriffe sowie das Verbrechen der „Verfolgung“ im Sinne der Definition als „absichtliche und schwere Beraubung grundlegender Rechte im Bruch des internationalen Rechts aufgrund der Identität der Gruppe oder Kollektivgemeinschaft“. Die verübten Verbrechen können zudem als ethnische Säuberungen gewertet werden, wenngleich dieser Begriff im internationalen Recht nicht definiert ist.

Seit dem 25. August 2017, als die Arakan-Rohingya-Befreiungsarmee (ARSA) rund 30 Polizeiposten im nördlichen Rakhaine-Staat angriff, haben die burmesischen Sicherheitskräfte massenhafte Brandstiftung, Morde, Vergewaltigungen und Plünderungen verübt, Hunderte Dörfer zerstört und mehr als 400.000 Rohingya zur Flucht ins Nachbarland Bangladesch gezwungen. Human Rights Watch stellte bereits 2012 fest, dass die burmesische Regierung Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen die Rohingya in der Provinz Rakhaine verübte.

„Es mag unbedeutend erscheinen, den entsetzlichen Verbrechen, die das burmesische Militär gegen Rohingya-Familien verübt, ein juristisches Etikett anzuheften“, so Ross. „Doch wenn die Welt anerkennt, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Gange sind, sollte dies die UN und Regierungen veranlassen, gegen Burmas Militär vorzugehen, um diesen Verbrechen ein Ende zu setzen.“

 

Kategorien: Menschenrechte

USA: Schädliche Operationen an intersexuellen Kindern

Human Rights Watch: Frauenrechte - Mi, 27.05.2020 - 12:01

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Ein intersexuelles Kind, das zweieinhalb Jahre alt ist, mit seinen Eltern im Garten. Die Eltern haben entschieden, dass sie jegliche unnötige Operationen aufschieben, bis ihr Kind darüber selbst entscheiden kann.

© 2017 Human Rights Watch

(Chicago, 25. Juli 2017) – In den USA nehmen Ärzte weiterhin medizinisch nicht notwendige Operationen vor, die intersexuelle Kinder dauerhaft schädigen können, so Human Rights Watch und interACT in einem heute veröffentlichten Bericht. Obwohl hierüber seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert wird, führen Ärzte immer noch Operationen an den Keimdrüsen, also den Eierstöcken oder Hoden, durch, ebenso wie an den inneren und äußeren Geschlechtsorganen. Diese Eingriffe werden durchgeführt, wenn die Kinder noch zu jung sind, um selbst darüber zu entscheiden. Dabei könnten die Eingriffe auch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, ohne dass hieraus ein Risiko entstünde.  
 
Der 160-seitige Bericht „‘I Want to Be Like Nature Made Me’: Medically Unnecessary Surgeries on Intersex Children in the US” untersucht die körperlichen und psychologischen Schäden, die medizinisch nicht notwendige Operationen an intersexuellen Kindern hinterlassen, die mit Chromosomen, Keimdrüsen, Geschlechtsorganen oder Genitalien geboren werden, die sich von denjenigen unterscheiden, die gesellschaftlich als typisch für Jungen oder Mädchen betrachtet werden. Zudem wird über die Kontroverse bezüglich dieser Art von Operationen innerhalb der medizinischen Fachwelt berichtet, ebenso wie über den Druck, der auf die Eltern ausgeübt wird, solche Operationen vornehmen zu lassen.  
 
Intersexuelle Menschen, die früher „Hermaphroditen” genannt wurden (ein Begriff, der heute als abwertend und überholt gilt), gibt es zwar viele, sie werden jedoch häufig missverstanden. Basierend auf einer in den 60er Jahren verbreiteten medizinischen Theorie, nehmen Ärzte chirurgische Eingriffe an intersexuellen Kindern – häufig schon im Säuglingsalter – vor. Erklärtes Ziel dabei ist, es den Kindern einfacher zu machen, „normal“ aufzuwachsen. Die Folgen sind häufig katastrophal und die angeblichen Vorteile sind größtenteils nicht nachgewiesen. Zudem gibt es nur selten dringende medizinische Faktoren, die einen sofortigen, irreversiblen Eingriff erfordern würden. 
 
„Nicht notwendige Operationen an intersexuellen Kindern haben sowohl körperlich als auch psychologisch verheerende Folgen”, so Kimberly Zieselman, selbst eine intersexuelle Frau und Direktorin von interACT. „Obwohl Patientenvertreter die medizinische Fachwelt seit Jahrzehnten über die schlimmen Folgen solcher Eingriffe informieren, präsentieren viele Ärzte betroffenen Eltern eine solche Operation weiterhin als gute Option.“

Insgesamt entsprechen 1,7 Prozent aller Babys nicht dem, was man typischerweise als Junge oder Mädchen bezeichnen würde. Die Chromosomen, Keimdrüsen und die inneren und äußeren Geschlechtsorgane dieser Kinder weichen von den gesellschaftlichen Erwartungen ab. Manche Merkmale – wie etwa atypische äußere Genitalien – sind unmittelbar nach der Geburt ersichtlich. Andere, z.B. Keimdrüsen oder Chromosomen, die vom zugesprochenen Geschlecht abweichen, zeigen sich u.U. erst später, in einigen Fällen in der Pubertät. Ein Kind kann auch ohne Operation als Junge oder Mädchen aufwachsen. Operationen an den Genitalien oder Keimdrüsen von Kindern, die noch zu jung sind, um ihre geschlechtliche Identität zu kennen oder zu kommunizieren, bergen wiederum das Risiko, das Kind durch einen chirurgischen Eingriff dem falschen Geschlecht zwangsweise zuzuordnen.  
 
Die operative Entfernung der Keimdrüsen kann einer Sterilisation ohne die Einwilligung der Betroffenen gleichkommen und eine lebenslange Hormonersatztherapie nach sich ziehen. Eingriffe, um die Größe oder das Erscheinungsbild der Genitalien der betroffenen Kinder zu verändern, bergen ebenfalls Risiken. Hierzu gehören: Inkontinenz, Narbenbildung, Gefühlsverlust und psychologische Traumata. Die Eingriffe können nicht rückgängig gemacht werden, durchtrennte Nerven wachsen nicht wieder zusammen und Narbengewebe kann die Möglichkeiten für eine weitere Operation einschränken. 
 
Medizinische Fachprotokolle entstehen immer häufiger durch interdisziplinäre Teams, die an Fällen von „Differences of Sex Development“ arbeiten. Ein Großteil des medizinischen Fachpersonals erkennt mittlerweile an, dass die Eltern es vorziehen könnten, den Körper ihres Kindes unversehrt zu lassen. Ein Arzt, der in einem solchen Team arbeitet, sagte Human Rights Watch gegenüber: „Wir hören den erwachsenen Patienten zu, die uns sagen, dass sie das Gefühl haben, misshandelt und verstümmelt worden zu sein. Das nimmt einen natürlich extrem mit.“  
 
Dennoch gibt es auf diesem Gebiet weiterhin nur uneinheitliche, unzureichende und bruchstückhafte medizinische Versorgungsstandards. Zudem ist es unter Ärzten umstritten, wie sie die Rechte ihrer intersexuellen Patienten am besten respektieren und schützen können. Zwar sind bestimmte chirurgische Eingriffe eindeutig notwendig, dennoch führen Chirurgen in den USA auch riskante und medizinisch nicht notwendige, kosmetische Operationen an intersexuellen Kindern durch. Diese Eingriffe erfolgen häufig noch bevor die betroffenen Kinder sprechen können.  

 „Die medizinische Fachwelt hat in den letzten Jahrzehnten zwar Fortschritte beim Umgang mit Intersexualität gemacht, medizinisch nicht notwendige und irreversible Operationen an Kindern und Säuglingen sind jedoch weiterhin üblich”, so Kyle Knight, Mitarbeiter von Human Rights und Autor des Berichts. „Der Druck, sich anzupassen und ein „normales“ Leben zu führen, ist zwar vorhanden, es gibt jedoch keine Belege dafür, dass ein chirurgischer Eingriff dies tatsächlich erleichtert. Auf der anderen Seite ist aber durchaus belegt, dass ein solcher Eingriff das Risiko für lebenslange und irreparable Schäden birgt.“   
 
Menschenrechtsorgane der Vereinten Nationen haben in den vergangenen Jahren zunehmend Länder auf der ganzen Welt dafür kritisiert, weil sie medizinisch nicht notwendige Operationen an intersexuellen Kindern nicht verbieten. In einem Bericht von 2013 stellte der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter fest, dass „Kinder, die mit atypischen Geschlechtsmerkmalen geboren wurden, häufig Opfer werden von irreversiblen Geschlechterzuordnungen, unfreiwilligen Sterilisierungen und unfreiwilligen Genitaloperationen… die Folgen hiervon können eine dauerhafte, irreversible Unfruchtbarkeit und schweres seelisches Leid sein.“  
 
Im Juli 2017 schrieben drei ehemalige Chirurgen aus den USA, sie seien der Meinung, „dass es nur unzureichende Belege dafür gibt, dass es psychosozialen Stress bedeutet, mit atypischen Genitalien aufzuwachsen”, und  dass „es zwar nur wenig Hinweise darauf gibt, dass kosmetische Genitaloperationen bei Säuglingen notwendig sind, um psychologische Schäden zu reduzieren, es auf der anderen Seite jedoch durchaus belegt ist, dass der Eingriff selbst schwere, irreparable Schäden und emotionalen Stress verursachen kann.“    
 
Der Bericht basiert auf umfangreichen Interviews, geführt von Kyle Knight von Human Rights Watch und Dr. Suegee Tamar-Mattis, Ärztin und wissenschaftliche Beraterin für Human Rights Watch. Insgesamt wurden 30 intersexuelle Erwachsene, 2 intersexuelle Kinder, 17 Eltern von intersexuellen Kindern und 21 medizinische Fachkräfte interviewt, darunter Gynäkologen, Endokrinologen, Urologen, Psychologen und anderes medizinisches Personal, welches mit intersexuellen Menschen arbeitet. Der Bericht enthält zudem ein umfangreiches Literaturverzeichnis und die verfügbaren Daten zu chirurgischen Eingriffen. 
 
Mehrere Ärzte gaben Human Rights Watch gegenüber an, dass ihnen zwar immer unbehaglicher zumute dabei sei, Eltern zu solchen Eingriffen zu raten, diese aber weiterhin in ihren Kliniken vorgenommen würden. Eltern gaben ihrerseits an, sich von den Ärzten unter Druck gesetzt zu fühlen, sich für eine solche Operation zu entscheiden. 
 
„Die Kinderärzte befinden sich in einer Machtposition. Und wenn die Angst der Eltern das Problem ist, dann muss genau dieses Problem gelöst werden. Es geht also nicht darum, ob operiert wird – das ergibt keinen Sinn, das löst gar nichts“, so ein Endokrinologe und Medizinprofessor gegenüber Human Rights Watch. „Wenn wir versuchen, Menschen in kulturell normative, hetero-normative Situationen zu drängen, dann besteht ein großes Risiko, dass wir schwerwiegende Fehler machen und Menschen irreparablen Schaden zufügen“, so ein Gynäkologe eines Teams, das an „Differences in sex development“ arbeitet.  
 
Die Eltern eines 8-Jährigen Kindes, das mit atypischen Geschlechtsmerkmalen geboren wurde, sagten: „Die Ärzte sagten uns, es sei wichtig, sofort zu operieren, da es traumatisch für unser Kind wäre, aufzuwachsen und anders als andere auszusehen. Was verursacht denn das größere Trauma? Diese Art von Operation oder ein wenig anders zu sein als andere?“  

 Diese und andere Eltern gaben Human Rights Watch gegenüber an, dass ihnen Treffen mit anderen Eltern und anderen intersexuellen Erwachsenen in Selbsthilfegruppen am meisten dabei geholfen hätten, ihre eigenen intersexuellen Kinder großzuziehen.  
 
