Der Stil des Richters

Jeder Richter hat seinen eigenen Stil. Er wird von seinem Charakter, seinen persönlichen und beruflichen Erfahrungen geprägt und er entfaltet sich innerhalb der Grenzen, die die Prozessordnungen ihm setzen – manchmal auch über sie hinaus. Als junger Anwalt haben diese Unterschiede mich beeindruckt, aber später, als ich immer wieder einmal als Schiedsrichter berufen wurde und auf der anderen Seite der Bar saß – wie man die Trennlinie zwischen Richtern und Anwälten in den USA nennt – ist mir klar geworden, dass auch ich als Richter eine Stil entwickelte, der mit meiner anwaltlichen Perspektive nichts zu tun hatte. Die Freiheit, seinen Stil zu wählen, sich entwickeln zu lassen und zu gestalten gehört zum Kern der richterlichen Unabhängigkeit.

Der richterliche Stil zeigt sich im Umgang mit den Werkzeugen, die der Richter für seine Arbeit verwendet:

  1. Die Fähigkeit, den Prozess so zu organisieren, dass er ihn verfahrenstechnisch in den Griff bekommt. Da gibt es Richter, die aktiv zum Telefon greifen und andere, die man nie erreicht, einige wissen, wie man die Pressebänke richtig besetzt, andere nicht.
  2. Die Steuerung der mündlichen Verhandlung. Einige Richter sehen in ihr das Zentrum des Verfahrens, andere eher eine Unterform des letzten Wortes. Und schließlich
  3. Das Verfahren der Rechtsgewinnung: Dazu gehört die Qualität der rechtlichen Kenntnisse und ihr Einsatz in dem Spannungsfeld zwischen juristischer Logik und Rechtsgefühl, ohne den kein tragfähiges Urteil entstehen kann.

Auf alle drei Bereiche werde ich einen kurzen Blick werfen.

Ich habe zusammen mit ein paar Kollegen in München als Allgemeinanwalt angefangen, hatte also hauptsächlich Verkehrsunfälle und Scheidungen auf dem Tisch – Blech und Liebe, wie man so sagt. Beide Themen sind eng miteinander verbunden: Wer Eheprobleme hat, fährt auch sonst bei Rot über die Ampel und der aktuelle Schmerz über diesen Vorfall lindert den langsam verblassenden Liebeskummer.

Mit diesen Fällen beschäftigte sich der heimliche Star unter den Münchner Amtsrichtern: Herbert Rosendorfer. Er war dafür bekannt, die Fälle eilig durchzuwinken, verlor aber auch nicht viel Zeit damit, hoffnungslose Vergleiche zu versuchen: Wenn die Anwälte nicht wollten, gab es kurzfristig die Entscheidungsverkündung, wobei seine Urteile – vorsichtig gesprochen – recht eigenwillig waren. So seine berühmten Entscheidungen zur fiktiven Mehrwertsteuer bei der fiktiven Schadensabrechnung. Ich versuche jetzt nicht, ihnen das Problem zu erklären, denn dann wären wir schnell beim Dessert, aber Rosendorfers Diktum sagt schon alles: »Zwei Fiktion sind eine Fiktion zu viel!1« Und diese Meinung hielt er gegen den BGH und höhere Gerichte durch, denn nicht nur über dem BGH und ganz am Ende dem BVerfG und noch weiter am Ende dem Europäischen Gerichtshof und ganz zum Schluss jenem für die Menschenrechte, nein: auch über dem Amtsrichter schwebt der blaue Himmel, wenn die Sache nicht in die Berufung gehen kann und keiner einen anderen gefoltert hat.

Rosendorfer bekam seine Sachen schnell vom Tisch, denn er wollte wieder nachhause und da hätte ihn schon der Anblick einer Gerichtsakte krank gemacht: in seiner Dachstube schrieb er unzählige Romane, kulturhistorische Abhandlungen, Theaterstücke, Drehbücher und vieles mehr, von denen wir Juristen vor allem »Ballmanns Leiden« kennen, die meisten Leser aber ein anderes Buch, nämlich die Erlebnisse eines Chinesen der Ming Zeit, den eine Zeitmaschine in das Bayern der Rosendorfer-Zeit versetzt hat2. Allein dieser – auch in unzähligen Übersetzungen erschienene – Roman hat ihn reich und berühmt gemacht. Wovon man aber im Sitzungssaal nichts merkte. Da saß er eher wortkarg herum (allzu viel reden hätte Zeit gekostet!) um dann möglichst schnell seine Urteile zu schreiben, die ihn – wie seine Bücher – berühmt, aber nicht reich machen sollten. Das wichtigste unter ihnen ist die Entscheidung zur Glaubwürdigkeit des Fahrers bei Verkehrsunfällen. Wenn er nicht identisch mit dem Kläger ist, hängt von seiner Aussage häufig der Ausgang des ganzen Verfahrens ab. Rosendorfer kam ins Rasen:

