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Das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG) – Schema

Kurzeinführung

(1) Das allgemeine Persönlichkeitsrecht stellt eines der nicht explizit normierten, aber von der Rechtsprechung entwickelten Grundrechten dar.1 Grundlegend für dessen Entwicklung waren die Rechtsgedanken, welche von Art. 2 I GG ausgingen.2 Darüber hinaus wird das Grundrecht durch Art. 1 I GG beeinflusst, welcher daneben als Leit- und Auslegungslinie dient.3 Im Übrigen sollte jedoch Zurückhaltung bei der „Erfindung“ neuer Grundrechte durch die Verbindung mit Art. 1 I GG geboten sein, da letztendlich die Gefahr besteht die Menschenwürdegarantie zu banalisieren.4 Für die Klausur muss beachtet werden, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht zwar die allgemeine Handlungsfreiheit aufgrund von Spezialität verdrängt, allerdings hinter spezielleren Grundrechten (z. B. Art. 10 I GG) zurücktritt.5

(2) Zweck des allgemeinen Persönlichkeitsrecht ist es noch unbekannten Gefährdungen entgegenzuwirken.6 Somit „füllt [das allgemeine Persönlichkeitsrecht] Lücken im Persönlichkeitsschutz aus, die hier trotz Anerkennung einzelner Persönlichkeitsrechte verblieben und im Laufe der Zeit aus verschiedenen Gründen immer fühlbarer geworden waren“.7 Dessen Schutzbereich lässt sich zwar nicht abschließend bestimmen, jedoch kann grob gesagt werden, dass es dem Schutz der engeren persönlichen Lebenssphäre zugute kommt und somit das Grundrecht auf Achtung der Privatsphäre darstellt.8 Als Ausprägungen hiervon sind beispielsweise zu nennen:

  • Das Recht auf korrekte Darstellung der eigenen Person in Wort, Schrift und Bild9;
  • Der Schutz des Namens10 und der Ehre11;
  • Der Schutz der engeren persönlichen Lebenssphäre oder Privatsphäre (z. B. Sexualleben und Familie)12;
  • Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung13 und das Recht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität von informationstechnischen Systemen (Computergrundrecht)14;
  • Und nicht zuletzt auch ein Grundrecht auf Vergessen15

(3) Schließlich muss noch beachtet werden, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht mit seiner einfachgesetzlichen Ausgestaltung trotz vieler Parallelen vermengt werden darf16: Es kommt nicht zu einer Drittwirkung, sondern bleibt bei dem abwehrrechtlichen Grundsatz. Der wichtigste Unterschied ist, dass das verfassungsrechtliche Persönlichkeitsrecht dem Gesetzgeber einen Rahmen setzt, in dem er agieren kann. Zusätzlich wird Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG durch speziellere Grundrechte verdrängt. Das ist beim einfachgesetzlichen Persönlichkeitsrecht nicht der Fall. Es reicht weiter und schließt z. B. das Briefgeheimnis mit ein.

Schematische Übersicht

I) Schutzbereich

1) Persönlicher Schutzbereich

  • Alle natürlichen Personen
  • (P): auch juristische Personen nach Art. 19 III GG? Wird aufgrund der Nähe zur Menschenwürdegarantie kritisch gesehen und ist letztendlich für die verschiedenen Ausprägungen des Grundrechts differenziert zu beurteilen17

2) Sachlicher Schutzbereich

  • Nicht abschließend, Lückenfüllungsfunktion
  • Aber insgesamt: Schutz und Gewährleistung der engeren persönlichen Lebenssphäre und ihrer Grundbedingungen18

II) Eingriff

  • Klassischer Eingriffsbegriff: jede Maßnahme der öffentlichen Hand, die final, unmittelbar, durch Rechtsakt sowie mit Befehl und Zwang gegenüber dem Einzelnen angeordnet oder durchgesetzt wird.19 Ist aber praktisch eher selten.
  • Wichtiger sind beim allgemeinen Persönlichkeitsrecht die mittelbar faktischen Eingriffe.20 Also jedes staatliche Handeln, das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht, gleichgültig ob diese Wirkung final oder unbeabsichtigt, unmittelbar oder mittelbar, rechtlich oder faktisch, mit oder ohne Befehl und Zwang erfolgt.21 Das liegt auch daran, dass die Erhebung, Speicherung und Weitergabe von Daten meist vom Betroffenen so nicht unmittelbar wahrgenommen wird.

