OLG Nürnberg, 06.08.2013 - 1 Ws 354/13 WA
1. Auf die sofortigen Beschwerden des Untergebrachten und der Staatsanwaltschaft wird der Beschluss der 7. Strafkammer des Landgerichts Regenburg vom 24. Juli 2013, Az.: 7 KLs 151 Js 4111/13 WA, aufgehoben.
2. Die Wiederaufnahme des Strafverfahrens gegen den Untergebrachten Gustl Ferdinand Mollath, Az.: 7 KLs 802 Js 4743/03 LG Nürnberg-Fürth, soweit ihm in der Anklage vom 23. Mai 2003 Straftaten der gefährlichen Körperverletzung und der Freiheitsberaubung mit Körperverletzung und in der weiteren Anklage vom 6. September 2005 Sachbeschädigung in neun Fällen zur Last gelegt wurde, und die Erneuerung der Hauptverhandlung werden angeordnet. Hierfür, sowie zur Entscheidung über die Kosten des Rechtsmittels wird das Verfahren an eine andere Kammer des Landgerichts Regensburg zurückverwiesen.
3. Durch diese Entscheidung entfällt die Grundlage für die Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.
Gründe
I.
Mit Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 8.8.2006 wurde der Untergebrachte, dem gefährliche Körperverletzung, Freiheitsberaubung mit Körperverletzung, Diebstahl und Sachbeschädigung in neun Fällen zur Last gelegen hatten, freigesprochen und gegen ihn die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Wegen des Diebstahls erfolgte der Freispruch aus tatsächlichen Gründen, die übrigen Deliktsbegehungen hielt die Kammer für erwiesen, jedoch ging sie von – zumindest nicht ausschließbarer – Schuldunfähigkeit aus. Die Anordnung der Unterbringung erfolgte gemäß § 63 StGB. Mit Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 13.2.2007 wurde die hiergegen eingelegte Revision des Untergebrachten als offensichtlich unbegründet verworfen. Das Urteil ist seither rechtskräftig. Es wird derzeit im Bezirkskrankenhaus Bayreuth vollstreckt.
Mit Schriftsatz vom 19.2.2013 beantragte der Verteidiger des Untergebrachten beim Landgericht Regensburg die Wiederaufnahme des durch vorgenanntes Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth abgeschlossenen Verfahrens zuzulassen und die Erneuerung der Hauptverhandlung anzuordnen. Wegen der Begründung dieses Antrages wird auf vorgenannten Schriftsatz Bezug genommen. Dem Antrag schloss sich die Verteidigerin des Untergebrachten mit Schriftsatz vom 17.7.2013 an und trug weitere Wiederaufnahmegründe vor. Auch auf diesen Schriftsatz wird hier Bezug genommen.
Mit gleichem Antrag wandte sich auch die Staatsanwaltschaft Regensburg mit Schreiben vom 18.3.2013 an das Landgericht Regensburg. Auf dieses wird wegen der Begründung ebenfalls Bezug genommen.
Mit Beschluss der 7. Strafkammer des Landgerichts Regensburg vom 24.7.2013 wurden die Wiederaufnahmeanträge des Untergebrachten und der Staatsanwaltschaft Regensburg als unzulässig verworfen.
Die Zustellung des Beschlusses an die Verteidiger des Untergebrachten erfolgte am 24.7.2013, an die Staatsanwaltschaft am selben Tage. Gegen diesen Beschluss wenden sich der Untergebrachte mit der sofortigen Beschwerde im Schriftsatz seiner Verteidigerin vom 24.7.2013 und die Staatsanwaltschaft Regensburg mit der sofortigen Beschwerde im Schriftsatz vom 24.7.2013, eingegangen bei Gericht jeweils am selben Tage.
II.
Die sofortigen Beschwerden sind statthaft (§ 372 Satz 1 StPO) und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt (§§ 306, 311 Abs. 2 StPO). Sie haben auch in der Sache Erfolg.
Wegen des Prüfungsumfangs im Wiederaufnahmeverfahren nimmt der Senat Bezug auf die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts Regensburg im angefochtenen Beschluss unter B. I.
1. Das Verfahren war wieder aufzunehmen, da in zulässiger Weise ein Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 1 StPO vorgetragen wurde und sich die hierauf bezüglichen Behauptungen als zutreffend erwiesen haben, sowie nach Lage der Sache nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Verwertung der Urkunde auf das Ausgangsurteil Einfluss gehabt hat (§ 370 Abs. 1 StPO).
a) Im Wiederaufnahmeantrag der Staatsanwaltschaft, den der Verteidiger des Untergebrachten sich zu Eigen gemacht hat, wird vorgebracht, dass im Hauptverfahren gegen den Untergebrachten eine unechte Urkunde, nämlich ein Attest vom 3.6.2002 vorgelegt und verwertet wurde.