»Das Gericht war bei seiner bisherigen Praxis schon mit ca. 2000 Straßenverkehrsunfällen beschäftigt und hat es noch niemals erlebt, dass jemals einer der beteiligten Fahrer schuld gewesen wäre… Wenn dies einmal tatsächlich passieren sollte, dann müsste man schlicht und einfach von einem Wunder sprechen. Wunder kommen aber in der Regel nur in Lourdes vor, wenn beispielsweise ein Blinder wieder sehen kann… Oder aber in Fatima, wenn sich während der Papstmesse eine weiße Taube auf den Kopf des Papstes setzt… In deutschen Gerichtssälen passieren sie so gut wie nie, am allerwenigsten in den Sitzungssälen des Amtsgerichts München. …Aus (alldem) ist schon unschwer zu erkennen, was die Zeugenaussage eines Fahrers eines unfallbeteiligten Fahrzeuges vor Gericht wert ist: Nämlich gar nichts!«

Ich gebe zu, dass Rosendorfer es hier ein bisschen weit getrieben hat. Ihm war einfach der Kragen geplatzt, aber die jüngere neurobiologische Forschung, die sich mit der Frage beschäftigt, was wir erkennen können und wie wirklich die Wirklichkeit ist, zeigt uns, dass er in der Sache Recht hat3: Wer in einem Auto sitzt, kann tatsächlich aus den unterschiedlichsten Gründen nicht sagen, wie es »objektiv« gewesen ist, falls er die »richtige Antwort« schon kennt – nämlich die, dass er selbst keinen Fehler gemacht hat. Als Juristen sind wir mit diesen Konflikten vertraut, wir wissen, dass die Beweislast am Ende die Sache schon regeln wird, aber unbefriedigend ist es doch. Womit sich z.B. die Frage stellt, inwieweit naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf unsere Prozessregeln einwirken sollten: Brauchen wir künftig für jeden Verkehrsunfall ein Glaubwürdigkeitsgutachten? Die Antwort ist klar: Wenn ein Richter persönlich alle Fachkenntnisse besitzen müsste, die erforderlich sind, um einen Fall zu entscheiden, könnten wir niemanden zum Richter bestellen. Bei der Ermittlung der Tatsachen ist er genauso ein Laie wie wir und die Psychologie des Alltags muss auch für den Prozess reichen. Bis auf jene Grenzfälle, die so schwergewichtig und komplex sind, dass wir uns beraten lassen müssen. So hätte Rosendorfer seinen Fall begründen können, aber hier war der Schriftsteller mit ihm durchgebrannt, er hatte emotional, ironisch und angewidert entschieden, anstatt, wie es die Soester Gerichtsordnung (um 1500) vorschreibt, »mit übergeschlagenen Beinen wie ein „griesz-grimmiger Löwe“ dazusitzen und dafür zu sorgen, dass die Gefühle nicht überkochen. Und schon gar nicht bei ihm selbst.

Dem Richter Hans Putzo ging Rosendorfers Urteil gehörig gegen den Strich. Er kritisierte es hart – und nicht unbedingt fair –, denn er verglich es mit gereimten Urteilen aus Köln, die im Karnevalston abgefasst waren4.

Auch er hatte wie Rosendorfer eine private Seite. Putzo war ein Meister des Fliegenfischens. Um das zu werden, braucht man zwei Dinge: Geschickte Hände und eine große gelbe Gummihose, an der die Stiefel bereits angeschweißt sind. Man muss nämlich mit seinen eigenen Händen glitzernde »Fliegen« aus Kunststoff und leuchtenden Fasern knüpfen, die die Fische von unten für Libellen oder andere Delikatessen halten und danach schnappen. Die Hose, die bis zur Brust reichen muss, braucht man, weil man sonst nicht stundenlang mitten im kalten Gebirgsbach stehen kann, der den Fischen sehr viel Freude, dem Fischer aber kalte Füße macht. Vermutlich ist Ihnen jetzt klar, dass dieses Geduldstraining einen Richter, der sonst nicht lange mit sich fackeln ließ, besonders befähigen musste, schon mit Anfang 40 Vorsitzender Richter am Landgericht zu werden, bald danach auch Honorarprofessor an der Universität München und mit Anfang 50 einen Senat am Oberlandesgericht zu übernehmen.

Wenn man bei ihm in die Berufung ging, musste man sich fest anschnallen. Schon wenige Tage nach dem Austausch der ersten Schriftsätze erhielt man einen mehrseitigen Schrieb, in dem der Vorsitzende den Anwälten ziemlich unverblümt sagte, was von dieser Berufung und den gewechselten Schriftsätze zu halten sei. Das war nicht ganz ungefährlich für ihn, aber Putzo wusste, dass es in Zivilprozessen nahezu undenkbar gewesen wäre, einen Richter abzulehnen, nur weil der eine dezidierte Rechtsmeinung geäußert hatte. Der kleine Fallschirm (»ohne Vorbesprechung im Senat«), der seine Analysen einleitete, hätte ihn trotzdem in manchen Fällen kaum retten können. Manche Anwälte reagierten sensibel auf diese Hinweise und legten anschließend mit hunderten von Seiten nach. Das war oft genug eine Fehlinvestition, denn Putzo änderte seine Meinung spätestens in der Sitzung: zum einen hatten seine Senatsmitglieder häufig eigene Ideen und außerdem brillierte er darin, sich selbst zu widerlegen, wenn man ihm hier und da einen Köder hin legte. Mit dem Bundesgerichtshof durfte man ihm nicht kommen, denn er wusste, wie man revisionssichere Urteile schreibt: das Argument muss aus den Tatsachen und ihrer Bewertung kommen, die das Revisionsgericht nicht mehr antasten darf.

