RG, 16.11.1881 - I 602/81

Daten
Fall: 
Ausschluss des Kausalzusammenhangs durch Disposition
Fundstellen: 
RGZ 6, 1
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
16.11.1881
Aktenzeichen: 
I 602/81
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Hamburg
  • OLG Hamburg

1. Unterliegt ein Urteil, welches auf dem Gutachten eines Sachverständigen beruht, der nur als Zeuge vereidigt ist, der Vernichtung?
2. Wird der Kausalzusammenhang zwischen einem hervorgetretenen körperlichen Schaden und der vorhergegangenen Verletzung dadurch ausgeschlossen, daß der Verletzte eine Disposition zu dem Schaden hatte?

Tatbestand

Kläger hat in der Guanofabrik des Beklagten gearbeitet; hierbei ist er nach seiner Angabe am 21. März 1880 gefallen und hat sich, wie er weiter angiebt, dadurch einen Leistenbruch zugezogen, welcher ihn zur Verrichtung schwerer Arbeit untauglich mache. In der von ihm bei dem Landgerichte Hamburg gegen den Beklagten erhobenen Klage hat er eine Entschädigung von 5000 M gefordert, indem er seinen Fall auf ein Verschulden seines Arbeitgebers zurückführt. Das Landgericht hat ohne Beweisaufnahme die Klage abgewiesen, weil aus derselben hervorgehe, daß den Kläger eine die Haftung des Beklagten ausschließende eigene Verschuldung treffe. Kläger hat Berufung eingelegt; das Hanseatische Oberlandesgericht hat die Verhandlung zunächst auf den Grund des Anspruches beschränkt und eine Beweiserhebung angeordnet, demnächst aber die Berufung als unbegründet zurückgewiesen.

Das Berufungsurteil läßt es dahin gestellt, ob es als genügend erwiesen anzunehmen sei, daß der Kläger den Unfall erlitten habe, ob der Beklagte dafür verantwortlich zu machen sei, und wie weit etwa dem Kläger eine eigene Verschuldung zur Last falle; denn es sei jedenfalls nicht erwiesen, daß der Bruchschaden des Klägers durch diesen Fall herbeigeführt sei, im Gegenteil müsse mit dem in zweiter Instanz als Zeugen vernommenen Dr. M. und aus den von demselben angeführten Gründen angenommen werden, daß zwischen dem am 31. März 1880 konstatierten Bruchschaden des Klägers und dem angeblich am 21. März 1880 erlittenen Unfall ein Kausalzusammenhang nicht bestehe, woraus sich die Abweisung der Klage ergebe. Nach den Akten ist Dr. M. am 14. Mai 1881 von dem Prozeßgericht als Zeuge vereidigt. Nach dem Thatbestande des Berufungsurteils hat derselbe ausgesagt: Der Kläger sei am 31. März 1880 von ihm untersucht worden, derselbe hatte einen Leistenbruch, welcher etwa wie eine halbe Wallnuß hervortrat. Der Kläger habe ihm gesagt, daß er die Geschwulst infolge eines Falles erhalten habe. Zeuge glaube das aber nicht, sei vielmehr überzeugt, daß der von den Zeugen R. und K. geschilderte Fall des Klägers keinen Einfluß auf den Bruch gehabt habe. Es sei überhaupt äußerst selten, daß Brüche infolge äußerer Verletzungen, namentlich durch eine einmalige Verletzung entständen, vielmehr entstanden fast alle Brüche allmählich. Wenn der Kläger vor dem Fall ganz gesund, d. h. ohne Anlage und Disposition zu einem Bruche gewesen wäre, und man annehmen wollte, daß der Bruch durch den Fall verursacht sei, so hätte die durch den Fall herbeigeführte Verletzung eine so schwere sein müssen, daß dann jedenfalls nach Ablauf von zehn Tagen und noch viel mehr, wenn die Untersuchung - wie die Zeugen angeben - am nächstfolgenden Tage nach dem Fall stattgefunden hätte, äußere Spuren der stattgehabten Verletzung, Geschwulst und Sugillation, noch hätten wahrnehmbar sein müssen. Eher wäre es denkbar, daß das Hervortreten des Bruches durch den Fall veranlaßt sei, wenn man annehme, daß die Disposition zu demselben, d. h. eine Lücke in der Muskulatur der Bauchwand, schon vorher dagewesen sei; Zeuge könne aber auch das nicht für wahrscheinlich halten, weil bei der Untersuchung des Klägers am 31. März die Bruchöffnung schon eine zu große gewesen sei ... Das Reichsgericht hat auf Revision des Klägers das Urteil aufgehoben und die Sache an das O. L. G. zurückverwiesen aus folgenden Gründen:

