Anmerkung zu BSG, 03.12.2015 - B 4 AS 47/14 R
Werden die Stromkosten für den Betrieb einer Heizungsanlage nicht gesondert erfasst, so können sie in Anlehnung an die Methoden der Zivilgerichte geschätzt werden. Voraussetzung einer Schätzung ist, dass die Aufklärung aller maßgebenden Umstände mit unverhältnismäßigen Schwierigkeiten verbunden wäre. Das Tatsachengericht hat in pflichtgemäßer Ermessensausübung über das Ob und die Art und Weise einer Schätzung sowie über die Ermittlung der Tatsachengrundlage zu entscheiden.
1. Problemstellung
Stromkosten von SGB II-Leistungsbeziehern sind entweder im Regelbedarf enthalten, § 20 Abs. 1 S. 1 SGB II, oder sie sind als Mehrbedarf zu übernehmen, wenn das Warmwasser durch in der Unterkunft installierte Vorrichtungen erzeugt wird (dezentrale Warmwassererzeugung), § 21 Abs. 7 SGB II, oder sie sind den Kosten der Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II zuzurechnen. Letzteres hatte das BSG mit Urteil vom 07. Juli 2011 – B 14 AS 51/10 R – entschieden.
Behörden und Gerichte haben bei der Bestimmung der Höhe der Stromkosten den Amtsermittlungsgrundsatz bzw. Untersuchungsgrundsatz zu beachten: Die Jobcenter, als Behörden, ermitteln die Sachverhalte von Amts wegen, § 20 Abs. 1 S. 1 SGB X. Sie haben alle für den Einzelfall bedeutsamen, auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen, § 20 Abs. 2 SGB X. Die Jobcenter bestimmen Art und Umfang der Ermittlungen; an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten sind sie nicht gebunden, § 20 Abs. 1 S. 2 SGB X. Das Gericht erforscht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen; es ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden, § 103 SGG. Gerichte können über § 202 S. 1 SGG i. V. m. § 278 ZPO auch Schätzungen vornehmen.
Zu klären ist, ob die Stromkosten für den Betrieb einer Heizungsanlage nunmehr aufgrund von Gesetzesänderungen dem Regelbedarf zugehören oder den Heizkosten und anhand welcher Maßstäbe Schätzungen vorgenommen werden können.
2. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Die Beteiligten streiten über die Höhe der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum Februar 2011 bis Juli 2011. Der Kläger und Revisionsbeklagte bewohnt ein Eigenheim, das ihm und der von ihm dauernd getrennt lebenden Ehefrau gehört. Das Haus wird mit Gas beheizt. Die elektrische Energie, die für den Betrieb der Heizungsanlage notwendig ist, wird nicht vom sonstigen Haushaltsstrom gesondert erfasst. Die Stromkosten für den Betrieb der Heizungsanlage wurden von dem Beklagten und Revisionskläger im fraglichen Zeitraum weder durch den Bewilligungsbescheid noch durch die Änderungsbescheide übernommen.
Ein Widerspruchsverfahren blieb erfolglos. Im Klageverfahren gegen die Bescheide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides obsiegte der Kläger. Der Beklagte wurde zur Übernahme der Stromkosten für den Heizbetrieb i. H. v. 3,66 EUR monatlich für den streitigen Zeitabschnitt verurteilt. Mit der vom SG zugelassenen Sprungrevision rügt der Beklagte die Verletzung von § 22 Abs. 1 SGB II. Die ältere Rechtsprechung des BSG zur Zuordnung der Kosten des Betriebsstroms der Heizungsanlage sei auf die Rechtslage ab dem 01.01.2011 nicht mehr anzuwenden. Ausweislich der Entwurfsbegründung zum RBEG/SGB II/SGB XII-ÄndG (BT-Drs. 17/3404 S. 55 f.) habe die Sonderauswertung der EVS 2008 zu einer wesentlichen Änderung bei der Bemessung der Regelsatzbestandteile geführt. Diese enthielten nunmehr auch die Stromkosten von Eigentümerhaushalten, so dass diese Kosten nicht mehr Kosten der Unterkunft und Heizung seien.
