Wenn das Wasser fällt, zeigen sich die Klippen – Gedanken zur Coronakrise
1Die Coronakrise hat uns zwei Jahre fest im Griff gehalten. Heute, Ende 2023, gibt es keine öffentlich-rechtlichen Maßnahmen, die uns gegen die Seuche schützen sollen, aber auch deshalb flackert sie hier und dort wieder auf. Wäre es nicht gelungen, Impfstoffe zu entwickeln, stünden wir vor einer Lage, die wir kaum bewältigen könnten. Hier ein Rückblick und einige Schlüsse, die wir aus den Ereignissen ziehen können.
- 1. Fledermäuse mit Chilli und frischem Fledermausblut
- 2. Lockdown: Zeit und Leere
- 3. Covid 19 und die politische Verantwortung
- 4. Rechtliche Eingriffsmöglichkeiten
- 5. Risiken und Chancen – Impfstrategien und Impfpflicht
- 6. Verschwörungstheorien
- 7. Kommunikation und Medien
- 8. Asien und Europa – kulturelle Differenzen
- 9. Flexible response: Das ICH und die Gesellschaft
- 10. Entscheidungen und Alternativen
- 11. Moral und Recht in der Krise
- 12. Wirtschaft und soziales Leben: Die Weisheit der Vielen
- 13. Verluste und Gewinne
- 14. Politische Klippen in Europa
- 15. Verrohte Sitten
- 16. Politische Korrektheit
- 17. Die Zukunft
- 18. Die Schule der Achtsamkeit
- 19. Das Gaia-Konzept
1. Fledermäuse mit Chilli und frischem Fledermausblut
Wuhan, Provinz Hubei, China, Anfang Januar 2020. Wie immer um das chinesische Neujahr herum kaufen die Leute neben den Dingen für den Alltag seltene Delikatessen, die es nur auf dem wet-market gibt. Der heißt so, weil man viel Wasser braucht, um die Fische, Meeresfrüchte usw., die hier in großen Becken lebend gehalten werden, bis zum Verkauf frisch zu halten. Kein Asiate, der es sich leisten kann, kauft tiefgefrorene Ware, Tiere müssen frisch geschlachtet sein und manche sollten beim Kauf noch leben. Auch Japan pflegt diesen Kult auf hohem Niveau. Winzige Glasaale werden lebend in eine Schale Sake geworfen und dann herunter geschlürft. Ich habe es ausprobiert – es schmeckt nur nach Sake und die geheimnisvollen Wirkungen der Glasaale sollen sich erst in Magen entfalten. Auf den großen Keramikplatten sieht man oft einen gerade tranchierten zitternden Fisch, der noch zu leben scheint, aber was man da sieht, ist nur ein letztes Aufbäumen des Nervensystems. Alle führenden Restaurants haben große Aquarien für Fische, Hummer usw. und zeigen renommierten Gästen in ihrer Küche, dass auch viele andere Dinge gerade erst vom Markt gekommen sind. Z.B. einen Käfig mit flatternden Fledermäusen, einen Korb mit Schlangen und anderen Reptilien, oder zwei katzengroße Schuppentiere (Pangolins) die teils aus Züchtung, teils aus Wildbeständen stammen. Auch Katzen und Hunde können dazugehören. Immer wieder wurde behauptet, in China würden junge Affen lebend in ein Gerät gespannt, ihnen dann die Schädeldecke gespalten, um so das Gehirn des lebenden Tieres zu essen. Kai Strittmatter ist 2013 diesem Mythos nachgegangen2 und fand ihn nicht bestätigt. Aber selbstverständlich werden – trotz aller Verbote – Affen gegessen, nachdem sie geschlachtet worden sind, denn ihnen, wie allen anderen seltenen Tiere, die in China auf den Tisch kommen, schreibt man nicht nur medizinische, sondern auch mythische Wirkungen zu: seltene Tiere haben seltene Kräfte und wenn wir sie essen, übertragen sie diese Energien auf uns.
Zu ihnen gehören auch die Fledermäuse3. Vermutlich wissen Sinologen, warum sie nicht nur in China, sondern auch in Vietnam, Korea und auf pazifischen Inseln in den Topf kommen. Vorher wird ihnen das Blut abgezapft, das es in kleinen Gläsern roh zur Suppe gibt. Die begehrtesten Sorte heißt »Mango-Bat«, weil diese glücklichen Tiere sich nur von Mangos ernähren. Alles Bio! Trotzdem stinken sie ziemlich stark und müssen deshalb mit Knoblauch und Chili scharf gewürzt werden, um den Geschmack zu verdecken. Nun würde man normalerweise denken, dass der Gestank den Menschen davor warnen sollte, so etwas zu essen. Aber warum fühlen die Franzosen sich dann nicht vom Roquefort gewarnt, die Frankfurter nicht vom Handkäs, die Italiener nicht von den Kuttelwürsten? Aus chinesischer Sicht: Der Gestank zeigt, dass die Natur noch nicht durch irgendwelche Veränderungen verfälscht wurde und daher noch alle Heilkräfte enthält, auf die es ankommt.
Der Zusammenhang zwischen Essen und Gesundheit drückt sich am besten in dem chinesischen Sprichwort aus: »Wenn Du etwas isst, das Du noch nie gegessen hast, wirst Du einen Monat länger leben«! Dazu kommt der Reiz des Verbotenen. Viele Tiere, die man in den wet-markets findet, sind geschützt, Jagd, Verkauf und Verzehr verboten4. Reiche und mächtige Kunden können das ignorieren. Und wenn ein Tier – wie z.B. das Rhinozeros – in den unglücklichen Ruf kommt, in seinem aufgerichteten Horn sei die männliche Potenz von der Natur wirksam abgebildet, dann werden diese Tiere bei afrikanischen Wilderern in Auftrag gegeben und müssen sterben. Gesetzliche Verbote und Strafen haben daran nichts geändert. Das tun sie in Asien wie bei uns, leicht zu sehen am Beispiel der Ortolane (Fettammern): Sie werden in Frankreich und Italien heimlich wie Gänse gemästet und wenn sie frisch vom Grill vor dir stehen, ziehst du dir eine Serviette über den Kopf, damit vom Geruch nichts verloren geht. Der sterbende Präsident Mitterrand hat ein solches Gericht verlangt, und unter Bruch aller Gesetze auch bekommen.
Auf den asiatischen Tiermärkten lauern ganz andere Gefahren. Die meisten Tiere sind von Parasiten und Viren befallen, die in gefährlicher Weise mutieren, wenn sie von einer Art auf die andere überspringen. Solche Übertragungen soll es zwischen Fledermaus (auch in Europa5) und Schuppentieren6 gegeben haben und von dort sollen sie auf Menschen übergesprungen sein7. Andere behaupten, ein in Wuhan gelegenes Forschungslabor habe die Viren fahrlässig freigesetzt8. Diese These gilt zwischenzeitlich als besser belegt, aber natürlich kann niemand von uns auch nur annähernd wissen, was richtig ist9: Erste Berichte einer Untersuchungskommission der WHO, die Lage vor Ort Ende 2020 untersucht hat, lassen alle denkbaren Ursachen außer der Erkenntnis offen10: Die Seuche ist in China ausgebrochen, hat das soziale Leben weltweit nahezu überall lahmgelegt oder stark beeinträchtigt und erheblichen psychologischen und wirtschaftlichen Schaden ausgelöst, den die meisten Menschen selbst tragen müssen.
2. Lockdown: Zeit und Leere
Wer hätte ein weltweites soziales Experiment dieser Art erfinden können, das für jeden von uns die Relativität von Zeit und Raum erfahrbar macht? Wenn es irgendetwas gibt, was Menschen charakterisiert, dann ist es die Notwendigkeit, stets mit anderen Menschen in möglichst engen Kontakt zu bleiben. Mit wenigen Ausnahmen genießen wir die Nähe anderer Menschen. Und jetzt: Morgens gibt es keinen Autolärm mehr auf den Straßen. Die Radfahrer ziehen still ihre Kreise. Die Leute sprechen gedämpft. In Italien und Spanien prostet man sich über die Balkons zu und macht Musik, in Deutschland versuchen einige es verschämt und lassen es dann bald. Wir haben Zeit. Aber das ist kein Vergnügen, denn vor allem haben wir Angst – ganz ähnlich wie unsere Eltern und Großeltern, die sich in ihren Luftschutzkellern aneinanderklammerten. Wir wollen raus! Niemand kann stundenlang vor dem Fernseher sitzen, selbst wenn er sich dabei betrinkt. Was tun? Vielleicht mal die Fünf Tibeter ausprobieren? Aufräumen! Das hört schnell auf, wenn man merkt, dass man nicht die innere Kraft hat, das Überflüssige zu entsorgen. Jedes einzelne Buch nimmt man die Hand und legt es dann wieder hin. Du telefonierst. Du schickst lustige Videos über WhatsApp an Leute, die nichts zu lachen haben. Täglich siehst Du Deine Kontoauszüge an, wie das Geld etwas weniger wird und zwar ohne dass Du besonders viel ausgibst. Jetzt würdest Du spaßeshalber gern mal in die Kirche gehen und ein paar Kerzen anzünden, stattdessen füllst Du Lottoscheine im Internet aus – vielleicht hilfts? Aber auch reiche Leute sterben! Das ist ja alles absurd. Oder ins Museum: der Weißbärtige Mann – ein berühmtes Bild, schon lange nicht mehr gesehen, oder überhaupt jemals gesehen? Nur bei Thomas Bernhard nachgelesen? Ich fange an zu kochen. Es schmeckt nicht. Man schläft schlecht ein und wacht zerschlagen auf. Die Routinen, der sichere Teppich, auf dem jedes Leben steht, wird allen unter den Füßen weggezogen. Bleibt das so? Man gewöhnt sich an alles, auch an das Gefängnis sagt Albert Camus11. Im Mai 2021 dachten wir, all diese Erfahrungen lägen jetzt weit hinter uns: Stehen sie uns wieder bevor? Im Mai 2022 hat die Situation sich insgesamt entspannt und wir können hoffen, dass es im Herbst nicht wieder neue Restriktionen und neue Varianten des Virus gibt.
3. Covid 19 und die politische Verantwortung
Politik ist der Machtkampf zwischen Personen um die Ideen, mit denen sie die Welt interpretieren und die sie durchsetzen wollen. Ihr wichtigstes Werkzeug ist die Kommunikation. Rechtsstaatlich organisierte Demokratien mit Gewaltenteilung – wie sie in Deutschland seit 1949 eingerichtet ist – verteilen diese Machtkämpfe auf drei Gewalten: Das Parlament, die Exekutive und die Gerichte. Die Krise ist die Stunde der Exekutive, das Parlament ist die Plattform der Debatte, die Exekutive hat deren Entscheidungen umzusetzen und darf sie wegen des Gesetzesvorbehalts (Art. 20 Abs. 3 GG) nur im Notfall durch eigene Maßnahmen ersetzen. Die Gerichte prüfen die Übereinstimmung der Regierungsentscheidungen mit den Gesetzen.