Dieses Attest vom 3.6.2002 sandte die ehemalige Ehefrau des Untergebrachten nach der am 15.1.2003 erfolgten Vernehmung bei der Kriminalpolizeidirektion Nürnberg per Telefax zu den Akten. Die Telefaxkopie befindet sich auf Bl. 13 der Strafakte und wurde am 8.8.2006 in der Hauptverhandlung vor der 7. Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth gemäß § 256 StPO verlesen.
Wie die 7. Straftkammer des Landgerichts Regensburg im angefochtenen Beschluss vom 24.7.201.3 (unter B.II. am Anfang) zutreffend ausführt, kann hier dahinstehen, ob im Rahmen des § 359 Nr. 1 StPO auf den materiellen Urkundsbegriff des § 267 StGB oder den prozessualen Urkundsbegriff des § 249 StPO abzustellen ist, da es sich bei dem genannten Attest nach beiden Ansichten um eine Urkunde im Sinne des § 359 Nr. 1 StPO handelt.
b) Dieses Attest stellt aber eine unechte Urkunde dar.
Eine Urkunde ist unecht, wenn über die Identität des Ausstellers getäuscht wird, d.h. der rechtsgeschäftliche Verkehr auf einen Aussteller hingewiesen wird, der in Wahrheit nicht hinter der urkundlichen Erklärung steht (vgl. Cramer/Heine in Schönke/Schröder StGB, 28, Aufl. § 267 Rn. 48). Dabei kann auch die Unterzeichnung mit dem richtigen Namen zu einer solchen Identitatstauschung führen, sofern dadurch der Anschein erweckt wird, ihr Aussteller sei eine andere Person als diejenige, von der sie herrührt (BGHSt 40, 203 - zitiert nach beck-online: Cramer/Heine in Schönke/Schröder StGB. 28. Aufl. § 267 Rn. 52). Gleiches gilt für den Fall, dass der Unterzeichner zwar einen Vertretungszusatz angebracht hat, dieser aber bei objektiver Betrachtung des Schriftstücks nicht erkennbar ist und somit der Anschein erwecktwird, der wahre Urheber der Urkunde sei ein anderer, als der Unterzeichnende.
Bei dem in der Hauptverhandlung verlesenen Attest findet sich in der Kopfzeile die Angabe: „Dr. med. Madeleine R.“ mit Berufsangabe, Adresse, Telefon- und Faxnummer. Zudem ist unter der Unterschrift im gleichen Druckbild wie der übrige Text der Name „Dr. med. Madeleine R.“ angegeben. Hierüber findet sich eine handschriftliche Unterschrift, über welche ein Praxisstempel mit ebenfalls lediglich dem Namen „Dr. med. Madeleine R.“ und Adresse nebst Telefonnummer angegeben wird. Die Unterschrift selbst ist relativ blass zu sehen, der Name R. aber deutlich erschließbar. Ein Vertretungszusatz „i.V“ mag vom Unterzeichneten angebracht worden sein. Beim Vergleich mit der Unterschrift auf dem von der Staatsanwaltschaft am 11.7.2013 vorgelegten Attest vom 14.8.2001, auf dem dieser Zusatz erkennbar ist, erscheint es als höchstwahrscheinlich, dass auch auf dem Attest vom 3.6.2002 ein solcher Zusatz geschrieben wurde. Die übermäßige Vergrößerung lässt einen derartigen Zusatz durchaus erkennen. Auf dem Attest in Originalgröße ist er jedoch nicht nur für den Senat nicht erkennbar, sondern er war es für sämtliche Beteiligte im bisherigen Verfahren nicht. Vielmehr erweckt die Urkunde in ihrer Gesamtheit den Eindruck, der Urheber und Unterzeichner des Attestes sei Frau Dr. Madeleine R.. Sie ist die aus der Urkunde ersichtliche alleinige Ärztin in der Praxis, ihr Name – und nur der ihrige – wird drei Mal auf der Urkunde genannt. Durch die Art des Unterschriftszuges und der Überstempelung ist kein Hinweis auf einen von ihrer Person aowsichenden Verfasser erkennbar. Folglich erweckt die Urkunde den – von allen Beteiligten im Ausgangsverfahren vor Ermittlung des wahren Verfassers nie bezweifelten – Eindruck ihrer Urheberschaft.