Die Sprungrevision führte zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Verweisung an das Berufungsgericht.
Das erstinstanzliche Urteil versetze das Revisionsgericht nicht in die Lage, abschließend über die Frage von Ansprüchen des Klägers zu befinden. Dem Urteil fehlten Ausführungen zur Leistungsberechtigung des Klägers nach § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II und Tatsachen, aufgrund derer die Leistungshöhe bestimmt werden könne. Weil nur der Beklagte Sprungrevision eingelegt habe, sei der dem Kläger zustehende weitere Betrag auf die ausgeurteilten 21,96 EUR beschränkt. Selbst im Falle des Obsiegens des Beklagten könnte sich ein Anspruch des Klägers in der ausgeurteilten Höhe aus anderen Gründen ergeben. Auch wenn der Beklagte in der Berufungsinstanz unterliegen sollte, könnte der dem Kläger zustehende Betrag niedriger ausfallen, wenn der Beklagte zu hohe Leistungen gewährt haben sollte. Eine Beschränkung oder Begrenzung des Streitgegenstandes sei nicht vorgenommen worden. Selbst wenn das SG eine Beschränkung des Streitgegenstandes auf ein Berechnungselement vorgenommen haben wollte, sei dies nicht zulässig gewesen.
Zutreffend habe das SG jedoch die Stromkosten für den Betrieb der Heizungsanlage den Kosten der Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II zugerechnet. Der Senat stellte klar, dass er an seiner Rechtsauffassung zum Rechtszustand für die Zeit vor der vom Beklagten bezeichneten Gesetzesänderung festhalte.
Dabei sei im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 GG zwischen Mietern und Hauseigentümern kein Unterschied zu machen, da nicht nach der Berechtigung am Wohnraum zu unterscheiden sei. Maßgebend sei, dass der angemessene Wohnbedarf gedeckt werden müsse und sich insoweit keine relevanten Unterschiede aus der Art der Berechtigung am Wohnraum ergäben. Weil die Kosten für den Betrieb einer Heizungsanlage in der Regel gemäß § 2 Nr 4 Buchstabe a BetrKV in den Vorauszahlungen der Mieter für die Heizenergie enthalten sind, soweit eine zentrale Heizungsanlage zum Mietobjekt gehört, müssten diese Kosten im Rahmen der Angemessenheit übernommen werden. Nichts anderes könne für Eigentümer mit entsprechendem Bedarf gelten.
Der Senat führt aus, das entgegen der Ansicht des Beklagten gerade keine Rechtsänderung herbeigeführt worden sei, sondern dass die Einfügung der Worte „… und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile“ in § 20 Abs. 1 S. 1 SGB II lediglich der erleichterten Grenzziehung zwischen den Bedarfen nach den §§ 20 und 22 und der Umsetzung der Rechtsprechung diene. Zum 01.01.2011 sei auch jener § 21 Abs. 7 SGB II in Kraft getreten, der hinsichtlich den Fall der zentralen Warmwassererzeugung auf § 22 SGB II verweise.
Auch die Auffassung des Beklagten, aus der EVS 2008 folge, dass die Stromkosten für die Heizungsanlage in Eigentümerhaushalten aus dem Regelbedarf zu decken seien, folgt der Senat nicht. Die Ermittlung der Strommehrkosten von Eigentümern seien nicht in tatsächlicher Höhe in die Ermittlung des Regelbedarfs eingeflossen, sondern nur in Höhe der durchschnittlichen Stromkosten der Haushalte von Mietern. Dies belege das Zahlenmaterial. Darüber hinaus verkenne auch der Gesetzentwurf (BT-Drs. 17/3404 S. 56) gerade nicht, dass in Eigentümerhaushalten höhere bzw. gesondert zu erbringende Stromkosten anfallen könnten.