Die Erfahrungen von Menschen, die sich Operationen unterzogen haben, und die Prinzipien der medizinischen Ethik legen zusammengenommen nahe, dass bestimmte chirurgische Eingriffe an Säuglingen und Kleinkindern nicht durchgeführt werden sollten, solange es keine Belege dafür gibt, dass der medizinische Nutzen solcher Eingriffe größer ist als die möglichen Folgeschäden, so interACT und Human Rights Watch. Zurzeit liegen derartige Belege einfach nicht vor, obwohl solche Operationen seit Jahrzehnten durchgeführt werden.  
 
Die US-Regierung und medizinische Einrichtungen sollen keine weiteren chirurgischen Eingriffe erlauben, deren Ziel es ist, die Keimdrüsen, Genitalien oder inneren Sexualorgane von Kindern mit atypischen Geschlechtsmerkmalen zu verändern, sofern diese Kinder zu jung sind, um aktiv mitzuentscheiden. Dieses Verbot soll in den Fällen greifen, wenn der Eingriff ein bedeutendes Risiko mit sich bringt und ohne weiteres auch später durchgeführt werden könnte, so Human Rights Watch und interACT.  
 
„Eltern intersexueller Kinder haben häufig Angst und wissen nicht genau, wie sie ihre Kinder vor einer Stigmatisierung schützen sollen”, so Zieselman. „Es ist für sie immer ein große Erleichterung, wenn sie andere Menschen treffen, die die gleichen intersexuellen Merkmale haben wie ihre eigenen Kinder, und sehen, dass diese ein gesundes und glückliches Leben führen.“ 

Kategorien: Menschenrechte

Digitale Diplomatie bleibt dran an Killer-Robotern

Human Rights Watch: Waffen - Mi, 27.05.2020 - 09:50
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Künstler und Aktivisten bei einer Demonstration der Kampagne gegen Killer-Roboter vor dem Reichstag, Februar 2020.

© 2020 Human Rights Watch

Diese Woche hat die Bundesregierung das erste Mal andere Regierungen und die Zivilgesellschaft zu einem Online-Treffen über Abrüstung zusammengebracht. Vertreter aus mehr als 70 Ländern haben sich an den zweitägigen Gesprächen über tödliche autonome Waffen, auch bekannt als vollautonome Waffen oder Killer-Roboter, beteiligt.

Dabei wurde über ein internationales Rahmenwerk und Verpflichtungen diskutiert, um die Gefahren anzugehen, die von einer immer geringer werdenden menschlichen Kontrolle über den Einsatz von Gewalt ausgehen.

Wissenschaftler, Roboterexperten und AI-Kenner warnen seit langem vor Maschinen, die ihre Ziele ohne menschlichen Eingriff auswählen und beschieβen. Diese Meinung erhält nun groβe Unterstützung. In seiner Eröffnungsrede sagte Auβenminister Maas, dass es gegen ethische Standards verstoβe und die menschliche Würde auf dem Spiel stehe, wenn Maschinen über Leben und Tod von Menschen entscheiden.

Human Rights Watch unterstützt diese Aussage ohne Einschränkung: Sollten vollautonome Waffen zugelassen werden, so wird eine rote Linie überschritten. Ein neuer internationaler Vertrag, der diese Waffen verbietet, ist die einzig logische Folgerung, um eine solch katastrophale Entwicklung zu verhindern.

Die Human Rights Watch-Expertin, Bonnie Docherty, sprach sich auf dem Berlin Forum für solch einen Vertrag aus, der Waffensysteme verbietet, die Ziele autonom auswählen sowie beschieβen, und die deshalb moralisch und rechtlich nicht zu rechtfertigen sind. Ein rechtsverbindlicher Vertrag muss die allgemeine Verpflichtung enthalten, dass Staaten weiter menschliche Kontrolle über den Einsatz von Gewalt haben.

Das Berlin Forum und ähnliche Initiativen helfen der internationalen Gemeinschaft, gemeinsam die Grundlage für einen derartigen Vertrag zu legen. Das Online-Treffen zeigte zudem, wie Regierungen innovative zu Zeiten der Corona-Pandemie weiter verhandeln können. Digitale Diplomatie ist wichtig, um den multilateralen Dialog aufrecht zu erhalten und um die Menschheit vor Gefahren wie Killer-Robotern zu schützen.

Kategorien: Menschenrechte

„Killerroboter“: Verbotsvertrag ist einzig glaubwürdige Lösung

Human Rights Watch: Waffen - Mi, 27.05.2020 - 09:50
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Die Kampagne zum Verbot von Killer-Robotern vor dem UN-Gebäude in New York während der Generalversammlung 2018.

© 2018 Clare Conboy

(New York, 26. September 2019) - Deutschland, Frankreich und andere Staaten, die sich zu einer regelbasierten internationalen Ordnung bekennen, sollten Verhandlungen über einen neuen internationalen Vertrag aufnehmen, um präventiv tödliche autonome Waffensysteme, auch bekannt als vollautonome Waffen oder Killerroboter, zu verbieten.

Am 26. September 2019 sprachen sich die Außenminister von Deutschland, Frankreich und Dutzender anderer Länder bei den Vereinten Nationen für eine Erklärung zu tödlichen autonomen Waffensystemen aus.

„Diese Erklärung ist ein weiterer Schritt auf dem Weg zu dem Vertrag, der zwingend notwendig ist, um eine düstere Zukunft zu verhindern, in der Maschinen ohne menschliches Zutun töten“, sagte Mary Wareham, Advocacy-Direktorin der Abteilung Waffen bei Human Rights Watch und Koordinatorin der Kampagne gegen Killerroboter. „Wenn es diesen Politikern wirklich ernst ist mit dem Kampf gegen die Bedrohung durch Killerroboter, dann sollten sie Verhandlungen über einen Vertrag aufnehmen, der solche Roboter verbietet und eine sinnvolle menschliche Kontrolle über Waffensysteme und den Einsatz von Gewalt vorschreibt.“

Die Außenminister, die an der von Frankreich und Deutschland geführten Initiative „Allianz für Multilateralismus“ teilnehmen, haben das gemeinsame Ziel, eine „regelbasierte internationale Ordnung“ zu fördern. Sie haben sich zudem verpflichtet, sich neben Killerrobotern auch mit dem Klimawandel sowie mit vier weiteren „politisch relevanten“ Themen zu befassen. Die entsprechende Erklärung wurde im Rahmen der jährlichen Eröffnung der UN-Generalversammlung in New York veröffentlicht. Es ist das erste Mal, dass eine derart hochrangige Gruppe die Bedrohung durch Killerroboter anerkennt.

Die Erklärung zu Killerrobotern zeigt, dass die Bemühungen zur Bewältigung dieser dringenden Herausforderung schnell ihren Weg auf die multilaterale Agenda gefunden haben, so Human Rights Watch.

Seit 2014 haben sich mehr als 90 Länder achtmal zur Konvention über bestimmte konventionelle Waffen (CCW) getroffen, um die Bedenken bezüglich Killerrobotern zu diskutieren. Die meisten Teilnehmer wollen einen neuen Vertrag mit Verboten und Einschränkungen aushandeln, um eine sinnvolle menschliche Kontrolle über die Anwendung von Gewalt zu bewahren. Dennoch haben einige wenige Militärmächte - allen voran Russland und die Vereinigten Staaten - dieses Ziel blockiert. Infolgedessen haben die Gespräche, obwohl sie 2016 formalisiert wurden, immer noch zu keinem glaubwürdigen Ergebnis geführt.

Auf der jüngsten CCW-Sitzung im August 2019 lehnten Russland und die Vereinigten Staaten es erneut ab, einen neuen Vertrags über Killerroboter auszuhandeln, und nannten einen solchen Schritt „verfrüht“.

Human Rights Watch und die Kampagne gegen Killerroboter fordern die Vertragsstaaten der Konvention auf, sich im November darauf zu einigen, Verhandlungen über einen neuen Vertrag aufzunehmen, der eine sinnvolle menschliche Kontrolle über den Einsatz von Gewalt erfordert, welche somit vollautonome Waffen effektiv verbieten würde. Nur ein neues internationales Gesetz kann die vielfältigen ethischen, moralischen, rechtlichen und technologischen Bedenken, sowie jene zur Rechenschaftspflicht und Sicherheit in Bezug auf Killerroboter, wirksam angehen, so Human Rights Watch.

Insgesamt 29 Länder haben ausdrücklich ein Verbot von Killerrobotern gefordert: Ägypten, Algerien, Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, China (nur den Gebrauch, nicht die Entwicklung), Costa Rica, Dschibuti, Ecuador, El Salvador, Ghana, Guatemala, Irak, Jordanien, Kolumbien, Kuba, Marokko, Mexiko, Nicaragua, Österreich, Pakistan, Palästina, Panama, Peru, Simbabwe, Uganda, der Vatikan und Venezuela.

Die neue politische Erklärung zu Killerrobotern ist nicht ausreichend, da sie weit hinter dem neuen internationalen Verbotsvertrag zurückbleibt, den so viele anstreben. Sie ist zudem nicht eindeutig, da sie ein Ziel unterstützt, das im Rahmen der Konvention über bestimmte konventionelle Waffen diskutiert wurde: die „Entwicklung eines normativen Rahmens“. Die einzelnen Staaten sind sich jedoch nicht einig darüber, was dies genau in der Praxis bedeutet. Einige Länder betrachten einen solchen Rahmen als Leitlinien, die das bestehende Völkerrecht nicht ändern würden, während andere ihn als einen neuen internationalen Vertrag zum Verbot oder zur Einschränkung tödlicher autonomer Waffensysteme verstehen.

Die 2013 gestartete Kampagne gegen Killerroboter ist eine Koalition von 118 Nichtregierungsorganisationen in 59 Ländern, die daran arbeitet, vollautonome Waffen präventiv zu verbieten. Sie fordert eine sinnvolle menschliche Kontrolle über den Einsatz von Gewalt.

„Es ist offensichtlich, dass ein neuer Vertrag zum Verbot von Killerrobotern dringend benötigt wird, um eine erfolgreiche regelbasierte internationale Ordnung zu gewährleisten“, sagte Wareham. „Der Druck für eine entsprechende Regulierung wird umso größer, je länger es dauert, bis die Nationen sich dazu verpflichten, über den Vertrag zu Killerrobotern zu verhandeln.“

Kategorien: Menschenrechte

Deutschland: Verbot von „Killer-Robotern“ unterstützen

Human Rights Watch: Waffen - Mi, 27.05.2020 - 09:50
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Der Deutsche Bundestag in Berlin.

© 2007 Jorge Royan

(Berlin) – Deutschland soll mit gleichgesinnten Ländern zusammenarbeiten und Verhandlungen über einen neuen Vertrag einleiten, der Waffensysteme verbietet, die ihre Ziele ohne menschliche Kontrolle auswählen und angreifen, so Human Rights Watch heute.

Außenminister Heiko Maas hat zum 15. März 2019 in Berlin eine Konferenz über die Zukunft der Waffenkontrolle einberufen. Auf der Tagesordnung stehen neue technologische Bedrohungen wie vollautonome Waffen, die auch als tödliche autonome Waffensysteme oder „Killer-Roboter“ bezeichnet werden. Dass solche Waffen entwickelt werden könnten, stellt die Staatengemeinschaft vor ernste moralische, rechtliche und technische Herausforderungen. Auch die mögliche Verbreitung solcher Waffen und ihre Auswirkungen auf die internationale Sicherheit sind besorgniserregend.

