Können Sie diesen Inhalt erweitern? Als Leser kommentieren oder als Co-Autor bearbeiten.
Das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II 1 GG) – Schema
Kurzeinführung
(1) Art. 2 II 1 GG enthält zwei Grundrechte: Das Recht auf Leben und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das Recht auf Leben stellt im Grundgesetz „einen Höchstwert dar“,1 sodass die menschliche Existenz rein rechtlich von der Vernichtung geschützt ist. Die Abschaffung der Todesstrafe ist somit darin angelegt, wenn auch nicht offensichtlich, aber sodann in Art. 102 GG nochmals ausdrücklich bestätigt.2 Das Recht auf körperliche Unversehrtheit hängt damit insofern eng zusammen.3 Dieser kommt vor allem im Umweltrecht eine weitere hohe Bedeutung zu, da sich ein Umweltgrundrecht nicht aus der Verfassung ableiten lässt.4 Schwierig ist dabei, inwieweit auch rein psychische Einwirkungen unter den Anwendungsbereich des Art. 2 II 1 Alt. 2 GG fallen.5 Ferner betont Art. 2 II 1 GG aus historischer Sicht nochmals die Abkehr von der nationalsozialistischen Willkürherrschaft.6 Das Bundesverfassungsgericht leitet aus Art. 2 II 1 GG eine objektiv-rechtliche Dimension ab, also eine staatliche Pflicht zum Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit.7
(2) Ferner ist fraglich, ab wann das Leben, also das menschliche Dasein, als vom Grundgesetz geschützt zu betrachten ist. Für den Lebensbeginn gibt es mehrere Ansatzpunkte: Rechtlich klar fassbar dürfte der Fall der vollendeten Geburt sein, § 1 BGB. Es stellt sich aber auch hier die Frage nach dem Schutz des noch ungeborenen Lebens: Parallel zum Strafrecht könnte man auf den Beginn der Eröffnungswehen abstellen.8 Nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts beginnt das Leben „jedenfalls vom 14. Tage nach der Empfängnis an“.9 Eine noch weitergehende Ansicht will das Leben bereits schon mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnen lassen.10 Diese Meinung wäre jedenfalls im Hinblick auf einen möglichst effektiven Grundrechtsschutz grundsätzlich begrüßenswert. Jedoch gilt wie immer bei Problemfällen in Klausuren, dass es zunächst überhaupt gut ist diese zu erkennen und sodann im Prinzip jede Meinung mit einer entsprechenden Begründung vertretbar sein dürfte.
Die selbe Frage in Grün stellt sich sodann, ab wann das Leben endet: Weitgehend Einigkeit besteht jedenfalls darin, dass Art. 2 II 1 Alt. 1 GG kein Recht auf Freitod beinhaltet, sondern jener unter die allgemeine Handlungsfreiheit in Art. 2 I GG fällt.11 Parallel zum Strafrecht kann man auch hier auf den Hirntod als das Lebensende abstellen.12 Im Hinblick auf den medizinischen Fortschritt, der sogar Herztransplantationen erlaubt, erscheint ein Abstellen auf ein multiples Organversagen nicht mehr ganz sachgerecht. Dabei hängt schließlich die Schutzwürdigkeit des menschlichen Lebens in keinem Fall von seiner Dauer ab.13
(3) Eine Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit kann zu verneinen sein, wenn der Betroffene vorher in den Eingriff eingewilligt hat, was letztendlich Ausfluss des Selbstbestimmungsrechts ist.14 Ferner können sich Abgrenzungsschwierigkeiten bei der Erheblichkeit der Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit zu bloßen Bagatellen ergeben: Beispielsweise das Abschneiden von Haaren.15 Es liegt kein Eingriff bei nur geringfügigen Beeinträchtigungen und somit zumutbaren Eingriffen in die Körpersphäre vor.16 Freilich führt dies aber zu (dogmatischen) Folgeproblemen: Die Zumutbarkeit wird im Rahmen der Verhältnismäßigkeit geprüft und nicht schon beim Eingriff.17 - Ferner fragt sich auf wen abzustellen ist: Auf einen objektiv verständigen Durchschnittsmenschen oder auf den subjektiv Betroffenen. - Schließlich fragt sich, was dann noch zumutbar im Sinne von sozialadäquat ist und was nicht. Wie oben dürfte jede Auffassung mit einer entsprechenden Begründung im wahrsten Sinne des Wortes gleichgültig sein.
