Können Sie diesen Inhalt erweitern? Als Leser kommentieren oder als Co-Autor bearbeiten.
Die Anfechtung (§ 142 I BGB) - Schema
Kurzeinführung
a) Begriff: Die Anfechtung wird im BGB nicht näher erläutert, sondern vielmehr vorausgesetzt. Beschrieben wird lediglich die Wirkung der Anfechtung in § 142 I BGB („so ist es als von Anfang an nichtig anzusehen“). Demnach ist ein lediglich anfechtbares Rechtsgeschäft von einem nichtigen Rechtsgeschäft zu unterscheiden.1 Während ein nichtiges Rechtsgeschäft so zu behandeln ist, als ob es von Anfang an nie bestanden hätte, hat die Anfechtung rückwirkende Kraft und vernichtet das Rechtsgeschäft von Anfang an (ex tunc).2 Problematisch in diesem Zusammenhang ist der Umstand, ob auch ein bereits nichtiges Rechtsgeschäft angefochten werden kann.3 Dies kann allerdings ganz allgemein mit dem Argument dahingehend bejaht werden, dass wenn dies nicht ginge, eine Einschränkung der Privatautonomie (Art. 2 I GG) darstellen würde.
b) Das Anfechtungsrecht ist ein Gestaltungsrecht4 und somit bedingungsfeindlich.5 Das hat den Grund, weil mit der Ausübung eines Gestaltungsrechts die Rechtslage einseitig geändert werden kann. Gestaltungsrechte im BGB weißen stets eine gemeinsame, sich ähnelnde, Grundstruktur auf, die sich auf mehr oder weniger drei Voraussetzungen reduzieren lässt: (1) Erklärung (meist in Form einer empfangsbedürftigen Willenserklärung6). Der Zweck dahinter ist einleuchtend: Andere Rechtsteilnehmer müssen die Möglichkeit haben, den Willen des Anfechtenden wahrnehmen zu können. (2) Grund. Gestaltungsrechte haben meist eine erhebliche Tragweite und sollen nicht aus heiterer Laune heraus ausgeübt werden. (3) Kein Ausschluss. Dies geschieht bei der Anfechtung einerseits automatisch durch Ausschlussfristen (vgl. z. B. §§ 121 I 1, 124 I BGB), andererseits durch ein Nachgeben des Anfechtungsgegners (vgl. § 144 I BGB).
c) Nachfolgend eine genaue Übersicht über die Prüfpunkte der Anfechtung. In einer Klausur sollte lediglich auf die problematischen Punkte näher eingegangen werden. Es empfielt sich bei den Anfechtungsgründen mehrere in Betracht kommende zu prüfen, voneinander abzugrenzen und sich letztendlich für einen der Gründe zu entscheiden.
- Kurzeinführung
- 1. Zulässigkeit der Anfechtung7
- 2. Anfechtungserklärung (§ 143 I BGB)8
- 3. Anfechtungsgrund, §§ 119, 120, 123 BGB
- 4. Kausalität14
- 5. Kein Ausschluss, §§ 121 I 1, 124 I, 144 I BGB
- 6. Rechtsfolgen der Anfechtung
1. Zulässigkeit der Anfechtung15
- Grds. bei allen Rechtsgeschäften möglich
- Teilanfechtungen möglich, sofern teilbare Leistung i.S.d. § 139 BGB
2. Anfechtungserklärung (§ 143 I BGB)16
- Grds. formlos möglich;
- Der Tatbestand einer Willenserklärung muss vorliegen (Objektiver Tatbestand: Handlung, Kundgabe entweder ausdrücklich oder kunkludent und Erkennbarkeit des Rechtsbindungswillens. Subjektiver Tatbestand: Handlungswille, Erklärungsbewusstsein und Geschäftswille)17;
- Es gelten hierfür die gleichen Wirksamkeitsvoraussetzungen wie für empfangsbedürftige Willenserklärungen auch, d.h. Wirksamwerden mit Abgabe und Zugang und Möglichkeit der Kenntnisname unter normalen Umständen.18
3. Anfechtungsgrund, §§ 119, 120, 123 BGB
Die einzelnen Anfechtungsgründe sind in den oben zitierten Normen enthalten. Hierbei kann wie folgt unterschieden werden:
a) Die Anfechtung wegen Irrtums
aa) Inhaltsirrtum - § 119 I Var. 1 BGB
Wer über den Inhalt einer Erklärung im Irrtum ist, verbindet mit seiner Erklärung eine andere rechtliche Bedeutung, sodass also Wille und Erklärung unbewusst auseinanderfallen.19
(1) Identitätsirrtum20
- Unterfall des Inhaltsirrtums;
- Erklärender macht sich falsche Vorstellungen über die Identität des Geschäftsgegenstandes oder des Geschäftspartners (error in persona, error in objecto);
- Abgrenzung zum Eigenschaftsirrtum (§ 119 II BGB): Beim Eigenschaftsirrtum sind Vertragspartner und -Gegenstand inhaltlich zutreffend, ihnen fehlen aber bestimmte Eigenschaften.