„Deutschland hat gesagt, dass Killer-Roboter verboten werden müssen. Jetzt sollen diesen Worten auch Taten folgen und Verhandlungen über einen neuen Verbotsvertrag eingeleitet werden“, so Mary Wareham, Advocacy-Direktorin der Abteilung Waffen bei Human Rights Watch und Koordinatorin der Kampagne zum Verbot von Killer-Robotern. „Die Öffentlichkeit erwartet zunehmend, dass führende Politiker sich entschieden dafür einsetzen, die Entwicklung vollautonomer Waffen zu verhindern.“

Wareham wird die Kampagne zum Verbot von Killer-Robotern bei der Konferenz am 15. März vorstellen.

In einer neuen Umfrage des Marktforschungsunternehmens Ipsos in 26 Ländern sprachen sich 61 Prozent der Befragten gegen den Einsatz tödlicher autonomer Waffensysteme aus. In Deutschland waren es 72 Prozent. Nur 14 Prozent befürworteten den Einsatz und 14 Prozent zeigten sich unentschieden.

Bei der Umfrage wurde auch erhoben, was den Gegnern vollautonomer Waffen am meisten Sorge bereitet. In Deutschland antworteten mehr als Zweitdrittel, 77 Prozent, dass tödliche autonome Waffen eine „moralische Linie überschreiten würden, weil Maschinen nicht in der Lage sein dürfen, zu töten“. Mehr als die Hälfte, 60 Prozent, gaben an, dass es bei solchen Waffen zu „technischen Fehlern“ kommen könnte.

Bei der Eröffnung der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) im September 2018 rief Außenminister Maas die Staatengemeinschaft auf, „vollautonome Waffen zu verbieten – bevor es zu spät ist!“. Deutschland unterstreicht häufig, wie wichtig es ist, dass bedeutende menschliche Kontrolle bei der Entscheidung erhalten bleibt, Menschen zu töten.

Aber statt sich für einen Verbotsvertrag einzusetzen, spricht sich Deutschland gemeinsam mit Frankreich für eine nicht bindende politische Erklärung aus, die die Bedeutung menschlicher Kontrolle über Waffensysteme bestätigen soll.

„Deutschland erkennt an, dass Landminen und Streumunition inakzeptable Schäden anrichten, und hat die Verträge unterzeichnet, die diese Waffen verbieten“, sagt Wareham. „Die Verträge sind außerordentlich wirksam, obwohl einige Großmächte sie nicht unterzeichnet haben. Jetzt bedarf es dringend eines neuen Vertrages, der die Auswahl und das Angreifen von Zielen ohne bedeutende menschliche Kontrolle ächtet.“

Beim jährlichen Treffen der Vertragsstaaten des Übereinkommens über konventionelle Waffen im November 2018 kamen Deutschland und mehr als 80 andere Staaten darüber überein, die diplomatischen Gespräche über Killer-Roboter im Jahr 2019 fortzusetzen. Diese Gespräche haben jedoch kein klares Ziel und legen auch keinen Zeitplan für Vertragsverhandlungen fest.

Russland, Israel, Südkorea und die USA deuteten bei dem Treffen im November an, dass sie Verhandlungen über einen Verbotsvertrag nicht unterstützen würden. Diese Staaten und China investieren stark in Waffen, die immer weniger menschlicher Kontrolle über ihre wichtigsten Funktionen benötigen. Dies weckt Ängste, dass sich derartige Waffen weit verbreiten und es zu einem Wettrüsten kommen könnte. Vor diesem Hintergrund bedarf es dringend neuer Wege, um vollautonome Waffen zu verbieten, bevor diese einsatzfähig werden.

In der Vergangenheit wurden externe diplomatische Prozesse eingeleitet, als sich das Übereinkommen über konventionelle Waffen als ungeeignet erwies, durch Landminen und Streumunition verursachtes menschliches Leid zu verhindern. Aus diesen Prozessen entstanden Verträge, die diese Waffen verbieten und damit Leben retten. Ebenso schufen andere Staaten im Jahr 2017 durch die UN-Generalversammlung den Atomwaffenverbotsvertrag, als es offensichtlich wurde, dass sich die Staaten, die über Atomwaffen verfügen, nicht auf Abrüstungsschritte einigen würden.

Im November bezeichnete UN-Generalsekretär António Guterres tödliche autonome Waffensysteme als „politisch inakzeptabel und moralisch abscheulich“ und rief die Staatengemeinschaft dazu auf, sie zu verbieten. Seit dem Jahr 2013 haben sich 28 Staaten für ein Verbot vollautonomer Waffen ausgesprochen. Brasilien, Chile und Österreich haben offiziell vorgeschlagen, sofort Verhandlungen über ein rechtlich bindendes Instrument einzuleiten, das bedeutende menschliche Kontrolle über die zentralen Funktionen von Waffensystemen gewährleistet.

Staaten und andere verantwortliche Akteure sollen ein Verbot vollautonomer Waffen unterstützen und darauf hinarbeiten. Beispielsweise veröffentlichte Google im Juni 2018 eine Reihe von ethischen Grundsätzen, die unter anderem die Zusage enthalten, keine künstliche Intelligenz für Waffen zu entwickeln oder einzusetzen.

Die Kampagne zum Verbot von Killer-Robotern, die Human Rights Watch mitgegründet hat, ist ein schnell wachsender Zusammenschluss von 100 Nichtregierungsorganisationen in 54 Ländern, die sich für ein präventives Verbot vollautonomer Waffen einsetzen. Die Kampagne richtet am 21. März in Berlin eine öffentliche Veranstaltung aus, um über das Thema zu informieren. Im Anschluss findet vom 22. bis zum 23. März ein Treffen der Mitgliedsorganisationen statt.

Am siebten Treffen des Übereinkommens über konventionelle Waffen zu tödlichen autonomen Waffensystemen bei den Vereinten Nationen in Genf vom 25. bis 29. März nimmt die Kampagne zum Verbot von Killer Robotern zusammen mit mehr als 80 Staaten, UN-Agenturen und dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes teil.

„Politische Erklärungen, Transparenzversprechen und andere Maßnahmen können kein Verbot ersetzen und reichen nicht aus, um den zahlreichen Herausforderungen zu begegnen, die mit Killer-Robotern einhergehen“, so Wareham. „Staaten, wie Deutschland, sollen sich jetzt für Verhandlungen über einen Verbotsvertrag stark machen.“

Kategorien: Menschenrechte

„Killer-Roboter“: Russland und USA gegen Vertragsverhandlungen

Human Rights Watch: Waffen - Mi, 27.05.2020 - 09:50
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Die Kampagne zum Verbot von Killer-Robotern fordert bei den Vereinten Nationen in Genf ein Verbot für Waffensysteme, die ihre Ziele ohne menschliche Kontolle auswählen und angreifen.

© 2018 Clare Conboy

(Genf) – Russland, die USA und andere Staaten, die in autonome Waffensysteme investieren, verhindern Verhandlungen über einen neuen Vertrag gegen Killer-Roboter. Durch das Abkommen soll sichergestellt werden, dass Menschen die Anwendung dieser Waffen maßgeblich kontrollieren, so Human Rights Watch heute.

Am 20. und 21. August 2019 treffen sich mehr als 70 Mitgliedstaaten der UN-Waffenkonvention in Genf zu Gesprächen über tödliche autonome Waffensysteme. Diese werden auch als vollautonome Waffen oder „Killer-Roboter“ bezeichnet und stehen seit dem Jahr 2014 bereits zum achten Mal auf der Tagesordnung. Dass diese Treffen allerdings nur dem Austausch dienen und keine konkreten Handlungen folgen sollen, deutet darauf hin, dass sie nicht das richtige Gremium sind, um mit der Bedrohung durch diese neuartigen Waffensystemen umzugehen.

„Die meisten Regierungen wollen einen neuen Vertrag verhandeln, der festschreibt, dass die Anwendung von Gewalt in bedeutendem Maß von Menschen kontrolliert werden muss“, so Steve Goose, Leiter der Abteilung Waffen bei Human Rights Watch, dem Koordinator der Kampagne zum Verbot von Killer-Robotern. „Aber einzelne Staaten verhindern jeden Fortschritt. Deshalb erscheinen die diplomatischen Gespräche zunehmend wie Versuche, Zeit zu schinden und die Öffentlichkeit abzulenken. Stattdessen müssen sich die Regierungen endlich um die großen Probleme kümmern, die mit Killer-Robotern einhergehen.“

Human Rights Watch und die Kampagne zum Verbot von Killer-Robotern fordern die Mitgliedstaaten der UN-Waffenkonvention auf, im November mit den Verhandlungen über einen Vertrag zu beginnen, der die menschliche Kontrolle über die Anwendung von Gewalt völkerrechtlich festschreibt. Ein solcher Vertrag würde vollautonome Waffen verbieten. Nur mit einer neuen völkerrechtlichen Norm kann die internationale Gemeinschaft die durch Killer-Roboter entstehenden Probleme lösen. Denn neben zahlreichen moralischen, rechtlichen und technischen Herausforderungen bestehen Sicherheitsrisiken und Schwierigkeiten, beim Einsatz autonomer Waffen Verantwortlichkeit herzustellen.

Die Gespräche der Vertragsstaaten des Übereinkommens über konventionelle Waffen begannen im Jahr 2014 und wurden drei Jahre später formalisiert. Bislang sind aus ihnen jedoch nicht mehr als einige nicht-bindende Prinzipien hervorgegangen. Russland, die USA, Australien, Israel und Großbritannien sprachen sich beim letzten Treffen zu Killer-Robotern im März dagegen aus, einen neuen Vertrag zu verhandeln. Entsprechende Forderungen bezeichneten sie als verfrüht.

Bei den vergangenen Gesprächen forderten fast alle Staaten, die menschliche Kontrolle über die Anwendung von Gewalt zu erhalten, was de facto einem Verbot von Waffen entspricht, die nicht von Menschen kontrolliert werden. Bis heute unterstützen 28 Staaten explizit ein Verbot vollständig autonomer Waffensysteme.

Zudem zeichnet es sich zunehmend ab, dass die Entwicklung vollautonomer Waffen den Forderungen des gesellschaftlichen Bewusstseins widerspricht. Tausende Wissenschaftler und Experten für künstliche Intelligenz, mehr als 20 Träger des Friedensnobelpreises, mehr als 160 führende Geistliche und unterschiedlichste Organisationen befürworten ein Verbot von Killer-Robotern. Im Jahr 2018 veröffentlichte Google eine Reihe von ethischen Grundsätzen, die unter anderem die Zusage enthalten, keine künstliche Intelligenz für Waffen zu entwickeln oder einzusetzen.

Killer-Roboter haben kein Mitgefühl und können keine differenzierten rechtlichen und moralischen Überlegungen in Entscheidungen über tödliche Gewlt einbeziehen. Ohne diese menschlichen Eigenschaften können die Waffensystem kaum gewährleisten, dass andere menschlich behandelt oder das menschliche Leben und die Menschenwürde respektiert werden.

Im humanitären Völkerrecht ist festgelegt, dass die „Erfordernisse des Gewissens“ und die „Grundprinzipien der Menschlichkeit“ herangezogen werden müssen, wenn ein Sachverhalt noch nicht durch geschriebenes Recht reguliert ist. Dies ist bei Killer-Robotern der Fall.

