BVerfGE 5, 71; DÖV 1956, 437; DVBl 1956, 572; NJW 1956, 1065
Titel zum Volltext
Daten
- OVG Hamburg, 06.10.1955 - VI b VG 1107/55
- VG Stuttgart, 01.02.1956 - 2/I Nr. 821/55
Rechtsnormen
Seitennummerierung nach:
Seiten:
BVerfGE 5, 71 (71):
Zur Auslegung des Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG.
Beschluß
des Ersten Senats vom 13. Juni 1956
-- 1 BvL 54/55 --
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 44 des Gesetzes über die Entschädigung ehemaliger deutscher Kriegsgefangener vom 30. Januar 1954 (BGBl. I S. 5) auf Antrag des Landesverwaltungsgericht Hamburg und des Verwaltungsgericht Stuttgart.
Entscheidungsformel:
§ 44 des Gesetzes über die Entschädigung ehemaliger deutscher Kriegsgefangener (Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz -- KgfEG --) vom 30. Januar 1954 (BGBl. I S. 5) ist nichtig, soweit er die Bundesregierung ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrates Rechtsverordnungen zu erlassen, die nähere Vorschriften über die Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs enthalten.
Gründe:
A. -- I.
Das Gesetz über die Entschädigung ehemaliger deutscher Kriegsgefangener -- KgfEG -- vom 30. Januar 1954 (BGBl. I S. 5) gewährt ehemaligen Kriegsgefangenen Entschädigung in Geld und sieht die Gewährung von Darlehen und Beihilfen vor. Als Kriegsgefangene gelten nach § 2 Abs. 2 KgfEG auch Deutsche, die im ursächlichen Zusammenhang mit den Kriegsereignissen von einer ausländischen Macht festgehalten oder in ein ausländisches Staatsgebiet verschleppt wurden. Nach § 44 KgfEG erläßt die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates Rechtsverordnungen, die nähere Vorschriften über die Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs, über Voraussetzungen, Höhe, Laufzeit und Sicherung der Darlehen für die verschiedenen Arten der Vorhaben sowie über die Gewährung von Beihilfen enthalten.
In der Dritten Verordnung zur Durchführung des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes -- 3. DVO/KgfEG -- vom 3. Juni
BVerfGE 5, 71 (72):
1955 (BGBl. I S. 271) werden u.a. die Begriffe "Kriegsereignisse" und "festgehalten werden" (§ 2 Abs. 2 KgfEG) näher bestimmt. Kriegsereignisse sind nach § 1 Abs. 1 Ereignisse, die unmittelbar im Zusammenhang mit der Kriegführung des zweiten Weltkrieges gestanden haben. Ein ursächlicher Zusammenhang mit den Kriegsereignissen besteht nach § 1 Abs. 2 nicht, wenn Personen nach der Besetzung aus politischen Gründen, die in ihrer Person oder in den durch die Besetzung bedingten Verhältnissen gelegen haben, in Gewahrsam genommen worden sind. Unter "festgehalten werden" (§ 2 KgfEG) ist nach § 2 Abs. 1 der 3. DVO/KgfEG jede Art des Freiheitsentzuges zu verstehen, soweit er auf engbegrenztem Raum unter dauernder Bewachung stattfindet. Nach § 2 Abs. 2 liegt dagegen kein Festhalten im Sinne des Gesetzes vor, wenn Deutsche, die vor dem anrückenden Feind geflohen waren, in Lagern im Ausland zum Zwecke ihres Abtransportes untergebracht waren.
II.
Den Vorlagebeschlüssen liegen folgende Sachverhalte zugrunde:
1. Vor dem Landesverwaltungsgericht Hamburg ist ein Verwaltungsstreitverfahren der Eheleute N. gegen die Freie und Hansestadt Hamburg anhängig, mit dem die Kläger Ansprüche auf Zahlung von Kriegsgefangenenentschädigung verfolgen. Nach den Feststellungen des Gerichts sind die Kläger, die bis Anfang 1945 in Ostpreußen wohnten, auf der Flucht vor den sowjetischen Truppen im April 1945 zusammen mit anderen Flüchtlingen von einem Schiff mitgenommen und am 5. Mai 1945 in Aarhus (Dänemark) an Land gesetzt worden. Nach der Kapitulation wurden sie zusammen mit ehemaligen deutschen Soldaten in einem bewachten Lager, das sie nicht verlassen durften, interniert und wie Häftlinge behandelt. Im Dezember 1948 wurden sie in das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland entlassen.
Das Landesverwaltungsgericht hat das Verfahren durch Beschluß vom 6. Oktober 1955 -- VI b VG 1107/55 verb. m. 1108/ 55 -- auf Grund des Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesetzt und die
BVerfGE 5, 71 (73):
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Frage eingeholt, ob § 44 KgfEG insoweit mit Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 2, Art. 28 Abs. 1 Satz 1, Art. 80 Abs. 1 Satz 2 und Art. 92 Satz 1 GG vereinbar ist, als diese Vorschrift die Bundesregierung ermächtigt, Rechtsverordnungen zu erlassen, die nähere Vorschriften über die Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs enthalten.
