BVerfGE 4, 375; DÖV 1956, 307; DVBl 1956, 730; NJW 1956, 905

Titel zum Volltext

Daten

Fall: 
Schwerpunktparteien
Fundstellen: 
BVerfGE 4, 375; DÖV 1956, 307; DVBl 1956, 730; NJW 1956, 905
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
06.02.1956
Aktenzeichen: 
2 BvH 1/55
Entscheidungstyp: 
Urteil

Rechtsnormen

Seitennummerierung nach:

BVerfGE 4, 375

Seiten:


BVerfGE 4, 375 (375):
1. Ist durch die - für das Bundesverfassungsgericht bindende - Entscheidung eines Landesverfassungsgerichts ein Antragsteller, der nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG als "Beteiligter" in einer "öffentlich-rechtlichen Streitigkeit innerhalb eines Landes" zu betrachten ist, als nicht zur Anrufung des Landesverfassungsgerichts aktiv legitimiert abgewiesen worden, so kann er das Bundesverfassungsgericht anrufen.

2. Die Durchführung des Verhältnisausgleiches innerhalb eines Landesteils schließt nicht aus, daß die Zuteilung von Sitzen an eine Partei davon abhängig gemacht wird, daß sie mindestens 5% der im Lande abgegebenen gültigen Stimmen erreicht.

3. In Wahlkreisen mit durchschnittlich 67.000 Wählern dürfen von Parteien, die noch nicht im Landtag vertreten waren, höchstens 150 Unterschriften je Wahlkreisvorschlag gefordert werden.

  Urteil

des Zweiten Senats vom 6. Februar 1956

- 2 BvH 1/55 -

in dem Verfahrensrechtsstreit betreffend die Vereinbarkeit des Art. 3 Abs. 6 und Art. 25 Abs. 2 Satz 2 des Landtagswahlgesetzes für Baden-Württemberg vom 9. Mai 1955 (GBl. S. 71) mit der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. November 1953 (GBl. S. 173); - Antragsteller: Gesamtdeutsche Volkspartei, Landesverband Baden-Württemberg, vertreten durch den Landesvorstand; Antragsgegner: Der Landtag von Baden-Württemberg, vertreten durch den Landtagspräsidenten.

Entscheidungsformel:

Der Antrag wird als unbegründet zurückgewiesen.

  Gründe:

I.

Art. 28 der Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11.November 1953 enthält die Grundsätze über die Wahl der Abgeordneten des Landtags. Art. 28 Abs. 3 lautet:

"Das Nähere bestimmt ein Gesetz. Es kann die Zuteilung von Sitzen davon abhängig machen, daß ein Mindestanteil der im Lande


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abgegebenen Stimmen erreicht wird. Der geforderte Anteil darf fünf vom Hundert nicht überschreiten."

In Ausführung des Art. 28 ist das Gesetz über die Landtagswahlen (Landtagswahlgesetz) vom 9. Mai 1955 - GBl. S. 71 - ergangen. Art. 2 des Gesetzes verteilt die Abgeordnetensitze auf die Regierungsbezirke, auf die auch der Verhältnisausgleich beschränkt bleibt (Art. 3 Abs. 2 bis 5). In Art. 3 Abs. 6 heißt es weiter:

"Parteien, die weniger als 5 v. H. der im Land abgegebenen gültigen Stimmen erreicht haben, werden bei der Berechnung der Sitzzahlen nach Abs. 2 und bei der Verteilung von Sitzen nach Abs. 3 Satz 2 nicht berücksichtigt."

Art. 25 Abs. 2 Satz 2 des Landtagswahlgesetzes bestimmt:

"Parteien, die während der letzten Wahlperiode im Landtag nicht vertreten waren, bedürfen für ihre Wahlvorschläge außerdem der Unterschriften von mindestens 150 Wahlberechtigten des Wahlkreises."

Der Antragsteller hatte beim Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg beantragt, festzustellen, daß Art. 3 Abs. 6 und Art. 25 Abs. 2 Satz 2 des Landtagswahlgesetzes mit Art. 28 der Verfassung unvereinbar seien. Der Staatsgerichtshof hat den Antrag mit Urteil vom 10. Dezember 1955 als unzulässig zurückgewiesen, weil der Antragsteller nach Landesrecht nicht berechtigt sei, ein Verfahren nach Art. 68 Abs. 1 Ziff. 2 der Landesverfassung anhängig zu machen, weil das Landesrecht den Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde nicht kenne und weil eine politische Partei nach dem Recht des Landes auch nicht Partei in einem Verfassungsrechtsstreit vor dem Staatsgerichtshof sein könne.

Der Landesverband hat darauf am 12. Dezember 1955 das Bundesverfassungsgericht im Wege des Organstreits angerufen. Er hat beantragt, auszusprechen:

daß Art. 3 Abs. 6 und Art. 25 Abs. 2 Satz 2 des Landtagswahlgesetzes nicht der Verfassung entsprechen.

Ferner hat er Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt,


BVerfGE 4, 375 (377):
falls die Frist des § 71 Abs. 2 i.V.m. § 64 Abs. 3 BVerfGG nicht gewahrt sein sollte.

Der Antragsgegner hat Zurückweisung des Antrags beantragt.

II.

Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG ist das Bundesverfassungsgericht u. a. zuständig für öffentlich-rechtliche Streitigkeiten innerhalb eines Landes, soweit nicht ein anderer Rechtsweg gegeben ist. Dazu gehören jedenfalls Verfassungsstreitigkeiten innerhalb eines Landes. Um eine Landesverfassungsstreitigkeit handelt es sich im vorliegenden Fall.

Durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG soll eine lückenlose gerichtliche Kontrolle  aller  verfassungsrechtlichen Streitigkeiten innerhalb eines Landes gewährleistet werden. Das kommt durch die Fassung, "soweit" ein anderer Rechtsweg nicht gegeben ist, deutlich zum Ausdruck. Eine Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts ist daher nicht nur dann gegeben, wenn das Landesrecht für Organstreitigkeiten überhaupt keine Zuständigkeit des Landesverfassungsgerichts vorsieht, sondern auch soweit der Kreis der Antragsberechtigten nach Landesrecht enger ist als nach der die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts umschreibenden und von diesem Gericht maßgeblich auszulegenden Vorschrift des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG (§ 71 Abs. 1 Nr. 3 BVerfGG). Hat also das Landesrecht den Kreis der für Verfassungsstreitigkeiten aktiv Legitimierten enger gezogen, so kann ein nach Landesrecht nicht Antragsberechtigter das Bundesverfassungsgericht anrufen, wenn er nach Bundesrecht als "Beteiligter" in einem Verfassungsrechtsstreit zu betrachten ist.

Der Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg hat in seinem Urteil vom 10. Dezember 1955 entschieden, daß nach baden-württembergischem Landesrecht vor ihm eine politische Partei im Verfassungsstreit nicht auftreten kann. Diese Auslegung des Landesrechts ist für das Bundesverfassungsgericht bindend. Sie hindert aber nicht, daß das Bundesverfassungsgericht die für die Abgrenzung seiner Zuständigkeit maßgebenden Be


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stimmungen des Grundgesetzes dahin auslegt, daß politische Parteien vor dem Bundesverfassungsgericht - auch in einer Landesverfassungsstreitigkeit - antragsberechtigt sein können. Sie ist im Gegenteil die notwendige rechtliche Voraussetzung für die Bejahung der subsidiären Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts.

Nach dem Plenarbeschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Juli 1954 (BVerfGE 4, 27) können politische Parteien die Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status durch die rechtliche Gestaltung des Wahlverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht im Wege des Organstreits geltend machen. Das gilt auch für politische Parteien, die am Verfassungsleben auf Landesebene teilnehmen. Denn Art. 21 GG ist eine jener Vorschriften, die über ihre Geltung innerhalb der Verfassungsordnung der Bundesrepublik als Gesamtstaat hinaus in die Verfassungsordnung der Gliedstaaten (Länder) hineinwirken (vgl. BVerfGE 1, 227). Politische Parteien sind deshalb auch in Landesverfassungsstreitigkeiten, die vom Bundesverfassungsgericht zu entscheiden sind, antragsberechtigt.

Der Antragsteller ist eine politische Partei (vgl. BVerfGE 3, 22).

Demnach bestehen weder gegen die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG (§ 71 Abs. 1 Nr. 3 BVerfGG) noch gegen die Aktivlegitimation des Antragstellers Bedenken.

III.

Nach § 71 Abs. 2 i.V.m. § 64 Abs. 3 BVerfGG muß ein Antrag, der ein Verfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG einleitet, binnen sechs Monaten gestellt werden, nachdem die beanstandete Maßnahme dem Antragsteller bekanntgeworden ist. Demnach begann die Ausschlußfrist mit der Verkündung des Landtagswahlgesetzes am 24. Mai 1955 zu laufen. Sie wird grundsätzlich nur gewahrt durch rechtzeitige Einreichung eines schriftlichen Antrages beim Bundesverfassungsgericht (§ 23 BVerfGG).

Im vorliegenden Falle hat die Gesamtdeutsche Volkspartei


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innerhalb der Frist - nämlich am 2. September 1955 - nur den Staatsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg angerufen. Sie hätte ihre Landesverfassungsstreitigkeit bei dem nur subsidiär zuständigen Bundesverfassungsgericht mit Aussicht auf Erfolg nur anhängig machen können, wenn sie hätte voraussehen können, daß der Landesstaatsgerichtshof seine Zuständigkeit verneinen werde. Der Landesstaatsgerichtshof hatte sich damals zur Frage, ob vor ihm nach Landesrecht politische Parteien im Organstreit auftreten können, noch nicht geäußert. Andererseits hatte das Bundesverfassungsgericht bereits den - im Wortlaut mit Art. 68 Abs. 1 Nr. 1 der Landesverfassung übereinstimmenden - Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG dahin ausgelegt, daß politische Parteien in Wahlrechtsstreitigkeiten vor dem Bundesverfassungsgericht antragsberechtigt sind. Es war kein Grund ersichtlich, aus dem der Staatsgerichtshof für das Landesverfassungsrecht zu einer abweichenden Entscheidung der gleichen Rechtsfrage würde kommen können (vgl. Spreng-Birn-Feuchte, Komm. zur Verfassung des Landes Baden-Württemberg S. 232). Der Antragsteller mußte sogar damit rechnen, daß ein unmittelbar beim Bundesverfassungsgericht eingebrachter Antrag als unzulässig verworfen würde. Diese besondere Situation und die eigentümliche Verzahnung und Abgrenzung der Zuständigkeiten, die den Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht in Landesverfassungsstreitigkeiten abhängig macht von dem Ausschluß der Zuständigkeit des Landesstaatsgerichtshofs nach Landesverfassungsrecht, rechtfertigt es hier, für die Frage, ob die Ausschlußfrist gewahrt ist, das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht als Fortsetzung des Verfahrens vor dem Landesstaatsgerichtshof zu betrachten, so daß gleichsam das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht beim Landesstaatsgerichtshof beginnt. Deshalb ist die Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG im vorliegenden Fall als gewahrt zu betrachten, da der Antragsteller rechtzeitig den Landesstaatsgerichtshof und an die Urteilsverkündung unmittelbar anschließend das Bundesverfassungsgericht angerufen hat.
BVerfGE 4, 375 (380):
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