Die 28 Staaten, die ein Verbot fordern, sind: Ägypten, Algerien, Argentinien, Bolivien, Brasilien, Chile, China (nur bzgl. der Anwendung), Costa Rica, Djibouti, Ecuador, El Salvador, Ghana, Guatemala, der Heilige Stuhl, Irak, Kolumbien, Kuba, Marokko, Mexiko, Nicaragua, Österreich, Pakistan, Panama, Peru, Palästina, Simbabwe, Uganda und Venezuela.

Die Kampagne zum Verbot von Killer-Robotern wurde im Jahr 2013 initiiert und ist ein Zusammenschluss von 112 Nichtregierungsorganisationen aus 56 Staaten. Sie setzt sich für ein präventives Verbot der Entwicklung, Produktion und des Einsatzes vollständig autonomer Waffen ein.

„Nur ein Verbot und positive Verpflichtungen können gewährleisten, dass Systeme, die Ziele auswählen und angreifen, keine ethischen Werte unterminieren und immer einer bedeutenden menschlichen Kontrolle unterworfen sind“, so Goose. „Die Öffentlichkeit erwartet von ihren Regierungen, dass sie die Entwicklung vollautonomer Waffen verhindern - bevor Killer-Roboter sich weit verbreiten. Sie erwartet nicht weniger als ein rechtlich bindendes Verbot.“

Kategorien: Menschenrechte

Ägypten: Schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im Nord-Sinai

Human Rights Watch: Waffen - Mi, 27.05.2020 - 09:50
Mai 28, 2019 Video Egypt: War Crimes in North Sinai

 Human Rights Watch’s two-year investigation documented crimes including mass arbitrary arrests, enforced disappearances, torture, extrajudicial killings, and possibly unlawful air and ground attacks against civilians.

(Beirut) - Ägyptische Militär- und Polizeikräfte begehen auf der Halbinsel Sinai schwere und weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen gegen Zivilisten, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Vergehen erfolgen im Zuge der laufenden Kampagne gegen Mitglieder der Provinzgruppe Sinai, des lokalen ISIS-Ablegers, und stellen in einigen Fällen Kriegsverbrechen dar.

Der134-seitige Bericht ‘If You Are Afraid for Your Lives, Leave Sinai!’: Egyptian Security Forces and ISIS-Affiliate Abuses in North Sinai liefert einen detaillierten Einblick in einen kaum beachteten Konflikt, in dem seit der Eskalation der Kämpfe im Jahr 2013 Tausende Menschen verletzt oder getötet wurden – darunter Zivilisten, Kämpfer und Angehörige der Sicherheitskräfte. Die über zwei Jahre durchgeführten Recherchen von Human Rights Watch dokumentieren Verbrechen wie willkürliche Masseninhaftierungen, Verschleppungen, Folter, außergerichtliche Tötungen und möglicherweise rechtswidrige Angriffe auf Zivilisten durch Luft- und Bodenstreitkräfte. Obwohl ein Großteil der Menschenrechtsverletzungen auf das Konto der ägyptischen Militär- und Polizeikräfte geht, haben auch die extremistischen Milizen grausame Verbrechen verübt, etwa die Entführung, Folter und Ermordung von Anwohnern oder die standrechtliche Hinrichtung gefangengenommener Sicherheitskräfte.  Mai 28, 2019 Report If You Are Afraid for Your Lives, Leave Sinai!

Egyptian Security Forces and ISIS-Affiliate Abuses in North Sinai

„Statt die Bewohner des Sinai in ihrem Kampf gegen die Militanten zu unterstützen, haben die ägyptischen Sicherheitskräfte eine totale Geringschätzung für das Leben der Anwohner an den Tag gelegt und ihren Alltag in einen endlosen Albtraum verwandelt“, so Michael Page, stellvertretender Direktor der Abteilung Naher Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. „Die grausame Behandlung der Bewohner des Sinai sollte ein weiterer Weckruf an Staaten wie die USA und Frankreich sein, die Ägyptens Anti-Terror-Maßnahmen blindlings unterstützen.“

Human Rights Watch interviewte für den Bericht 54 Bewohner des nördlichen Sinai im Zeitraum 2016 bis 2018. Befragt wurden zudem Aktivisten, Journalisten und andere Zeugen, darunter zwei ehemalige Offiziere der Armee, ein Soldat, ein ehemaliger Funktionär aus dem Nord-Sinai und ein ehemaliger Beamter der US-Sicherheitsbehörden, der mit Ägypten betraut war. Human Rights Watch wertete auch unzählige offizielle Erklärungen, Social-Media-Posts, Medienberichte und Dutzende Satellitenfotos aus, um die Zerstörung von Wohngebäuden zu belegen und geheime Hafteinrichtungen des Militärs zu identifizieren. Das ägyptische Militär hat faktisch jede unabhängige Berichterstattung aus Nord-Sinai verboten und mehrere Journalisten, die von dort berichtet hatten, verfolgt und inhaftiert.

Die Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass die Feindseligkeiten auf dem nördlichen Sinai das Niveau eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts erreicht haben, da es zu fortdauernden Kämpfen zwischen organisierten bewaffneten Gruppen kommt. Die Konfliktparteien haben das Kriegsvölkerrecht sowie lokale und internationale Menschenrechtsstandards verletzt.

Indem beide Seiten gezielt Zivilisten angreifen, Menschenrechtsverletzungen verüben und nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten unterscheiden, haben sie grundlegende Rechte der Zivilbevölkerung bedeutungslos gemacht und jeden Freiraum für eine friedliche politische Mobilisierung oder Opposition zerstört.

„Wozu das alles? Sollen wir Waffen tragen? Sollen wir mit den Milizen oder der Armee zusammenarbeiten? Oder sollen wir wie Opfer leben? Alle machen Jagd auf uns“, so ein Anwohner, der gegenüber Human Rights Watch beschrieb, wie die Armee ihn bestrafte und sein Haus zerstörte, nachdem ISIS-Kämpfer ihn entführt und gefoltert hatten.

Offiziellen Erklärungen und Medienberichten zufolge wurden von Januar 2014 bis Juni 2018 3.076 mutmaßliche ISIS-Kämpfer und 1.226 Angehörige von Militär und Polizei durch die Kämpfe getötet. Die ägyptischen Behörden haben keine Zahlen zu zivilen Opfern veröffentlicht oder Fehlverhalten eingeräumt. Human Rights Watch deckte auf, dass die ägyptischen Behörden regelmäßig zivile Opfer zu den getöteten mutmaßlichen Kämpfern gezählt hat und dass Hunderte Zivilisten verletzt oder getötet wurden.

Ausgehend von den Erklärungen des Militärs und der Berichterstattung in den ägyptischen Medien geht Human Rights Watch davon aus, dass Militär- und Polizeikräfte von Juli 2013 bis Dezember 2018 mehr als 12.000 Bewohner vom Nord-Sinai festgenommen haben. Das Militär räumt offiziell 7.300 Verhaftungen ein, veröffentlicht jedoch nur selten Namen oder Tatvorwürfe. Die Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass viele dieser Menschen, willkürlich inhaftiert und gewaltsam verschleppt wurden. Einige wurden außergerichtlich hingerichtet. In den vergangenen Jahren haben vermutlich Tausende Menschen den Regierungsbezirk verlassen, entweder um vor dem Konflikt zu fliehen oder weil sie vom Militär aus ihren Häusern vertrieben wurden.

Nord-Sinai ist ein dünn besiedelter Verwaltungsbezirk mit weniger als 500.000 Einwohnern. Er grenzt an Israel und den Gaza-Streifen. Bewaffnete Gruppen existieren dort seit langem. Seit dem Volksaufstand von 2011, der zum Rücktritt des langjährigen Präsidenten Hosni Mubarak geführt hatte, kam es jedoch immer häufiger zu Angriffen auf staatliche Einrichtungen, Militärkräfte und israelische Truppen.

Als das ägyptische Militär den damaligen Präsident Mohammed Mursi im Juli 2013 zum Rücktritt zwang und verhaftete, eskalierte die Gewalt. Die lokale Miliz Ansar Bait al-Maqdis schloss sich Ende 2014 ISIS an und änderte ihren Namen in Wilayat Sinai (Provinzgruppe Sinai). Daraufhin entsandte die Armee mehr als 40.000 Soldaten der See-, Luft- und Bodenstreitkräfte. Ägypten koordinierte diesen Einsatz mit Israel und soll Israel laut Medienberichten erlaubt haben, Luftangriffe auf Ziele auf dem Sinai zu fliegen, welche der Miliz zugerechnet wurden.

In diesem Bericht dokumentiert Human Rights Watch mindestens 50 willkürliche Festnahmen, darunter 39 Fälle, in denen Militär und Polizei die Betroffenen verschleppte. Vierzehn dieser Personen bleiben auch drei Jahre später unauffindbar.

Die Armee hat Häftlinge in Isolation und unter miserablen Bedingungen festgehalten, weit entfernt von jeder richterlichen Kontrolle. Militär und Polizei haben sogar 12-jährige Kinder zusammen mit Erwachsenen inhaftiert. Frauen wurden üblicherweise getrennt festgehalten. Die Recherchen von Human Rights Watch zeigten, dass die Armee zu jedem beliebigen Zeitpunkt in den vergangenen Jahren vermutlich bis zu 1.000 Personen unter Geheimhaltung auf dem Militärstützpunkt Al-Galaa festgehalten hat. Die Basis ist eine der drei bedeutendsten Hafteinrichtungen, die der Bericht beschreibt.

Ehemalige Häftlinge erklärten, dass sie während der Inhaftierung durch Armee und Polizei schlecht mit Nahrungsmitteln versorgt wurden, es kaum medizinische Versorgung gab und sie in kleinen, überfüllten Zellen untergebracht waren. Soldaten und Polizeibeamte hätten viele Insassen gefoltert, etwa mit Schlägen und Elektroschocks. Human Rights Watch dokumentierte drei Todesfälle im Gewahrsam der Sicherheitskräfte.

Einige der heimlich Inhaftierten wurden ohne Gerichtsverfahren von Militär- und Polizeikräften in die Wüste gebracht und hingerichtet. Später wurde erklärt, die Opfer seien bei Schusswechseln ums Leben gekommen. Human Rights Watch dokumentierte 14 derartige Fälle. Sechs weitere waren bereits vor dem Bericht dokumentiert worden.

Die ägyptische Armee hat Bewohner vom Nord-Sinai zu Milizionären rekrutiert. Diese haben bei den Menschenrechtsverletzungen eine erhebliche Rolle gespielt. Die inoffiziellen und irregulären Milizen unterstützten das Militär, das vor dem Konflikt über keine nennenswerte Erfahrung im Nord-Sinai verfügt hatte, indem sie Informationen lieferten und im Auftrag des Militärs Missionen ausführten. Angehörige der Milizen nutzen ihre faktischen Befugnisse, um willkürlich andere Bewohner zu verhaften, alte Rechnungen zu begleichen und persönliche Streitigkeiten zu regeln. Sie waren zudem an Folter und außergerichtlichen Hinrichtungen beteiligt.

Die Provinzgruppe Sinai, der örtliche ISIS-Ableger, hat sich im nordöstlichsten Winkel des Gouvernements Nord-Sinai festgesetzt und unterhält dort auch nach sechs Jahren andauernder Kämpfe eine Präsenz. Die Kämpfer der Gruppe haben laut Aussage der Befragten schreckliche Verbrechen verübt, darunter die Entführung zahlreicher Anwohner und Angehöriger von Militär und Polizei sowie die außergerichtliche Hinrichtung einiger dieser Personen.