In der Sitzung war er schwierig. Ein Schnelldenker wie er wollte es lebhaft haben und forderte zum Florettfechten auf. Aber dann stieß er hin und wieder auf einen schlagfertigen »Pointen-Tiger«( wie man Anwälte wie Gregor Gysi gelegentlich nennt), spürte sofort die Konkurrenz und wurde missmutig. Nachdenkliche Anwälte fühlten sich dadurch oft irritiert. In Beweisaufnahmen konnte er allein durch seine Körpersprache Zeugen so einschüchtern, dass sie gar nichts mehr sagten. Auf solche Szenarien musste man seine Zeugen vorbereiten. Berufsrechtlich ist das nicht unproblematisch, weil die Grenze zur Zeugenbeeinflussung nicht immer leicht zu erkennen ist. Ich habe mir manchmal gedacht, die erste Standardfrage an einen Zeugen müsse lauten: »Kennen Sie einen der Anwälte hier im Raum?« Und wenn ja, müsste er sagen, ob der Anwalt seine Aussage mit ihm besprochen hat und ob er versucht hat, ihn zu beeinflussen. Viele Zeugenaussagen würden dabei in sich zusammenfallen. Ich habe die Idee nie verwirklicht, denn ich war mir sicher, in der nächsten Runde würde der Gegenanwalt es genauso machen und dann stünden wir letztlich wieder pari. Vielleicht sieht man aus diesen Gründen in den meisten Prozessrechten der USA die gezielte Vorbereitung eines Zeugen nicht als kritisch an – der Gegenanwalt kann und wird ihn immer ins Kreuzverhör nehmen.

Bei Heinz Thomas, auch er Senatsvorsitzender und Begründer des ersten handlichen ZPO-Kommentars5 lief das alles ganz anders. Bei ihm gab es schon in der Ausbildung viel zu lachen. Ich war deshalb sehr zufrieden, als ich mit einer meiner ersten Berufungen in seinem Senat landete. Die Sache war nämlich wirklich schwierig, nicht zuletzt, weil mein Mandant gegenüber Richtern einen partiellen Verfolgungswahn entwickelt hatte: er war nämlich selbst Richter – allerdings am Patentgericht –also ein Ingenieur, dem man juristisches Basiswissen beigebracht hatte. Daraus wird in der Zusammenarbeit mit den so genannten Volljuristen eine explosive Mischung: die juristischen Begriffe werden nur halb verstanden, die daraus gezogenen (meist fehlerhaften) Schlüsse aber bis aufs Blut verteidigt. Patentanwälte, Gewerbeoberlehrer, Oberstudienräte für Geschichte und Parlamentarier aller Art gehören zu den gefürchteten Mandanten, weil sie sich nie als Dienstleister sozialisiert haben und über Gott und die Welt genau Bescheid wissen. So entwickeln sie leicht die Staublunge der Rechthaberei– die klassische Juristenkrankheit. Die hatte den Mandanten voll getroffen. Es war ihm gelungen, in seiner Freizeit eine neue Schuhkonstruktion zu entwickeln, bei der man nicht wie üblich von hinten nach vorne abrollt, sondern genau umgekehrt.»So gehen die Affen noch heute – wenn sie gehen« erklärte der Mandant und ich hörte auch erstmals im Leben, dass Patente auf Schuhe genauso oft beantragt werden, wie auf Software. Hier ging es nun um einen Streit mit der produzierenden Firma und zwar um fällige Lizenzgebühren. In erster Instanz hatte er verloren und es sah nicht gut aus. Trotzdem hatte er einen außergerichtlich angebotenen Vergleich über 20.000 DM abgelehnt.

Anders als bei Putzo gab es im Senat von Heinz Thomas keine umfangreichen rechtlichen Einschätzungen der Rechtsmittelchancen. Gelegentlich schrieb er den Parteien ein paar Zeilen, worauf es »nach Vorbesprechung im Senat« vermutlich nicht ankommen würde. Damit ersparte er sich und uns einen Papierkrieg, den die Anwälte in erster Linie entfesseln müssen, um ihre Haftungsrisiken zu vermindern.

Zum Termin lud er grundsätzlich beide Parteien persönlich (auch den Bauern vom Lande), denn er interessierte sich für Menschen und ihre Konflikte. Die wollte er an den Hörnern packen, während Putzo sich eher für interessante Rechtsprobleme erwärmen konnte. Er war ein Meister des Vergleichs, aber hatte auch ein sicheres Gespür, wenn die Anwälte eine Grundsatzentscheidung brauchten.