Prüfungsschema
I) Schutzbereich
1) Sachlicher Schutzbereich
- Recht auf Leben: Körperliches Dasein im Sinne der biologisch-physischen Existenz des Menschen.18
- Recht auf körperliche Unversehrtheit: Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinn und das psychisch-seelische Wohlbefinden.19
2) Persönlicher Schutzbereich
- Grundsätzlich sind nur natürliche Personen Träger des Grundrechts
- (P): Wann beginnt und endet das Leben? - Nasciturus
II) Eingriff
1) Vorliegen eines Eingriffs? (P): Unwesentliche Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit
2) vorherige freiwillige Einwilligung
III) Rechtfertigung
1) Einschränkbarkeit „auf Grund eines Gesetzes“ gem. Art. 2 II 3 GG, also durch einfachen Gesetzesvorbehalt. „Wegen der Intensität die staatliche Eingriffe in den Schutzbereich des Art. 2 II 1 GG haben können, ergibt sich aus der Wesentlichkeitslehre, dass Eingriffe in das Leben und regelmäßig auch Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit durch Parlamentsgesetz [formelle Gesetze] geregelt sein müssen“.20
2) Schranken der Einschränkbarkeit:
- Speziell: Art. 102 und Art. 104 GG
- Allgemein: Strenge Verhältnismäßigkeisprüfung, da das Recht auf Leben eng mit der Menschenwürdegarantie zusammenhängt.21
Fallbeispiel
(nach BverfGE 16, 194 ff.)
Die kleinkriminellen Machenschaften des Gangsters Gernhart (G) laufen in letzter Zeit nicht gut. Nachdem er diesen Monat nun schon das fünfte Mal beim Klauen von Dosenravioli im Supermarkt erwischt wurde, muss er sich schließlich vor dem Amtsgericht für seine Taten verantworten. Aufgrund seiner sehr launischen Art, die G in der Hauptverhandlung an den Tag legt, hegt der Amtsrichter arge Bedenken an dessen Zurechnungsfähigkeit. Deshalb ordnet er eine Rückenmarksuntersuchung bei G an. Verletzt die richterliche Anordnung die Grundrechte des G?
Lösungsvorschlag
Die Anordnung zur Hirnstrommessung könnte das Grundrecht des G auf körperliche Unversehrtheit in Art. 2 II 1 Alt. 2 GG verletzen. Das ist dann der Fall, wenn die richterliche Anordnung in den Schutzbereich dieses Grundrechts eingreift ohne verfassungsrechtlich gerechtfertigt zu sein.
1) Schutzbereich. G ist als natürliche Person Träger des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit. Sachlich ist davon die Gesundheit im biologisch-physiologischen Sinne erfasst. Die richterlich angeordnete Maßnahme dient dazu die Gesundheit bei G zu untersuchen. Daher ist der Schutzbereich von Art. 2 II 1 Alt. 2 GG eröffnet.
2) Eingriff. Es fragt sich, ob die richterliche Anordnung auch als Eingriff zu werten ist. Das ist nach dem modernen Eingriffsbegriff stets dann der Fall, wenn die Maßnahme die Ausübung der Grundrechte des G auch nur faktisch beeinträchtigt. Im Rahmen der medizinischen Untersuchung wird dem G Rückenmark entnommen. Das geht zwingend mit einer vorherigen Verletzung des Körpers einher und birgt auch gewisse Risiken. Somit liegt ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des G vor.
3) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Nach Art 2 II 3 GG bedürfen Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit einer formell gesetzlichen Grundlage.
a) In Betracht kommt § 81a StPO. Danach dürfen körperliche Untersuchungen beim Beschuldigten zur Feststellung von Tatsachen angeordnet werden. Von der formellen und materiellen Verfassungsmäßigkeit des § 81a StPO ist auszugehen.
b) Es fragt sich aber, ob das Gericht die Vorschrift auch verhältnismäßig angewandt hat. Das ist dann der Fall, wenn die Untersuchung des Rückenmarks einen legitimen Zweck verfolgt, dazu geeignet und erforderlich und schließlich auch zumutbar, also angemessen ist.
aa) Die Untersuchung dient der Feststellung der Zurechnungsfähigkeit des G. Das ist ein legitimer Zweck. Sie erscheint auch zur Erreichung dieses Ziels nicht gänzlich untauglich, weshalb sie geeignet ist.
bb) Fraglich ist, ob die Untersuchung auch erforderlich ist. Das ist der Fall, wenn es keine milderen, ebenso wirksamen Mittel zur Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit gäbe. In Betracht kommt die Heranziehung eines psychiatrischen Sachverständigen. Allerdings können hier restliche Zweifel verbleiben. Somit ist die Maßnahme auch erforderlich. [Eine andere Auffassung ist hier freilich auch sehr gut vertretbar]
cc) Schließlich müsste die Untersuchung auch angemessen, also verhältnismäßig im engeren Sinne sein. Die Entnahme von Rückenmark stellt einen relativ schweren körperlichen Eingriff dar, bei dem trotz medizinisch sorgfältigem Arbeiten immer noch ein gewisses Restrisiko verbleibt. Setzt man dies in Relation zu der Schwere der Tat des G (Dosenravioli im Supermarkt klauen) und dem verfolgten Ziel (Feststellung der Unzurechnungsfähigkeit), so steht dieses Ziel hier in jedem Fall außer Verhältnis zum eingesetzten Mittel. Etwas anderes ergäbe sich etwa bei einer schmerzlosen Hirnstrommessung oder wenn G mehrere schwere Verbrechen begangen hätte.
4) Ergebnis: Daher ist das Grundrecht des G auf körperliche Unversehrtheit verletzt.
- 1. s. BVerfGE 49, 24 (53).
- 2. Münch/Kunig, GG Bd. 1, Art. 2, Rz. 44 aA.
- 3. Manssen, StaatsR II, § 12., Rz. 275.
- 4. Erbguth/Schlacke, UmweltR, § 4, Rz. 9.
- 5. Münch/Kunig, GG Bd. 1 Art. 2, Rz. 63.
- 6. Münch/Kunig, GG Bd. 1, Art. 2, Rz 44 aE.
- 7. BVerfGE 18, 112; 39, 1.
- 8. BGHSt 32, 194; Rengier, StrafR BT II, § 3., Rz 2 f.
- 9. BVerfGE 39, 1 (37).
- 10. Münch/Kunig, GG Bd. 1, Art 2, Rz. 49.
- 11. Sodan/Sodan, GG, Art. 2, Rz. 21; Münch/Kunig, GG Bd. 1, Art. 2, Rz. 50; anders: Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, StaatsR II, § 9, Rz. 419.
- 12. Sodan/Sodan, GG, Art. 2, Rz. 20; Rengier, StrafR BT II, § 3., Rz. 7.
- 13. BVerfGE 115, 118 (152, 158).
- 14. Schulze-Fielitz/Dreier, GG Bd. 1, Art. 2 II, Rz. 55.
- 15. Sodan/Sodan, GG, Art. 2, Rz. 29.
- 16. BVerfGE 17, 108 (115) – Hirnstrommessung.
- 17. Münch/Kunig, GG Bd. 1, Art. 2, Rz. 64.
- 18. Manssen, StaatsR II, § 12., Rz. 274.
- 19. BVerfGE 56, 54 (73 ff.); Mannsen, StaatsR II, § 12., Rz. 275.
- 20. s. Pieroth/Schlink/Kingreen/ Poscher, StaatsR II, § 9, Rz. 424.
- 21. BVerfGE 115, 118 (152, 158), Pieroth/Schlink/Kingreen/ Poscher, StaatsR II, § 9, Rz. 430b ff.