RG, 17.03.1879 - I 23/80

Daten
Fall: 
Betrieb einer Eisenbahn und Betriebsunternehmen im Sinne des Reichshaftpflichtgesetzes
Fundstellen: 
RGZ 1, 247
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
17.03.1879
Aktenzeichen: 
I 23/80
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Kreisgericht Calbe.
  • Appellationsgericht Magdeburg.

Bedeutung der Ausdrücke: Betrieb einer Eisenbahn und Betriebsunternehmen in dem §. 1 des Reichshaftpflichtgesetzes.

Tatbestand

Die Beklagten sind Eisenbahnbauunternehmer. Dieselben hatten die Ausführung der Erdarbeiten auf einer (zum späteren Betriebe für Rechnung des preußischen Staates genehmigten) Eisenbahn übernommen. Um die Erdmassen nach dem jedesmal deren Verwendung erfordernden Teile dieser Bahnstrecke zu schaffen, legten sie ein schmalspuriges Eisenschienengeleise, welches an einer Stelle, auf welcher der Eisenbahnerdamm noch nicht bis zur Tragfähigkeit hergestellt war, auf einem hölzernen Fahrgerüste ruhte. Täglich bewegten sich etwa sechszehn Male auf diesem Schienengeleise (von schmalspurigen Dampflokomotiven bewegte) Züge, in der Stärke von zehn bis dreißig Wagen in jedem Zuge. Jeder Wagen wog schon leer siebenzehn Centner und wurde mit 5/4 Kubikmeter Erde gefüllt.

Als am 8. September 1876 ein solcher Zug, auf dessen vorderstem Bremswagen sich der Kläger befand, auf dem Schienengeleise über das oben erwähnte Fahrgerüste hinfuhr, senkte sich das Gerüst zur Seite. Infolge dessen stürzten mehrere entgleisende Wagen um, wobei der Kläger körperlich verletzt wurde. Derselbe hat in dem vorliegenden Prozesse die Beklagten auf Grund des Reichshaftpflichtgesetzes §. 1 in Anspruch genommen. In erster Instanz erstritt der Kläger die Verurteilung der Beklagten, in zweiter Instanz wurde seine Klage deswegen abgewiesen, weil (nach der Meinung des Appellationsrichters) der Gesetzgeber den §. 1 des Reichshaftpflichtgesetzes nur zur Anwendung bestimmt habe bei Unfällen auf fertigen, als öffentliche Transportunternehmen dem allgemeinen Verkehre dienenden Eisenbahnen; weil ferner jedenfalls die Anwendung jener Gesetzesbestimmung ausgeschlossen sei bei Transporten von Sachen und Personen seitens eines Eisenbahnbauunternehmers auf Vorrichtungen, welche dieser Unternehmer als Hilfsmittel zum Betriebe seines Eisenbahnbaugewerbes hergestellt habe, möchten diese Vorrichtungen auch in eisernen Schienengeleisen bestehen, auf welchen (während der längeren Zeit der Bauausführung auf nicht unbedeutenden Strecken) Arbeitszüge von vielen Waggons durch Dampflokomotiven bewegt würden. Solche Eisenbahnen seien nicht Eisenbahnen im Sinne des Reichshaftpflichtgesetzes, sondern accessorische Hilfsmittel eines Eisenbahnbauunternehmers, und derjenige, welcher sie errichte und funktionieren lasse, sei nicht der Betriebsunternehmer einer Eisenbahn im gesetzlichen Sinne, sondern der Unternehmer eines Eisenbahnbaues. Auf die Revision des Klägers ist aus folgenden Gründen abändernd auf Wiederherstellung des Urteiles erster Instanz erkannt:

Gründe

"Die Verkümmerung des Reichshaftpflichtgesetzes liegt in dem Sonderinteresse von Kreisen, welchen bedeutende materielle Mittel und thätige Organe zur Verfügung stehen. Die dadurch erzeugte (wenigstens unbewußt gegen den Willen des Gesetzgebers ankämpfende) Strömung hat sich eines Teiles der mit der Auslegung jenes Gesetzes sich befassenden Litteratur bemächtigt, deren Ausführungen nicht ohne Einfluß auf die Urteile einzelner Gerichte geblieben sind.

Das vormalige Reichsoberhandelsgericht hat bereits in einer Reihe von Erkenntnissen rechtsirrigen Einengungen der in dem ersten Paragraphen des Reichshaftpflichtgesetzes gegebenen Normen entgegentreten müssen. In dieser Richtung sind hier (als für den vorliegenden Streitfall besonders erheblich) drei, auszugsweise in der Sammlung der Entscheidungen (Bd. 20 Nr. 45 S. 151; Bd. 21 Nr. 78 S. 243; Bd. 25 Nr. 49 S. 203) abgedruckte, Urteile hervorzuheben.