Die wahllosen Angriffe der Provinzgruppe Sinai, etwa durch den Einsatz selbstgebauter Sprengkörper in bewohnten Gebieten, haben Hunderte Zivilisten getötet und viele Anwohner zur Flucht gezwungen. Die Gruppe hat auch gezielt Zivilisten angegriffen. So waren Mitglieder von  Wilayat Sinai wahrscheinlich für einen Angriff auf die Al-Rawda-Moschee im Nord-Sinai verantwortlich, bei dem im November 2017 mindestens 311 Menschen getötet wurden, darunter auch Kinder. Dabei handelte es sich um den tödlichsten Anschlag einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe in Ägyptens neuerer Geschichte. In Teilen von Rafah und Sheikh Zuweid, zweier Städte in Nord-Sinai, führte die Gruppe eigene Scharia-Gerichte ein, die unfaire „Gerichtsverfahren“ leiteten, Kontrollpunkte errichteten und islamische Regeln durchsetzten.

Der UN-Menschenrechtsrat und die Afrikanische Kommission der Menschenrechte und der Rechte der Völker sollen, angesichts der Tatenlosigkeit der ägyptischen Behörden, unabhängige Untersuchungsausschüsse zu den Menschenrechtsverletzungen auf dem Sinai einrichten. Ägyptens internationale Partner sollen unverzüglich jegliche sicherheitspolitische und militärische Unterstützung stoppen und so lange aussetzen, bis Ägypten seine Menschenrechtsverletzungen beendet. Kriegsverbrechen können nach internationalem Recht ohne zeitliche Begrenzung verfolgt werden. In vielen Staaten besteht nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit die Möglichkeit, Personen für Kriegsverbrechen, welche diese in anderen Teilen der Welt begangen haben, festzunehmen und anzuklagen.

„Der ISIS-Ableger im Nord-Sinai verdient weltweite Ächtung und seine abscheulichen Verbrechen müssen verfolgt werden. Doch auch das Vorgehen der Armee, das von ebenso schweren Vergehen geprägt ist, sollte nicht gelobt, sondern aufs Schärfste verurteilt werden“, so Page. „Ägyptens engste Verbündete sollen ihre Unterstützung für diese von Missbrauch geprägte Militärkampagne stoppen, die Tausende Zivilisten ins Verderben gestürzt hat.“

Kategorien: Menschenrechte

Ägypten: Schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im Nord-Sinai

Mai 28, 2019 Video Egypt: War Crimes in North Sinai

 Human Rights Watch’s two-year investigation documented crimes including mass arbitrary arrests, enforced disappearances, torture, extrajudicial killings, and possibly unlawful air and ground attacks against civilians.

(Beirut) - Ägyptische Militär- und Polizeikräfte begehen auf der Halbinsel Sinai schwere und weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen gegen Zivilisten, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Vergehen erfolgen im Zuge der laufenden Kampagne gegen Mitglieder der Provinzgruppe Sinai, des lokalen ISIS-Ablegers, und stellen in einigen Fällen Kriegsverbrechen dar.

Der134-seitige Bericht ‘If You Are Afraid for Your Lives, Leave Sinai!’: Egyptian Security Forces and ISIS-Affiliate Abuses in North Sinai liefert einen detaillierten Einblick in einen kaum beachteten Konflikt, in dem seit der Eskalation der Kämpfe im Jahr 2013 Tausende Menschen verletzt oder getötet wurden – darunter Zivilisten, Kämpfer und Angehörige der Sicherheitskräfte. Die über zwei Jahre durchgeführten Recherchen von Human Rights Watch dokumentieren Verbrechen wie willkürliche Masseninhaftierungen, Verschleppungen, Folter, außergerichtliche Tötungen und möglicherweise rechtswidrige Angriffe auf Zivilisten durch Luft- und Bodenstreitkräfte. Obwohl ein Großteil der Menschenrechtsverletzungen auf das Konto der ägyptischen Militär- und Polizeikräfte geht, haben auch die extremistischen Milizen grausame Verbrechen verübt, etwa die Entführung, Folter und Ermordung von Anwohnern oder die standrechtliche Hinrichtung gefangengenommener Sicherheitskräfte.  Mai 28, 2019 Report If You Are Afraid for Your Lives, Leave Sinai!

Egyptian Security Forces and ISIS-Affiliate Abuses in North Sinai

„Statt die Bewohner des Sinai in ihrem Kampf gegen die Militanten zu unterstützen, haben die ägyptischen Sicherheitskräfte eine totale Geringschätzung für das Leben der Anwohner an den Tag gelegt und ihren Alltag in einen endlosen Albtraum verwandelt“, so Michael Page, stellvertretender Direktor der Abteilung Naher Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. „Die grausame Behandlung der Bewohner des Sinai sollte ein weiterer Weckruf an Staaten wie die USA und Frankreich sein, die Ägyptens Anti-Terror-Maßnahmen blindlings unterstützen.“

Human Rights Watch interviewte für den Bericht 54 Bewohner des nördlichen Sinai im Zeitraum 2016 bis 2018. Befragt wurden zudem Aktivisten, Journalisten und andere Zeugen, darunter zwei ehemalige Offiziere der Armee, ein Soldat, ein ehemaliger Funktionär aus dem Nord-Sinai und ein ehemaliger Beamter der US-Sicherheitsbehörden, der mit Ägypten betraut war. Human Rights Watch wertete auch unzählige offizielle Erklärungen, Social-Media-Posts, Medienberichte und Dutzende Satellitenfotos aus, um die Zerstörung von Wohngebäuden zu belegen und geheime Hafteinrichtungen des Militärs zu identifizieren. Das ägyptische Militär hat faktisch jede unabhängige Berichterstattung aus Nord-Sinai verboten und mehrere Journalisten, die von dort berichtet hatten, verfolgt und inhaftiert.

Die Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass die Feindseligkeiten auf dem nördlichen Sinai das Niveau eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts erreicht haben, da es zu fortdauernden Kämpfen zwischen organisierten bewaffneten Gruppen kommt. Die Konfliktparteien haben das Kriegsvölkerrecht sowie lokale und internationale Menschenrechtsstandards verletzt.

Indem beide Seiten gezielt Zivilisten angreifen, Menschenrechtsverletzungen verüben und nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten unterscheiden, haben sie grundlegende Rechte der Zivilbevölkerung bedeutungslos gemacht und jeden Freiraum für eine friedliche politische Mobilisierung oder Opposition zerstört.

„Wozu das alles? Sollen wir Waffen tragen? Sollen wir mit den Milizen oder der Armee zusammenarbeiten? Oder sollen wir wie Opfer leben? Alle machen Jagd auf uns“, so ein Anwohner, der gegenüber Human Rights Watch beschrieb, wie die Armee ihn bestrafte und sein Haus zerstörte, nachdem ISIS-Kämpfer ihn entführt und gefoltert hatten.

Offiziellen Erklärungen und Medienberichten zufolge wurden von Januar 2014 bis Juni 2018 3.076 mutmaßliche ISIS-Kämpfer und 1.226 Angehörige von Militär und Polizei durch die Kämpfe getötet. Die ägyptischen Behörden haben keine Zahlen zu zivilen Opfern veröffentlicht oder Fehlverhalten eingeräumt. Human Rights Watch deckte auf, dass die ägyptischen Behörden regelmäßig zivile Opfer zu den getöteten mutmaßlichen Kämpfern gezählt hat und dass Hunderte Zivilisten verletzt oder getötet wurden.

Ausgehend von den Erklärungen des Militärs und der Berichterstattung in den ägyptischen Medien geht Human Rights Watch davon aus, dass Militär- und Polizeikräfte von Juli 2013 bis Dezember 2018 mehr als 12.000 Bewohner vom Nord-Sinai festgenommen haben. Das Militär räumt offiziell 7.300 Verhaftungen ein, veröffentlicht jedoch nur selten Namen oder Tatvorwürfe. Die Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass viele dieser Menschen, willkürlich inhaftiert und gewaltsam verschleppt wurden. Einige wurden außergerichtlich hingerichtet. In den vergangenen Jahren haben vermutlich Tausende Menschen den Regierungsbezirk verlassen, entweder um vor dem Konflikt zu fliehen oder weil sie vom Militär aus ihren Häusern vertrieben wurden.

Nord-Sinai ist ein dünn besiedelter Verwaltungsbezirk mit weniger als 500.000 Einwohnern. Er grenzt an Israel und den Gaza-Streifen. Bewaffnete Gruppen existieren dort seit langem. Seit dem Volksaufstand von 2011, der zum Rücktritt des langjährigen Präsidenten Hosni Mubarak geführt hatte, kam es jedoch immer häufiger zu Angriffen auf staatliche Einrichtungen, Militärkräfte und israelische Truppen.

Als das ägyptische Militär den damaligen Präsident Mohammed Mursi im Juli 2013 zum Rücktritt zwang und verhaftete, eskalierte die Gewalt. Die lokale Miliz Ansar Bait al-Maqdis schloss sich Ende 2014 ISIS an und änderte ihren Namen in Wilayat Sinai (Provinzgruppe Sinai). Daraufhin entsandte die Armee mehr als 40.000 Soldaten der See-, Luft- und Bodenstreitkräfte. Ägypten koordinierte diesen Einsatz mit Israel und soll Israel laut Medienberichten erlaubt haben, Luftangriffe auf Ziele auf dem Sinai zu fliegen, welche der Miliz zugerechnet wurden.

In diesem Bericht dokumentiert Human Rights Watch mindestens 50 willkürliche Festnahmen, darunter 39 Fälle, in denen Militär und Polizei die Betroffenen verschleppte. Vierzehn dieser Personen bleiben auch drei Jahre später unauffindbar.

Die Armee hat Häftlinge in Isolation und unter miserablen Bedingungen festgehalten, weit entfernt von jeder richterlichen Kontrolle. Militär und Polizei haben sogar 12-jährige Kinder zusammen mit Erwachsenen inhaftiert. Frauen wurden üblicherweise getrennt festgehalten. Die Recherchen von Human Rights Watch zeigten, dass die Armee zu jedem beliebigen Zeitpunkt in den vergangenen Jahren vermutlich bis zu 1.000 Personen unter Geheimhaltung auf dem Militärstützpunkt Al-Galaa festgehalten hat. Die Basis ist eine der drei bedeutendsten Hafteinrichtungen, die der Bericht beschreibt.

Ehemalige Häftlinge erklärten, dass sie während der Inhaftierung durch Armee und Polizei schlecht mit Nahrungsmitteln versorgt wurden, es kaum medizinische Versorgung gab und sie in kleinen, überfüllten Zellen untergebracht waren. Soldaten und Polizeibeamte hätten viele Insassen gefoltert, etwa mit Schlägen und Elektroschocks. Human Rights Watch dokumentierte drei Todesfälle im Gewahrsam der Sicherheitskräfte.

Einige der heimlich Inhaftierten wurden ohne Gerichtsverfahren von Militär- und Polizeikräften in die Wüste gebracht und hingerichtet. Später wurde erklärt, die Opfer seien bei Schusswechseln ums Leben gekommen. Human Rights Watch dokumentierte 14 derartige Fälle. Sechs weitere waren bereits vor dem Bericht dokumentiert worden.

Die ägyptische Armee hat Bewohner vom Nord-Sinai zu Milizionären rekrutiert. Diese haben bei den Menschenrechtsverletzungen eine erhebliche Rolle gespielt. Die inoffiziellen und irregulären Milizen unterstützten das Militär, das vor dem Konflikt über keine nennenswerte Erfahrung im Nord-Sinai verfügt hatte, indem sie Informationen lieferten und im Auftrag des Militärs Missionen ausführten. Angehörige der Milizen nutzen ihre faktischen Befugnisse, um willkürlich andere Bewohner zu verhaften, alte Rechnungen zu begleichen und persönliche Streitigkeiten zu regeln. Sie waren zudem an Folter und außergerichtlichen Hinrichtungen beteiligt.

