Ethik als Basis staatlichen Handelns – Ein vergessener Versuch vor 2300 Jahren
*Positive Gesetze zeigen weltweit große Unterschiede, wenn es um die Frage geht, was als gerecht angesehen wird. Wenn sie sich allerdings auf moralische und ethische Grundsätze stützen, sind die Ergebnisse erstaunlich ähnlich. Das zeigen die Gesetze Ashokas, eines indischen Königs, der vor 2300 Jahren lebte und in Europa bisher nicht rezipiert worden ist.
Der indische König Ashoka (304-232 v. Chr.)1 soll, als er 268 v. Chr. an die Macht kam, vorher »99 seiner Brüder« ermordet haben, um auf den Thron zu kommen. Nun hat die Zahl 99 nur eine symbolische Bedeutung, aber in den folgenden sieben Jahren jagte eine Schlacht die andere, bis er zuletzt beim Kampf gegen Kalinga mit seinen Kampfelefanten am Golf von Bengalen wirklich im Blut watete: »150.000 Menschen wurden verschleppt, 100.000 getötet und viele Male mehr starben.«
Foto: Ashoka besucht Ramagrama Stupa, Wikimedia, Photo Dharma
Kurz danach stieß er auf buddhistische Lehren, die sich über die vedische Götterwelt erheben, und das Leben – auch wenn es von Siegen gekrönt ist – zum existenziellen Leid erklären. Der König schwor, nie mehr Krieg zu führen und sich auf die Stabilisierung des Landes zu konzentrieren – eine politische Leistung, die nur sehr wenigen gelingt.2 Nun sollte diese geänderte Haltung bekannt gemacht werden. Zwischen 258 und 242 v. Chr. werden 33 umfangreiche Edikte3 mit dem Anspruch erlassen, alle Teile des sozialen Lebens zu regeln und auf tausenden Säulen und heiligen Orten in Stein gehauen.
Gesetzestexte kennen wir schon seit dem dritten Jahrtausend aus Keilschrifttexten4, aber nirgendwo hat man sie in ähnlicher Weise öffentlich gemacht. Die radikale Entscheidung Ashokas, seine Gesetze auf diese Weise bekanntzumachen, deutet auf eine Idee, die wir erst in modernen Verfassungen durchgesetzt haben:5 jedermann von Afghanistan bis nach Südindien sollte seine Rechte und Pflichten kennen und sich so gegenüber den Provinzgouverneuren und Justizbeamten auf das höherrangige Wort des Herrschers berufen können. Die Veröffentlichung der Gesetze (und später auch: der Gerichtsentscheidungen) ist die zentrale Voraussetzung für ein funktionsfähiges Rechtssystem, wie wir aus der viel späteren europäischen Entwicklung wissen, denn das Recht verleiht der Macht Statik, wirkt gleichzeitig aber als » Kritik der Macht« (Peter Noll). Heute ist es in Indien immer noch nicht leicht, das geltende Recht festzustellen6.
Ashokas Gesetze regeln – der Tradition der Jain7 folgend, der sein Großvater8 angehört hatte – nicht nur die Welt der Menschen, sondern auch jene der Tiere.