Die deutsche Bundesregierung hat nach anfänglichem Zögern und fachlich richtig beraten flächendeckende Maßnahmen eingeführt (Lockdown), um die Übersicht zu gewinnen. Tatsächlich besteht die erste Aufgabe einer Regierung darin, die Komplexität so zu reduzieren, dass der Kern des Problems erkannt werden kann und nicht im Nebel der unsinnigsten Argumente verloren geht. Deshalb haben die meisten Menschen in der ersten Phase der Krise den Beschränkungen überwiegend zugestimmt. Kaum jemand hat gewagt zu fragen, ob auch in einem solchen Ausnahmezustand jedes denkbare Grundrecht für eine gewisse Zeit ausgesetzt werden kann. Es war jedem klar, dass viele Notmaßnahmen deshalb sehr grob ausfallen mussten, damit sie überhaupt verstanden werden konnten. Man kann das mit der Überlegung rechtfertigen, dass in einer in jeder Hinsicht unklaren Situation12 nichts anderes hilft als Versuch und Irrtum, begleitet von der unbedingten Bereitschaft, jede Maßnahme jederzeit wieder auf den Prüfstand zu stellen und zu verändern. Dabei gilt die bewährte Entscheidungsregel:
Wenn es mehrere Alternativen gibt, entscheide Dich für diejenige, die das Spektrum der Möglichkeiten für spätere Entscheidungen erweitert.
Die schwedische Regierung hat sich dazu entschieden, die Immunität der Bevölkerung mithilfe der »Durchseuchung« herzustellen. Ein lockdown hat nicht stattgefunden. Im November 2021 waren die Todeszahlen dort (relativ zur Bevölkerungszahl), geringer als bei uns (Deutschland: 1,9 / Schweden: 1,27)13. Im Mai 2022 gab es in den USA: 3052, in Italien 2715, in Schweden 1.835, in Deutschland 1.613 Tote pro Million Einwohner. Die Differenz zwischen Deutschland und Schweden ist relativ gering. Hätten wir eine offenere Politik entwickeln sollen?
Eine Entscheidung über diese Möglichkeit hätte nicht die Regierung, sondern der Bundestag treffen müssen14. Die große Debatte über die Möglichkeit, das schwedische oder gar das asiatische Modell auch bei uns anzuwenden, hat jedoch nicht stattgefunden. Nur in der außerparlamentarischen Debatte ist darüber gesprochen worden – aber das war verfassungsrechtlich der falsche Platz. Hier hätte das Parlament sich klarer durchsetzen müssen. Nur in einer solchen Debatte hätten wir in aller Offenheit darüber sprechen können, ob wir das Risiko, dass die schwedische Gesellschaft offenbar akzeptiert, auch selbst zu tragen bereit sind. Vermutlich wäre dabei keine andere Entscheidung herausgekommen, als die Regierung sie getroffen hat, denn in Deutschland sind wir stets geneigt, die Sicherheit der Freiheit vorzuziehen. Vor allem aber hätte man die Entscheidungen der Bundesregierung nicht als alternativlos empfunden. Man hätte auf der einen Seite das schwedische, auf der anderen Seite das asiatische Modell gesehen und vielleicht verstanden, dass wir irgend eine Mittellösung suchen müssen, von der aber nicht nur eine Variante relevant gewesen wäre.
Der fehlerhafte Eindruck der Alternativlosigkeit wurde auch durch eine selektive Informationspolitik im statistischen Bereich unterstützt: Zwar gibt es eine »Übersterblichkeit«, aber sie ist sehr gering und wird hinter der Zahl »verstorben an oder mit Covid 19« sorgfältig versteckt. Die tiefste Sorge der Bundesregierung war es, dass die Zahl der Betten auf Intensivstationen nicht ausreichen und wir bei uns ähnliche Verhältnisse vorfinden würden wie in Norditalien. Diese Bilder vor Augen waren ihre Entscheidungen in den ersten Monaten grundsätzlich richtig. Dann aber sehen wir auch die ersten Fehler.
Es gibt vier Grundregeln (4E), die im Fall einer Seuche unter allen Umständen angewendet werden müssen15:
- Erkennen, was passiert
- Eingrenzen, was passiert
- Erforschen, was passiert
- Eliminieren, was als nächstes passieren könnte.
Jede politische und rechtliche Maßnahme, die die Regierung traf, mußte von diesen Regeln und von der Frage geleitet werden, ob man sich auf die einzelnen Erkrankungsfälle und ihr Umfeld oder auf allgemein wirksame Maßnahmen konzentrieren solle. Nicht nur verfassungsrechtliche Gründe, sondern auch die politische Klugheit musste der Regierung sagen, dass ihre Maßnahmen sich mehr auf den Einzelfall richten mussten: Verdachtsfälle und Kranke hätten konsequent isoliert werden müssen, für die Allgemeinheit wäre die Regel des Abstandhaltens und der Maskenpflicht unter allen Umständen ausreichend gewesen, um die Sensibilität für das Problem so lange wach zu halten, wie es erforderlich ist.
Im Krisenstab der Bundesregierung fehlten offensichtlich die Psychologen, die den Fachleuten überzeugend hätten vermitteln können, wie ihre Botschaften auf die Bevölkerung wirken. Ein Beispiel: Ganz zu Beginn sagten die Fachleute, dass die Gesichtsmasken keinen besonderen Schutz böten und so hat man eine Pflicht zum Tragen der Masken gar nicht erst erwogen. Tatsächlich aber geht vom Tragen einer Maske ganz unabhängig von ihrer Wirksamkeit eine hohe Warnwirkung aus, die gleichzeitig für das Abstand halten sorgt. Das hat man viel zu spät erkannt. Auch die Bedeutung der Selbsttests ist unterschätzt worden. Natürlich sind sie nicht so aussagekräftig wie andere Testmaßnahmen, und natürlich gibt der Test nur die Lage an dem Tag und der Stunde wieder, in der er vorgenommen wurde, aber er identifiziert zahllose Kranke und Verdachtsfälle und beeinflusst so nicht zuletzt auch die statistische Wahrnehmung.
4. Rechtliche Eingriffsmöglichkeiten
Die Chinesen – und ihnen folgend viele asiatische Länder – haben die oben beschriebenen Regeln befolgt und dabei keine Rücksicht auf Grundrechte Einzelner genommen, die dort wahrscheinlich ebenso wie bei uns in den Verfassungen stehen, aber in der Praxis keine Rolle spielen. In Deutschland und vielen europäischen Ländern hat man das nicht nur als rechtlich unzulässig empfunden, sondern auch als politisch unklug. Obwohl das Infektionsschutzgesetz (vor allem §§ 16, 28 ff.) und die zahllosen Covid 19 – Einzelgesetze eine – auch verfassungsrechtlich zulässige – Handhabe für jeden Einzeleingriff bieten16: Die Krankheit ist seit Anfang 2020 meldepflichtig (§ 1 Abs. 1 Nr. 1.t) und die Grundrechte des Einzelnen können genauso wie bei Pest und Cholera bis hin zur Impfpflicht17 eingeschränkt werden.
Um vor allem die zweite Regel zu befolgen, hätten spätestens ab Mitte 2020 die Kapazitäten bei den lokal zuständigen Gesundheitsämtern drastisch erhöht werden müssen. Das wäre durch zeitweilige Versetzung von Amtsärzten, durch Beamte und Angestellte aus dem öffentlichen Dienst oder die Betriebsärzte in Unternehmen möglich gewesen, die – etwa wie die Bundeswehr – über solche Kapazitäten verfügen. Verglichen mit den Unsummen, die in die Wirtschaft gesteckt worden sind, hätte das nur relativ wenig Geld gekostet.
Nur die Gesundheitsämter können bei uns eingreifen und sie sind mit Ihren Problemen überwiegend allein gelassen worden. Der Vorteil gezielter und wirksamer Einzeleingriffe bei Verdacht oder Bestätigung einer Infektion ermöglicht es, die nicht infizierten Teile der Bevölkerung (und das sind die meisten) nur in geringerem Maße einzuschränken. Dazu gehört z.B. der Mundschutz. Aber ein ganzes Land mit Maßnahmen überziehen, die sich überwiegend auf statistische Erkenntnisse stützen, das lokale Geschehen aber außeracht lassen und vor allem den Mittelstand gewaltig unter Druck setzen? Wenn wir nur auf die Statistik sehen, können wir jede Maßnahme für alternativlos erklären, entscheidend ist aber, unter welchen Bedingungen die Ansteckungsgefahr größer wird. Ich verstehe, dass man ein Fitnessstudio schließt, aber warum ein Museum oder eine Kirche, in der man die Abstandsregeln gut einhalten kann? Unzählige Vorschläge dieser Art werden öffentlich diskutiert, aber die Politiker scheinen nicht zuzuhören.
Offensichtliche Fehlleistungen zeigen sich auch bei der Verteilung der Impfdosen. Die Solidarität in Europa bindet uns die Hände, wir müssen nach einer gemeinsamen solidarischen Lösung suchen. Dass Ungarn und die Tschechei sich daran nicht halten wollen, kann uns kein Vorbild sein. Aber warum wir – als die Impfstoffen noch knapp waren – wochenlang über Prioritätenlisten gesprochen, anstatt diese Beurteilung den niedergelassenen Ärzten zu überlassen, Impfstationen in jedem Krankenhaus zu eröffnen und das rund um die Uhr? Stattdessen errichtete man riesige Zentren, in denen wegen des Personalmangels alte Leute stundenlang in der Kälte ausharren müssen. Warum entsteht der Eindruck, die Regierung mache alles falsch und ignoriere auch die naheliegensten Hinweise aus der Presse oder der Bevölkerung?
Die innereuropäische Koordination hat uns stark zurückgeworfen, weil man ein Rattenrennen um die begrenzte Menge von Impfstoffen vermeiden wollte. Davon haben alle profitiert, die sich nicht an diese Regeln gehalten haben. Wie so oft in Deutschland haben sich auch hier die Nachteile der Bürokratisierung niedergeschlagen. Warum hat man nicht wie in zahllosen anderen Staaten ein leistungsfähiges Projektmanagement eingerichtet, um wenigstens in der Frage der Verteilung der Impfdosen faire Entscheidungen vorzubereiten? Projektmanagement besteht aus der Entwicklung von Konzepten, Festlegung der notwendigen Budgets, der Auswahl von Menschen und ihrer Kontrolle. Nur so ist es möglich, Komplexität zu reduzieren und sachgerechte Entscheidungen zu treffen. Statt eines Projektmanagements hat die Bundeskanzlerin sich dafür entschieden, eine ständige Gesprächsrunde mit den Ministerpräsidenten der Länder einzurichten. Daran wäre nichts aussetzen, wenn sie gleichzeitig von ihrer Kompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG Gebrauch gemacht und auf diese Weise klargestellt hätte, dass die Verantwortung für alles, was geschieht, bei der Bundesregierung liegt und die Länder nur einen gewissen Spielraum bei der Ausführung von deren Entscheidungen haben. Stattdessen diskutierte man über die Haftungsrisiken für Impfschäden, die in jedem Fall nur einen Bruchteil der Schäden verursachen können, die die Unterlassung des Impfens uns beschert.
Der SPIEGEL hat in seinem Heft 12/21 einen Überblick über diese Fehler gegeben, der schwer zu entkräften ist. Wir versuchen, unsere politische Fantasielosigkeit mit viel Geld auszugleichen, eine Möglichkeit, die andere Länder nicht haben. Aber irgendwann werden auch diese Ressourcen erschöpft sein. Trotz all dieser Fehlentscheidungen steht Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern, von denen wir annehmen können, dass ihre gemeldeten Zahlen der Wirklichkeit entsprechen, immer noch relativ gut da. Aber die Höhe der Zeche, die wir am Ende werden bezahlen müssen, ist noch nicht bekannt.