Die Höhe der folglich zu übernehmenden Kosten sei grundsätzlich exakt festzustellen. Nur wenn der dazu zu betreibende Aufwand außer Verhältnis zu der zu klärenden Frage stünde, könnte gemäß § 202 S. 1 SGG i. V. m. § 278 Abs. 2, 1 S. 1 ZPO geschätzt oder gemäß § 202 S. 1 SGG i. V. m. § 278 Abs. 2, 1 S. 2 ZPO ein Gutachter vernommen werden. Die Entscheidung obliege dem Gericht in pflichtgemäßem Ermessen. Dieses sei vom Revisionsgericht nur auf unzutreffende rechtliche Maßstäbe, auf grundsätzlich falsche oder offenbar unzutreffende Erwägungen oder auf das Außerachtlassen von wesentlichen entscheidungserheblichen Tatsachen zu überprüfen. Dies sei vom Beklagten nicht gerügt worden. Auch der Senat selbst sieht keine fehlerhafte Ausübung des Ermessens durch das SG.
Die Voraussetzungen einer zulässigen Schätzung lägen vor, so der Senat. Die Kosten seien zu übernehmen. Eine exakte Feststellung sei mangels eines separaten bzw. Zwischenzählers nicht möglich. Ein Sachverständigengutachten sei unverhältnismäßig, zumal die Gutachterperson die Betriebsdauer der Heizung auch nur schätzen könnte.
Der Senat spricht Empfehlungen an das Berufungsgericht aus, wie eine Schätzung auf realistischer Grundlage zu erfolgen habe und erinnert daran, dass die Ergebnisse in sich schlüssig und wirtschaftlich nachvollziehbar sein müssten. Eine Schätzung sei rechtsfehlerhaft bei mangelhafter Ermittlung der Schätzungsgrundlagen oder einer unzureichenden Würdigung aller wesentlichen, in Betracht kommenden Umstände oder wenn die Schätzung selbst auf falschen oder unsachlichen Erwägungen beruhe. Es seien nachvollziehbare Ausgangs- und Anknüpfungstatsachen zu ermitteln. Auch die Berechnungsmethoden seien nachvollziehbar zu begründen, weil sich daraus die maßgeblichen zu ermittelnden Tatsachen ergäben.
Insoweit sei das Urteil des SG fehlerhaft. Es hätte an die im Datenblatt zur Heizung enthaltene Angabe zum 24 Stunden-Bereitschafts-Energieverbrauch angeknüpft und behauptet, dieser Wert entspräche näherungsweise den angefallenen Stromkosten. Rechtsfehlerhaft sei, dass das SG eine Begründung für diese Annahme schuldig geblieben sei. Auch eine eigene Untersuchung der Unterlagen durch den Senat habe diese Ansicht nicht zu stützen vermocht.
Nach Ansicht des Senats könnten sich vielmehr aus der mietrechtlichen Rechtsprechung Anhalte für Schätzungs- und Berechnungsmethoden ergeben. Dort würde auf einen geschätzten Anteil an den Brennstoffkosten abgestellt werden oder auf den geschätzten Stromverbrauch der Heizungsanlage während der ebenfalls geschätzten durchschnittlichen Betriebsstunden ihrer wesentlichen elektrischen Vorrichtungen.
3. Kontext der Entscheidung
Nachdem ursprünglich umstritten war, ob Stromkosten einer Heizungsanlage Haushaltsenergie sind und damit zum Regelbedarf gehören oder ob sie den Heizkosten zuzuordnen sind, hatte das BSG im Jahre 2011 letztere Zuordnung vorgenommen. Allerdings lag dieser Entscheidung die Rechtslage vor den letzten Änderungen im Bereich der §§ 20 Abs. 1 S. 1 und 21 Abs. 7 SGB II zu Grunde.
Bei der vorliegenden handelt es sich um die erste Entscheidung des BSG zum aktuellen Wortlaut (vgl. beispielsweise die Übersichten zu den Änderungen bei buzer.de).
Der Senat hält an seiner Rechtsauffassung fest. Zugleich legt er noch einmal dar, ob und wie Schätzungen zu erfolgen haben und verweist auf weitere – insbesondere zivilrechtliche – Rechtsprechung.
4. Auswirkungen für die Praxis
Der Wert der Entscheidung liegt in der Klarstellung der Zuordnung der Stromkosten der Heizungsanlage zu den Heizkosten, in den grundsätzlichen Ausführungen zu den Voraussetzungen einer Schätzung, möglichen Rechtsfehlern und im Verweis auf weiterführende Rechtsprechung.