Er hat sie selbst geschrieben und sie sind von erstaunlicher Qualität und Regelungsdichte9:
- Strafrecht
»Es ist mein Bestreben, dass Gesetze und Bestrafungen einheitlich sein sollen. Ich gehe auch so weit, jenen die zum Tode verurteilt wurden einen dreitägigen Aufenthalt im Gefängnis zu erlauben. Während dieser Zeit können ihre Verwandten um eine Begnadigung ansuchen. Wenn niemand da ist um das Leben des Gefangenen zu bitten, darf der Gefangene Schenkungen tätigen um gute Verdienste für die nächste Welt zu sammeln oder fasten.“
„Während der sechsundzwanzig Jahre seit meiner Krönung, haben Gefangene zu fünfundzwanzig Gelegenheiten Amnestien erhalten.“ - Respekt für alle Lebewesen
„Hier (in meinem Reich) dürfen keine Lebewesen getötet oder als Opfer dargebracht werden.“
„Sechsundzwanzig Jahre nach meiner Krönung werden einige Tiere unter Schutz gestellt - Papageien, wilde Gänse und Enten, Fledermäuse, Ameisenköniginnen, Schildkröten, Fische, Porcupine (ein Nagetier), Eichhörnchen, Rehe, Rinder, wilde und Haus-Tauben, alle vierfüßigen Tiere, die weder nützlich noch essbar sind. Die Ziegen, Schafe und Säue, die Junge haben oder Jungen Milch geben, sind geschützt, wie auch die Jungen, wenn sie jünger als sechs Monate sind. Hähne dürfen nicht kastriert werden, Unterholz, in dem Tiere sich verbergen, darf nicht verbrannt werden und Wälder dürfen weder ohne Grund, noch um Lebewesen zu töten abgebrannt werden. Ein Tier darf nicht an ein anderes verfüttert werden.“ - Gesundheitswesen
„Überall im Reich des Königs Piyadasi, und bei den Völkern jenseits der Grenzen, den Chola, den Pandya, den Satiyaputra, den Keralaputra, bis nach Tamraparni und wo der griechische König Antiochos herrscht, und unter den Königen die Nachbarn des Antiochos sind, überall hat Piyadasi Vorkehrungen für zwei Arten der medizinischen Behandlung getroffen: medizinische Versorgung von Menschen und medizinische Versorgung von Tieren. Wo medizinische Kräuter zur Behandlung von Menschen oder Tieren nicht vorhanden waren, habe ich sie eingeführt und pflanzen lassen.“ - Straßennetz
„Entlang der Straßen habe ich Banyan-Bäume pflanzen lassen, damit sie den Menschen und Tieren Schatten spenden, und ich habe Mango-Haine pflanzen lassen. Im Abstand von acht Krosa ließ ich Brunnen graben und Rasthäuser bauen, und an verschiedenen Orten habe ich Wasserstellen für Menschen und Tiere einrichten lassen. Aber das sind nur kleine Errungenschaften. Solche Dinge wurden bereits früher von Königen getan um Menschen glücklich zu machen. Ich habe sie zu dem Zweck getan, damit die Menschen das Dharma praktizieren.“ - Religiöse Toleranz
„Alle Religionen sollten überall verbreitet sein, denn sie alle streben nach Selbstkontrolle und der Reinheit des Herzens.“
„Kontakte [zwischen den Religionen] sind gut. Man sollte den Grundsätzen anderer zuhören und sie respektieren. König Piyadasi wünscht, dass jeder gut in den Grundsätzen anderer Religionen geschult sein soll.“ - Religiöse Inhalte
„Piyadasi, König von Magadha, grüßt die Sangha und wünscht ihnen Gesundheit und Glück und spricht: Ihr wisst, Verehrte, wie groß mein Glauben in den Buddha, das Dharma und die Sangha ist. Was immer, Verehrte, der Buddha gesprochen hat, ist alles recht gesprochen.“
„Diese Texte des Dharma - Auszüge aus den egeln der Disziplin, über den rechten Weg des Lebens und die Furcht des Kommenden, das Gedicht über den schweigenden Weisen, der Diskurs über das Reine Leben, die Fragen des Upatisa und die Unterweisung des Buddha an (seinen Sohn) Rahula über die falsche Rede - diese Dharma-Texte, Verehrte, wünsche ich von allen Mönchen und Nonnen gelesen und erinnert zu werden. Ebenso von den Laien.“ - Kreislauf der Wiedergeburten
„Man gewinnt in dieser Welt und erlangt große Verdienste für die nächste durch das Weitergeben des Geschenks des Dharma.“
„Glück in dieser Welt und der nächsten ist schwer zu erlangen ohne die Hingabe an das Dharma, viel Selbstbetrachtung, viel Respekt, viel Furcht (vor dem Bösen) und großem Enthusiasmus.“ - Rechtsgarantie
»Meine Gesandten werden auch einige von den Justizbeamten ermahnen, auf daß sie mein Vertrauen gewinnen können. Denn wie man ruhig ist, wenn man sein Kind einer geschickten Amme übergeben hat und sich sagen kann: Die geschickte Amme wird sich bemühen, mein Kind gut zu versorgen, ebenso sind die Justizbeamten von mir eingesetzt zum Heil und Glück der Bevölkerung des Landes.«
Foto: Säule des Ashoka, Wikimedia, Ptolemy Thiên Phúc
Ashokas Texte unterscheiden sich von anderen (etwa ägyptischen) Inschriften der Frühzeit, weil sie nicht nur die Taten des Herrschers preisen, sondern auch konkrete Anordnungen geben, die sich auf feste ethische Lehren (Dharma) stützen. Über den Umsturz dieses Denkens war er sich klar:
»Diese Anordnungen erließ ich, damit sie Geltung haben, solange meine Söhne und Urenkel regieren, solange Mond und Sonne scheinen, damit die Menschen dementsprechend handeln«.