»Nun sagen Sie uns doch ganz einfach, warum sie das Urteil des Landgerichts nicht akzeptieren können« sagte er zu dem Kläger, nachdem er eine kurze Einführung in den Sachstand gegeben hatte. Mir wurde schlecht, denn ich wusste, was jetzt folgen würde: eine ausführliche Schilderung der Ansprüche, ein sinnloses Agieren gegen das Urteil des Landgerichts, Zitate über die Positive Vertragsverletzung von Hermann Staub6 seligen Angedenkens, eine Erläuterung der Grundsätze der Freirechtsschule7 und ihr Einfluss auf die Lizenzanalogie, um in einem Appell an die Menschenrechte zu münden – der ganze Schlamm, durch den ich mich schon einmal gekämpft hatte.

Thomas hörte sich das Durcheinander ungerührt an. Er wollte wissen, wen er vor sich hatte. Konflikte fallen nicht einfach vom Himmel. Ob sie entstehen und wie sie sich weiter entwickeln, hängt ausschließlich von den Menschen ab, die an ihnen beteiligt sind. Ihm war klar, dass der Erfinder sein Problem weder verstanden hatte, noch je würde verstehen können. Mich streifte ein mitleidiger Seitenblick. »Tragen Sie die Schuhe, die sie entwickelt haben, selbst?« Diese Frage brachte den Kläger zum Schweigen. »Nicht heute, nicht im Gericht« sagte er verwirrt. »Ich stelle mir vor, wenn man darin geht, sieht das aus wie bei Michael Jackson« sagte Thomas, »beim Sport ist das ein Zusatztraining für die Muskeln« und dachte dann laut darüber nach, ob man so einen Schuh wohl mit Gewinn beim Bergwandern einsetzen könne – jedenfalls bergab. Das war sein Lieblingssport. « Wo kann man ihre Schuhe in München denn kaufen?« fragte er. Nun stellte sich heraus, dass Eduard Meyer sie abgelehnt, Sport-Scheck sich aber interessiert hatte und mitten in dieses Gespräch, an dem sich nun auch die übrigen Senatsmitglieder beteiligten, trat Thomas plötzlich voll auf die Bremse: »Wieviel Geld kriegt der Herr denn Ihrer Meinung nach von Ihnen?« wandte er sich an den Geschäftsführer der Schuhfabrik. »20.000 DM könnt' er schon haben«. »Aber abzüglich aller Kosten!« rief der Gegenanwalt, wenigstens um sich bemerkbar zu machen. »Ja und warum nehmen sie das Geld nicht? Ich tät's nehmen, mehr wird's wohl nicht!« sagte Thomas mit einem langen und nachdenklichen Blick auf den Kläger. Auf dem Weg nach draußen konnte ich mir die Frage an meinen Mandanten nicht verkneifen, warum er den Vergleich, der ihm außergerichtlich genau so angeboten worden war, nicht früher akzeptiert hatte. »Sie haben mir ja nie richtig zugehört. Hätten sie mir meinen Fall so gut erklärt, wie Herr Thomas, wäre das doch selbstverständlich gewesen!«.8

Ich ziehe eine kurze Zwischenbilanz: Wir haben einen Richter kennen gelernt, dem gelegentlich der Gaul durchgeht, einen anderen, der diese Schwäche mit viel Geduldstraining überwinden konnte, sich aber gelegentlich in seinen eigenen intellektuellen Eskapaden verwickelte und schließlich einen unglaublich bodenständigen Praktiker, der wusste, dass wir über keinen Konflikt entscheiden können, wenn wir die Interessenlage der Personen und sie selbst nicht verstehen. Sein juristisches Handwerkszeug, das er brillant beherrschte, hat er nur im Notfall eingesetzt.

Wer fehlt uns noch? Es ist der Richter, der ein Verfahren der Rechtsgewinnung betreibt, wie es – aufgeteilt in vier Phasen – im Idealfall von Arthur Kaufmann beschrieben wird9:

  • Zunächst werden die Tatsachen ermittelt und eine Hypothese aufgestellt, welche denkbaren Alternativen ein Urteil annehmen kann (z.B. Verurteilung oder Freispruch – die Abduktion).
  • Nun werden Gesetze, Präjudizien, Auslegungsgrundsätze et cetera zusammengetragen, die zu den jeweiligen Alternativen passen (die relevante Norm wird ermittelt – die Phase der Induktion).
  • Dann wird der Fall mit den denkbaren Entscheidungsalternativen verglichen (die Phase der Analogie)
  • Und schließlich werden diese Erkenntnisse wieder in der logischen Frage zusammengeführt, aus welcher Tatsache sich welche Alternative und welche Norm – und damit eine bestimmte Entscheidung ergibt (die Subsumtion).

Die ersten beiden Schritte folgen den Gesetzen der (juristischen) Logik mit mehr oder weniger hohen Fehlerquoten, die man aber mit genügend Aufmerksamkeit weitgehend in den Griff bekommt.