(2) Irrtum über die Geschäftsart21
- Unterfall des Inhaltsirrtums;
- Erklärender wollte ganz anderen Vertragstyp herbeiführen, als objektiv zu erkennen war;
- Objektive Erklärung und wirklicher Wille stimmen hinsichtlich des Geschäfts nicht überein.
(3) Rechtsfolgenirrtum22
- Unterfall des Inhaltsirrtums;
- Nur beachtlich, wenn Erklärender bestimmte Rechtsfolge mit seiner Willenserklärung herbeiführen will;
- Tritt Rechtsfolge kraft Gesetzes ein oder im Wege ergänzender Vertragsauslegung, unabhängig vom Willen des Erklärenden, kommt eine Anfechtung nicht in Betracht.
bb) Erklärungsirrtum - §§ 119 I Var. 2, 120 BGB
In diesem Fall „irrt sich der Erklärende unbewusst über eine äußere Erklärungshandlung infolge einer motorischen Fehlleistung durch Verschreiben oder Versprechen (§ 119 I Var. 2 BGB). Ein Erklärungsirrtum liegt auch vor bei der unbewusst unrichtigen Übermittlung einer Erklärung durch einen Erklärungsboten […] § 120 BGB“.23
cc) Fehlendes Erklärungsbewusstsein - § 119 I Var. 1 BGB24
dd) Kalkulationsirrtum25
- Kalkulationsirrtum berechtigt nicht zur Anfechtung;
- Verdeckter Kalkulationsirrtum (Berechnung wird nicht vorgelegt, sondern nur das Ergebnis) ist unbeachtlich;
- Offener Kalkulationsirrtum: Kann im Wege der Auslegung eine Lösung gefunden werden? Wenn innere Widersprüchlichkeit → Nichtigkeit.
ee) Eigenschaftsirrtum - § 119 II BGB
Hier stimmen Erklärung und Wille überein, allerdings ist dem Erklärenden im Vorfeld ein Fehler bei der Willensbildung unterlaufen.26 Grds. wird die Motivation, warum jemand eine Entscheidung trifft, einen Vertrag einzugehen, vom BGB nicht geschützt. In diesem Fall ist aber von entscheidender Bedeutung das Tatbestandsmerkmal des § 119 II HS. 2 BGB („verkehrswesentliche Eigenschaften von Personen oder Sachen“).