In diesen Erkenntnissen ist angenommen, daß zur Anwendbarkeit des §. 1 des Reichshaftpflichtgesetzes nicht wesentlich sei:

  1. die Bestimmung der betreffenden Eisenbahn als Mittel zur Thätigung,
    a. sei es des Frachtgewerbes überhaupt, und namentlich des Gewerbes, gegen Entgelt für jedermann Sachen oder Personen im öffentlichen Verkehre zu transportieren;
    b. sei es doch eines Transportunternehmens, welches (seinen Zweck in sich selbst tragend) nicht bloß als Accessorium einem (andere Hauptzwecke als den des Transportes verwirklichenden) Unternehmen diene;
    c. sei es wenigstens eines definitiven, auf völlig fertiggestellter sachlicher Betriebsanlage realisierten Transportbetriebes;
  2. die polizeiliche Abnahme der Betriebsanlage und mit Genehmigung der zuständigen Behörden erfolgte Eröffnung des Eisenbahnunternehmens, oder die Stellung seines Betriebes unter die Herrschaft des Bahnpolizeireglements.

In Anwendung vorstehender Principien ist in jenen Urteilen namentlich entschieden worden, daß Tötungen oder Verletzungen von Menschen bei dem Transporte von Arbeitern und Arbeitsmaterial (möge der Transport bewirkt sein durch Gesellschaften, welche concessioniert worden sind zum Betriebe eines für den allgemeinen Verkehr bestimmten Eisenbahnunternehmens vor der Eröffnung des den Gegenstand der Concession bildenden Betriebes, sei es nun auf überhaupt nur provisorisch zum Zwecke der Thätigung der Arbeiten bei dem Eisenbahnbau, sei es auf bereits zur eventuellen Verwendung nach Eröffnung jenes Betriebes gelegten eisernen Schienengeleisen; oder möge der Transport bewirkt sein durch andere Unternehmer eines Eisenbahn- oder sonstigen Baues auf derartigen zum Betriebe des Transportes in diesem Bauunternehmen in Funktion gesetzten Geleisen) unter den §. 1 des Reichshaftpflichtgesetzes zu subsumieren seien, sobald die objektive (aus der specifischen Eigentümlichkeit der Bewegungsfaktoren resultierende) Gefährlichkeit des betreffenden Transportbetriebes gleichartig erscheine derjenigen des Betriebes der für den allgemeinen Personen- und Güterverkehr bestimmten Eisenbahnunternehmungen.

Diesen Grundsätzen ist in ihrem wesentlichen Kerne beizupflichten.

Die an den erwähnten Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichtes in der Litteratur versuchte Kritik bemüht sich vorzugsweise zu belegen, daß die in denselben festgestellten Grundsätze nicht in Einklang ständen mit einzelnen Erklärungen des preußischen Bundesbevollmächtigten bei den Verhandlungen auf Grund des Entwurfes des Haftpflichtgesetzes im deutschen Reichstage; oder daß sogar einzelne dieser Erklärungen (herausgerissen aus ihrem Zusammenhange) nicht ihrer eigentlich intendierten Bedeutung gemäß ausgelegt worden seien.

Es hat aber der preußische Bundesbevollmächtigte selbst in jenen Reichstagsverhandlungen (in einsichtiger Würdigung der Bedenklichkeit jeder subjektiven Meinungsäußerung bei Beratung des im Werdegang begriffenen Gesetzes über einzelne, in dem Gesetzentwurfe selbst nicht ausdrücklich gegebene, Begriffsbestimmungen, und der den Gerichtshöfen obliegenden Aufgabe, die dem gegebenen Gesetze immanenten Begriffs-Bestimmungen, -Unterschiede und -Konsequenzen, unter Verwertung der successiven, sich oft gegenseitig als Probe dienenden Anregungen der Doktrin, und der mannigfachen, den Lebensverhältnissen entspringenden Streitfälle, allmählich schärfer zu entwickeln) hervorgehoben, daß es nicht seine Sache sein könne, a priori die einzelnen Voraussetzungen bestimmen zu wollen, welche für die Annahme der Existenz eines Eisenbahnunternehmens und dessen Betriebes im Sinne des Gesetzentwurfes wesentlich seien; daß solches vielmehr im konkreten Falle unter sorgfältiger Anwendung des gesetzlichen Grundprincipes entschieden werden müsse. Wenn trotzdem der preußische Bundesbevollmächtigte (im Laufe der Verhandlungen unablässig sollicitiert) sich jener bedenklichen Versuche der Vorwegbestimmung einzelner dem Gesetzentwurfe (seiner Meinung nach) einwohnender Kategorieen nicht ganz zu enthalten vermocht hat, so sind diese subjektiven Ansichten (auch bei der Stellung des dieselben Äußernden) von keinem entscheidenden Gewichte gegenüber den Konsequenzen der richterlichen Auslegung des Gesetzes aus dessen Worten, Normenzusammenhange, Grundprincipe und Endzwecke, welche letzteren aus jenem Normenzusammenhange, sowie adminikulierend aus den Motiven des Gesetzentwurfes und den (hinsichtlich jenes Principes und Endzweckes ohne Widerspruch abgegebenen) Erklärungen des (in dieser allgemeinen Beziehung, von demjenigen, was der Bundesrat und die sonst bei dem Entwurfe der Gesetzesvorlage mitwirkenden Organe des Reiches wollten, zuverlässig unterrrichteten) Bundesbevollmächtigten klar erhellen.