Ganz anders ist es in der dritten Phase, der Analogie. Die Analogie besteht aus dem Vergleich zweier (oder mehrerer) Sachverhalte und/oder Ideen, deren Übereinstimmung man mit einem vereinbarten Maßstab (z.B. einem gültigen Präjudiz) prüfen und dann als mehr oder weniger ähnlich bezeichnen kann. Karl Engisch10 sprach anschaulich vom »hin – und her wandernden Blick«, also dem schrittweisen Versuch, Regel und Fall in immer weiteren Details miteinander in Beziehung zu setzen. Hier müssen Begriffsschärfe und Flexibilität getestet und die Grenzen des Ermessens oder anderer weicher Kriterien ermittelt werden. Wir spüren, dass wir mehr über diese dritte Phase wissen sollten, begreifen aber auch, dass unsere rechtlichen Werkzeuge uns dabei nicht helfen können.

Denn in dieser dritten Phase arbeiten wir in erster Linie mit unserer Erfahrung, wir müssen viele Fälle gesehen haben, sie auch psychologisch einschätzen können, wir arbeiten mit Wahrscheinlichkeiten. Logisch gesehen ist die Analogie ein Zirkelschluss, aber – wie man vor allem in der englisch/amerikanischen Rechtstradition weiß, gleichwohl das Kernstück der juristischen Arbeit: Der Richter muss hier nicht nur die »Anstrengung des Begriffs« (Hegel) aushalten, sondern auch »die Erziehung des Gefühls« (Flaubert) bewältigen. Urteile entstehen in einem Meer von Zweifeln, die in dieser dritten Phase nicht logisch, sondern nur emotional überwunden und in die Überzeugung des Richters verwandelt werden können. Anwälte haben es in dieser Hinsicht leichter, weil sie das Privileg haben, den Fall nur aus der Perspektive ihres Mandanten zu betrachten.

Die Analogie enthält auch starke ästhetische Elemente11: Die ausgewogenen Schalen der Gerechtigkeit bilden eine symmetrische Figur ab, an der wir uns unbewusst stets orientieren. Die Gefahr dabei: Dem Richter muss die Unausgewogenheit auch dann auffallen, wenn auf den ersten Blick die formale Gleichheit gegeben ist.

La Rochefoucauld hat vor 400 Jahren intuitiv herausgefunden: »Der Geist wird stets vom Herzen überspielt«12. Heute können wir die Richtigkeit dieses Satzes wissenschaftlich beweisen13, aber die Gefahr, dass der Richter ihr erliegt, wird in der vierten Phase des Verfahrens gebannt. Hier gelangen wir wieder auf den sicheren Boden der Logik: Bei der Arbeit an der Subsumtion entdecken wir deduktiv nicht nur den »Verstoß gegen die Denkgesetze«, sondern auch Verirrungen bei der Analogiebildung, die durch Gefühle verursacht werden können. Diese Fehler sind schwerer zu entdecken und ziemlich revisionssicher, weil man gegen einen misslungenen Vergleich nicht logisch argumentieren kann und es große Ermessensspielräume gibt.

Dieses Verfahren der Rechtsgewinnung ist in Jahrhunderte alter Tradition entwickelt worden und spiegelt sich in der Relationstechnik wieder, die sich von Preußen aus in ganz Deutschland als Standard des juristischen Denkens fest etabliert und seit E. T. A. Hoffmanns Zeiten14 nicht geändert hat. Als Kammergerichtsrat war er ein Meister seines Fachs, der immer ausgezeichnete Beurteilungen von seinen Vorgesetzten erhielt. Wir kennen ihn heute eher als Musiker, Komponist und Schriftsteller, aber wer seine Relationen liest, die alle noch erhalten sind, kann sie nur bewundern. Der Spagat, den dieser Richter zwischen Logik und Analogien jeden Tag neu trainieren musste, hat ihn offensichtlich überfordert. Um 17:00 Uhr ließ er den Griffel fallen, eilte zu Lutter & Wegner und begann schon mal, mit Champagner »vorzuglühen«, bis endlich sein guter Freund Dévrient von der nahe gelegenen Bühne des Schauspielhauses zu ihm stieß. Dann köpften sie noch ein paar weitere Flaschen und manchmal soll er morgens von da direkt ins Büro gegangen sein, um wieder an seiner Relationstechnik zu feilen.

Sie sorgt vor allem dafür, dass der Richter entscheidungsfreudig arbeitet. Es gibt nichts Schlimmeres, als eine Sache immer wieder von neuem hin und her zu drehen, wie uns der anatolische Weise Mullah Nasreddin (der in Berlin bestimmt trotz seiner türkischen Herkunft schnell eingebürgert worden wäre) in einer seiner Lehrgeschichten erzählt hat15:

Der Kläger trägt vor und der Richter sagt: »Sie haben vollkommen recht«. Dann folgt der Beklagte. »Das klingt auch sehr überzeugend «. Da steht hinten im Zuhörerraum einer auf: »Aber Herr Richter, Sie können doch nicht dem Kläger und dem Beklagten gleichzeitig Recht geben!« »Da kann ich Ihnen kaum widersprechen« sagte der Richter.