III) Rechtfertigung

  • „Eingriffe in das allgemeine Persönlichkeitsrecht bedürfen einer formell-gesetzlichen Grundlage. Die Rechtsprechung zieht insoweit die Schranken des Art. 2 I GG entsprechend heran“.22
  • Strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung: Je schwerer der Eingriff, desto gewichtiger müssen die rechtfertigenden öffentlichen Interessen sein.23
  • Das Bundesverfassungsgericht hat für die Handhabung der Verhältnismäßigkeitsprüfung hier die Sphärentheorie entwickelt, wonach zwischen Intim-, Privat- und Sozialsphäre zu unterscheiden ist.24
  • Intimsphäre meint den letzten unantastbaren Bereich menschlicher Freiheit, auf den der Staat nicht zugreifen darf.25 „Eine Abwägung nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip findet hier nicht statt“.26 Beispiele: Äußerungen innerster Gefühle, Sexualität.
  • Privatsphäre meint den Lebensbereich, der der Öffentlichkeit entzogen ist. In ihn darf nur unter strikter Wahrung des Verhätnismäßigkeitksprinzips zugunsten überwiegender Allgemeininteressen eingegriffen werden.27 Beispiel: Wohnung.
  • Sozialsphäre meint den Bereich, in der sich das Individuum bewusst in der Öffentlichkeit bewegt. Eingriffe können wie solche in die allgemeine Handlungsfreiheit gerechtfertigt werden.28
  • Freilich muss beachtet werden, dass die Sphären kein starres Argumentationsmuster bilden, sondern vielmehr eine gewisse Orientierung bieten sollen und können.29

Fallbeispiel

Die zwischen F und M anfangs harmonisch verlaufende Ehe beginnt nach 5 Jahren langsam aber sicher auf eine erneute Krise zuzusteuern. In deren Verlauf distanziert sich die F immer weiter von M und bezieht schließlich das Obergeschoss des gemeinsamen Hauses. An einem schönen Sonntag im Frühjahr eskaliert schließlich die Situation, der zuvor mehrere Streitereien vorausgegangen waren. M macht wieder einmal in der Küche seine heiß geliebten Pfannkuchen. Bei F, die den Geruch von „Ms fettigen, angebratenen Dingern“ nicht mehr ausstehen kann, bringt dies das Fass endgültig zum Überlaufen. Wutentbrannt huscht sie in den Keller, schnappt sich ein Beil und schlägt es dem nichts ahnenden M mit Tötungsabsicht in den Rücken. Dieser überlebt mit Glück. Bei der späteren Verhandlung vor dem Landgericht wird M wegen versuchten Mordes verurteilt. Das Gericht stützt das Urteil unter anderem auf das von F geführte Tagebuch, in dem sie ihre Tötungsphantasien gegenüber M detailliert beschrieb und dessen „garstige Kochkünste“ verteufelte. Ist die Verwertung und Verlesung des Tagebuchs mit den Grundrechten der F vereinbar?

Lösungsvorschlag
Es fragt sich, ob die Verwertung des Tagebuchs der F gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht in Art. 2 I i. V. m. Art. 1 I GG verstößt.

1) Schutzbereich. Als natürliche Person fällt F unter den persönlichen Schutzbereich. In Sachlicher Hinsicht gewährleistet das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch die Entscheidungsfreiheit inwieweit der Einzelne persönliche Lebenssachverhalte nach außen offenbaren möchte. Somit sind auch Tagebuchaufzeichnungen vor staatlichen Zugriffen geschützt. Daher ist der Schutzbereich eröffnet.

2) Eingriff. Nach dem modernen Eingriffsbegriff fallen hierunter auch bloß faktische Einwirkungen. Indem das Tagebuch in der Verhandlung vor dem Landgericht verwertet und verlesen wird, liegt ein Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der F vor.

3) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Der Gesetzesvorbehalt der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 I GG ist analog auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht anzuwenden. Demnach steht dies unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung. Hierzu gehören auch die Regelungen in der Strafprozessordnung. Das Verlesen von Urkunden und anderer dem Beweis dienender Schriftstücke ist in § 249 StPO geregelt.
a) Von der formellen und materiellen Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift an sich ist auszugehen.
b) Es ist aber fraglich, ob das Gericht § 249 StPO auch in verfassungsmäßiger Weise angewandt hat. Das ist nicht der Fall, wenn es die im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Sphärentheorie nicht hinreichend beachtet hat. Demnach darf in die Intimsphäre als unantastbarer Kern der privaten Lebensgestaltung nicht eingegriffen werden. Es fragt sich somit weiter, ob Tagebücher in den Intimbereich fallen. Dagegen spricht, dass die F als Täterin ihre Gedanken auf die Weise fixiert und sich in Gewisser Weise von ihnen entäußert hat. Jedoch erscheint das zweifelhaft, da bei lebensnaher Auslegung angenommen werden kann, dass F auch weiterhin nicht will, dass Dritte Zugang zu ihren im Tagebuch niedergeschriebenen Gedanken finden. [Es sind wie immer beide Ansichten mit entsprechender Begründung gut vertretbar]. Die erste Ansicht überzeugt: Unabhängig vom Willen des Betroffenen muss jemand, der Tagebuch führt, im schlimmsten Fall damit rechnen, dass seine Gedanken irgendwann von einer anderen Person gelesen werden. Daher unterfallen die Aufzeichnungen der Privatsphäre.
c) Es ist somit zwischen einem Eingriff in die Privatsphäre und dem Allgemeininteresse an einer effektiven Strafverfolgung abzuwägen. Berücksichtigt man die Schwere des Verbrechens, deren endgültiger Auslöser das Backen der Pfannkuchen als Lappalie war, so überwiegt das staatliche Interessen an einer effektiven Strafverfolgung. Der Eingriff ist somit verhältnismäßig und gerechtfertigt.