5. Risiken und Chancen – Impfstrategien und Impfpflicht
Das Coronarvirus ist erheblich aggressiver als die bisher bekannten Grippeviren, denn es greift nicht nur die Lunge, sondern gleichzeitig auch alle anderen lebenswichtigen Organe an – im ersten Jahr haben unzählige Menschen mit dem nackten Überleben gekämpft. Entgegen früheren Erwartungen haben überraschend viele Pharma-Unternehmen Anfang 2021 Impfstoffe vorgestellt, die offenbar wirksam sind, auch wenn wir die Langzeitwirkungen nicht einschätzen können. Nur so konnte die dritte Welle, die im Frühjahr 2021 begann, in den Griff gebracht werden, aber beim Einsatz der vierten Welle im Herbst 2021 war die Zahl der Geimpften nicht hoch genug, um zu verhindern, dass die Inzidenzzahlen in einen gegen über 1000 liegen! Zwar sind wir immer noch weit entfernt von der Spanischen Grippe, die – ausgebrochen in den USA – zwischen 1918 und 1920, mindestens 30 Millionen, möglicherweise 100 Million Tote forderte (1,5 - 3 % der Weltbevölkerung). Heute (November 2021) gibt es 5,1 Million Tote weltweit18. Trotzdem: Bis auf weiteres werden viele weiterhin von Todesrisiken bedroht sein, denn es trifft nicht nur die Alten, sondern vor allem auch Menschen mit niedrigem sozialen Status, schlechter sozialer Integration und Beschädigungen in den ersten Lebensjahren. Diese drei Faktoren bestimmen die Krankheitsverläufe tiefer, als wir bisher ahnten, denn wir treffen sie auch im Allgemeinen unter Säugetieren, wie neuere Forschungen zeigen19. Nur anders als die Tiere können wir sie sozialpolitisch beeinflussen.
Entscheidend ist die Frage, ob Impfstoffe ein hohes Gefahrenpotenzial beinhaltenund möglicherweise deshalb nicht flächendeckend eingesetzt werden dürfen. In diesen Diskussionen werden ernstzunehmende Argumente mit absurden Thesen bis hin zu den oben schon geschildert Verschwörungstheorien so vermengt, dass niemand mehr weiß, wo er Boden unter den Füßen hat. Dies, obwohl bisher Langzeitrisiken bei Impfungen im allgemeinen nicht beobachtet wurden und auch die Corona Impfstoffe kein anderes Bild ergeben20.
Die Gegenposition fordert eine Impfpflicht – wenigstens für bestimmte Berufsgruppen – wie sie z.B. für Pest und Cholera niemals bestritten worden ist und teilweise bereits eingeführt wurde21 und in vielen Ländern diskutiert wird. Dafür hätten wir (wie oben gezeigt) ausreichende gesetzliche Grundlagen, diese Gesetze werden aber nicht angewendet. Der Grund: Die Gegner einer Impfpflicht äußern sich in den sozialen Medien so kritisch und engagiert, dass die Befürchtung besteht, dies könne sich in unplanbare Weise auch politisch auswirken. In dieser Lage ist es die Aufgabe jeder Regierung, hinreichend klare Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie angegriffen wird. Stattdessen versucht die Regierung seit fast zwei Jahren, die unvereinbaren Positionen irgendwie miteinander zu koordinieren – und scheitert daran offensichtlich. Wer Verschwörungstheorien mit der Aufforderung zu bekämpfen versucht, man müsse über alles reden, wertet sie damit soweit auf, dass sie nicht mehr wirksam bekämpft werden können.
6. Verschwörungstheorien
Gibt es überhaupt eine Coronakrise, oder sind wir einem von den mediengetriebenen Fehlalarm aufgesessen? Das behauptet ein Beamter des Innenministeriums in einer unveröffentlichten Studie22. Einige Fakten, die von kritischen Journalisten gesammelt worden sind23, legen diesen Verdacht nahe (einige von ihnen, wie z.B. der Swiss Policy Research müssen allerdings selbst kritisch gesehen werden, weil sie aus bestimmten politischen Positionen heraus argumentieren, ihr Impressum nicht offenlegen usw. aber die Links, auf die sie hinweisen, kann man nicht einfach mit dem gleichen Argument entwerten). Die Diskussion über die Ursachen und geeignete Maßnahmen zur Beherrschung der Seuche wird dadurch nicht einfacher, dass sie von Politikern wie Donald Trump schamlos für ihre eigenen Zwecke ausgenutzt worden sind, indem sie allein den Chinesen die Verantwortung zuweisen. Die chinesischen Behörden bestreiten das, und ihre Retourkutschen wirken traurig und billig: Nicht sie, sondern US-amerikanische Soldaten hätten im Oktober 2019 in Wuhan einen Kongress abgehalten, und so das Virus dort eingeschleppt24.
Wer Verschwörungstheorien entwirft, sollte sie an der Regel prüfen: »Was durch Dummheit angemessen erklärt wird, kann man nicht als Bösartigkeit betrachten« (Hanlons Razor)25. Absurd sind daher Vorwürfe wie etwa gegenüber Bill Gates, er und eine Handvoll Verschwörer unterstützten die Seuche, um Impfstoffe verkaufen zu können: Diese Stiftung verkauft keine Impfstoffe, sie vertritt nur die Ansicht, dass Impfen vernünftig ist und will dafür sorgen, dass sie in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen. Darüber kann man streiten und man kann auch sehr kritisch darüber nachdenken, dass der Etat der Weltgesundheitsorganisation WHO zu über 70 % aus privaten Spenden finanziert wird, hinter denen die Interessen der Pharmaindustrie stehen. Bei der Schweinegrippe 2010 (Pandemie H1N1 2009/10) hat das unter anderem dazu geführt, dass die Bundesrepublik aufgrund der Alarmrufe der WHO bei GlaxoSmithKline Impfstoffe für 200 Millionen $ angekauft hat, die später vernichtet werden mussten, weil es keine Seuche gab.
Noch seltsamer klingen die Stimmen derer, die behaupten, bei solchen Impfungen könnten Mikroorganismen oder sogar Kleinstcomputer in die Blutbahnen geschleust werden, die es irgendwem ermöglichten, uns automatenhaft zu überwachen. Es gibt zahllose wissenschaftliche Untersuchungen26 über die Frage, unter welchen Umständen Menschen sich geneigt zeigen, eine Verschwörungstheorie zu unterstützen. Viele dieser Leute haben wenig analytische Fähigkeiten, halten sich aber für Individuen mit ganz außergewöhnlichen Einsichten, die der Mehrheit nicht zugänglich sind. Sie sind Esoteriker, wir anderen stehen vor dem Vorhang und können das verschleierte Bild zu Sais nicht sehen. Wer irgendwann einmal begriffen hat, dass unser gesamtes Wissen immer nur einen Bruchteil von dem darstellt, was möglicherweise relevant ist, und dass jeder einzelne von uns von diesem Bruchteil wiederum nur homöopathische Dosen mitbekommt, wird die Vorstellung, er könne sich bestimmte Dinge endgültig erklären, einfach von der Bettkante stoßen. Diese Leute aber kommen ohne die anmaßende Idee nicht aus, irgendwo müsse das Herrschaftswissen doch liegen, man müsse es nur finden.
Daneben werden törichte und teilweise rassistische Vorwürfe gegenüber den Asiaten laut27. Der Hinweis auf ihre Essgewohnheiten gehört zu den kulturellen Routinen, mit denen einzelne Völker sich von anderen unterscheiden: Italiener sind »Spaghettis«, Deutsche werden von Engländern als »krauts« bezeichnet, Franzosen als »frogs«, Holländer als »Käsköppe«, Koreaner als »Hundefresser«. Dann müssen auch die Chinesen es aushalten, wenn man sie als »Fledermausesser« apostrophiert. Pauschale Behauptungen der Art, die meisten in den letzten Jahrzehnten aufgetretenen Epidemien stammten aus China, sind – wie Prof. Dr. Paul Robert Vogt (Schweiz) zeigt – unrichtig28:
»die Spanische Grippe war in Tat und Wahrheit eine Amerikanische Grippe, HIV kam aus Afrika, Ebola kam aus Afrika, die Schweinegrippe aus Mexico, die Cholera-Epidemie der 60er-Jahre mit Millionen von Toten aus Indonesien und MERS aus dem Nahen Osten mit Zentrum Saudi-Arabien.«
Die Chinesen haben Anfang Dezember 2019 die WHO über die sich anbahnende Seuche informiert, als sie – nach offizieller Meldung – 41 Kranke mit unklarer Diagnose hatten und keinen einzigen Todesfall aufzuweisen hatten. Die WHO untersucht gerade, ob diese Meldung zu spät kam. Nicht nur in China, auch in Taiwan wurden eine Vielzahl von Maßnahmen eingeleitet die die Zahl der Ansteckungen und Toten schnell reduzierte29. Selbst wenn in diesen Zahlen erhebliche Fehler enthalten wären (wofür manches spricht30) könnte man den Erfolg nicht leugnen. Interessanterweise werden in den uns zugänglichen Statistiken die Zahl der Erkrankungen und Toten nicht auf die Bevölkerungszahl bezogen31 (dazu näher unten). Zweifellos hat man frühzeitige Erkenntnisse über die Ausbreitung derartiger Epidemien ignoriert. Der Bundesregierung lagen entsprechende Erkenntnisse und Maßnahmenkataloge spätestens seit 2013 vor32. Sie blieben in der Schublade. Keine europäische Regierung hat die Informationen aus China ernst genommen und allein der Gedanke, wir könnten die in China selbstverständlichen Überwachungsmaßnahmen hier für richtig halten, hat auch andere Möglichkeiten im Keim erstickt.
7. Kommunikation und Medien
Aus Italien sind uns Anfang 2020 Bilder gezeigt worden, die wir hier zuletzt 1945 gesehen haben. Später kamen ähnliche Reportagen aus USA und Brasilien. Das kollektive Unterbewusstsein erinnert sich an »Krieg, Hungersnot und Pest«, es denkt an die sieben Plagen der Endzeit aus der Offenbarung des Johannes und nimmt plötzlich wieder die im Land aufgestellten Pestsäulen, Kapellen und andere Erinnerungssorte wahr. Die Regierungen sind im besten Fall fähig, zu reagieren, aber sie haben das Ruder nicht in der Hand. Wir können solche Situationen nur als Ausnahmezustand interpretieren – und das kommt der Wahrheit leider sehr nahe. Wenn der Tod mit seiner knöchernen Hand tatsächlich nach uns greift, denken wir nicht zuerst an Freiheit, sondern an Sicherheit, geläufige Begriffe, die uns von Peter Sloterdijk so übersetzt werden33: Es geht um die «Machtergreifung der ‹Securitokratie› unter dem Deckmantel der ‹Medicokratie›». Es droht uns die «Unterwerfung unter die medico-kollektivistische Diktatur». Was würden wir ohne unsere Smartphones und das Internet tun? All diese Systeme konnten sich erst entwickeln, nachdem wir über unzählige Hardware – und Softwaresysteme einen Grad von Connectivity erreicht haben, der uns aus ganz anderen Gründen immer wieder Sorgen macht.
Die Frage, ob wir die Covid 19 Krise als beiläufiges Ereignis oder als existenzielle Bedrohung empfinden, hängt in erster Linie von der Art und Weise ab, wie uns die Tatsachen vermittelt werden. Jedenfalls ist es nicht irgendeine Variante einer Atemwegserkrankung, die überwiegend alte Leute betrifft, denn das Virus greift auch gleichzeitig Leber, Nieren und andere lebenswichtige Organe an. Deshalb sterben auch viele junge Leute und nicht nur ältere Menschen mit Vorerkrankungen.