Kein Berliner Richter will jemals in so eine Situation geraten. Im isolierten Biotop der Stadt hat die Relationstechnik sich trotz aller politischen Umstürze, neuen Verfassungen und endlosen Gesetzesänderungen in ihrer reinsten Form erhalten. Dabei sollte es eigentlich keine lokalen Besonderheiten geben. Wer die ZPO oder die StPO liest, wird nirgendwo bayerische oder preußische Vorschriften finden, aber das Stuttgarter Modell16 ist nicht ganz zufällig in Süddeutschland entstanden, während es weiter nördlich nicht in Mode kam. Ich versichere ihnen, es gibt nicht nur diese Nord – Süd – Varianten, sondern spätestens seit 1990 auch einige östliche Variationen, an denen mancher Kollege gescheitert ist, der nur den oben skizzierten »Kölner Stil« im Format der Büttenrede gelernt hat.

Von den eingangs genannten drei Werkzeugen nimmt der Berliner Richter vor allem das Verfahren der Rechtsgewinnung ernst. Er achtet auf die Qualität seiner Relationen, in denen er alle vier Phasen gedanklich durchläuft und das tut er meist allein, umgeben von seinen Büchern und Datenbanken. In der mündlichen Verhandlung sollen allenfalls noch Fehler, Lücken und Widersprüche in den Schriftsätzen geklärt werden, aber sonst nichts. Als Forum des Meinungsaustauschs wird sie in Berlin nicht verstanden. Daraus entwickelt sich ein Problem: wenn man seine Checklisten, die bei der Erstellung der Relation entstehen, abgearbeitet hat, wächst schnell ein Gefühl der inneren Sicherheit, dass der Fall im Grunde gelöst ist. Mir ist das als Schiedsrichter in vielen Fällen so gegangen, denn in dieser Funktion habe ich den »Berliner Stil« immer bevorzugt. Man übersieht dabei leicht, dass in der mündlichen Verhandlung immer wieder Aspekte auftauchen können, die auf einmal ein anderes Licht auf den Fall werfen. Nicht alle kann man mit dem Argument der Verspätung vom Tisch fegen. Besser wäre es, die Phase der Analogiebildung innerlich erst nach der mündlichen Verhandlung zu vollziehen, wie das weiter im Süden üblich ist. Aber dann liegt das halbfertige Urteil schon in der Schublade hat. So entsteht die Gefahr, dass ohne viel Federlesens »vom Stuhl weg« entschieden wird.

Ich bin 1992 nach Berlin gegangen, weil die historisch einmalige Situation der Stadt mich seit 1965 – meinem ersten Studienjahr hier – immer fasziniert hat. Damals, als die Kommune 1 noch am Stuttgarter Platz hauste, war Berlin wirklich arm, aber sexy17. Ich fand das gut so. Immer wieder führten mich später Mandate in die Stadt und ich kenne eine Menge Kollegen hier. Nach dem Fall der Mauer war Berlin offen für Impulse von außen. Ich betrachtete das als Chance und bin 1992 endgültig hierhergekommen. Schnell habe ich aber auf schmerzliche Weise lernen müssen, dass der Stil, in dem die Berliner Richter arbeiten, sich von dem Münchner Stil erheblich unterschied. Mir wurden diese Unterschiede erst klar, als ich in einer meiner ersten Verhandlungen ein Rechtsgespräch anregte.

»Worüber?« fragte der Vorsitzende. »Über die Rechtslage« schlug ich vor – und erntete beunruhigendes Schweigen. Der Vorsitzende sah mich an wie eine Steinlaus unter dem Mikroskop: »Noch Fragen?«. Mein Berliner Kollege auf der anderen Seite wusste genau, wie die Regeln laufen und schüttelte nur stumm den Kopf. »Dann ergeht im Namen des Volkes folgendes Endurteil …«. Im Gespräch auf dem Gang erinnerte ich den Kollegen daran, dass die Richter doch gehalten seien, sich zum Fall selbst zu äußern. Anders könne man doch über Vergleiche gar nicht sprechen usw. »Bei unschlüssig jibts kein' Vergleich« meinte der Kollege trocken.

Wie auch im wirklichen Leben bekommen die Anwälte hier keine zweite Chance einen ersten Eindruck zu hinterlassen.