Die Provinzgruppe Sinai, der örtliche ISIS-Ableger, hat sich im nordöstlichsten Winkel des Gouvernements Nord-Sinai festgesetzt und unterhält dort auch nach sechs Jahren andauernder Kämpfe eine Präsenz. Die Kämpfer der Gruppe haben laut Aussage der Befragten schreckliche Verbrechen verübt, darunter die Entführung zahlreicher Anwohner und Angehöriger von Militär und Polizei sowie die außergerichtliche Hinrichtung einiger dieser Personen.

Die wahllosen Angriffe der Provinzgruppe Sinai, etwa durch den Einsatz selbstgebauter Sprengkörper in bewohnten Gebieten, haben Hunderte Zivilisten getötet und viele Anwohner zur Flucht gezwungen. Die Gruppe hat auch gezielt Zivilisten angegriffen. So waren Mitglieder von  Wilayat Sinai wahrscheinlich für einen Angriff auf die Al-Rawda-Moschee im Nord-Sinai verantwortlich, bei dem im November 2017 mindestens 311 Menschen getötet wurden, darunter auch Kinder. Dabei handelte es sich um den tödlichsten Anschlag einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe in Ägyptens neuerer Geschichte. In Teilen von Rafah und Sheikh Zuweid, zweier Städte in Nord-Sinai, führte die Gruppe eigene Scharia-Gerichte ein, die unfaire „Gerichtsverfahren“ leiteten, Kontrollpunkte errichteten und islamische Regeln durchsetzten.

Der UN-Menschenrechtsrat und die Afrikanische Kommission der Menschenrechte und der Rechte der Völker sollen, angesichts der Tatenlosigkeit der ägyptischen Behörden, unabhängige Untersuchungsausschüsse zu den Menschenrechtsverletzungen auf dem Sinai einrichten. Ägyptens internationale Partner sollen unverzüglich jegliche sicherheitspolitische und militärische Unterstützung stoppen und so lange aussetzen, bis Ägypten seine Menschenrechtsverletzungen beendet. Kriegsverbrechen können nach internationalem Recht ohne zeitliche Begrenzung verfolgt werden. In vielen Staaten besteht nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit die Möglichkeit, Personen für Kriegsverbrechen, welche diese in anderen Teilen der Welt begangen haben, festzunehmen und anzuklagen.

„Der ISIS-Ableger im Nord-Sinai verdient weltweite Ächtung und seine abscheulichen Verbrechen müssen verfolgt werden. Doch auch das Vorgehen der Armee, das von ebenso schweren Vergehen geprägt ist, sollte nicht gelobt, sondern aufs Schärfste verurteilt werden“, so Page. „Ägyptens engste Verbündete sollen ihre Unterstützung für diese von Missbrauch geprägte Militärkampagne stoppen, die Tausende Zivilisten ins Verderben gestürzt hat.“

Kategorien: Menschenrechte

Deutschland: Verbot von „Killer-Robotern“ unterstützen

Human Rights Watch: Waffen - Mi, 27.05.2020 - 09:50
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Der Deutsche Bundestag in Berlin.

© 2007 Jorge Royan

(Berlin) – Deutschland soll mit gleichgesinnten Ländern zusammenarbeiten und Verhandlungen über einen neuen Vertrag einleiten, der Waffensysteme verbietet, die ihre Ziele ohne menschliche Kontrolle auswählen und angreifen, so Human Rights Watch heute.

Außenminister Heiko Maas hat zum 15. März 2019 in Berlin eine Konferenz über die Zukunft der Waffenkontrolle einberufen. Auf der Tagesordnung stehen neue technologische Bedrohungen wie vollautonome Waffen, die auch als tödliche autonome Waffensysteme oder „Killer-Roboter“ bezeichnet werden. Dass solche Waffen entwickelt werden könnten, stellt die Staatengemeinschaft vor ernste moralische, rechtliche und technische Herausforderungen. Auch die mögliche Verbreitung solcher Waffen und ihre Auswirkungen auf die internationale Sicherheit sind besorgniserregend.

„Deutschland hat gesagt, dass Killer-Roboter verboten werden müssen. Jetzt sollen diesen Worten auch Taten folgen und Verhandlungen über einen neuen Verbotsvertrag eingeleitet werden“, so Mary Wareham, Advocacy-Direktorin der Abteilung Waffen bei Human Rights Watch und Koordinatorin der Kampagne zum Verbot von Killer-Robotern. „Die Öffentlichkeit erwartet zunehmend, dass führende Politiker sich entschieden dafür einsetzen, die Entwicklung vollautonomer Waffen zu verhindern.“

Wareham wird die Kampagne zum Verbot von Killer-Robotern bei der Konferenz am 15. März vorstellen.

In einer neuen Umfrage des Marktforschungsunternehmens Ipsos in 26 Ländern sprachen sich 61 Prozent der Befragten gegen den Einsatz tödlicher autonomer Waffensysteme aus. In Deutschland waren es 72 Prozent. Nur 14 Prozent befürworteten den Einsatz und 14 Prozent zeigten sich unentschieden.

Bei der Umfrage wurde auch erhoben, was den Gegnern vollautonomer Waffen am meisten Sorge bereitet. In Deutschland antworteten mehr als Zweitdrittel, 77 Prozent, dass tödliche autonome Waffen eine „moralische Linie überschreiten würden, weil Maschinen nicht in der Lage sein dürfen, zu töten“. Mehr als die Hälfte, 60 Prozent, gaben an, dass es bei solchen Waffen zu „technischen Fehlern“ kommen könnte.

Bei der Eröffnung der Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) im September 2018 rief Außenminister Maas die Staatengemeinschaft auf, „vollautonome Waffen zu verbieten – bevor es zu spät ist!“. Deutschland unterstreicht häufig, wie wichtig es ist, dass bedeutende menschliche Kontrolle bei der Entscheidung erhalten bleibt, Menschen zu töten.

Aber statt sich für einen Verbotsvertrag einzusetzen, spricht sich Deutschland gemeinsam mit Frankreich für eine nicht bindende politische Erklärung aus, die die Bedeutung menschlicher Kontrolle über Waffensysteme bestätigen soll.

„Deutschland erkennt an, dass Landminen und Streumunition inakzeptable Schäden anrichten, und hat die Verträge unterzeichnet, die diese Waffen verbieten“, sagt Wareham. „Die Verträge sind außerordentlich wirksam, obwohl einige Großmächte sie nicht unterzeichnet haben. Jetzt bedarf es dringend eines neuen Vertrages, der die Auswahl und das Angreifen von Zielen ohne bedeutende menschliche Kontrolle ächtet.“

Beim jährlichen Treffen der Vertragsstaaten des Übereinkommens über konventionelle Waffen im November 2018 kamen Deutschland und mehr als 80 andere Staaten darüber überein, die diplomatischen Gespräche über Killer-Roboter im Jahr 2019 fortzusetzen. Diese Gespräche haben jedoch kein klares Ziel und legen auch keinen Zeitplan für Vertragsverhandlungen fest.

Russland, Israel, Südkorea und die USA deuteten bei dem Treffen im November an, dass sie Verhandlungen über einen Verbotsvertrag nicht unterstützen würden. Diese Staaten und China investieren stark in Waffen, die immer weniger menschlicher Kontrolle über ihre wichtigsten Funktionen benötigen. Dies weckt Ängste, dass sich derartige Waffen weit verbreiten und es zu einem Wettrüsten kommen könnte. Vor diesem Hintergrund bedarf es dringend neuer Wege, um vollautonome Waffen zu verbieten, bevor diese einsatzfähig werden.

In der Vergangenheit wurden externe diplomatische Prozesse eingeleitet, als sich das Übereinkommen über konventionelle Waffen als ungeeignet erwies, durch Landminen und Streumunition verursachtes menschliches Leid zu verhindern. Aus diesen Prozessen entstanden Verträge, die diese Waffen verbieten und damit Leben retten. Ebenso schufen andere Staaten im Jahr 2017 durch die UN-Generalversammlung den Atomwaffenverbotsvertrag, als es offensichtlich wurde, dass sich die Staaten, die über Atomwaffen verfügen, nicht auf Abrüstungsschritte einigen würden.

Im November bezeichnete UN-Generalsekretär António Guterres tödliche autonome Waffensysteme als „politisch inakzeptabel und moralisch abscheulich“ und rief die Staatengemeinschaft dazu auf, sie zu verbieten. Seit dem Jahr 2013 haben sich 28 Staaten für ein Verbot vollautonomer Waffen ausgesprochen. Brasilien, Chile und Österreich haben offiziell vorgeschlagen, sofort Verhandlungen über ein rechtlich bindendes Instrument einzuleiten, das bedeutende menschliche Kontrolle über die zentralen Funktionen von Waffensystemen gewährleistet.

Staaten und andere verantwortliche Akteure sollen ein Verbot vollautonomer Waffen unterstützen und darauf hinarbeiten. Beispielsweise veröffentlichte Google im Juni 2018 eine Reihe von ethischen Grundsätzen, die unter anderem die Zusage enthalten, keine künstliche Intelligenz für Waffen zu entwickeln oder einzusetzen.

Die Kampagne zum Verbot von Killer-Robotern, die Human Rights Watch mitgegründet hat, ist ein schnell wachsender Zusammenschluss von 100 Nichtregierungsorganisationen in 54 Ländern, die sich für ein präventives Verbot vollautonomer Waffen einsetzen. Die Kampagne richtet am 21. März in Berlin eine öffentliche Veranstaltung aus, um über das Thema zu informieren. Im Anschluss findet vom 22. bis zum 23. März ein Treffen der Mitgliedsorganisationen statt.

Am siebten Treffen des Übereinkommens über konventionelle Waffen zu tödlichen autonomen Waffensystemen bei den Vereinten Nationen in Genf vom 25. bis 29. März nimmt die Kampagne zum Verbot von Killer Robotern zusammen mit mehr als 80 Staaten, UN-Agenturen und dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes teil.

„Politische Erklärungen, Transparenzversprechen und andere Maßnahmen können kein Verbot ersetzen und reichen nicht aus, um den zahlreichen Herausforderungen zu begegnen, die mit Killer-Robotern einhergehen“, so Wareham. „Staaten, wie Deutschland, sollen sich jetzt für Verhandlungen über einen Verbotsvertrag stark machen.“

Kategorien: Menschenrechte

Umfrage zeigt: Mehrheit gegen „Killer-Roboter“

Human Rights Watch: Waffen - Mi, 27.05.2020 - 09:50

Mehr als drei von fünf Teilnehmer einer aktuellen Umfrage in 26 Ländern lehnen die Entwicklung von Waffensystemen ab, die ihre Ziele ohne menschliche Kontrolle auswählen und angreifen können, so Human Rights Watch heute.

Die Umfrage des Marktforschungsunternehmens Ipsos wurde von der Kampagne zum Verbot von Killer-Robotern in Auftrag gegeben, die Human Rights Watch koordiniert, und im Dezember 2018 durchgeführt. 61 % der Teilnehmer lehnten den Einsatz tödlicher autonomer Waffensysteme ab, die auch als vollautonome Waffen bezeichnet werden. 22 % unterstützten den Einsatz und 17 % gaben an, sie seien sich unsicher. Bei einer nahezu identischen Umfrage des gleichen Unternehmens in 23 Ländern im Januar 2017 gaben 56 % der Befragten an, sie lehnten den Einsatz solcher Waffen ab, 24 % befürworteten ihn und 17 % waren sich unsicher.