Dass unsere Reaktion auf das Virus mit der Art und Weise zusammenhängt, wie es in der Presse und den Medien dargestellt wird, liegt auf der Hand. Viele deutsche Journalisten haben ihre Aufgabe vor allem darin gesehen, die Menschen zu schützen. Nachdem die Regierung sich für drastische Maßnahmen entschieden hat, wäre es aus dieser Sicht allzu verwirrend für die Menschen gewesen, aus der Presse ständig kritische Stimmen zu hören. Aber tatsächlich ist die wichtigste Aufgabe eines Journalisten die Recherche und Aufbereitung der Tatsachen und nicht das Durchsetzen der eigenen Meinung. Nur wenige Zeitungen – darunter vor allem die New York Times, die Neue Züricher und hin und wieder der SPIEGEL folgen dieser Linie. Wenn die kritischen Stimmen Recht behalten, die in der ganzen Covid 19 Krise einen Fehlalarm sehen, könnte sich das Bild sehr viel schneller ändern als bisher angenommen.
Ich kenne bisher (November 2021) nur vier relativ junge Männer, die eine Covid 19 – Erkrankung erlebt und ohne wesentliche Folgen überlebt haben. Niemand in meiner Umgebung ist schwer erkrankt oder gestorben, aber die überwiegend alten Menschen, die ich kenne, haben das Problem von Anfang an sehr ernst genommen. Was wir über das Virus (und seine möglichen Varianten) wissen, erfahren wir aus den Medien, die seltsam gleichgeschaltet wirken. Vielleicht beruht das auf der Tatsache, dass wir es hier nicht mit einem privaten, sondern mit einem öffentlichen Risiko zu tun haben. Wer sein Auto besteigt riskiert sein Leben genauso, wie im Zug oder im Flugzeug. Kommt es zu einem Unfall, trägt jeder das Risiko im Auto selbst, dass er steuert, während die Verantwortung für Unfälle mit öffentlichen Verkehrsmitteln Risiken der Allgemeinheit sind, die darauf ganz anders reagiert. Genauso ist es mit Krankheiten: Für den individuellen Tumor der anderen fühlen wir uns nicht verantwortlich, wohl aber für Krankheiten, die uns selbst gefährden. Sie sind durch die Infektionsschutzgesetze geregelt und für deren Umsetzung sind die Regierungen verantwortlich. Eine wichtige Aufgabe der Regierung wäre es, die Teile der Bevölkerung, die dazu nicht imstande sind, in ihre Maßnahmen aktiv mit einzubeziehen (der asiatische Weg).
Solche Stimmen waren am Anfang sehr vereinzelt. Offenbar haben viele Journalisten sich gesagt: Die Maßnahmen der Regierung erscheinen uns sinnvoll und wir sollten dagegen nicht kritisch anschreiben. Da es auch im Parlament keine Gegenstimmen gab, haben wir eine – sonst selten zu erleben – Übereinstimmung aller vier Gewalten zu sehen bekommen. Für die Anfangsphase der Krise war das gewiss richtig, aber jetzt (November 2021) hat die Situation sich gedreht. Jetzt geht es um die sehr viel differenziertere Frage, welche Öffnungsmaßnahmen gerechtfertigt erscheinen. Wie können wir das Heft wieder in die Hand bekommen, um den Ausnahmezustand zu steuern?
Slavoj Žižek sieht in alter marxistischer Tradition wieder einmal eine Krise als Auslöser für den Sieg eines politischen Systems, das er die »Neuerfindung des Kommunismus« nennt34. Globale Solidarität sei das und werde die Nationalstaaten überwinden. An dieser Idee ist schon die Komintern gescheitert. Immerhin ist ihm klar, dass diese Situation ihn selbst sein Leben kosten kann. So lese ich erstmals leicht verständliche und überzeugende Überlegungen aus seiner Feder: Man muss versuchen, an seinem normalen Leben so gut wie möglich in dem Bewusstsein festzuhalten, dass man auch betroffen sein könnte und diese Gefahr annehmen35. Wer bereit ist, die Konsequenzen seines Handelns zu akzeptieren, hat schon halb gewonnen. Das ist der tiefere psychologische Hintergrund für die Neigung einiger junger Leute, wilde Corona Partys zu inszenieren. Es sind Beschwörungsriten.
8. Asien und Europa – kulturelle Differenzen
Dabei zeigt sich der kulturelle Unterschied zwischen Europa und Asien verblüffend deutlich. China, Taiwan, Südkorea und andere asiatische Länder konzentrieren sich darauf, die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Jetzt, sofort! Die bei uns üblichen und notwendigen Überlegungen, wie weit solche Maßnahmen auf dem Hintergrund unserer Grundrechte gehen können, spielen dort keine Rolle. Worauf beruhen diese Unterschiede?
Unser gesamtes Zusammenleben regelt sich innerhalb eines Spannungsverhältnisses zwischen dem ICH und der Gesellschaft. Die europäische Aufklärung hat dem ICH dabei die zentrale Rolle zugewiesen: Was immer die Gesellschaft von uns verlangt, muss sich an der Frage messen lassen, was am Ende von den individuellen Rechten des Einzelnen noch übrigbleibt. Jede Maßnahme ist rechtlich überprüfbar – und sie wird überprüft! Ganz anders in Asien. Hier richtet sich alles nach der Frage, wie die Gesellschaft ein harmonisches Zusammenleben aller sichern kann36. Das sieht auf den ersten Blick oft so aus, als werde hier der Satz realisiert: »Du bist nichts, Dein Volk ist alles«. So ist er vor allem in der jüngeren japanischen Geschichte der 1930er Jahre missbraucht worden. Kung-Fu-Tse, von dem die Idee stammt, hat aber etwas ganz anderes gemeint: Für ihn dient diese Regel nicht in erster Linie der Gesellschaft selbst, sondern auch jedem einzelnen Menschen. Er ist es, der von der Harmonie zwischen allen profitiert, aber dabei bleibt oft genug von seiner Autonomie nicht viel übrig: Was wir vor allem in China sehen, ist ein Polizeistaat, den wir uns nicht wünschen können. Aus asiatischen Ländern werden erheblich niedrigere Zahlen der infizierten und Toten gemeldet, als wir sie bei uns, in den USA und in Südamerika kennen. Was die gemeldeten Zahlen mit den tatsächlichen Verhältnissen zu tun haben, weiß man bei diesen Ländern allerdings nicht.
Die Rechtsysteme in den asiatischen Gesellschaften geben den Menschen auf dem Papier fast alles, was wir auch im Westen kennen, aber nur wenig davon lässt sich nach aller Erfahrung praktisch umsetzen. Menschenrechte werden dort nur als das Recht verstanden, an der Harmonie aller teilzunehmen. Das geht bis hin zur Selbstaufopferung, die sich im alten Japan – wie in einigen anderen Kulturen bis in die heutige Zeit37 – in dem Brauch niederschlug, dass alte Leute sich in Zeiten der Not zum Sterben in die Berge zurückzogen, um den Jüngeren nicht mehr zur Last zu fallen (ubasute38). Heute wäre es unvorstellbar, dass die Rentenkassen den Tod unzähliger Alter in ihren Bilanzen positiv vermerkten.
Für uns besteht der Kern der Freiheit aus der Kritik und wenn die Kritik verstummt, fragen wir uns, wo der Kern unserer Grundrechte, vor allem der Freiheitsrechte liegt. Nur so können wir beurteilen, welche Maßnahmen der Regierung wir hinnehmen müssen und welche nicht. Das ist – anders als manche asiatische Stimmen sagen – kein unakzeptabler Narzissmus, sondern ein Grundverständnis unserer Kultur. Die Konflikte, die sich beim Zusammenstoß zwischen westlichen und asiatischen Kulturen entwickeln, haben wir in den jüngsten politischen Auseinandersetzungen in Hongkong handgreiflich erlebt.
Sie zeigen sich exemplarisch im Umgang mit den Gesichtsmasken. In Asien sind sie zu allen Jahreszeiten, vor allem aber im Herbst und Winter verbreitet, wenn Erkältungen und Grippe zunehmen. Die Ärzte erklären, dass die Masken dich selbst nicht vor Infektionen schützen, wohl aber die anderen. Für Asiaten ist es geradezu selbstverständlich, eine Maske zu tragen, denn wer angesteckt ist, gefährdet damit die anderen und muss das seine dazu tun, das Risiko gering zu halten. Es geht nicht nur um die mechanische Schutzfunktion, sondern auch um die psychologische Wirkung. Jedermann zeigt Solidarität mit den anderen! Wobei wir nicht übersehen können: Diese Solidarität wird auch durch eine Vielzahl polizeilicher Maßnahmen von jenen erzwungen, die sie vernachlässigen. Ganz anders in Europa: Wir hier eine Maske trägt, stößt die anderen vor den Kopf, weil man annimmt, er wolle sich gegen sie schützen. Und doch ist jedem von uns klar: wenn jeder eine Maske trägt und damit die anderen vor sich selbst schützt entsteht ein höheres Schutzniveau für alle. Das sind vermutlich die Überlegungen, die den österreichischen Bundeskanzler Kurz dazu veranlassen, zu Beginn seiner Pressekonferenzen eine Maske zu tragen, bevor er eine Maskenpflicht erließ. Einige Bundesländer, darunter Bayern haben nachgezogen, lassen uns aber immer noch mit der Frage allein, wo wir sie beschaffen sollen39.
9. Flexible response: Das ICH und die Gesellschaft
Alle Maßnahmen der Regierung und der Bevölkerung müssen zwei widersprüchliche Ziele treffen: Die Epidemie stoppen und gleichzeitig das wirtschaftlich/soziale Leben aufrechterhalten. Es geht um das Verhältnis von Freiheit zur Sicherheit und jede einzelne Maßnahme wirft die Frage auf, ob sie eher zugunsten des ICH oder zugunsten der Gesellschaft ausfallen muss. Zahllose kritische Äußerungen vor allem in den sozialen Medien vermitteln den Eindruck, als seien die Rechte des Einzelnen immer höherrangig gegenüber denjenigen der Gesellschaft – und genau das sei auch der Inhalt der Verfassung. Wer die Grundrechte genau analysiert, weiß, dass sie bis auf einen gewissen Kernbestand (Menschenwürde), der aber weit seltener gefährdet ist, als man allgemein annimmt, erheblich eingeschränkt werden können.
Jede dieser Einschränkungen hat nicht nur gute, sondern auch schlechte Folgen, oft ist es eine tragische Wahl. Wenn wir etwa darauf verzichten, zu reisen, nehmen wir unzähligen Dienstleistern ihre Existenz. Wir verzichten auf künstlerische Darbietungen aller Art (nicht unbedingt Luxusprodukte), aber die Künstler haben keine Rücklagen und bekommen wenig staatliche Hilfe. Die Bauarbeiter sind weiter tätig, die LKW-Fahrer, die Müllkutscher, die Gärtner, aber viele von ihnen leben abends in Containern – wie sollen sie da Abstand halten? Wir muten ihnen das Risiko zu. Auch auf die Mode dieses Jahres könnten wir leicht verzichten – aber das wird dazu führen, dass in zahllosen Ländern zehntausende Arbeiter:innen entlassen werden. Nur den Beamten und auf Lebenszeit und den Angestellten schadet die Krise nicht; und einige Branchen, wie vor allem der Versandhandel und die Pharmaindustrie verdienen an ihr.