Hiergegen spricht auch nicht der im Text enthaltene Satz: „Die bei uns durchgeführte Untersuchung ...“ (Hervorhebung durch den Senat). Diese Wortwahl kann auch sprachlicher Ungenauigkeit oder auf der Auffassung des Praxisinhabers beruhen, er bilde mit seinen (nichtärztlichen) Mitarbeitern eine Gemeinschaft, ein Team. Da keinerlei weiterer Hinweis dafür gegeben ist, dass ein weiterer Arzt in dieser Praxis tätig war, kann aus dieser Formulierung auch kein Zweifel daran erwachsen, dass die dreifach genannte alleinige Praxisbetreiberin Verfasserin der Urkunde sei.
Durch die inzwischen vorgenommenen Ermittlungen, insbesondere die Angaben des Markus R., steht jedoch unzweifelhaft fest, dass letzterer sowohl die Untersuchung der Patientin vorgenommen hat, als auch nur er und nicht auch seine Mutter die im Attest genannten Befunde wahrgenommen hat, darüber hinaus der Text des Attestes und die Unterschrift von ihm stammen. Damit stimmen der wirkliche Verfasser der Urkunde und der scheinbare Verfasser nicht überein. Bei derartiger Sachlache liegt objektiv eine unechte Urkunde vor (vgl. Zieschang in Leipziger Kommentar StGB, 12. Aufl. § 267 Rn. 160; Erb in Münchener Kommentar StGB § 267 Rn. 153).
2. Auch unter Berücksichtigung der Grundsätze zur Stellvertretung bzw. Ermächtigung zur Unterzeichnung mit fremdem Namen ergibt sich hier nichts anderes. Zwar ist anerkannt, dass ein Vertreter auch mit dem Namen des Vertretenen ohne Zusätze, die auf Vertretung hinweisen, unterzeichnen kann (so bereits RGZ 74, 69 ff; vgl. auch Cramer/Heine in Schönke/Schröder StGB 28. Aufl. § 267 Rn. 58 ff; Fischer StGB 60. Aufl. § 367 Rn. 27 ff). Bei dieser sog. „verdeckten Stellvertretung“ ist der Vertretene als eigentlicher Aussteller der Urkunde anzusehen (Erb in Münchener Kommentar StGB § 267 Rn. 129), er ist der geistige Urheber der Erklärung (Erb aaO. Rn. 131).
Dennoch liegt hier aus folgenden Gründen eine unechte Urkunde vor.
Vertretung – gleichviel ob offen oder verdeckt vorgenommen – ist nur möglich bei rechtsgeschäftlichen Erklärungen. Nur bei solchen ist es denkbar und rechtlich möglich, dass sie, obwohl von einer anderen Person vorgenommen, dem Vertreter so zugerechnet werden, als habe letzterer selbst sie abgegeben (§ 164 Abs. 1 BGB).
Bei der hier zu beurteilenden Urkunde, dem Attest vom 3.6.2002, handelte es sich jedoch nicht um eine derartige rechtsgeschäftliche Willenserklärung, sondern im Wesentlichen um die Wiedergabe von Befunden zur Verletzung einer Patientin (festgestellte Prellmarken, Hämatom usw.). Dabei handelt es sich um sinnliche Wahrnehmungen einer Person, hier eines Arztes, die, in einem Attest enthalten, gemäß § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO verlesbar sind (vgl. Meyer-Goßner StPO 56. Aufl., § 256 Rn. 18 f) und verlesen wurden. Im Ausgangsurteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 8.8.2006 (dort Seite 17) wurden die so im Attest bestätigten Verletzungen, die die Ehefrau des Untergebrachten bekundet hatte, zur Begründung der Glaubwürdigkeit ihrer Angaben verwendet.
Bei derartigen sinnlichen und damit höchstpersönlichen Wahrnehmungen und deren Wiedergabe zu Beweiszwecken in einem Gerichtsverfahren aber ist eine Stellvertretung nicht möglich (RGSt 69, 117, 119). Der Natur der Sache nach können solche Wahrnehmungen nur von der Person wiedergegeben werden, die die Wahrnehmung getroffen hat. Vertretung würde hier bedeuten, dass diese Handlungen einer anderen Person (dem Vertretenen) zugerechnet würden. Derartiges ist nur bei Willenserklärungen, nicht aber auch bei höchstpersönlichen Wahrnehmungen denkbar.