2. Die Eheleute Dr. H. haben vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart Anfechtungsklage gegen die Stadt Ulm/Donau erhoben, mit der sie die Aufhebung von Verwaltungsakten, durch die ihre Anträge auf Gewährung von Kriegsgefangenenentschädigung abgelehnt worden sind, und die Anerkennung als Kriegsgefangene im Sinne von § 2 Abs. 2 KgfEG erstreben. Das Verwaltungsgericht hat festgestellt, daß die Anfechtungskläger in der Nacht vom 21. auf den 22. Oktober 1946 von einem bewaffneten sowjetischen Kommando aus ihrer Wohnung im sowjetisch besetzten Sektor Berlins abgeholt und anschließend in die Sowjetunion verbracht wurden. Zusammen mit anderen Deutschen waren sie in der Nähe von Gorki im Gelände des ehemaligen Militärlazaretts Karpowka untergebracht. Der Ehemann Dr. H. wurde gezwungen, in einem sowjetischen Betrieb zu arbeiten. Im Januar 1951 wurden die Anfechtungskläger entlassen. Seit Januar 1951 befinden sie sich im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland.
Das Verwaltungsgericht hat auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 1. Februar 1956 -- 2/I Nr. 821/55 -- das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ausgesetzt und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Frage eingeholt, ob § 44 KgfEG verfassungswidrig ist.
3. Beide Gerichte sind der Auffassung, daß die Kläger als Kriegsgefangene gelten (§ 2 Abs. 2 KgfEG), daß ihren Ansprüchen jedoch die 3.DVO/KgfEG entgegensteht, da deren §§ 1 und 2 den Kreis der nach dem Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz Berechtigten einschränken. Nach Ansicht der Gerichte ist aber
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die 3. DVO/KgfEG nicht anzuwenden, da die ermächtigende Vorschrift des § 44 KgfEG gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG verstoße. Das Landesverwaltungsgericht Hamburg ist darüber hinaus der Ansicht, daß Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 2, Art. 28 Abs 1 Satz I und Art. 92 Satz I GG verletzt seien, falls man § 44 KgfEG als Ermächtigung dcr Bundesregierung auffassen könnte, Bestimmungen des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes mit bindender Wirkung für die Rechtsprechung auszulegen.
III.
Das Bundesverfassungsgericht hat den Verfassungsorganen des Bundes, den Landesregierungen sowie den Beteiligten der Verfahren vor den Gerichten Gelegenheit gegeben, sich zu den Vorlagen zu äußern. Der Bundesminister für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte hat namens der Bundesregierung im Verfahren auf Antrag des Landesverwaltungsgerichts Hamburg erklärt, daß zu der Vorlage keine Stellungnahme abgegeben wird. Die Eheleute N. haben auf die Ausführungen des Landesverwaltungsgerichts Hamburg Bezug genommen.
Beide Verfahren sind zu gemeinsamer Entscheidung verbunden worden.
B. -- I.
Die Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung ergehen, da kein zum Beitritt Berechtigter dem Verfahren beigetreten ist (BVerfGE 2, 213 [217]).
II.
Die Anträge der vorlegenden Gerichte sind zulässig.
1. Zwar stehen in den Verfahren vor den vorlegenden Gerichten die §§ 1 und 2 der 3. DVO/KgfEG zur Anwendung. Beide Gerichte sind übereinstimmend der Ansicht, daß diese Vorschriften sich im Rahmen der Ermächtigung des § 44 KgfEG halten und auch nicht inhaltlich mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Das Landesverwaltungsgericht Hamburg hat dies im einzelnen ausgeführt; für das Verwaltungsgericht Stuttgart ergibt es sich aus dem Zusammenhang der Gründe des Beschlusses. Gegenstand des Normenkontrollverfahrens ist also nicht die inhaltliche
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Nachprüfung von Bestimmungen der 3. DVO/KgfEG -- eine Prüfung, zu der die vorlegenden Gerichte befugt sind (BVerfGE 1, 184 [189 ff.]).
Beide Gerichte sahen sich jedoch zur Vorlage veranlaßt, weil ihre Zweifel an der Anwendbarkeit der 3. DVO/KgfEG darauf beruhen, daß sie § 44 KgfEG, der die Rechtsgrundlage für die 3. DVO/KgfEG bildet, für verfassungswidrig halten. Von der Entscheidung dieser Frage hängt im Sinne von Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG die Entscheidung in den beiden Verwaltungsstreitverfahren ab.
2. Gegenstand der Entscheidung durch das Bundesverfassungsgericht ist also die Frage, ob § 44 KgfEG insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar ist, als danach die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates Rechtsverordnungen erläßt, die nähere Vorschriften über die Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs enthalten. Der Antrag des Verwaltungsgerichts Stuttgart, der § 44 KgfEG in vollem Umfang zur Prüfung stellt, ist daher insoweit zu beschränken (BVerfGE 3, 187 [195 f.]; 3, 208 [211]).