Jeder Versuch, die Epidemie absolut einzudämmen, verursacht wirtschaftliche und soziale Kollateralschäden, die weit größer sind, als das allgemeine Todesrisiko, das uns alle irgendwann trifft. In Asien hat man das Problem folgendermaßen gelöst: In flächendeckender Überwachung jedes Einzelnen werden die betroffenen Personen möglichst früh identifiziert und dann isoliert, sodass – von Massenveranstaltungen abgesehen – das normale Leben weiterlaufen kann. Großbritannien40, Schweden41 und die Niederlande42 haben auf eine andere Strategie gesetzt, die bei weniger aggressiven Viren ihre Berechtigung hat: Das Virus soll sich unter den Leuten tot laufen – unter denen dann allerdings viele Tote sind. In Schweden wird dieser »Sonderweg« trotz seiner erheblichen Risiken von der Bevölkerung akzeptiert, die schon seit Jahrzehnten auf anderen Gebieten Solidarität trainiert hat. Auch Jair Messias Bolsonaro hat diesen Weg versucht. Der brasilianische Präsident hat seinen Wählern zugerufen: »Das Leben ist der Güter höchstes nicht«43.
Das klingt absurd, kommt bei den Südamerikanern aber anders an als bei uns: Am Dia de muertos feiern sie den Tod, verspeisen Totenköpfe aus Marzipan (die Augen sind aus Rosinen) und freuen sich des Lebens. Aber diese Stimmung hindert sie nicht an dem Entsetzen, das jeden packt, der rechts und links neben sich die Toten zu Boden sinken sieht. Ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass eine unkontrollierte Ausbreitung der Seuche ziemlich schnell auch unsere Wirtschaft und unser soziales Leben vernichten wird? In Schweden, Großbritannien und den Niederlanden wird diese Frage heftig diskutiert und man steuert teilweise dagegen. Nachdem sich erste Lockerungen abzeichnen, stellt sich die berechtigte Frage, ob nicht jeder einzelne dem Covid 19 Virus so begegnen kann, wie er das persönlich für richtig hält. Das Problem: Wer seinen Tod in Kauf nimmt zieht damit normalerweise nicht andere Menschen mit in dieses Risiko. So aber ist es hier.
Flexible Antworten stehen auf der Tagesordnung. Jede Art Flexibilität erhöht die Komplexität und steigert damit theoretisch das Gefahrenpotenzial. Andererseits wissen wir: »Komplexe Systeme muss man mit einer Vielzahl kleiner Eingriffe steuern«44. Das Verbot des sozialen Lebens war ein heftiger Schlag des Steuerruders, den man nicht durch eine einfache Öffnung aller Systeme wieder ausgleichen kann. Die Kunst des Regierens wird sich daran zeigen, wie gut die Gegenbewegung gelingt.
10. Entscheidungen und Alternativen
An welchen Maßstäben müssen die Regierung und wir selbst uns in Zeiten des Krieges orientieren, wenn wir entscheiden wollen, ob einzelne Maßnahmen rechtlich und/oder moralisch akzeptabel sind, oder nicht. Befinden wir uns im Krieg gegen das Virus? Können wir im Ausnahmezustand Notstandsgesetze oder gar das Kriegsrecht verhängen? Der Begriff »Krieg« geht auf den ersten Blick an der Sache vorbei, weil wir uns nur mit Menschen im Krieg befinden können, nicht mit Naturgewalten. Aber viele psychologische Vorgänge, die wir nur in Kriegszeiten erleben, aktivieren sich, wenn Naturgewalten uns bedrohen. Wir erleben Kameradschaft, Solidarität und den Stolz, die Krise überlebt zu haben. Wir tragen Masken wie bei Gasangriffen. Wir begeben uns freiwillig in die Schützengräben der Isolation. Die Ärzte entscheiden erstmals über Tod und Leben (Triage), weil nicht genügend Geräte zur Verfügung stehen. Seit Wochen sind Theater, Kinos, Opern und Kulturveranstaltungen aller Art absolut blockiert. Das hat es nicht einmal in Kriegszeiten gegeben. Müssen wir – mindestens zeitweise – auch die Abwesenheit von Recht und Gesetz hinnehmen? Und wie wird sich eine – zeitlich auch nur begrenzte – absolute Verachtung gegen über unseren verfassungsrechtlichen Werten langfristig auswirken? Die Regierung muss ihre Entscheidungen an den Gesetzen orientieren und wie wir darauf reagieren, hängt von unseren moralischen Überzeugungen ab. In beiden Fällen stehen wir vor einer tragischen Wahl und darunter ist die geringste Frage, wann wir wieder zum Friseur kommen.
Wie schon in allen früheren Krisen, bei denen Angela Merkel an der Spitze der Regierung stand, werden ihre Entscheidungen als »alternativlos« bezeichnet und von der mitregierenden SPD akzeptiert. Die Leute sagen sich: Diese Frau ist Naturwissenschaftlerin, sie versteht wenigstens, was die anderen wissenschaftlichen Experten sagen. Den Deutschen ist die Idee, dass keine einzige politische Frage »alternativlos« ist, nicht selbstverständlich. Sie neigen dazu, naturwissenschaftliche Vernunft grundsätzlich als politisch richtig anzusehen und übersehen dabei: es geht um den dauernden Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit, der sich in vielen politischen Fragen offenbart – hier ist er unausweichlich. Der Schlüsselbegriff, anhand dessen dieser Konflikt zu entscheiden ist lautet: Verhältnismäßigkeitsprüfung anhand des Übermaßverbotes!45 Jede Maßnahme, die die Regierung zur Einschränkung der Grundrechte ergreift, kann nur damit begründet werden, dass die Sicherheit im konkreten Fall höher zu bewerten ist als die Freiheit und dass der Eingriff nicht weitergeht, als es für die Sicherheit aller unbedingt erforderlich ist. Zu dieser Frage kann ein Virologe nichts beitragen. Die Politik muss darüber entscheiden und sich der Kontrolle durch die Gerichte aussetzen. In Schweden, Großbritannien und den Niederlanden hat man die Frage anders entschieden als bei uns. Ein besseres Bild als die in der Presse meist überlieferten Prozentzahlen ergibt sich, wenn man den Grad der Infizierten und Toten auf die Bevölkerungszahl bezieht46. Inwieweit diese Zahlen in irgendeiner Weise belastbar sind, kann heute niemand wissen, da nicht einmal die Dunkelziffern realistisch geschätzt werden können. Und vor allem gibt es riesige Unterschiede in der Zahl der Toten – offenbar abhängig von der Qualität des Gesundheitssystems. Ist das der Preis der Freiheit? Von der FDP, deren historische Auftrag es wäre, die Freiheitsfrage wachzuhalten, hört man wie seit langem üblich: nichts. Diese Aufgabe hat jetzt die AfD übernommen. Wer in den unzähligen Chat, Blogs usw. die Alternativlosigkeit bezweifelt, tut das in dem hysterischen Ton, den die machtlose außerparlamentarische Opposition sich seit langem angeeignet hat. Die Mächtigen hören eben nicht zu, wenn man nicht übertreibt, sagen sie. Ausgerechnet bei Markus Lanz finden sich die wenigen kritischen Stimmen. Tägliche Statistiken scheinen alles Wissenswerte zu enthalten, aber sie stehen oft auf tönernen Füßen47. Aber warum wir viele Wochen lang z.B. keine Masken kaufen konnten, wird nirgendwo erklärt (man sagt, wir hätten Millionen von ihnen nach China verschenkt, die sie uns dann wieder zurückverkauft haben (falls das keine Verschwörungstheorie ist)).
11. Moral und Recht in der Krise
Soziale Ordnungen bilden sich aus den konkret bestehenden Machtverhältnissen mit dem Ziel, das Chaos zu vermeiden. Sie können nur Bestand haben, wenn sie sich auf Moral und Recht stützen können, die gleichzeitig der Macht Stabilität geben wie Grenzen setzen. Gesetze, Verwaltungsmaßnahmen und richterliche Urteile können nur dann Akzeptanz in der Bevölkerung finden, wenn in ihnen moralische Grundentscheidungen und Grundwerte zum Ausdruck kommen, die – trotz aller Umstrittenheit im Einzelfall – in ihrem Kern das zum Ausdruck bringen, was allgemein als moralisch richtig oder falsch betrachtet wird. Alles andere ist rechtsethischer Nihilismus48. Das »gesunde Volksempfinden« ist kein geeigneter moralischer Maßstab, moralische Regeln setzen sich vielmehr aus drei Elementen zusammen: Das Bewusstsein der Abhängigkeit jedes Menschen von anderen Menschen (Interdependenz), das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung (Reziprozität) und – bei aller Kritik anderer moralischer Positionen – das Gefühl der Empathie für jeden, der an einer Entscheidung beteiligt ist. Gesetze müssen sich in dem Rahmen bewegen, den die Verfassung vorgibt. Die Aussagen der Gesetze sind nicht eindeutig. Zu Ihrer Interpretation arbeiten wir mit drei Begriffen: Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit. Das sind zwar Leerformeln, aber mit ihrer Hilfe können wir unseren Gerechtigkeitssinn so schulen, dass wir Ungleichheit, Unfairness und Unausgewogenheit erkennen können49.
An diesen Maßstäben gemessen haben in der Covid 19 – Krise einige Gesetze und Verordnungen der Regierungen nicht standgehalten50. Vor allem der Gleichheitssatz ist verletzt worden, wie man an vielen, einander widersprechenden Gerichtsentscheidungen sieht51. Der Gleichheitssatz muss immer mit den beiden weiteren Elementen Fairness und Ausgewogenheit verbunden werden, denn sonst führt er zu unfairen Ergebnissen wie etwa dem Verbot für »Reichen wie Arme, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen« (Anatole France). Ansprüche von Künstlern sind gelegentlich mit der zynischen Begründung zurückgewiesen worden, sie hätten sich – so wie die Richter – einen sicheren Beruf aussuchen können. Die Ausgewogenheit realisiert sich im Verhältnismäßigkeitsprinzip. Hier einige Beispiele für richtige Entscheidungen: Die Versammlungsverbote wurden überwiegend aufrechterhalten, hin und wieder aber eine Demonstration unter Auflagen erlaubt52. Geschäfte, in denen es neben Lebensmitteln auch andere Dinge gibt, dürfen geöffnet bleiben. Darlehen müssen gestundet werden, solange der Schuldner nur Kurzarbeitergeld bezieht, geplante Gerichtstermine wurden verschoben usw.. Besonders grotesk und juristisch schwierig ist folgender Fall: In London ruft ein Mann in der U-Bahn zwei uniformierten Angestellten zu: »Ich habe Corona!« und spuckt beide danach an. Sie erkranken und eine von ihnen stirbt. Ist er ein Mörder?53
Wenn die Grundidee richtig ist, dass wir noch auf längere Zeit Abstand zueinander halten müssen, ist das am einfachsten auf großen Flächen zu verwirklichen, auf denen eine gewisse Regulierung möglich ist. In Kirchen ist das möglich und deshalb ist das absolute Gottesdienstverbot mit Sicherheit rechtswidrig (das wurde zwischenzeitlich korrigiert). Auch bei Kaufhäusern bei denen der Zugang geregelt und Servicepersonal die Einhaltung der Abstände überwachen kann, könnte man zu diesem Ergebnis kommen. Das könnte sogar für Restaurants gelten, wenn sie etwa nur zu 70 % und mit größeren Abständen der Tische besetzt werden. Man kann die Schulen zunächst für ältere Schüler öffnen, die Abstand zu wahren wissen. Die älteren Leute müssen länger zu Hause bleiben als die anderen, denn sie tragen zur Wirtschaft nichts bei, Jede dieser Lösungen muss von einem Hygienekonzept begleitet werden und das einfachste wäre, die Leute zum Tragen der Maske zu verpflichten. Was aber nicht geht, weil wir keine haben und weil die Regierung zu unserem Erstaunen keine besorgen kann.