3. Der Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 1 StPO setzt nicht die Begehung einer Straftat, sondern nur das Vorliegen einer objektiv unechten Urkunde voraus. Angesichts der Möglichkeit, dass – hier nicht hinreichend erkennbar – vom Unterzeichnenden ein Vertretungszusatz geschrieben worden sein mag, scheidet die Strafbarkeit nach § 267 StGB aus. Für die hier zu treffende Entscheidung kommt es jedoch hierauf nicht an.
Zwar wird vertreten, dass § 359 Nr. 1 StPO restriktiv auszulegen sei und strafbare Urkundenfälschung vorliegen müsse (so Marxen/Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, 2. Aufl. Rn. 139; Schmidt in KK StPO, 6. Aufl. § 359 Rn. 9). Der Wortlaut des § 364 StPO, aber auch ein Vergleich mit §§ 359 Nr. 2, 362 Nr. 2 StPO erzwinge es, dass nur bewusste oder doch sehr schwerwiegende Angriffe auf die Beweisgrundlage Anlass für eine als extreme Ausnahme zu betrachtende Wiederaufnahme des Verfahrens herangezogen werden könnten (Schmidt in KK StPO, 6. Aufl. § 359 Rn. 9).
Diese Ansicht überzeugt jedoch nicht. Der Wortlaut des § 359 Nr. 1 StPO verlangt eine strafbare, d.h. vorsätzliche zur Täuschung vorgelegte Urkunde gerade nicht (so auch Gössel in Münchener Kommentar StPO, 26. Aufl. § 359 Rn. 21; Eschelbach KMR-StPO § 359 Rn. 57 ff; Meyer-Goßner StPO, 56. Aufl. § 359 Rn. 6), denn die Norm greift nicht den vollen Wortlaut des § 267 StGB, sondern nur einzelne Merkmale der Urkundendelikte auf (Eschelbach KMR-StPO § 359 Rn. 58). Eine einschränkende Auslegung des § 359 Nr. 1 StPO erscheint auch nicht geboten, zumal die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG, die sich auch auf das Wiederaufnahmeverfahren bezieht, eine eher weitgehende Interpretierung gebietet (vgl. Eschelbach KMR-StPO § 359 Rn. 60).
Folglich waren bereits aus diesem Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 1 StPO im Aditionsverfahren die Wiederaufnahmeanträge als zulässig anzusehen.
4. Die Wiederaufnahmeanträge sind auch begründet (§ 370 StPO). Der Senat hatte - auch wenn das Landgericht Regensburg, wie aus dem Tenor („... als unzulässig verworfen“) und zum Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 1 StPO auch aus den Gründen ersichtlich – nur über das Aditionsverfahren entschieden hat, in der Sache, also auch über das Probationsverfahren gemäß § 309 Abs. 2 StPO zu entscheiden (vgl. Meyer-Goßner StPO, 56. Aufl. § 372 Rn. 7 a.E.).
Eine Zurückweisung war nicht geboten. Denn der Strafsenat geht bei seiner Entscheidung von der gleichen Tatsachenplattform aus wie die Strafkammer. Diese hat ihrer Entscheidung zum Wiederaufnahmegrund nach § 359 Nr. 1 StPO die von der Staatsanwaltschaft Regensburg ermittelten Fakten zum Attest vom 8.8.2006 zugrunde gelegt und gewürdigt. Da nach den bisher bereits durchgeführten Ermittlungen, insbesondere den Angaben der Zeugen Markus R., zur Überzeugung des Senats erwiesen ist, dass er und nicht seine Mutter, Dr. Madeleine R., die Wahrnehmung zu den Verletzungen bei der ehemaligen Ehefrau des Untergebrachten traf und das Attest ausstellte, sind die Behauptungen zu diesem Wiederaufnahmegrund entsprechend den Feststellungen der Strafkammer im Beschluss v. 24.7.2013 (Bl. 897/898 d. Wiederaufnahmeakten) nachgewiesen. Einer weiteren Beweisaufnahme oder Beweiswürdigung durch die Kammer, die eine Zurückweisung geboten hätte, bedurfte es nicht.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Verwertung des Attestes durch das Landgericht Nürnberg-Fürth Einfluss auf die Entscheidung hatte. Insbesondere zum Nachweis der vom Untergebrachten begangenen Straftaten standen im Wesentlichen seine Angaben denen seiner ehemaligen Ehefrau gegenüber (sog. Aussage-Aussage-Konstellation). Das Landgericht stützte sich in seiner Argumentation zur Glaubwürdigkeit der Angaben der Belastungszeugen auf das hier gegenständliche Attest und stellte Übereinstimmungen zu den Verletzungsfolgen fest. Dies war ausweislich der Urteilsgründe das entscheidende Argument für die Glaubwürdigkeit der Zeugin. Es ist nicht ausschließbar, dass das Ausgangsgericht – hätte es gewuss, dass der vorgebliche Aussteller des Attestes nicht der wahre Urheber der Urkunde war – auch die inhaltlichen Angaben näherer Überprüfung unterzogen und sich nicht mehr nur auf, die nach der Ausnahmevorschrift des § 256 Abs. 1 Nr. 2 StPO verlesene Urkunde gestützt hätte. Gleiches gilt für den Fall, dass das Ausgangsgericht erkannt hätte, dass der Unterzeichner seinem Namen einen Vertretungszusatz beigefügt hatte. Da – wie ausgeführt – eine Vertretung bei Wiedergabe von Wahrnehmungen nicht möglich ist, hätte das Gericht in diesem Falle aufzuklären gehabt, wer tatsächlich die beurkundeten Wahrnehmungen gemacht hat. Möglicherweise hätte sich das Landgericht somit nicht auf das verlesene Attest gestützt.
