Whistleblowing als Mittel zur Einflussnahme – Voraussetzungen und Chancen
Im April 2011 wurde durch das IDW der Prüfungsstandard „Grundsätze ordnungsgemäßer Prüfungen von Compliance Management Systemen“ (IDW PS 980) veröffentlicht. Folgende Elemente eines CMS wurden dabei formuliert:
- Compliance-Kultur
- Compliance-Ziele
- Compliance-Organisation
- Compliance-Risiken
- Compliance-Programm
- Compliance-Kommunikation
- Compliance-Überwachung und Verbesserung.
Die folgende Bearbeitung widmet sich dem Element der Compliance-Kultur. Während in der Literatur häufig ein Blick auf das Verhalten des Managements gelegt wird („tone at the top“), sollen an dieser Stelle die Einflussmöglichkeiten der einzelnen Mitarbeiter untersucht werden. Welche Rolle spielen sie in Unternehmen mit installiertem Whistleblowing-System hinsichtlich der Entwicklung der Unternehmenskultur? Bietet das Whistleblowing Mitarbeitern die Möglichkeit, auf die Unternehmenskultur Einfluss zu nehmen? Der Verfasser betrachtet den ökonomischen Kulturbegriff und den Einfluss des Whistleblowings hierauf. Dabei werden die Dilemmata, die einem Whistleblower begegnen, dargestellt und Lösungsmöglichkeiten evaluiert.
1. Kultur
1.1. Begriffsursprung
Der Begriff der Kultur geht auf das lateinische Verb „colere“ zurück, welches bei etymologischer Betrachtung sowohl „hegen, pflegen, bewohnen“ als auch „anbeten“ bedeuten kann. In Abkehr von der ursprünglichen Bedeutung impliziert der Begriff der Kultur heute ein Befolgen von Regeln. Dabei ist die Kultur als vom Mensch geschaffenes Konstrukt formbar, sie unterliegt also Veränderungen.
Die Begriffe „hegen“ und „pflegen“ unterstreichen die Herkunft aus der Landwirtschaft. Noch heute wird in diesem Bereich etwa von der Kultivierung von Pflanzen gesprochen. Im 18. Jahrhundert wurde der Begriff vermehrt als Synonym für „Zivilisation“ benutzt, vermehrt im wirtschaftlichen und technischen Kontext. Der Begriff Kultur erfuhr Bedeutung als wirtschaftlicher Ordnungsrahmen für das Zusammenleben der Menschen im wirtschaftlichen Kontext, etwa in Geschäftsbeziehungen.
1.2. Unternehmenskultur
Der Begriff Unternehmenskultur beinhaltet die Grundgesamtheit gemeinsamer Werte, Normen und Einstellungen, welche die Entscheidungen, die Handlungen und das Verhalten der Organisationsmitglieder prägen. Nach Edgar Schein sind drei Ebenen der Unternehmenskultur zu unterscheiden:
1.2.1. Orientierungsmuster
Die unterste Ebene stellen grundsätzliche Orientierungs- und Verhaltensmuster dar, welche die Erfassung und das Verhalten der Menschen bestimmen. Man könnte von einer Art Philosophie sprechen. Die Einflussfaktoren werden als solche weder identifiziert noch bewusst erblickt und daher auch nicht hinterfragt. Hiervon umfasst sind u. a. die Umwelt, das Verhalten, menschliche Interaktion und die Wahrnehmung von Wahrheit und Zeit. Gegenüber Veränderungen wirken diese „Grundpfeiler“ als „Bollwerk“.
1.2.2. Werte und Normen
Werte und Normen sind quasi Ausfluss der Grundannahmen und stellen sich meist als Verhaltenscodices dar. Umfasst sind etwa Verhaltensanweisungen oder Verbote, die von allen Teilnehmern einer Kultur vertreten werden. Dies erfolgt sowohl bewusst als auch unbewusst.
1.2.3. Artefakte
Die dritte Ebene im Modell nach Schein stellt das Ergebnis der zweiten Modellstufe dar. Es beinhaltet das Symbolsystem, welches sich aus sichtbaren Artefakten und Verhaltensmustern zusammensetzt, etwa Kleidung und Umgangston.