C.
Soweit § 44 KgfEG die Bundesregierung ermächtigt, mit Zustimmung des Bundesrates Rechtsverordnungen zu erlassen, die nähere Vorschriften über die Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs enthalten, verstößt er gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG.
I.
§ 44 KgfEG ermächtigt, soweit er hier zur Nachprüfung steht, die Bundesregierung, Rechtsverordnungen zu erlassen, die nähere Vorschriften über die Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs enthalten. Diese Ermächtigung unterscheidet sich von den übrigen im Kriegsgefangenenentschädigungsgesetz enthaltenen Ermächtigungen. Nach § 4 Abs. 2 KgfEG ist die Bundesregierung zum Erlaß einer Rechtsverordnung ermächtigt, welche die Reihenfolge der Auszahlung der Entschädigung an die Be
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rechtigten nach den Gesichtspunkten der sozialen Dringlichkeit regelt. § 44 KgfEG ermächtigt über seinen den Gegenstand dieses Normenkontrollverfahrens bildenden Teilinhalt hinaus die Bundesregierung, Rechtsverordnungen zu erlassen, die nähere Vorschriften über Voraussetzungen, Höhe, Laufzeit und Sicherung der Darlehen für die verschiedenen Arten der Vorhaben sowie über die Gewährung von Beihilfen enthalten. Die Ermächtigung des § 4 Abs. 2 KgfEG betrifft also lediglich die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Entschädigung an die Berechtigten ausgezahlt werden soll. Die übrigen in § 44 enthaltenen Ermächtigungen beziehen sich auf Einzelheiten von Leistungen, die in den §§ 28 ff. KgfEG eingehend behandelt sind. Demgegenüber bezieht sich die hier zur Nachprüfung stehende Ermächtigung auf die Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs und damit auf die Grundlage des Gesetzes überhaupt.
Diese Vorschrift ist mehrdeutig. Einmal könnte sie so gedeutet werden, daß sie die Bundesregierung zum Erlaß von Rechtsverordnungen ermächtigt, die die Anforderungen an den Nachweis des Entschädigungsanspruchs regeln (z. B. Vorlage bestimmter Urkunden, Glaubhaftmachung von Tatsachen). Die Ermächtigung ist aber so weit gefaßt, daß ihr Wortlaut auch eine Regelung der materiellen Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs (z. B. Kreis der Berechtigten, Begriffsbestimmung der im Gesetz verwendeten Begriffe) decken könnte.
II.
Eine Vorschrift, die so vage ist, entspricht nicht Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach Inhalt, Zweck und Ausmaß einer Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden müssen. Daran fehlt es, wenn nicht mehr vorausgesehen werden kann, in welchem Fall und mit welcher Tendenz von der Ermächtigung Gebrauch gemacht werden wird und welchen Inhalt die auf Grund der Ermächtigung erlassenen Vorschriften haben können (BVerfGE 1, 14 [60]; 2, 307 [334]; 4, 7 [21]). Der Gesetzgeber muß selbst die Entscheidung treffen, daß bestimmte Fragen geregelt werden sollen, er muß die Grenzen einer solchen Regelung festsetzen und
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angeben, welchem Ziel die Regelung dienen soll (BVerfGE 2, 307 [334]). Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung müssen sich, wenn sie nicht ausdrücklich im Gesetz bestimmt sind, jedenfalls mit Deutlichkeit aus ihm ergeben (BVerfGE 2, 307 [334 f.]; 4, 7 [21]).
Es kann schon zweifelhaft sein, ob in der allgemeinen Wendung, daß die Bundesregierung die näheren Vorschriften über die Voraussetzungen des Entschädigungsanspruchs durch Rechtsverordnungen regelt, eine hinreichend deutliche Bezeichnung des Inhalts der Ermächtigung liegt. Jedenfalls sind Ausmaß und Zweck der durch Verordnung zu treffenden Regelung weder im Gesetz bestimmt noch zu ermitteln. Das Ausmaß einer Regelung, zu der ermächtigt wird, ist im Sinne von Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG dann bestimmt, wenn das Gesetz die Grenzen der Regelung bezeichnet oder diese sich einwandfrei aus ihm ergeben. Solche Grenzen sind hier nicht erkennbar, wie die Ausführungen über die verschiedenen Möglichkeiten einer Auslegung des § 44 KgfEG zeigen. Schließlich läßt sich nicht feststellen, welchen Zweck die Bundesregierung bei der von ihr zu treffenden Regelung verfolgen soll; denn das Gesetz gibt weder an, noch läßt sich aus ihm ermitteln, welches vom Gesetzgeber gesetzte "Programm" durch die Verordnung erreicht werden soll (vgl. Wolff, AöR Bd. 78, S. 194 [197]).
Da § 44 KgfEG, soweit er Gegenstand des Normenkontrollverfahrens ist, demnach wegen Verstoßes gegen Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG nichtig ist, bedarf es keiner Prüfung, ob diese Vorschrift auch aus einem anderen Grunde gegen das Grundgesetz verstößt.