„Die öffentliche Meinung wendet sich zunehmend gegen vollautonome Waffen“, sagt Mary Wareham, Advocacy-Direktorin der Abteilung Waffen bei Human Rights Watch und Koordinatorin der Kampagne zum Verbot von Killer-Robotern. „Wir brauchen mutige, politische Wegbereiter, die sich für einen Vertrag stark machen, der solche Waffensysteme präventiv verbietet.“

Beim jährlichen Treffen der Vertragsstaaten des Übereinkommens über konventionelle Waffen in Genf wurde im November 2018 beschlossen, die diplomatischen Gespräche über Killer-Roboter fortzusetzen. Diese Gespräche finden allerdings ohne klaren Zeitplan und ohne das Ziel statt, Verhandlungen über einen Vertrag einzuleiten. Daher müssen neue Wege eingeschlagen werden, um vollautonome Waffensysteme zu verbieten, bevor diese einsatzfähig werden. Im November bezeichnete der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, tödliche autonome Waffensysteme als „politisch inakzeptabel und moralisch abscheulich“ und forderte die Staatengemeinschaft auf, sie zu verbieten.

Ipsos befragte im Jahr 2018 zwischen 500 und 1.000 Personen in jedem Land. Die stärkste Ablehnung von autonomen Waffensystemen besteht den Ergebnissen zufolge in der Türkei (78%), Südkorea (74%) und Ungarn (74%).

Sowohl Frauen (62%) als auch Männer (60%) lehnen diese Waffen ab, wobei Männer (26%) sie tendenziell eher befürworten als Frauen (18%). Die Ablehnung nimmt mit dem Alter zu: Der stärkste Widerstand findet sich in der Gruppe der 50- bis 64-Jährigen (68%).

Bei der 2018er Umfrage wurden die Teilnehmer, die den Einsatz von Killer-Robotern ablehnten, auch danach gefragt, was ihnen am meisten Sorge bereitete. Zwei Drittel (66%) gaben an, dass tödliche autonome Waffensysteme „eine moralische Grenze überschreiten, weil Maschinen nicht in der Lage sein dürfen, zu töten“. Mehr als die Hälfte (54%) antwortete, dass diese Waffen für ihre Taten nicht zur Verantwortung gezogen werden könnten.

Beim Treffen der Vertragsstaaten im November vereinbarten die Regierungen, die diplomatischen Gespräche über tödliche autonome Waffensysteme im Jahr 2019 fortzusetzen. Allerdings reflektiert diese Entscheidung nicht die Sicht der Mehrheit der am Treffen teilnehmenden Staaten, die Verhandlungen über einen rechtskräftigen Vertrag einleiten wollen. Nach den Regeln des Treffens reicht das Veto eines einzigen Landes aus, damit eine Mehrheit von Staaten nicht aktiv werden kann. Daher konnte Russland den Beginn von Vertragsverhandlungen blockieren und die in diesem Jahr für die Gespräche vorgesehene Zeit reduzieren.

Russland, Israel, Südkorea und die Vereinigten Staaten deuteten bei dem Treffen an, dass sie Verhandlungen über einen neuen Vertrag nicht unterstützen würden. Diese Staaten und China investieren stark in Waffen, die immer weniger menschlicher Kontrolle über ihre wichtigsten Funktionen benötigen. Dies weckt Ängste davor, dass sich derartige Waffen weit verbreiten und es zu einem Wettrüsten kommen könnte.

Seit dem Jahr 2013 fordern 28 Staaten ein Verbot vollautonomer Waffen. El Salvador und Marokko schlossen sich diesem Bündnis im November an. Österreich, Brasilien und Chile schlugen Verhandlungen über „ein rechtsverbindliches Instrument zur Gewährleistung bedeutender menschlicher Kontrolle über wesentliche Funktionen“ von Waffensysteme offiziell vor.

Da es dem Übereinkommen über konventionelle Waffen in der Vergangenheit nicht gelungen war, das menschliche Leid zu beenden, das durch Landminen und Streubomben verursacht wurde, sorgten diplomatische Verhandlungen außerhalb dieses Übereinkommens für lebenswichtige Verträge zum Verbot dieser Waffen. Diese Verträge sind entstanden, weil ähnlich gesinnte Staaten mit UN-Einrichtungen, dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes und engagierten Bündnissen aus Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiteten. Weil sich die über Atomwaffen verfügenden Staaten nicht über Abrüstung einigen konnten, beschlossen andere Staaten in der UN-Generalversammlung im Jahr 2017 den Atomwaffenverbotsvertrag.

Staaten und andere Akteure sollen nicht zögern, sich für ein Verbot vollautonomer Waffen einzusetzen und die Arbeit an ihm zu beginnen. Beispielsweise veröffentlichte Google im Juni 2018 eine Reihe von ethischen Grundsätzen, die unter anderem die Zusage enthalten, keine künstliche Intelligenz für Waffen zu entwickeln oder einzusetzen.

Die Kampagne zum Verbot von Killer-Robotern, die Human Rights Watch mitgegründet hat und koordiniert, ist ein schnell wachsender Zusammenschluss von 88 Nichtregierungsorganisationen in 50 Ländern, der sich für ein präventives Verbot vollautonomer Waffen einsetzt. Die Kampagne hat seit kurzem eine neue Website.

„Die Ipsos-Umfrage zeigt: Die Öffentlichkeit erwartet immer mehr, dass Regierungen die Bedrohung ernst nimmt, die von vollautonomen Waffen ausgeht. Sie ist bereit, sich stark dafür einzusetzen, dass die menschliche Kontrolle über den Einsatz von Gewalt erhalten bleibt“, so Wareham. „Die Sicherheit der Welt und die Zukunft der Menschheit hängen davon ab, ein Verbot von Killer-Robotern zu erreichen.“

Weitere Ergebnisse der Ipsos-Umfrage zu Killer-Robotern

Ablehnung von Killer-Robotern im Jahr 2018

Die Ipsos-Umfrage wurde im Jahr 2018 in 26 Ländern durchgeführt: Argentinien, Australien, Belgien, Brasilien, Deutschland, China, Frankreich, Großbritannien, Indien, Israel, Italien, Kanada, Kolumbien, Japan, Mexiko, die Niederlande, Peru, Polen, Russland, Südafrika, Südkorea, Spanien, Schweden, Ungarn, die Türkei und die Vereinigten Staaten. Die Ipsos-Umfrage aus dem Jahr 2017 wurde in 23 dieser Länder durchgeführt, nicht in Israel, Kolumbien und den Niederlanden.

Für die 2018er Umfrage wurde die Frage der vorhergegangenen Umfrage leicht überarbeitet und lautete:

Die Vereinten Nationen prüfen die strategische, rechtliche und moralische Bedeutung von tödlichen autonomen Waffensystemen. Diese Waffensysteme wären in der Lage, Ziele unabhängig auszuwählen und ohne menschlichen Eingriff anzugreifen. Sie unterscheiden sich von existierenden „Drohnen“, bei denen Menschen die Ziele auswählen und angreifen.

Wie stehen Sie zum Einsatz tödlicher autonomer Waffensysteme in Kriegen?

In den 26 im Jahr 2018 untersuchten Ländern lehnten 61 % der Befragten Killer-Roboter ab, 22 % lehnten sie nicht ab und 17 % waren sich unsicher oder unentschieden.

Von den Teilnehmern, die eine Meinung äußerten, äußerten fast dreimal so viele Ablehnung als keine Ablehnung.

In 20 Ländern lehnte die Mehrheit der Befragten Killer-Roboter ab. In 15 dieser Länder äußerten 60 % oder mehr Ablehnung: Türkei (78%), Südkorea (74%), Ungarn (74%), Kolumbien (73%), Deutschland (72%), Schweden (71%), die Niederlande (68%), Spanien (65%), Peru (65%), Argentinien (64%), Mexiko (64%), Belgien (63%), Polen (62%), Kanada (60%) und China (60%).

Auch in Russland (59%), Großbritannien (54%) und den Vereinigten Staaten (52%) lehnte eine Mehrheit Killer-Roboter ab. Diese drei Staaten gelten als diejenigen, die vollautonome Waffen am deutlichsten befürworten und gegen ein Verbot arbeiten.

Die einzigen Länder, in denen eine Mehrheit Killer-Roboter nicht ablehnte, waren Indien (37%), Israel (41%), Brasilien (46%) und Japan (48%).

Wie hat sich die Ablehnung von Killer-Robotern von Januar 2017 bis Dezember 2018 entwickelt?

In den 26 im Jahr 2018 untersuchten Ländern lehnten 61 % der Befragten Killer-Roboter ab, wohingegen sich im Jahr 2017 56 % in 23 der gleichen Länder gegen diese Waffen aussprachen.

In den 23 Ländern, die sowohl 2017 als auch 2018 untersucht wurden, nahm die Ablehnung von Killer-Robotern um 14 % zu, wobei sich ein Teil dieser Zunahme im Rahmen üblicher Schwankungen bewegt.

Am stärksten nahm die Ablehnung zu in China (um 24 %), in der Türkei (um 21 %), Frankreich, Polen, Ungarn (jeweils 13 %) und Südkorea (um 12 %).

Die Ablehnung nahm auch in Schweden zu (um 9%), in Großbritannien (um 7%) und in Deutschland (um 7%). In Indien, Kanada, Italien, Australien und Belgien wurden ebenfalls Zunahmen verzeichnet, diese befinden sich allerdings im Rahmen üblicher Schwankungen.

In neun Ländern nahm die Ablehnung ab, in fünf dieser Länder allerdings nur um ein oder zwei Prozent. Die einzigen substanziellen Rückgänge in der Ablehnung waren in Russland (um 10%) und Brasilien (6%) zu verzeichnen. In Südafrika und Japan ging die Ablehnung im Rahmen üblicher Schwankungen zurück.

Kategorien: Menschenrechte

Ägypten: Neues Vorgehen im Kampf gegen Dissidenten

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Ein Foto vom 26. Juli 2018 zeigt ägyptische Polizisten, die eine Straße in El-Arish, Provinzhaupstadt im Nord-Sinai, überwachen.

© 2018 Khaled Desouki/AFP/Getty Images

(Beirut) – Die ägyptischen Behörden griffen im Jahr 2018 zunehmend auf Anti-Terror- und Notstandsgesetze zurück, um friedlichen Widerstand gegen die Regierung zu verhindern. Journalisten und Menschenrechtsaktivisten wurden weiter verfolgt, so Human Rights Watch im heute veröffentlichten World Report 2019.

Präsident Abdel Fattah al-Sisi wurde bei den weitgehend unfreien und unfairen Wahlen im März für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Das Parlament verabschiedete eine Reihe neuer und sehr restriktiver Mediengesetze, die die ohnehin schwachen Regierungskritiker im Land zum Schweigen bringen.

„Das Jahr 2018 war in Ägypten davon geprägt, dass die Terrorbekämpfung als Vorwand genutzt wurde, um alle Formen von Dissens im Land zunichte zu machen“, so Michael Page, stellvertretender Leiter der Abteilung Naher Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. „Es gibt fast keinen Raum mehr, um friedlich die Regierung zu kritisieren, ohne dafür inhaftiert und unfairerweise als ‚Terrorist‘ verfolgt zu werden.“

In dem 674-seitigen World Report 2019, der 29. Ausgabe des Berichts, gibt Human Rights Watch einen Überblick über die Menschenrechtslage in mehr als 100 Ländern. In seiner Einleitung zeigt Executive Director Kenneth Roth, dass die in vielen Ländern auf Hass und Intoleranz bauenden Populisten auf Widerstand stoßen. Neue Allianzen von Regierungen, die die Menschenrechte schützen wollen und von der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit unterstützt werden, machen es den Autokraten immer schwieriger, ihre Botschaft zu verbreiten. Diese Erfolge machen deutlich, wie die Menschenrechte verteidigt werden können und müssen – selbst in dunklen Zeiten.