Eigenschaften sind die gegenwärtigen, wertprägenden Merkmale tatsächlicher oder rechtlicher Art, die in der Person oder der Sache selbst begründet sind und eine gewisse Beständigkeit aufweisen.27
Verkehrswesentlich ist eine Eigenschaft immer dann, wenn sie als wesentlich für den konkreten Vertragsinhalt zu begreifen ist.28
b) Anfechtung wegen arglistiger Täuschung oder widerrechtlicher Drohung - § 123 I BGB
aa) Arglistige Täuschung - § 123 I Var. 1 BGB
- Täuschung kann durch aktives Tun oder Unterlassen geschehen29;
- Täuschung ist das bewusste Erregen eines Irrtums durch Vorspiegeln falscher oder oder (pflichtwidriges) Unterdrücken wahrer Tatsachen30;
- Arglist meint, dass die Täuschung vorsätzlich begangen werden muss, hiernach genügt bedingter Vorsatz.31
bb) Widerrechtliche Drohung - § 123 I Var. 2 BGB
- Drohung ist das Inaussichtstellen eines künftigen Übels, auf dessen Eintritt der Drohende Einfluss zu haben vorgibt32;
- Bei der Widerrechtlichkeit werden drei Fallgruppen unterschieden: Widerrechtlichkeit des Mittels, Widerrechtlichkeit des Zwecks, Widerrechtlichkeit der Zweck-Mittel-Relation.33
4. Kausalität34
- In beiden Fällen der oben besprochenen Anfechtungsgründe muss die Abgabe der Willenserklärung ursächlich durch den Irrtum oder die arglistige Täuschung oder widerrechtliche Drohung hervorgerufen worden sein.
5. Kein Ausschluss, §§ 121 I 1, 124 I, 144 I BGB
- Frist bei der Irrtumsanfechtung gem. § 121 I 1 BGB „unverzüglich“;
- Frist bei Anfechtung nach § 123 I BGB richtet sich nach § 124 I BGB („binnen eines Jahres“).
6. Rechtsfolgen der Anfechtung
a) Bei der Anfechtung wegen Irrtums - § 119, 120 BGB
aa) Nichtigkeit ex tunc - § 142 I BGB
bb) Schadensersatz nach § 122 BGB
Ersetzt wird nur der Vertrauensschaden, d.h. „der Erklärungsgegner ist so zu stellen, wie er stehen würde, wenn er nicht auf die Gültigkeit der Erklärung vertraut hätte, also nie etwas von dem Geschäft gehört hätte“.35
b) Bei der Anfechtung nach § 123 I BGB
aa) Nichtigkeit ex tunc - § 142 I BGB
bb) Beachte: Kein Ersatz des Vertrauensschadens gem. § 122 BGB, diese Norm bezieht sich nur auf die Irrtumsanfechtung.36
- 1. Köhler, BGB AT, § 7., Rz. 68.
- 2. Palandt/Ellenberger, BGB, Überblick vor § 104, Rz. 33; § 142, Rz. 2.
- 3. dies., BGB, Überblick vor § 104, Rz. 34.
- 4. Köhler, BGB AT, § 7., Rz. 75.
- 5. ders., BGB AT, § 17., Rz. 12.
- 6. ders., BGB AT, § 17., Rz. 12.
- 7. ders., BGB AT, § 7., Rz. 72.
- 8. ders., BGB AT, § 7., Rz. 76.
- 9. Rüthers/Stadler, Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 30 f.
- 10. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 33 f.
- 11. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 36 f.
- 12. Rüthers/Stadler, Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 38 m.w.N.
- 13. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 39–45.
- 14. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 72, 80, 88.
- 15. ders., BGB AT, § 7., Rz. 72.
- 16. ders., BGB AT, § 7., Rz. 76.
- 17. Führich, WirtschaftsprivatR, § 4, Rz. 109 ff. mit grafischer Darstellung auf S. 55.
- 18. ders., WirtschaftsprivatR, § 4, Rz. 116.
- 19. ders., WirtschaftsprivatR, § 5, Rz. 191.
- 20. Rüthers/Stadler, Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 30 f.
- 21. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 33 f.
- 22. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 36 f.
- 23. Führich, WirtschaftsprivatR, § 5, Rz. 192.
- 24. Rüthers/Stadler, Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 38 m.w.N.
- 25. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 39–45.
- 26. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 47.
- 27. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 48.
- 28. Führich, WirtschaftsprivatR, § 5, Rz. 193 m.w.Bsp.
- 29. Rüthers/Stadler, Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 76–78.
- 30. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 75.
- 31. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 79.
- 32. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 84.
- 33. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 85–87 m. Bsp.
- 34. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 72, 80, 88.
- 35. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 66.
- 36. dies., Allgemeiner Teil des BGB, § 25., Rz. 92.