Sollten wir uns eine Covid 19 – App auf unsere Smartphones laden und würden wir akzeptieren, dazu verpflichtet zu sein? Wer Kai Strittmatters Analysen der Lage in China kennt, wird davor zurückzucken54. Ich hätte damit kein Problem, auch wenn die Datenschützer auf die Barrikaden gehen. Mein wichtigstes Argument ist folgendes: Es gibt seit gut 30 Jahren immer differenziertere Datenschutzgesetze auf allen denkbaren politischen und gesellschaftlichen Ebenen. Nicht eines dieser Gesetze hat es bisher verhindert, dass rechtswidrige Angriffe gegen Daten stattgefunden haben, man konnte bisher noch keinen Täter identifizieren. Es hat aber bisher in der Bundesrepublik noch keinen einzigen Fall gegeben, in dem eine Privatperson ein Unternehmen oder eine staatliche Institution auf Schadensersatz verklagt hätte, weil man ihre Daten missbraucht hat.55 Das hätte vor allem für medizinische Daten gelten können, deren Missbrauch großen Schaden auslösen kann. Die einzigen Gerichtsurteile, die man findet, drehen sich um Ordnungsgelder wegen fehlerhafter Datenschutzorganisation. Aus alldem kann man berechtigt schließen, dass die Datenschutzgesetze die wirklichen Risiken nicht treffen. Man will die Möglichkeit des Datenzugriffs an der Quelle verhindern, obwohl in technischer Hinsicht ziemlich klar ist, dass jeder denkbare Schutzmechanismus schnell umgangen werden wird, wie ungezählte und erfolgreiche Angriffe von Hackern weltweit zeigen. Besser wäre es, man würde jedem, dessen Datenschutz verletzt worden ist, gegenüber jedem, der auch nur versucht, diese Verletzung für sich direkt oder indirekt auszunutzen, ein Schmerzensgeld zuzubilligen, das keinen Schadensnachweis erfordert. Aber eine Bundesregierung, die entwendete Steuerdaten ankauft, steht einer solchen Idee vermutlich fern. Aber ich wette darauf: Die Menschen werden zum Selbstschutz diese Apps benutzen und die Risiken in Kauf nehmen! Jetzt ist es soweit gekommen wie der ZDF-Korrespondent Ulf-Jensen Röller angekündigt hat: Kein Schritt in die Öffentlichkeit ohne Attest56! Diese Entwicklung gibt uns Anlass genug darüber nachzudenken, wie weit die Überwachung der Allgemeinheit gehen kann, wenn wir dadurch mehr zerstören als gewinnen57. Was wir bisher für künftige Pandemien mit Sicherheit lernen können ist: Schon die ersten Ansteckungen müssen so schnell wie möglich lokalisiert und alle betroffenen Menschen isoliert werden, wenn man einen kollektiven Lockdown verhindern will. Man kann eine solche Seuche nicht einfach sich selbst überlassen und hoffen, dass sie sich tot läuft. Wenn wir darüber keine ernsthafte und tiefe Diskussion führen, wird die nächste Krise uns wieder unvorbereitet treffen.
12. Wirtschaft und soziales Leben: Die Weisheit der Vielen
Der massive Schock beim Ausbruch der Covid 19 – Krise spiegelte sich auf den ersten Blick in den Zahlen der Börse. Am 13.02.2020 stand der DAX bei 13.789, am 18. März bei nur noch 8441, stieg dann aber bis März 2021 auf14.582,06, obwohl die Wirtschaftsweisen einen Einbruch für das laufende Jahr von 6,3 % vorausgesagt haben. Heute (November 2021) steht er bei über 16.000. Die Börse hat offenbar einen anderen Blick auf die Lage. Wir können darin das Vertrauen der Marktteilnehmer erkennen, dass die wirtschaftlichen Folgen nicht so dramatisch sein werden, wie zunächst befürchtet. Liegt darin eine Schwarmintelligenz, die wir nutzen können58? Der Buchwert59 aller 30 DAX Unternehmen wird bei einem Stand von etwa 8000 richtig abgebildet. Dieser Wert gilt als relativ feste »Widerstandslinie«, denn der Verkehrswert liegt bei allen Unternehmen, die aktiv am Markt teilnehmen erheblich höher. Aber in den Börsenkursen drückt sich nicht nur das Wissen um wirtschaftliche Daten aus, in ihnen spiegeln sich auch politische, psychologische und emotionale Faktoren von allgemeinem Interesse. Sie zeigen die Erwartungen, ob die Unternehmen Substanz gewinnen oder verlieren werden. Auf beides kann man darüber hinaus mit Derivaten wetten – mit diesen Services verhält sich die Börse wie ein Spielcasino60. Die Lage der Wirtschaft kann also besser oder schlechter sein, als uns die Börsenwerte zeigen und sie können sich in wenigen Tagen wieder dramatisch verändern: wenn die Krise zu schweren realen Verlusten führt, werden die führenden Akteure sie durch Wetten auf den absoluten Zusammenbruch noch verstärken.
Der derzeitige (November 2021) Optimismus beruht mit Sicherheit darauf, dass zahllose Einzelstaaten, aber auch die EU die Wirtschaft mit bisher unvorstellbar hohen Beträgen subventioniert haben61.
13. Verluste und Gewinne
Der Blick in die Wirtschaft zeigt ein widersprüchliches Bild. Anders als in den Endphasen des Krieges 1945 sind alle Produktionsmittel und die Menschen vorhanden, aber wer kauft sich heute ein neues Auto? Wenn ein solcher Stillstand für ein paar Wochen die ganze Wirtschaft ruinieren könnte, wäre es schlechter um sie bestellt, als wir bisher wussten. Anwälte und andere Dienstleister haben normalerweise offene Rechnungen für 2 - 3 Monate und die Krise erzeugt so viele Konflikte, dass sie vermutlich auch weiter genügend Arbeit auf dem Tisch haben. Bei kleinen Gewerben sieht es völlig anders aus sie sind existenzgefährdend bedroht. Aber sollten Industrie und Handel nicht genügend Liquidität unterm Kiel haben, um eine solche Krise durchzustehen? Leben sie wirklich genauso wie die meisten on razors edge? Die Exportstärke der deutschen Kfz Industrie beruht in erster Linie auf unserem hochentwickelten technischen Wissen und bei Consumer-Produkten darauf, dass reiche Menschen aus anderen Ländern sich Mercedes, BMW und Audi kaufen. Ist da ein Rückschlag zu erwarten? Die Mittelmeerländer, deren Wirtschaft so stark vom durchschnittlichen Tourismus abhängig ist, werden stärker leiden. Ist der Gedanke nicht beängstigend, dass alle diese Staaten nur überleben können, wenn wir wie verrückt in der Welt herumreisen? Wie würde die Weltwirtschaft sich entwickeln, wenn wir alle – wie von Pascal empfohlen – still in unseren Zimmern verblieben? Dann gäbe es nur noch Restbestände unsere Tourismusbranchen, der Flugzeugindustrie und der Luftfahrtunternehmen.
Es gibt eine Handvoll Unternehmen, die sich insolvent gemeldet oder Unterstützungen beantragt haben. Ihnen hat die Krise den Rest gegeben: Am schlimmsten hat es die Tourismusbranche und die Gaststätten getroffen. Lufthansa, Vapiano, Kaufhof/Karstadt, Esprit, Maredo und viele andere fordern staatliche Hilfen. Ihnen stehen Unternehmen entgegen, deren Chancen in der Krise gewaltig gewachsen sind.
Die IT Industrie leidet gewiss nicht, da die Krise uns zu einem gewaltigen Schritt in Richtung virtueller Systeme zwingt. Das Handelsblatt erwartet 42.000 neue Jobs in dieser Branche62, Microsoft hat in den letzten zwei Monaten mehr Lizenzen für Kommunikations-Software verkauft als in den zwei Jahren zuvor63, die Telekom hat für ihre Mitarbeiter in 14 Tagen so viele virtuelle Büros eingerichtet, wie sonst erst in zwei Jahren.
Die Pharmaindustrie und die Hersteller medizinischer Geräte wie etwa das Drägerwerk, Bayer, der Pizzalieferant Oetker, Logistiker wie Amazon verzeichnen reale Gewinne, die sich in den Kursen unmittelbar widerspiegeln. Hinzu kommen Teile der Getränkeindustrie: Die Leute trinken zu Hause 30 % mehr als früher, Privatbrauereien, die wenig Flaschenbier verkaufen, gehen zugrunde. Die Restaurants leiden Not, die zahllosen Kioske, die Blumenläden. Aber die Leute feiern ihre Überstunden ab und vielleicht gleicht die danach erhöhte Produktivität die Verluste wieder aus? Die Kfz Industrie verkauft keine Autos mehr und will jetzt staatliche Subventionen. Aber wir wissen seit Jahren, dass es hier 30 % Überkapazitäten gibt, über die nur wenig gesprochen werden darf, weil es sich in Deutschland um eine Schlüsselindustrie handelt. Die Grünen wollen Subventionen auf Elektroautos beschränken. Obwohl der Markt die gar nicht will.
Die Regierung hat dafür gesorgt, dass zahllose formale Vorschriften (Kündigungen von Räumen und Krediten, Insolvenzrecht usw. zeitweise ausgesetzt werden. Und sie hat Liquidität bereitgehalten. Ob diese Maßnahmen ausreichen, wird sich zeigen. Die bisherigen Entscheidungen der Regierung machen deutlich, wie bewusst ihr der Zwang ist, die sozialen Systeme funktionsfähig zu halten, denn Unruhen an dieser Front kann niemand brauchen. Und die Börsenwerte zeigen, dass sehr viele Menschen darauf vertrauen, dass die Regierung es richtig machen wird. Das mag eine Prophezeiung sein, die sich selbst erfüllt, aber von solchen psychologischen Faktoren hängt es am Ende ab, ob der Erfolg auch wirklich eintritt.
Diese Krise hat uns auf jeden Fall etwas enthüllt, was wir schon immer geahnt haben: Unsere Wirtschaft lebt zu einem sehr hohen Prozentsatz von unseren Freizeitaktivitäten, dem Besuch der Restaurants, den kulturellen Ereignissen, also »Industrien«, auf die wir offenbar im Notfall verzichten können. An ihnen hängen Millionen überwiegend prekäre Arbeitsplätze. All das bezahlen wir, weil die »richtige Arbeit« uns genügend einbringt. Im Grunde ein gutes Zeichen. Wenn wir allerdings unsere Wirtschaftsbeziehungen mit dem Ausland betrachten, tauchen schwierigere Fragen auf: Leben wir in Europa tatsächlich seit Jahrzehnten auf einer überflüssigen Nachfrage vor allem nach Textilien und unzähligen kleinen Gütern, deren Angebot für Millionen Menschen in Asien lebenswichtig ist? Das sind die Klippen, die wir erst jetzt in ihrer ganzen Schärfe vor uns sehen und es sind nicht nur unsere Schiffe, die an ihnen zerbrechen können.