1.2.4. Einfluss auf die Unternehmenskultur
Ist eine Änderung der Unternehmenskultur beabsichtigt, ist die Intervention auf der zweiten Ebene sinnvoll. Die Änderung der Verhaltenscodicies kann dabei durch eine Veränderung der Symbolik ergänzt werden. Auf diese Weise werden die Veränderungen für alle Beteiligten sofort sichtbar.
1.3. Compliance-Kultur
Die Bedeutung einer Compliance-Kultur wird durch IDW PS 980 verdeutlicht. Dabei kommt dem Verhalten des Managements eine besondere Bedeutung zu. Die Konformität mit dem Verhaltenskodex steht im Zusammenhang mit den Werten, denen sich die Mitarbeiter verpflichtet fühlen (Unternehmenskultur). Dabei ist zu beachten, dass die Compliance-Kultur ebenso wie Unternehmenskultur als identitätsstiftender und Orientierung bietender Faktor dienen kann. Somit stellt sich die Frage, wie die Unternehmenskultur beeinflusst werden kann. Ferner ist zu untersuchen, ob diese Faktoren auch auf die Beeinflussung einer Compliance-Kultur übertragbar sind. Dabei ist umstritten, ob es überhaupt möglich ist, die Kultur zu beeinflussen. Anerkannt ist, dass keine generelle Betrachtung möglich ist, vielmehr nach individuellen Unternehmenskulturen zu unterscheiden ist.
Unabdingbar für die Implementierung ist jedoch das Bekenntnis der Unternehmensführung zur Compliance-Kultur („tone of the top“). Ebenso beachtenswert ist aber der Einfluss der Mitarbeiter der unteren und mittleren Ebene auf die Unternehmenskultur. Dieser Einfluss soll im Folgenden anhand des Whistleblowings näher untersucht werden.
2. Whistleblowing
2.1. Begriff und Wahrnehmung
Der Begriff des „Whistleblowing“ hat keine adäquate deutsche Entsprechung. Sinngemäß wird es allerdings häufig als „Verpfeifen“ dargestellt. Dieser Betrachtung ist eine Vorstellung von mangelnder Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber immanent. Eine Befreiung von solch einschränkenden Betrachtungen von Loyalität ist nur möglich, wenn eine abwägende, Widerspruch tolerierende Unternehmenskultur den Mitarbeiter als verantwortungsvollen Teil des Ganzen betrachtet. Folglich ist festzuhalten, dass es nicht das Whistleblowing schlechthin gibt. Ähnlich verhält es sich mit dem Einfluss des Whistleblowing. Das Whistleblowing kann nur positiver Teil einer bestehenden Unternehmenskultur sein, wenn die Grundvoraussetzungen (offen und Widerspruch tolerierend) gegeben sind. Ist dies nicht der Fall, droht eine Verschärfung des Konformitäts- und Loyalitätsdruck in Form von Repressalien, quasi als Verteidigung gegen Angriffe von „außen“. Im Zusammenhang mit einer offenen Unternehmenskultur wird das Whistleblowing aber nicht als externer Angriff auf das Unternehmen, sondern als Vorgang innerhalb der üblichen Kommunikationsstruktur des Unternehmens begriffen. Ausschlaggebend ist insbesondere, wie Kritik innerhalb des Unternehmens wahrgenommen wird.
2.2. Positiver Einfluss des Whistleblowing
Bevor der positive Einfluss des Whistleblowings auf die Unternehmenskultur erläutert wird, sind die Grenzen dieses Einflusses hervorzuheben: Ein Unternehmen, welches sich für die Etablierung des Whistleblowings entscheidet, hat häufig bereits eine Entscheidung hinsichtlich der (offenen) Unternehmenskultur getroffen. Der Einfluss des Whsitleblowings kann naturgemäß nur bezüglich solcher Unternehmen untersucht werden, die diese Offenheit bereits innehaben. Ist ein solches System erst einmal etabliert, räumt es den Mitarbeitern erheblichen Einfluss ein. Wurde ein Verhalten bislang toleriert, kann es nun anhand des Whistleblowing angeprangert werden. Zwar wird der Rahmen für Verhalten, welches die Mitarbeiter zur Sprache bringen, durch die Formulierung der Unternehmenskultur geprägt („tone of the top“). Jedoch haben die Mitarbeiter hinsichtlich der Befolgung der Unternehmenskultur, insbesondere der Implementierung der selben Maßstäbe für alle Personen im Unternehmen, erhebliches Mitspracherecht. Für die Unternehmensführung hingegen stellt das Whistleblowing eine Art Selbstverpflichtung auf der unteren Ebene dar: Ist es erst einmal installiert, findet eine Kontrolle durch die Mitarbeiter statt. Regelverstöße müssen dann sanktioniert werden, selbst wenn die Sanktionierung im Einzelfall mit finanziellem Risiko verbunden ist. Anderenfalls leidet die Glaubwürdigkeit.