5. Da bereits dieser Wiederaufnahmegrund, auf den sich beide Rechtsmittelführer stützten, zur Anordnung der Wiederaufnahme des Verfahrens führt, kam es auf die Zulässigkeit und Begründetheit wegen der übrigen Gründe ebenso wenig an, wie auf die Frage der Befangenheit des durch den Untergebrachten abgelehnten Richters.
6. Der Senat hat von der in § 210 Abs 3 Satz 1 StPO vorgesehenen Regelung in analoger Anwendung Gebrauch gemacht und bestimmt, dass die Hauptverhandlung vor einer anderen Strafkammer des Landgerichts Regensburg stattzufinden hat, weil angesichts der im angefochtenen Beschluss getroffenen Rechtsausführungen und insbesondere auch der zu weiteren Wiederaufnahmegründen in den Wiederaufnahmeanträgen getroffenen umfassenden Beweiswürdigungen zu besorgen ist, dass die bisher mit der Sache befassten Richter sich bereits festgelegt haben.
Die Vorschrift des § 210 Abs. 3 Satz 1 StPO ist auf das Wiederaufnahmeverfahren entsprechend anwendbar. Zwar wird hiergegen eingewandt, dass diese Ausnahmevorschrift im Hinblick auf das verfassungsmäßige Recht auf den gesetzlichen richter eng auszulegen sei (so OLG Frankfurt NStZ-RR 2008, 378) und daher im Wiederaufnahmeverfahren keine Anwendung finden könne. Befürwortet wird jedoch in der Literatur (vgl. Meyer-Goßner StPO, 56. Aufl. § 210 Rn. 10; § 370 Rn. 18) und auch teilweise in der Rechtsprechung die analoge Anwendung des § 210 Abs. 3 Satz 1 StPO für vergleichbare Fälle (OLG Hamburg JR 1979, 383). Die Entscheidung über die Wiederaufnahme eines Verfahrens und diejenige über die Eröffnung des Hauptverfahrens nach §§ 203 ff StPO sind hinsichtlich der hier in Rede stehenden Problematik vergleichbar. Beides sind Vorschaltverfahren vor einer Hauptverhandlung. In beiden Fällen soll eine Kammer, die sich u.U. bereits zu einigen Problempunkten festgelegt hat, nach Aufhebung ihrer Vorentscheidung das Hauptsacheverfahren durchführen. Für den Fall fraglicher Akzeptanz der Auffassung des Beschwerdegerichts sieht der Gesetzgeber in § 210 Abs. 3 Satz 1 StPO die Verweisung an eine andere Kammer vor. Ähnliches regelt § 354 Abs. 2 StPO. Für den Fall der Wiederaufnahme des Verfahrens mit identischer Interessenlage sieht der Senat eine vom Gesetzgeber nicht erkannte Lücke und wendet § 210 Abs. 3 Satz 1 StPO daher analog an.
Da die Anordnung der Wiederaufnahme des Strafverfahrens die Rechtskraft des Urteils des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 8.8.2006 beseitigt, entfällt die Grundlage für dessen weitere Vollstreckung. Somit war der Antrag des Untergebrachten auf Unterbrechung der Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus prozessual erledigt.
7. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 464, 467 StPO analog.
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