Gründe

"Die Aussage des als Zeugen beeidigten Dr. M. giebt nicht bloß Wahrnehmungen eines sachverständigen Zeugen wieder, sondern sie enthält auch ein Gutachten über die aus den wahrgenommenen Thatsachen nach medizinischer Wissenschaft zu ziehenden Folgerungen, wie es von einem Sachverständigen abzugeben ist. Dr. M. hätte deshalb nach §. 375 C. P. O. mit einem Sachverständigeneide belegt werden müssen. Der Eid des sachverständigen Zeugen deckt das von demselben abgegebene Gutachten nicht. Da das Urteil des Oberlandesgerichts diesem Gutachten folgt, so beruht dasselbe auf einem durch einen Eid nicht gedeckten Gutachten, und ist deshalb aufzuheben.

Diese Aufhebung ist noch aus einem anderen Grunde auszusprechen. Das Gutachten unterscheidet zwischen Verursachung des Leistenbruches und Veranlassung desselben. Verursacht soll der Bruch durch den Fall sein, wenn Kläger vorher ganz gesund, d. h. ohne Anlage und Disposition zu einem Bruche, gewesen sei. Dies erachtet das Gutachten und das Urteil, welches demselben folgt, für ausgeschlossen. Wäre dagegen eine Disposition zu einem Bruche, d. h, eine Lücke in der Muskulatur der Bauchwand, schon vorher vorhanden gewesen, so soll der Bruch durch den Fall veranlaßt sein.

Eine solche Unterscheidung zwischen Verursachung und Veranlassung ist aber bezüglich der Frage, ob Beklagter für den dem Kläger erwachsenen Schaden überhaupt hafte, ohne rechtliche Bedeutung. Denn auch wenn der Kläger mit einer solchen Disposition behaftet war, ohne daß bis dahin der Bruch hervorgetreten war, und wenn nun der Bruch bei solcher bereits vorhandenen Disposition infolge davon hervortrat, daß Kläger fiel, so würde Beklagter, vorausgesetzt, daß er den Fall des Klägers verschuldete oder sonst für die Folgen desselben einzustehen hatte, verpflichtet fein, die Differenz, welche in den Vermögensverhältnissen des Klägers dadurch eingetreten ist, daß aus seiner Disposition zu einem Leistenbruche ein Leistenbruch geworden ist, zu ersetzen haben.

Der Schadensanspruch des Klägers wurde also nicht schon dadurch ausgeschlossen, daß das Urteil mit dem Sachverständigen annahm, daß Kläger, wenn der Bruch nach dem Fall bei ihm hervorgetreten sei, vor dem Fall nicht ohne Disposition zu einem Bruche gewesen sei.

Nun hat zwar der Sachverständige weiter ausgesagt, daß er auch das nicht für wahrscheinlich halte, daß der Bruch durch den Fall in dem von ihm angenommenen Sinne veranlaßt sei. Indem das Berufungsurteil den Gründen des Sachverständigen, ohne eine Unterscheidung zu machen, folgt, spricht es aus. daß es sich auch diese Begründung aneignet. Das Gericht hat aber nicht Wahrscheinlichkeiten oder Unwahrscheinlichkeiten seinem Urteil zu Grunde zu legen, sondern es hat auszusprechen, ob eine in Betracht gezogene und für den vorliegenden Fall juristisch erhebliche Thatsache für wahr oder für unwahr angesehen wird. Jetzt ist durch die Entscheidungsgründe des Berufungsurteils die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß der Bruchschaden des Klägers bei einer vorhandenen Disposition desselben zu einem Bruche durch den Fall, wenn ein solcher stattgefunden hat, verursacht wurde, ohne daß das Urteil in eine Erörterung darüber eingetreten ist, ob der Kläger so, wie die Zeugen ausgesagt haben, wirklich gefallen ist, und ob Beklagter für den Fall und seine Folgen einzustehen hat.

Das den Kläger abweisende Urteil beruht hiernach auf einem falschen Kausalitätsbegriff."