Nach diesen Erkenntnisquellen bezweckt das Reichshaftpflichtgesetz, dem Menschenleben und der menschlichen Gesundheit einen weit stärkeren Schutz, als den durchschnittlich nach den verschiedenen (in den Mitgliedstaaten des deutschen Reiches bis zur Geltung jenes Gesetzes bestandenen) Grundsätzen über die Verpflichtung zum Schadensersatze gegen diejenigen besonderen Gefahren zu verleihen, welche dadurch entstehen, daß (infolge der Ausbildung der Industrie und Technik der Neuzeit) den menschlichen Sonderzwecken (soweit sie zu bändigen sind, höchst nützliche, bei Entfesselung ihrer, an sich rücksichtslosen, Gewalt in hohem Grade verletzend wirkende) Naturkräfte dienstbar gemacht werden. Derjenige, welcher zur Förderung seiner Zwecke ein Unternehmen betreibt, in welchem er solche Kräfte sich dienstbar macht, soll (unter den sonstigen im Gesetze bestimmten Voraussetzungen) für die bei dem Betriebe dieses Unternehmens erfolgte Tötung oder Verletzung eines Menschen in der im Gesetze bestimmten Weise Schadensersatz leisten, und zwar nach der Bestimmung des ersten Paragraphen des Gesetzes schon dann, wenn die Tötung oder Verletzung nur überhaupt bei jenem Betriebe stattgefunden hat, sofern der Unternehmer nicht nachweist, daß der Unfall durch höhere Gewalt oder eigenes Verschulden des Getöteten oder Verletzten verursacht worden sei.

Sprachlich bedeutet Eisenbahn ganz allgemein eine Bahn von Eisen zwecks Bewegung von Gegenständen auf derselben. Verknüpft man diesen Wortlaut mit dem Gesetzeszweck, und erwägt man, daß die eigenartige Nützlichkeit und gleichzeitig Gefährlichkeit des metallischen Transportgrundes, in der (durch dessen Konsistenz, sowie durch dessen, das Hindernis der Reibung vermindernde Formation und Glätte gegebenen) Möglichkeit besteht, große Gewichtsmassen auf jenem Grunde fortzubewegen und eine verhältnismäßig bedeutende Geschwindigkeit der Transportbewegung zu erzeugen, so gelangt man im Geiste des Gesetzes zu keiner engeren Bestimmung jener sprachlichen Bedeutung des Wortes Eisenbahn, um den Begriff eines Eisenbahnunternehmens im Sinne des §. 1 des Gesetzes zu gewinnen, als derjenigen:

"Ein Unternehmen, gerichtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen oder Sachen über nicht ganz unbedeutende Raumstrecken auf metallener Grundlage, welche durch ihre Konsistenz, Konstruktion und Glätte den Transport großer Gewichtmassen, beziehungsweise die Erzielung einer verhältnismäßig bedeutenden Schnelligkeit der Transportbewegung zu ermöglichen bestimmt ist, und durch diese Eigenart in Verbindung mit den außerdem zur Erzeugung der Transportbewegung benutzten Naturkräften (Dampf, Elektricität, thierischer oder menschlicher Muskelthätigkeit, bei geneigter Ebene der Bahn auch schon der eigenen Schwere der Transportgefäße und deren Ladung, u. s. w.) bei dem Betriebe des Unternehmens auf derselben eine verhältnismäßig gewaltige (je nach den Umständen nur in bezweckter Weise nützliche, oder auch Menschenleben vernichtende und die menschliche Gesundheit verletzende) Wirkung zu erzeugen fähig ist,"

Wer eine solche, in der gekennzeichneten eigenartigen Weise gefährliche Verknüpfung der Metallbahn und sonstigen Triebkraft zu seinen Transportzwecken (als der über jene verknüpften Bewegungsfaktoren als wirkendes Ganze Verfügungsberechtigte) in Funktion setzt, ist Betriebsunternehmer einer Eisenbahn im Sinne des §. 1 des Reichshaftpflichtgesetzes.

Nach vorstehender, Feststellung des Obersatzes ergiebt sich bei Subsumtion des eingangs der Gründe mitgeteilten Thatbestandes unter denselben von selbst, daß die beiden Beklagten, welche den Transport der Erdmassen und Arbeiten in ihrem Eisenbahnbauunternehmen auf eisernen Schienengeleisen in von Dampflokomotiven gezogenen Wagenzügen auf einer nicht ganz unbedeutenden Strecke betrieben, dadurch nicht bloß Unternehmer eines Eisenbahnbaues, sondern auch gleichzeitig Unternehmer einer Eisenbahn im Sinne des §. 1 des Reichshaftpflichtgesetzes waren."