Auch wenn darüber in der Öffentlichkeit nicht gesprochen wird: Die Krise führt zu einer eine Vielzahl positiver Nebeneffekte. Die Lungenerkrankungen gehen zurück, denn die Kontaktsperre verhindert Ansteckungen, die sonst eingetreten wären, vor allem bei den typischen Grippeerkrankungen64. Die Leute erleiden erheblich weniger Herzinfarkte und Schlaganfälle. Die Ärzte sagen, die Leute trauten sich nicht mehr in die Krankenhäuser, aber wenn die Rückgänge bis zu 90 % betragen, kann es darauf allein nicht beruhen. Die Kriminalität nimmt ab, weil die Leute ständig zu Hause sind und die Wohnungen nicht mehr leer stehen. Andererseits trinken wir zu viel (der Alkoholkonsum hat ca. 30 % zugenommen). Und was ist mit unserer geistigen Gesundheit? Profitieren wir von der Langsamkeit, dem fehlenden Stress (trotz des fehlenden Geldes), gehen wir uns dauernd auf die Nerven oder finden wir neue Ebenen der Intimität? Werden die Geburtsziffern steigen? Natürlich kann man aus logischen wie moralischen Gründen die guten und die schlechten Seiten der Krise nicht gegeneinander aufrechnen, weil die Vergleichbarkeit fehlt. Aber solche Überlegungen helfen uns emotional stabil zu bleiben, wenn hysterische Hochrechnungen uns davon überzeugen wollen, dass das Ende der Welt bereits eingetreten ist. Der Weg dahin ist noch lang.
14. Politische Klippen in Europa
Europa ist ein Staatenbund und für eine »konzertierte Aktion« dieser Staaten im Fall einer Pandemie gibt es keine Vereinbarungen. Jeder Staat hat sein eigenes Konzept entwickelt, hier und da bilaterale Hilfe gefordert und erhalten und ganz am Ende stehen finanzielle Hilfsmaßnahmen, die einigen Staaten (Italien) nicht weit genug gehen65. Ist das zu wenig? Oder sind die einzelstaatlichen Eingriffe so stark, dass sie auch von Diktatoren hätten verhängt werden können? Jedenfalls ist von vielen europäischen Ideen derzeit nicht mehr viel übrig: Polen macht die Grenzen total zu, das Saarland hat zeitweise die Pendler ausgesperrt, die Holländer konnten keine Blumen liefern, die Spargelstecher brauchten eine Sondergenehmigung. Giorgio Agamben ist so entsetzt, dass er vom Zusammenbruch der Demokratie spricht.66 Endlich sieht er jenen Ausnahmezustand vor sich, mit dem er sich seit langem beschäftigt.
Tatsächlich würde es keinen Unterschied machen, ob eine deutsche oder eine europäische Bundesregierung die Maßnahmen verhängt, die tatsächlich getroffen worden sind. Wer glaubt, Europa sei als Bundesstaat mächtiger als in der jetzigen Form, kann Macht nur in der Größe erkennen, nicht aber in der Systemrelevanz. Auf europäischer Ebene fehlt es jedenfalls genauso wie in Deutschland an einer irgendwie erkennbaren Managementstrategie. Das ist leicht erklärbar: Die Brüsseler Exekutive handelt grundsätzlich über die Einzelstaaten, sie kann und darf solche Kapazitäten gar nicht aufbauen. Der äußere Eindruck der Handlungsunfähigkeit ist völlig realistisch und entspricht der Rechtslage. Schon innerhalb Deutschlands wird die Frage diskutiert, ob die Maßnahmen bundeseinheitlich ausfallen müssen oder in den einzelnen Ländern unterschiedliche Entscheidungen getroffen werden können. Für die Einheitlichkeit spricht die einfachere Umsetzung, aber wenn man sich die Verteilung der Ansteckungen ansieht, entsteht ein anderes Bild: Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen, auch Brandenburg und sogar Berlin haben im Verhältnis zu Bayern und Baden-Württemberg so geringe Ansteckungszahlen, dass hier eine Lockerung früher möglich sein muss. Die Europäische Union ist seit Jahren unfähig, die Sommerzeit wieder abzuschaffen, obwohl deutliche Mehrheiten in allen Ländern dies fordern. Wie könnte sie dann in einer Krise besser reagieren?
Der Blick auf die USA zeigt, dass die einzelnen Staaten die Situation unterschiedlich einschätzen und sich dem Diktat des Präsidenten nicht beugen wollen. Sie haben recht: Ein Mehlsack ist groß, aber trotzdem kann man mit ihm keinen Nagel in die Wand schlagen! Gerade weil die derzeitige europäische Konstruktion aus vielen großen, kleinen und flexiblen Einheiten besteht, wird sie auch die Klippen umschiffen können, die diese Krise sichtbar gemacht hat67. Und sie wird uns vielleicht noch lange vor der Illusion bewahren, die Vereinigten Staaten von Europa seien leistungsfähiger als das Europa der Vaterländer.68
15. Verrohte Sitten
Am Anfang der Krise haben wir eine seltene Einmütigkeit von Regierung, Parlament, Justiz und Presse über die Frage gehört, ob radikale Maßnahmen der Quarantäne gerechtfertigt seien oder nicht (bei einigen wenigen Politikern allerdings (Donald Trump, Bolsonaro, Erdogan und andere) enthüllt die Krise ihre mangelhaften Führungsqualitäten überdeutlich). Die öffentliche Meinung, die sich in den sozialen Medien und im Internet niederschlägt, war von diesem Schulterschluss beeindruckt und es gab außerhalb der oben schon erwähnten Verschwörungstheorien wenige Gegenstimmen.
Nur wenige Wochen später war alles ganz anders. Der rechte Flügel pochte auf einmal massiv auf unbeschränkte Grundrechte, die Linken schlossen sich zögernd an und wie im Mittelalter wurden die Überbringer schlechter Nachrichten wie der Regierungsgutachter Drosten mit Mord bedroht69. Wütende Kommentare in den sozialen Medien folgen und was sich im darknet alles abspielt, wagt man sich nicht vorzustellen. Wir erleben hier wie schon zuvor in der Flüchtlingskrise, in den Brexit Diskussionen und in den verschiedenen Finanzkrisen ein neuartiges Phänomen. Hier bildet sich nicht nur wie in den siebziger Jahren eine außerparlamentarische Opposition. Der Staat und die verfassten Institutionen versuchen, die Contenance zu bewahren (»Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«) und viele Bürger, die anders als in früheren revolutionären Situationen alle Rechte haben, die sie brauchen, um sich zu artikulieren, legen auf diese Formen keinen Wert. Sie glauben nicht daran, auf konventionelle Weise gehört zu werden. Sie trauen auch der Presse nicht. Sie lassen sich gehen (»Wir sind hier, wir sind laut…«). Hans-Peter Dürr hat vor über 20 Jahren davon gesprochen, dass der von Norbert Elias beschworene Übergang von roher Gewalt zu zivilisierten Umgangsformen ein Mythos sei70. Die Entwicklung, die wir hier beobachten, scheint diese These zu bestätigen.
Die Gründe für diese Entwicklung liegen noch weitgehend im Dunkel, aber mit einer Vermutung müssen wir uns auf jeden Fall beschäftigen: Schon im ganz normalen Alltag werden wir seit Jahrzehnten mit immer neuen, detailreicheren und teilweise bedrückenden Regeln zugeschüttet. Es gibt auf der Welt kein zweites Land, das so viele Ampeln hat, das Rauchverbot wird penibel überwacht, Niemand darf mehr als einen halben Liter Bier pro Tag trinken, ohne im Netz abgemahnt zu werden, die Steuern werden erbarmungslos bis auf den letzten Cent eingetrieben – nichts bleibt dem Zufall überlassen. Und jetzt, in der Coronakrise werden für alle sichtbar flächendeckend jedem neue Daumenschrauben angelegt. Und niemandem können wir die Schuld dafür zuweisen. Wer bisher versucht hat, die zahllosen Einschränkungen unseres Verhaltens rational zu rechtfertigen, stößt jetzt an seine Grenzen. In Leserbriefen können viele ihren Zorn nicht mehr artikulieren, denn die werden nicht abgedruckt. Also droht man den Boten der schlechten Nachrichten im Internet den Tod an, wie es in unzivilisierten Zeiten üblich war.
16. Politische Korrektheit
Die Covid 19 Krise hat auch bei diesem Thema die Klippen freigelegt. Ist es eine Krise, eine Seuche, eine Verschwörung? Ist es politisch korrekt, die Chinesen anzuklagen oder zu verteidigen? Ist die Lockdown Politik der meisten Regierungen eine hysterische Reaktion, oder sind die wenigen Regierenden (!), die das behaupten, hysterische Verdränger? Darüber könnte man in aller Offenheit diskutieren, aber die Sorge, sich dabei einem shitstorm auszusetzen, scheint die meisten Menschen davon abzuhalten. Umfragen zeigen, dass bestimmte politische Themen vor allem deshalb gemieden werden, weil man sich vor Angriffen der betroffenen Gruppen fürchtet71. Diese Gruppen vertrauen nicht darauf, dass eine öffentliche Diskussion ihre Interessen fair behandelt und machen daher in anderer Weise Druck. Dazu gehören vor allem Diskussionen über:
- Flüchtlinge (71 %)
- Muslime/Islam (66 %)
- Juden (63 %)
- Hitler, Drittes Reich (58 %)
- Rechtsextremismus (49 %)
- AfD (48 %)
- Homosexuelle (47 %)
- Vaterlandsliebe, Patriotismus (41 %)
Hier bilden sich auf der einen Seite lautstarke Aktivisten, auf der anderen Seite schweigende Mehrheiten und zwischen ihnen kann die Meinungsfreiheit zerrieben werden. Wenn die Diskussion über Covid-19 wie bei diesen Themen von fake-news und Verschwörungstheorien zerstört wird, werden wir keine Möglichkeit haben, in einer neuen Krise sachgerecht zu reagieren.
17. Die Zukunft
Zu Beginn der Krise hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) aufgrund entsprechender Erfahrungen aus anderen Epidemien davon gesprochen, dass bei ungehindertem Ausbruch ca. 75 % der Bevölkerung angesteckt würden, bevor das Virus sich in etwa zwei Jahren totgelaufen haben sollte. Bezogen auf Deutschland wären das etwa 60 Millionen Menschen. Und – bei einer angenommenen Todesrate von 1,5 % – ca. 1 Million Tote. Dank der zahllosen Einschränkungen liegen wir in der »Vierten Welle« heute (November 2021) bei knapp 100.000 Toten. Das ist ein ziemlich hoher Wert, den man darauf zurückführen kann, dass unsere Bevölkerung relativ alt ist: zwei Drittel der Toten waren älter als 80 Jahre! Zudem ist die Definition der Todesfälle »mit Corona« sehr unscharf. Die Zahl der Infizierten liegt bei ca. 2,4 Millionen, ist aber deshalb irreführend, weil nicht alle infizierten Menschen auch krank sind.