2.3. Negativer Einfluss des Whistleblowing
Im Folgenden wird ein möglicher negativer Einfluss des Whistleblowing untersucht. Dabei beschränkt sich der Verfasser auf den Einfluss auf die Unternehmenskultur. Bezüglich arbeitsrechtlicher Konsequenzen ist die Sicht der Rechtsprechung national und international unterschiedlich. Während das Landesarbeitsgericht Köln in dem Urteil LAG Köln, 05.07.2012 - 6 Sa 71/12 arbeitgeberfreundlich und loyalitätsorientiert argumentiert, betont der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in EGMR, 21.07.2011 - 28274/08 die Meinungsfreiheit.
Das Whistleblowing steht seit jeher im Verdacht, dem Denunziantentum den Weg zu ebnen und die Unternehmenskultur deshalb negativ zu beeinflussen. Diesen Befürchtungen ist Sorge zu tragen, zumal die Anonymität der Mitteilung die Möglichkeiten zur Denunzierung erweitert. Eine Möglichkeit, dies zumindest einzuschränken, ist die Implementierung von Rückfragemöglichkeiten im Whistleblowing-System. Des Weiteren ist es erforderlich, dass seitens der Unternehmensführung festgelegt und kommuniziert wird, welche Aspekte und Taten als relevant für das Whistleblowing erachtet werden. Erfolgen diese Schritte nicht, entsteht eine Kultur des Misstrauens im Unternehmen, da das Whistleblowing als persönliche Waffe, etwa im Konkurrenzkampf, wahrgenommen wird. Die Folge ist wiederum eine mangelnde Akzeptanz des Whistleblowing und der Compliance.
2.4. Loyalität und Integrität
Neben der Abwägung der positiven und negativen Folgen des Whistleblowing sind zwei weitere Aspekte zu untersuchen, die das Whistleblowing prägen: Die Begriffe Integrität und Loyalität. Der Whistleblower steht vor einem Gewissenskonflikt. Zum einen wird von ihm Integrität gefordert, zum anderen Loyalität. Er muss sich entscheiden, wie er diesen Konflikt auflösen kann. Um dies zu gewährleisten, müssen die Begriffe genauer betrachtet werden.
2.4.1. Wortherkunft – Integrität
Der Begriff Integrität entstammt dem lateinischen Begriff „integritas“, welcher gemäß dem Duden als unbescholten, intakt oder makellos übersetzt werden kann. Eine Person gilt demnach als integer, wenn ihr Wertesystem keine Lücken aufweist, vielmehr vollständig und intakt ist.
2.4.2. Definition – Integrität
Integrität „ist das auf Erfahrungen und Erwartungen gestützte Ansehen bzw. Vertrauen, das ein Akteur A bei anderen Akteuren B (C, D, usw.) hat, hinsichtlich der Berücksichtigung der (berechtigten) Interessen von B bzw. der Einhaltung von Verträgen sowie formellen und informellen Regeln. Der Aufbau von Integrität ist eng mit der Übernahme von Verantwortung verbunden.“
2.4.3. Wortherkunft – Loyalität
Der Begriff geht auf den französischen Begriff „Loyauté“ zurück, welcher mit „Anständigkeit“ übersetz werden kann. Der lateinische Ursprungsbegriff „lex“ wiederum bedeutet „Gesetz“.
Dies ist paradox, da der Whistleblower, der häufig mangelnden Anstand und fehlende Rechtstreue öffentlich macht, als illoyal gebrandmarkt wird. Der Begriff weist folglich in seinen Ursprüngen Bezüge zur Integrität und Rechtstreue auf – Begriffe, die auch für den Whistleblower von Bedeutung sind.