Der »Berliner Stil«, den ich hier skizziert habe, ist in vieler Hinsicht das Gegenstück zum »süddeutschen Stil«, den Heinz Thomas im besten Sinne verkörperte. Er sieht die mündliche Verhandlung im Zentrum des Prozesses. Dahinter steht nicht nur ein verfassungsrechtliches Ideal (das Recht muss in die Öffentlichkeit wirken und ihr verständlich bleiben), sondern auch eine tiefe Einsicht in die Prozessökonomie: Wie wir aus den jahrhundertelangen Erfahrungen des Reichskammergerichts18 wissen, folgen schriftlich geführte Prozesse der Regel: »Undefinierte Zeit dehnt sich unendlich«! Das Ideal des »Stuttgarter Modells«, Prozesse nur mit einer mündlichen Verhandlung erledigen zu können, ist allerdings nie erreicht worden. Der Grund: Dieses Verfahren gelingt nur, wenn die Relationen im »Berliner Stil« nahezu perfekt ausfällt. Der Süddeutsche Richter müsste also gleichzeitig ein idealer preußischer Richter sein – und diese zwei Stile beherrscht niemand auf dem gleichen hohen Niveau.

Das ist mir in meinen ersten Verfahren als Vorsitzender eines Schiedsgerichts schmerzlich klar geworden. Ich hatte schon einige Erfahrungen als Beisitzer gesammelt, dabei aber nicht ganz realisiert, dass die jeweiligen Vorsitzenden aktive oder pensionierte Berufsrichter gewesen waren und das Verfahren daher (nahezu) genauso führten wie einen staatlichen Prozess. Ich sah im Schiedsverfahren andere Funktionen und versuchte sie umzusetzen: In diesem Verfahren begegnen sich oft Parteien, die immer wieder Auseinandersetzungen miteinander führen müssen, so z.B. ein großer Energieversorger mit einer Kommune, die zu seinen wichtigen Kunden gehört oder ein Industrieanlagenbauer, dessen Vorstand gleichzeitig im Aufsichtsrat des Unternehmen setzt, gegen das seine Leute prozessieren. Ich dachte also: Das Schiedsverfahren dient letztlich nicht der Klärung endgültig streitiger Rechtsfragen, sondern ist ein formaler Weg um zu einem vernünftigen Interessenausgleich zu kommen. Den Unterschied zwischen Mediationen und Schiedsverfahren kannte ich damals noch nicht genügend.

Also bereitete ich mich weniger auf die aufgeworfenen Rechtsfragen vor, sondern widmete mich der Analyse der gegenseitigen Interessen. Die Ergebnisse waren ernüchternd: In der ersten Verhandlung, die die Aufgabe haben sollte, den Parteien Gelegenheit zu geben, ihre Interessen vor dem Gericht auszubreiten, damit wir überprüfen könnten, ob wir sie richtig interpretiert hätten, wurde sehr schnell zu einer Zimmerschlacht. Und das zwang mich, zur Vorbereitung der nächsten Verhandlung fast 30 Seiten Verfügung zu schreiben, in der ich nun das nachholte, was ich besser vorher getan hätte: Eine einigermaßen wasserdichte Relation zu fertigen. Die Reaktion war ein Ablehnungsantrag der Partei, deren Chancen ich zurückhaltend beurteilt hatte. Es folgte die Ehrenrunde über das Oberlandesgericht und wir machten ab diesem Zeitpunkt im »Berliner Stil« weiter. Bei inhaltlich umkämpften Themen ist es anders nicht möglich, wenn man den Prozess straff zu Ende bringen will. Da es heute die Möglichkeit gibt, in jedem Stadium des Verfahrens eine Mediation vor – oder zwischen zu schalten, wird also auch das Schiedsverfahren sich stilistisch eher dem staatlichen Prozess angleichen.

Der Stil des Richters folgt allen diesen Erfahrungen, er entwickelt sich, blüht auf oder verkümmert, je nachdem wie sie ausfallen. Es gibt krasse Fälle, an denen ein Richter zerbricht. Auf dem kurzen Stück der Ludwigstraße zwischen der Bayerischen Staatsbibliothek und der Universität begegnete ich hin und wieder einen Mann, der, auch im Sommer mit einem Mantel bekleidet, mit wirren Haaren und herunter gerutschten Socken im Portal der Staatsbibliothek verschwand und Stunden später offenbar geistesabwesend mit einer Plastiktüte an der Hand wieder nach Norden trottete. Nachdem er mir einmal aufgefallen war, schien er zu den unterschiedlichsten Tageszeiten zum Straßenbild zu gehören. Irgendwann erzählte ich abends von ihm und einer aus der Runde kannte seine Geschichte.

»Das ist ein früherer Richter – aber das ist zehn Jahre her« begann die Geschichte, die mich noch heute tief berührt. »Er hatte ein ganz normales Referat für Scheidungen und nichts an ihm war auffällig, außer seiner Sorgfalt. Er brauchte lange für seine Sachen und vergleichen konnte er nicht sehr gut, denn wenn die Parteien nach der ersten freundlichen Ansprache die Köpfe schüttelten, fasste er nie nach, sondern schrieb lieber sein Urteil. Eines Tages stritten die Parteien um das Besuchsrecht und es wurden Zeugen vernommen, ob es dem Vater endgültig entzogen werden solle. Das Jugendamt hatte nicht diesen Eindruck, und drei Zeugen wussten nichts Negatives zu berichten. Nur die Schwiegermutter schüttete einen Haufen der ekelhaftesten Behauptungen über ihn aus. Die meisten Zeugen lernen, dass ihre Aussage glaubwürdiger ist, wenn sie nicht herum geifern, aber dafür reichte es hier nicht. Der Richter hielt ihr vor, dass ihre Aussage allein im Raum stünde und kündigte an, sie zu vereidigen, was im Zivilprozess nahezu nie stattfindet. Ein ernsteres Warnzeichen konnte er nicht geben. Und die Alte wiederholt tatsächlich alles, was sie gesagt hat und hebt zitternd den Finger. Aber da unterbricht sie der Richter, schließt die Sitzung, noch bevor sie alles falsch beschwören kann, und zieht seine Robe aus. Er hat sie nie wieder angezogen.«