Äußerst ermutigend ist es, zu sehen, dass führende Wissenschaftszentren wie etwa die Max-Planck-Gesellschaft in wenigen Wochen zahllose nationale und internationale Aktivitäten auf das Covid 19 Virus konzentrieren, von denen die Gewinnung von Impfstoffen bei weitem nicht im Zentrum steht. Von der Mathematik bis zur Psychologie greifen viele Institute das Problem auf und tragen etwas zu seiner Lösung bei.72
Wie Länder wie Indien, Bangladesh oder die afrikanischen Staaten auf eine Ausbreitung des Virus reagieren werden, kann man sich nicht vorstellen. Dort fehlen die technischen Möglichkeiten, über die die Asiaten verfügen und wie viele Millionen Menschen leben dort wirklich von der Hand in den Mund. Was ist das Schicksal des Tagelöhners und seiner Familie, der monatelang keine Arbeit findet? Was wir in den Tagesnachrichten hören, unterscheidet sich sehr stark von den Berichten vor Ort, die jedenfalls in Südafrika ganz anders klingen73.
Selbst wenn die Krise weniger problematisch verlaufen sollte, wie man derzeit annimmt, müssen wir aus ihr lernen. Denn wenn Covid 19 keine Pandemie ausgelöst hat, so besagt das nicht, dass solche Pandemien nicht künftig überraschend auftreten können. Und wenn es sich diesmal um einen Fehlalarm gehandelt hat, dann müssen wir wissen, wie wir in einem künftigen Fall besser reagieren sollten.
Hätten wir nicht große Teile der einfachsten Industrien (Textil usw.) nach Asien verlegt und den Asiaten die zugehörigen Werkzeugmaschinen verkauft, wären wir für viele medizinische Hilfsmittel nicht aus Lieferungen aus Asien angewiesen. Und würden wir unsere Luxusautos und Industrieanlagen nicht nach dort verkaufen, hätten wir mehr Arbeitslose als uns lieb ist. Wie können diese Krise nicht einfach aussitzen, denn ihre Auswirkungen trifft wie immer die Hilflosesten am härtesten. Die Globalisierung hat zur Entwicklung dieser Länder entscheidendes beigetragen – und jetzt soll all das wieder vernichtet werden? Wir müssen aus der aktuellen Situation und auch aus der Vergangenheit lernen. Erinnern wir uns, an Anlass und Verlauf der Spanischen Grippe:
»Als 1918 der amerikanische Landarzt Loring Miner in Haskell County im US-Bundesstaat Kansas mehrere Patienten mit Grippesymptomen sah, welche an Heftigkeit alles Bisherige übertrafen, hat er sich an den „United States Public Health Service“ gewandt und um Unterstützung gebeten. Diese wurde im verweigert. Drei Patienten von Haskell County wurden zum Militärdienst eingezogen. Albert Gitchell, der Küchenunteroffizier – der Patient NULL – verbreitete das Virus in jener Kompanie, für die er kochte und die nach Europa verlegt wurde. 40 Tage später gab es in Europa 20 Millionen Infizierte und 20'000 Tote. Die 1918 Pandemie hat mehr Tote verursacht, als der 1. Weltkrieg.«74
Wie ist es bei Covid 19 verlaufen? Fest steht: Das Virus wurde erstmals im Januar in Wuhan identifiziert und hat danach einige äußerst gefährliche Varianten entwickelt. Vielleicht war auch in China ein Koch der Patient Nr. 0? Können wir künftige Pandemien verhindern, wenn die Chinesen keine wilden Tiere mehr essen?
Essen und Medizin sind in China engstens verbunden. Der Körper wird durch die Natur krank und heilt sich durch die Natur. Es kommt auf Zustände wie feucht, trocken, heiß, kalt usw. an, über den Pulsschlag lässt sich fast jede Krankheit diagnostizieren und die Akupunkturnadeln treffen Energiebereiche, die der westlichen Medizin unbekannt sind. Daneben wird mit zahllosen Teemischungen therapiert. Bevor man das kritisiert oder gar verwirft, müssten doppelblind – Studien mit Placebos unternommen werden. Daran ist die Arzneimittelindustrie nicht interessiert, und den Chinesen – wie anderen Asiaten – ist es gleichgültig, denn sie wissen ja aufgrund ihrer Erfahrung, wie die Dinge funktionieren.
Im Westen wird die Erfahrung als Kriterium für wissenschaftliche Erkenntnisse nicht besonders hochgeachtet. Was sich nicht in Zahlen und Formen ausdrücken und messen lässt, wird nicht wahrgenommen. Die Asiaten sind anderer Meinung. Auch wenn sich herausstellt, dass die Ursache des Virus nicht auf dem Tiermarkt in Wuhan lag, sondern in dem dort gelegenen Forschungslabor, werden solche Erkenntnisse bleiben.
Für die Öffnungspolitik im Westen werden wir unsere Perspektiven vermutlich ändern müssen, denn die Maßnahmen der Chinesen sind offensichtlich wirkungsvoll: Jeden einzelnen Ansteckungsfall bis zur Quelle zurückverfolgen und alle, die mit dem Erkrankten in Kontakt standen, wieder in Quarantäne zu schicken. Die Probleme treten lokal auf und müssen lokal bekämpft werden. Das ist in den westlichen Demokratien nicht so einfach, denn die radikalen Eingriffe in die Freiheitsrechte, die die Chinesen dulden, werden bei uns zurecht nicht akzeptiert. Ärztliche Hilfe muss in jedem Stadium der Erkrankung zur Verfügung stehen. Das war das zentrale Argument für die absolute Lockdown Politik – und es ist jetzt weggefallen. Jetzt müssen wir die restlichen Risiken so hinnehmen wie jede andere Krankheit, die uns treffen kann. Es gibt keinen Sinn, einen ganzen Landkreis oder gar ein Bundesland zu schließen, weil irgendwo in einem Wohnheim, Altersheim, einem Gefängnis oder in einer Unterkunft für Leiharbeiter oder Asylbewerber das Virus ausgebrochen ist. Im Bereich der Bundeswehr, wo die Soldaten auch eng zusammenleben, ist bisher keine besondere Ansteckungsgefahr bekannt. Die dort herrschende Disziplin wird es wohl verhindert haben. Leider werden wir uns dieser Disziplin noch auf viele Monate beugen müssen. Wir müssen unseren eigenen Weg finden. Das Problem: Man kann den Ländern, den Kommunen und der Privatwirtschaft in diesem Bereich keine Verantwortung zuweisen, bevor nicht die Bundesregierung die Grundlinien der solchen Politik so bestimmt, dass alle danach handeln können.
18. Die Schule der Achtsamkeit
Jetzt (Mai 2023) habe ich das Gefühl, zwei oder dreimal eine Covid Infektion unterhalb der Nachweisgrenze erlebt zu haben und so wird es Millionen anderen auch gehen. Die Sache läuft sich tot, wie es im Drehbuch der Natur vorgesehen ist, wenn auch mit weniger Toten als bei der Pest. Aber auch jetzt gab es nicht nur medizinische Auswirkungen. Gegen Ende von Covid-19 zeigen sich weltweit inflationäre Erscheinungen, teilweise berechtigt, weil Energiekosten steigen und die Lieferketten zerbrochen sind, aber auch getrieben von unzähligen Mitläufern, den Kriegsgewinnler, die uns immer umgeben. All das werden wir demnächst irgendwann einmal wieder erleben. Und sollten uns innerlich darauf einrichten.
Es ist schon 40 Jahre her, seit die ersten indischen Gurus und asiatischen Zenmeister im Westen bekannt wurden und uns zeigten, dass es Lebenskonzepte gibt, in deren Schwerpunkt nicht Ruhm, Anerkennung, politischer Erfolg, Karriere und Reichtum stehen. Gleichwertig daneben steht die tiefe Einsicht, dass es genauso wichtig sein kann, zu lernen, das Leben in jedem noch so unscheinbaren Detail so zu nehmen, wie es kommt. Die Lehren der Stoa, die das auch im Westen schon vor 2000 Jahren gezeigt haben, waren vergessen. Es ist kein Zufall, dass sich in den letzten Jahren vor allem der Begriff der Achtsamkeit (mindfulness/wokeness) in den Vordergrund schiebt, denn die zahllosen Medien, in denen wir uns ständig bewegen, verringern unsere Fähigkeiten auf diesem Gebiet schneller, als wir sie wiedergewinnen können (falls wir sie je hatten). Covid 19, das große soziale Experiment, dass gerade ausläuft, zeigt uns eine völlig neue Bedeutung dieses Begriffs: wir können nur auf unserer eigenen Gesundheit achten, wenn wir auch die der Anderen wahrnehmen und respektieren. Die Freiheit, unsere Gesundheit beliebigen Risiken auszusetzen, findet ihre Grenze in der Gefährdung der anderen, die von unseren Freiheitsbedürfnissen betroffen sind. Das wird im Westen schlechter verstanden als in Asien.
19. Das Gaia-Konzept
Vielleicht hilft dieses Training uns auch, ein anderes sehr komplexes System zu verstehen, dass sich aus dem Zusammenspiel unserer Erde, der Natur, der Menschen, ihrer Technik und aller ihrer Ideen und Dinge ergibt, die unvermeidlich aufeinander reagieren. James Lovelock hat dieser Idee, die wir schon in uralten Mythen finden, den Namen »Gaia-Konzept« gegeben75. Die Natur hat uns in Jahrmillionen hervorgebracht und kein anderes Tier außer uns hat die Fähigkeit entwickelt, seine Lebensgrundlagen zu zerstören. Aber bis dahin haben wir uns als die Meister des Überlebens bewiesen. Wir haben Erdbeben, Tsunami, Vulkanausbrüche, Klimakatastrophen und biblische Plagen jeder Art überlebt – am Anfang durch Flucht, am Ende durch Technik. Bis heute sind es nicht – wie Marx in den Feuerbach-Thesen geschrieben hat – die aufregenden Ideen, die die Welt verändern, sondern es ist das Zusammenspiel zwischen Natur und Technik, das uns immer wieder neue Wirkungsbereiche und Kräfte erschließt. So sind wir fähig geworden, die Natur bis weit über ihre Leistungsfähigkeit hinaus auszubeuten und jetzt reagiert Mutter Erde mit Klimaveränderungen und Seuchen. Sie erfährt uns als tödliche Viren, die sie loswerden muss. Eine interessante Theorie76.
Wären wir dem Covid 19 Virus und seinen jetzigen und künftigen Varianten schutzlos ausgeliefert, könnte er wie damals die Spanische Grippe 1,5 % der Menschen hinraffen. Es wird so nicht kommen, aber wenn wir die Seuche nicht als ungewöhnlich starke Warnung verstehen, auch den Klimawandel ernstzunehmen, wird das ein großer Fehler sein. Die Seuche können wir durch einen massiven Eingriff in unser soziales Verhalten in den Griff bekommen, den Klimawandel nicht. Vielleicht lernen wir aus dieser Krise, wie wir schrittweise und stets in Abwägung mit dem, was für unser Überleben aktuell und praktisch notwendig ist, die sinnlose Ausbeutung unserer Ressourcen eingrenzen und gleichwohl fähig bleiben, die Entwicklung von Wirtschaft und Technik auf die Steigerung der Lebensqualität für alle zu konzentrieren. Da sollten wir die Pascalsche Wette abschließen: Entweder gibt es den Klimawandel, dann müssen wir etwas tun, oder es gibt ihn nicht, dann haben wir jedenfalls Mutter Erde und den Generationen, die nach uns kommen, Respekt erwiesen.
- 1. »Wenn das Wasser fällt, zeigen sich die Klippen« – ein japanisches Sprichwort.
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