Die Sicherheitskräfte des Innenministeriums und die Polizei sind verantwortlich für systematisches und weit verbreitetes Verschwindenlassen und für Folter von Gefangenen. Die unabhängige Kampagne „Stop Enforced Disappearance“ dokumentierte zwischen August 2017 und August 2018 230 Fälle, in denen Menschen verschleppt wurden.

Die Behörden setzten Hunderte Personen und Organisationen auf die nationale Terrorismus-Liste und beschlagnahmte deren Besitz wegen angeblicher Verbindungen zum Terrorismus, ohne dass die Betroffenen angehört oder andere Standards für faire Verfahren eingehalten wurden.

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen gingen die Sicherheitskräfte Ende Januar und im Februar massiv gegen friedliche politische Gegner von al-Sisi vor, in deren Zuge es zu einer Reihe willkürlicher Verhaftungen kam. Verhaftet wurden auch diejenigen, die sich für einen Wahlboykott aussprachen, darunter Abdel Moneim Abul Futuh, Präsidentschaftskandidat im Jahr 2012 und Vorsitzender der Partei Starkes Ägypten. Trotz seiner Herzerkrankung befindet er sich noch immer in Untersuchungshaft.

Einer weiteren Verhaftungswelle im Mai fielen unter anderem der Aktivist Hazem Abd al-Azim, der bekannte Menschenrechtsverteidiger Wael Abbas, der Arzt Shady al-Ghazaly Harb, die Aktivistin Amal Fathy und der Satiriker Shady Abu Zaid zum Opfer. Im August wurde neben zahlreichen anderen auch ein ehemaliger Botschafter verhaftet, Ma’soum Marzouk, der eine öffentliche Abstimmung darüber gefordert hatte, ob al-Sisi zurücktreten soll. Im Oktober und November inhaftierten die Behörden mindestens 40 Menschenrechtsaktivisten und Freiwillige, von denen viele bei der unabhängigen Menschenrechtsorganisation Ägyptische Koordination für Rechte und Freiheiten engagiert waren. Die Behörden verschleppten den Leiter der Organisation, Ezzat Ghoniem, im September.

Zudem verfolgten die Behörden weiterhin unzählige führende Menschenrechtsaktivisten und -organisationen im Land im Rahmen von Fall 173 aus dem Jahr 2011, der als „ausländische Finanzierung“-Fall bekannt ist. Zudem berichtete die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf angemessenen Wohnraum nach ihrem Ägyptenbesuch im September, dass die Regierung sich mit Hauszerstörungen und Verhaftungen an Bürgern gerächt hat, die mit ihrem Team zusammengearbeitet hatten.

Ägyptische Gerichte verurteilten im Jahr 2018 zahllose Personen in fingierten Massenprozessen zum Tode, bei denen es um angebliche politisch motivierte Gewalt oder Verbindungen zu Terroristen ging. Zivile Berufungsgerichte und Berufungsgerichte des Militärs bestätigten mindestens 51 Todesurteile. Zudem haben die Behörden mindestens 46 Personen hinrichten lassen und führten sowohl vor Staatssicherheits- als auch vor Militärgerichten Prozesse gegen Hunderte Zivilisten durch, von denen keiner auch nur minimalste Verfahrensstandards einhielt.

Das restriktive Gesetz 80 aus dem Jahr 2016 zum Bau von Kirchen ermöglichte im Jahr 2018 einer kleinen Zahl von Kirchen, die bislang nicht offiziell genehmigt waren, eine Legalisierung unter Auflagen. Der Bau von Kirchen ist allerdings weiterhin nur eingeschränkt möglich. Die Behörden schlossen im Jahresverlauf 14 Kirchen, so die ägyptische Initiative für Persönlichkeitsrechte.

Im Mai fanden die ersten Gewerkschaftswahlen seit 12 Jahren statt. Daraus ging hevor, dass der regierungsnahe ägyptische Gewerkschaftsbund (ETUF) de facto weiterhin die Gewerkschaften im Land kontrolliert. Unabhängige Gruppen kritisierten, dass die Regierung Hunderte regimeferne oder –kritische Kandidaten von der Wahl ausschloss.

Im Nordsinai, wo Regierungskräfte eine mit dem Islamischen Staat verbundene Gruppe namens Provinz Sinai (Wilayat Sinai) bekämpfen, verübte die Armee schwerste Menschenrechtsverletzungen, die in bestimmten Fällen kollektive Bestrafung darstellen. Im Januar begann die Armee, in einem seit Jahren beispiellosen Ausmaß Wohnhäuser zu zerstören. Mindestens 3.600 Wohnungen und andere Gebäude waren betroffen.

Ägyptens internationale Verbündete konzentrierten sich weiterhin auf Zusammenarbeit in den Bereichen Terrorismus und Migration und kritisieren die Regierung äußerst selten öffentlich. US-Präsident Donald Trump sagte bei al-Sisis New York-Besuch im September, der ägyptische Präsident habe im Kampf gegen den Terrorismus „außerordentliche Arbeit“ geleistet.

Kategorien: Menschenrechte

Staatengemeinschaft muss gegen Brandwaffen aktiv werden

Human Rights Watch: Waffen - Mi, 27.05.2020 - 09:50

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Bei einem Brandwaffenangriff im März 2018 im syrischen Ostghuta starben mehr als 250 Zivilisten. 

© 2018 Syria Civil Defense (Genf) – Bei der anstehenden Abrüstungskonferenz der Vereinten Nationen (UN) soll die Staatengemeinschaft angesichts der Beweise für 30 neue Brandwaffenangriffe in Syrien beschließen, dass die völkerrechtlichen Bestimmungen gegen deren Einsatz gestärkt werden, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Die Teilnehmerstaaten der UN-Konferenz sollen: • Die bestehenden völkerrechtlichen Bestimmungen über Brandwaffen im Jahr 2019 überprüfen. • Die Schlupflöcher im bestehenden Recht schließen. • Den Einsatz von Brandwaffen in bewohnten Gebieten verurteilen. Der 13-seitige Bericht „Myths and Realities about Incendiary Weapons“ befasst sich mit verbreiteten Fehleinschätzungen, die dazu führen, dass es bei Brandwaffen international kaum Fortschritte gibt. Brandwaffen produzieren Hitze und Feuer durch die chemische Reaktion einer brennbaren Substanz. Zwar wurden sie zur Kennzeichnung und Signalgebung oder Vernebelung entwickelt, aber sie können menschliches Gewebe bis auf die Knochen verbrennen, großflächige Narben hinterlassen sowie Verletzungen der Atemwege und psychische Traumata verursachen. Zudem können sie Brände auslösen, die zivile Objekte und Infrastruktur zerstören.

„Angesichts der entsetzlichen Verbrennungen und lebenslangen Behinderungen, die Brandwaffen verursachen, bedarf es einer globalen Antwort“, so Bonnie Docherty, Waffen-Expertin bei Human Rights Watch und Autorin des Berichts. „Einfache Änderungen des Völkerrechts können dazu beitragen, Zivilisten im Krieg das Leben zu retten.“

Der Bericht geht auf die beispiellos grausamen Verletzungen ein, die Brandwaffen verursachen, erläutert die Schwachstellen im bestehenden Recht und gibt Empfehlungen, mit denen die Staaten diese beheben können. Der Bericht ist als leicht verständlicher Überblick über das Thema konzipiert und wird gemeinsam mit der International Human Rights Clinic der Harvard Law School veröffentlicht.

Die Mitgliedstaaten des Übereinkommens über konventionelle Waffen (CCW) werden sich dem Thema Brandwaffen vom 19. bis 23. November bei den UN in Genf widmen. Protokoll III des Übereinkommens schränkt den Einsatz von Brandwaffen bis zu einem gewissen Grad ein, enthält aber keine ausreichenden Bestimmungen zum Schutz der Zivilbevölkerung.

Untersuchungen von Human Rights Watch zeigen, dass die syrisch-russische Militärallianz Brandwaffen im Jahr 2018 bei mindestens 30 Angriffen in sechs Gouvernements von Syrien eingesetzt hat. Bei den meisten dieser Angriffe kamen bodengestützte Raketen zum Einsatz, aber auch luftgestützte Waffen verursachten Schäden. Etwa starben mindestens 61 Menschen bei einem Luftangriff mit Brandwaffen am 16. März in Ostghuta, mehr als 200 wurden verletzt.

Darüber hinaus sind weitere 90 Angriffe mit Brandwaffen in Syrien im Zeitraum November 2012 bis 2017 dokumentiert. Die tatsächliche Zahl ist mit großer Wahrscheinlichkeit höher. Syrien ist kein Mitgliedstaat von Protokoll III, aber Russland ist ihm beigetreten.

Die Staaten, die an der UN-Konferenz teilnehmen, sollen sich mit den Schwächen von Protokoll III befassen und ihre eigenen politischen Grundsätze und Praktiken transparent machen. Außerdem sollen sie ein Forum schaffen, um das Protokoll im Jahr 2019 formal zu überprüfen, mit dem Ziel, seine Bestimmungen zum Schutz der Zivilbevölkerung zu stärken.

In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Regierungen, die sich gegen Brandwaffen aussprechen, deutlich gestiegen. Allerdings haben einige wenige Länder, die die existierenden Regelungen als ausreichend betrachten, sich gegen Vorschläge ausgesprochen, das Protokoll zu ändern.

Protokoll III hat zwei wesentliche Schlupflöcher, die seine Wirksamkeit begrenzen. Erstens schließt seine Definition Vielzweckwaffen aus, etwa die mit weißem Phosphor, die zwar primär für Vernebelung oder Beleuchtung gedacht sind, aber die gleichen, schrecklichen Verletzungen verursachen können wie andere Brandwaffen. Weißer Phosphor kann etwa in bereits verbundenen Wunden weiter schwelen und sich noch Tage nach der Behandlung erneut entzünden, wenn er mit Sauerstoff in Kontakt kommt. Im Jahr 2017 setzte die von den USA geführte Koalition Phosphorbomben bei den Kämpfen gegen den Islamischen Staat in Raqqa in Syrien und in Mosul im Irak ein. Auch die USA sind Protokoll III beigetreten.

Zweitens verbietet das Protokoll zwar den Einsatz luftgestützer Waffen in bewohnten Gebieten, erlaubt aber den Einsatz von bodengestützen Modellen unter bestimmten Umständen. Da alle Brandwaffen die gleichen Auswirkungen haben, sollte diese willkürliche Unterscheidung gestrichen werden. Ein vollständiges Verbot von Brandwaffen wäre aus humanitärer Sicht die beste Lösung.

„Für die Staatengemeinschaft sollte es in der Abrüstungspolitik höchste Priorität haben, die völkerrechtlichen Bestimmungen über Brandwaffen zu stärken“, sagt Docherty, die auch stellvertretende Leiterin des Bereichs Bewaffneter Konflikt und Schutz der Zivilbevölkerung der Harvard Clinic ist. „Stärkere Verpflichtungen würden den Einsatz dieser Waffen durch die Mitgliedstaaten des Protokolls begrenzen und das Verhalten anderer Staaten und nichtstaat licher bewaffneter Gruppen beeinflussen, weil sie Brandwaffen stärker stigmatisieren.“

Docherty stellt die Ergebnisse des Berichts bei einem Side Event bei den UN in Genf am 20. November um 13:15 Uhr in Konferenzraum XXII vor.

Kategorien: Menschenrechte