  • 1. Das umkämpfte Thema ist bis heute nicht endgültig abgeschlossen, wie die jüngste Entscheidung BGH, NZV 2010,21 zeigt.
  • 2. Herbert Rosendorfer, Briefe in die chinesische Vergangenheit, 3. Auflage 1986.
  • 3. Foerste, Parteilichkeit von Zeugen, NJW 2001,321.
  • 4. NJW 1987, 1425 unter Hinweis auf Amtsgericht Köln, NJW 1906. 80, 1266 und Landgericht Köln, NJW 19 87, 1421.
  • 5. Thomas/ Putzo, Kommentar zur ZPO, C.H. Beck 34. Auflage 2013.
  • 6. Hermann Staub (1856 – 1904), wissenschaftlich hochbegabter Rechtsanwalt aus Berlin, prägte diesen Begriff in der Festschrift zum Deutschen Juristentag 1902. In der Schuldrechtsreform 2002 wurde er erstmals förmlich in das BGB aufgenommen.
  • 7. Ernst Fuchs (1859 – 1929), Hermann Kantorowitz (1877-1940) u.a. kritisierten unter diesem Begriff den am Buchstaben haftenden Rechtspositivismus.
  • 8. Über diese und weitere Richter: Benno Heussen, Interessante Zeiten – Reportagen aus der Innenwelt des Rechts – Boorberg 2013.
  • 9. Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung – eine rationale Analyse CH Beck 1999 Seite 70 ff.
  • 10. Einführung in das juristische Denken, Stuttgart 10. Auflage 2005.
  • 11. Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp. Suhrkamp 2001,
  • 12. François VI. Duc de La Rochefoucauld(*1613-1680), Maximen (Nr. 71), Lambert Schneider 2011.
  • 13. Gerd Gigerenzer, Bauchentscheidungen, Goldmann 2008.
  • 14. Er lebte 1776-1822 und war nach früheren juristischen Tätigkeiten von 1819-1822 als Kammergerichtsrat Mitglied der Immediatkommission, die u.a. Staatsschutzdelikte zu untersuchen hatte.
  • 15. Sagenumworbener Sufi-Meister aus Anatolien (ca. 1200 n. Chr).
  • 16. Hier ist die Vereinfachungsnovelle zur ZPO von 1977 gemeint. Der gleiche Begriff wird auch für ein steuerliches Gestaltungsmodell im Erbrecht sowie eine Variante der Juristenausbildung verwendet.
  • 17. Ulrich Enzensberger: Die Jahre der Kommune I 1967-1969, Kiepenheuer 2004.
  • 18. Das Reichskammergericht hatte die Aufgabe, den Landfrieden (Streitigkeiten zwischen Fürsten et cetera) zu sichern und entschied zwischen 1495 und 1806 auch über die Appellation in »Untertanenprozessen«. Es galt der Schriftlichkeitsgrundsatz. Die Prozesse zogen sich oft jahrzehntelang hin und über dauerten die Lebenszeit der Prozessbeteiligten. J.W. von Goethe schildert diese praktische Ineffizienz beim Bericht über seine Referendarzeit ( Dichtung und Wahrheit, Teil III, 12. Buch, Hamburger Ausgabe C.H. Beck Bd. 9 Seite 524 ff.): »Man begreift oft nicht, wie sich nur Männer finden konnten zu diesem undankbaren und traurigen Geschäft. Aber was der Mensch tagtäglich treibt, lässt er sich, wenn er Geschick dazu hat, gefallen, sollte er auch nicht gerade sehen, dass etwas dabei herauskomme. Der Deutsche besonders ist von einer solchen ausharrenden Sinnesart und so haben sich drei Jahrhunderte hindurch die würdigsten Männer mit diesen Arbeiten und Gegenständen beschäftigt...« (Seite 528). Die wissenschaftliche Analyse belegt jedoch einen wichtigen strukturellen Beitrag für die Rechtspflege: Peter Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich: Zuständigkeitsstreitigkeitenund Instanzenzüge, Böhlau, 2012; Klaus-Peter Schroeder: Mythos, Wirklichkeit und Vision: Die Geschichte vom langen Leben und Sterben des Heiligen RömischenReiches Deutscher Nation, JuS 2006, 577; Maike Huneke: "Von Execution und Vollnziehung der Urtheil", DGVZ 2010, 141.