Aber der Versuch, einen Staat nur gestützt auf ethische Prinzipien zu führen, ist mit seinem Tod gescheitert. Schon wenige Jahre später hat keiner mehr die Bedeutung der Texte verstanden. Nur die Kapitelle der Stelen – oft bedeutende Steinmetzarbeiten, unter denen die Darstellung der Löwen herausragen – finden sich als Symbol des Staates Indien bis heute in der politischen Wirklichkeit wieder. Politik folgt keinen ethischen Vorstellungen, sondern nur den Regeln der Macht und wenn sie nicht durch das Recht, eine blinde Göttin mit einem Schwert in der Hand, begrenzt wird, wird sie ins Absurde wachsen – bis sie an sich selbst erstickt.
- *. Ergänzte und überarbeitete Fassung einer Erstveröffentlichung in Zeitschrift für Rechtspolitik ZRP 2015, Heft 8, S. 251.
- 1. Charles Allen : Ashoka, Little Brown 2013 ; Edmund Hardy: König Asoka. Indiens Kultur in der Blütezeit des Buddhismus Mainz, Verlag Kirchheim & Co., 1913.
- 2. Spannend zu lesen: Ralf Berhorst, Spiegel online vom 27.05.2007, http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/bekehrter-gewaltherrscher-budd...
- 3. Ulrich Schneider: Die großen Felsen-Edikte Asokas: kritische Ausgabe, Übersetzung und Analyse der Texte. Wiesbaden: Harrassowitz, 1978.; online deutsch: https://de.wikipedia.org/wiki/Edikte_des_Ashoka ; Felsenedikte (palikanon.de).
- 4. Otto Edzard Dietz : Sumerische Rechtsurkunden des III. Jahrtausends, München 1968-¸Uwe Wesel : Geschichte des Rechts von den Frühformen bis zur Gegenwart, C.H.Beck 2. Aufl. 2001 Seite 71 ff.
- 5. Veröffentlichungspflicht von Gesetzen: Art. 82 GG; Art. IV Abschn. 1 US Bundesverfassung und Code of Laws oft he United States of America. In Indien fehlt eine Vorschrift von Verfassungsrang (Auskunft Dr. Tim Luthra, auch zu Fn. 6).
- 6. Dieter Conrad: Rechtssystem und Verfassung in Rothermund (Hrsg), Indien CH Beck 1995; Tim Luthra, Indien in: Heussen/Pischel (Hrsg.) Handbuch Vertragsverhandlung und Vertragsmanagement, Otto Schmidt 4. Aufl. 2014. Gesetze werden in der »The Gazette of India« (http://egazette.nic.in) veröffentlicht. Diese Regelung basiert ihrerseits auf Art. 77 der indischen Verfassung. Man könnte also von einer „mittelbaren“ Verankerung einer Pflicht zur Veröffentlichung von Rechtsvorschriften in der indischen Verfassung sprechen.
- 7. Die Jain gehören zu den ältesten vedischen Religionen Indiens und bilden eine eng verschworene Gemeinschaft, die nur einen einzigen Familiennamen benutzen. Der frühere Deutsche Bank Vorstand Anshu Jain gehört zu ihnen. Noch heute betreten die strengsten Jain den Boden zwischen Rikschas, heiligen Kühen und Motorrädern nur mit Mundschutz und einem Besen in der Hand, um Ameisen, Mücken und andere Kleintiere weg zu fegen, damit sie nicht unachtsam auf sie treten.
- 8. Chandragupta, Begründer der Maurya-Dynastie: Er beendete sein Leben freiwillig nach einer langen Fastenperiode ca. 297 v. Chr.
- 9. http://www.palikanon.de/diverses/asoka/asok_ndx.html