4) Ergebnis. Es liegt kein Verstoß gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht der F vor.

  • 1. Grundlegend: BVerfGE 27, 1 (6 ff.); 34, 269 (280 ff.); 35, 202 (219 ff., 238 ff.); ablehnend: Ipsen, StaatsR II, § 18, Rz. 773.
  • 2. Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rz. 36.
  • 3. Dreier/Dreier, GG Bd. 1, Art. 2 I, Rz. 69.
  • 4. ders., GG Bd. 1, Art. 1, Rz. 47 – 51, 167 f. mit weiteren kritischen Anmerkungen.
  • 5. Manssen, StaatsR II, § 11., Rz. 244.
  • 6. Dreier/Dreier, GG Bd. 1, Art. 2 I, Rz. 69; Manssen, StaatsR II, § 11., Rz. 243.
  • 7. s. BVerfGE 34, 269 (281).
  • 8. Detterbeck, ÖffR, § 15, Rz. 331.
  • 9. BVerfGE 34, 238 (246); 35, 202 (224); 63, 131 (142); Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rz. 40, 44.
  • 10. BVerfGE 116, 243 (262).
  • 11. Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rz. 44.
  • 12. BVerfGE 79, 256 (268 ff.); Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rz. 47 – 49; Manssen, StaatsR II, § 11., Rz. 254.
  • 13. BVerfGE 65, 1 (43); Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rz. 42 f.
  • 14. BVerfGE 120, 274 (303 ff.); Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rz. 45.
  • 15. EuGH, 13.05.2014 – C-131/12 (Google-Urteil).
  • 16. Jarass, NJW, 89, 858.
  • 17. Sodan/Sodan, GG, Art. 2, Rz. 9.
  • 18. Manssen, StaatsR II, § 11., Rz. 245.
  • 19. ders., StaatsR II, § 7., Rz. 140.
  • 20. ders., StaatsR II, § 11., Rz. 258.
  • 21. Pieroth/Schlink/Kingreen/Poscher, StaatsR II, § 6, Rz. 253.
  • 22. s. Manssen, StaatsR II, § 11., Rz. 259.
  • 23. ders., StaatsR II, § 11., Rz. 260.
  • 24. BVerfGE, 27, 1 (6).
  • 25. BVerfGE 130, 1 (22).
  • 26. Dreier/Dreier, GG Bd. 1, Art. 2 I, Rz. 92.
  • 27. Sodan/Sodan, GG, Art. 2, Rz. 17.
  • 28. ebda.
  • 29. Dreier/Dreier, GG Bd. 1, Art. 2 I, Rz. 93.
Literaturverzeichnis
Zitierte Literatur: 

Kommentare

  • Dreier, Horst: Grundgesetz Kommentar, 3. Aufl, 2013, Mohr Siebeck Verlag.
  • Jarass, Hans Dieter/Pieroth, Bodo: Kommentar für das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, 12. Aufl., 2012, Verlag C. H. Beck.
  • Sodan, Helge: Grundgesetz. Beck'sche Kompakt-Kommentare, 3. Aufl. 2015, Verlag C. H. Beck.

Lehrbücher

  • Detterbeck, Steffen: Öffentliches Recht. Ein Basislehrbuch zum Staatsrecht, Verwaltungsrecht und Europarecht mit Übungsfällen, 9. Aufl. 2013, Verlag Franz Vahlen.
  • Ipsen, Jörn: Staatsrecht II. Grundrechte. 16. Aufl., 2013, Verlag Franz Vahlen.
  • Manssen, Gerrit: Staatsrecht II. Grundrechte, 12. Aufl., 2015, Verlag C. H. Beck.
  • Pieroth, Bodo/Schlink, Bernhard/Kingreen, Thorsten/Poscher, Ralf: Grundrechte. Staatsrecht II, 30. Aufl, 2014, Verlag C. F. Müller.

Zeitschriften

  • Jarass, Hans Dieter: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht im Grundgesetz, NJW, 1989, S. 857ff.
Rechtsprechung: 
  • EuGH, 13.05.2014 – C-131/12 (Google-Urteil).
  • BVerfGE, 27, 1 (6).
  • BVerfGE 34, 238 (246).
  • BVerfGE 34, 269 (281).
  • BVerfGE 35, 202 (219 ff., 238 ff.).
  • BVerfGE 65, 1 (43).
  • BVerfGE 63, 131 (142).
  • BVerfGE 116, 243 (262).
  • BVerfGE 120, 274 (303 ff.).
  • BVerfGE 130, 1 (22).