2.4.4. Definition – Loyalität
Eine Definition des Begriffs hat sich nicht durchgesetzt. Josiah Royce beschreibt Loyalität als „the willing and practical and thoroughgoing of a person to a cause”. Neben der emotionalen Komponente (“devotion”) besteht auch ein kognitives Element, da es sich um eine individuelle Einstellung zu Beziehungen handelt. Dabei entsteht Loyalität oder Illoyalität vor allem immer dann, wenn Konkurrenz auftritt. Sie zeigt sich vor allem, wenn es Alternativen und Wahlmöglichkeiten gibt. Die Treue zu einer Person oder einer Sache mangels Alternativen ist demnach kein Ausdruck von Loyalität, da sie weder auf emotionalen noch auf kognitiven Erwägungen beruht.
2.4.5. Loyalität in der Ökonomie
Die Feststellung, dass Loyalität in Konkurrenzsituationen auftritt, prädestiniert den Begriff für eine Betrachtung im ökonomischen Kontext.
Albert Hirschmann bezeichnet den Begriff als Anhänglichkeit an eine Organisation. Diese kritischere Betrachtung des Begriffs wird durch seine Feststellung, dass mit steigender Loyalität auch das Bestreben nach steigendem Einfluss einhergeht. Dieser Machtzuwachs geht wiederum mit steigender Identifikation und emotionaler Verbundenheit mit der Organisation, also etwa dem Unternehmen, einher.
2.4.6. Ansatz einer Loyalitätsdefinition
Soweit festgestellt wurde, dass die Begriffe Loyalität und Integrität eng miteinander verbunden sind, sich teilweise sogar überschneiden, erscheint es überraschend, dass sich der Whistleblower in einem Konflikt zwischen diesen beiden Werten gefangen fühlt. Es erscheint realistisch, eine Definition von Loyalität zu finden, die mit dem Integritätsbegriff in Einklang gebracht werden kann. Die Literatur hat diesbezüglich den Begriff der kritischen Loyalität entwickelt. Demnach beinhaltet Loyalität auch die Feststellung, dass es notwendig sein kann, der Person oder Organisation, die Loyalität erfährt, auch Grenzen aufzuzeigen, wenn dies für Ihr Wohl notwendig ist. Loyalität gegenüber dem Unternehmen könnte also auch bedeuten, unternehmensinterne Missstände zu veröffentlichen – aus emotionaler und kognitiver Verbundenheit mit dem Unternehmen. Dabei wird dem Mitarbeiter die Verantwortung eingeräumt, Fehlentwicklungen im Unternehmen nicht nur zu lokalisieren, sondern auch abzustellen. Ein solches Loyalitätsverständnis gibt dem Whistleblower die Möglichkeit, dem Erfordernis der Integrität und der Loyalität gerecht zu werden – schließlich ist das Whistleblowing ein loyaler Akt. Erforderlich ist, dass der Loyalitätsbegriff Teil der Unternehmenskultur ist. Er muss als solcher seitens des Unternehmens definiert und kommuniziert werden.
3. Fazit
Zielsetzung dieses Aufsatzes war die Untersuchung des Einflusses der Mitarbeiter auf die Unternehmenskultur durch das Whistleblowing. Es wurde festgestellt, dass die Einflussmöglichkeiten per se beschränkt sind. Unternehmen mit einer geschlossenen Unternehmenskultur werden dem Whistleblowing voraussichtlich ablehnend gegenüberstehen und sich diesem gegenüber verschließen. Besteht jedoch die notwendige Offenheit gegenüber dem Whistleblowing, kann die Unternehmenskultur erheblich beeinflusst werden. Ob dieser Einfluss jedoch positiv oder negativ wirkt, hängt von der grundsätzlichen Einstellung hinsichtlich Loyalität und Kritikfähigkeit innerhalb des Unternehmens ab. In einem „geschlossenen“ Unternehmen besteht die Gefahr, Abwehrreaktionen gegen das vermeintliche „Verpfeifen“ hervorzurufen. Das Unternehmen muss also die Begriffe Integrität und Loyalität thematisieren und definieren, um den Mitarbeitern verständlich zu machen, dass blinde Loyalität nicht gewünscht ist. Gelingt dies, kann der Mitarbeiter sich als kritische Kontrollinstanz verstehen, der Missstände aufdecken und aktiv das Schicksal des Unternehmens beeinflussen kann – schließlich ist er viel näher am Geschehen als die Unternehmensführung.