Suizid und Gott – Zu Ferdinand von Schirachs Theaterstück »Gott«

»Töten Sie mich, oder Sie sind ein Mörder.«1 Ferdinand von Schirach hat wieder einmal ein Stück geschrieben, das – wie schon 2016 »Terror« – um eine unserer zentralen Rechtsfragen kreist: Kann ein gesunder Mensch (gleich welchen Alters) verlangen, ein tödliches Medikament zu erhalten, mit dem er sich umbringen kann? Im Februar 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen auch die Entscheidung umfasst, ob er weiterleben will2. Derzeit ist die Frage offen, wie der Gesetzgeber das in der Praxis ausgestalten kann.

Dabei haben die meisten von uns nur die greifbaren Probleme des Todessüchtigen vor Augen, um dessen Würde es geht. Ein Schutz dieser Würde kann aber nur gelingen, wenn man die Menschen, die einen Sterbewilligen begleiten, vor denen erheblichen rechtlichen Risiken schützt, denen sie ausgesetzt sind. Dazu gehören die Ärzte, aber auch Angehörige, Freunde, Seelsorger, Psychologen, Juristen usw.3 Auch sie haben Verfassungsrechte (Berufsfreiheit Art. 12 GG, Religionsfreiheit Art. 4 GG), aber viel stärker sind sie von einfachen Gesetzen betroffen, die ihr Verhalten regeln. Ihnen droht Bestrafung wegen Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB (sechs Monate bis fünf Jahre Freiheitsstrafe) oder fahrlässiger Tötung (§ 222 StGB) bis hin zu Totschlag (§ 213 StGB) oder sogar zum Mord4, wenn die behauptete Zustimmung des Kranken – aus welchen Gründen auch immer – im Prozess nicht beweisbar ist. Darüber hinaus droht Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB), wenn ein Sterbender nicht wieder ins Leben zurückgeholt wird, obgleich das möglich wäre. Starke Drogen werden notwendig sein, die im Allgemeinen nicht zur Verfügung stehen und deren Umgang geregelt werden muss. Zu klären sind weitere Auswirkungen in den Berufsrechten der Ärzte und Anwälte, im Erbrecht, im Gesellschaftsrecht und in vielen anderen Gebieten.

Wie schon bei »Terror« hat von Schirach den Austausch der Argumente in einem förmlichen Verfahren dargestellt, diesmal vor dem Ethikrat in Berlin. Richard Gärtner (Matthias Habich), 78, ein gesunder, aber durch den Tod seiner Frau vor drei Jahren traumatisierter Rentner, der das tödliche Mittel verlangt, sein Rechtsanwalt (Lars Eidinger), die verschiedenen Gutachter (Christiane Paul, Ulrich Matthes, Götz Schubert), sie alle spielen ihre Rollen in der Fernsehaufführung lebendig und überzeugend (ARD 23.11.2020 und Mediathek). Von Schirach ist es gelungen, die äußerst schwierigen und komplexen Rechtsfragen in einer Sprache auf den Punkt zu bringen, die allgemeinverständlich ist. Ein wirkliches Theaterstück ist das – wie auch manche Kritiker bemerkt haben5 – nicht. Das Stück wirkt wie eine Dokumentation, bleibt aber über seine gesamte Länge sehr spannend. Die Zuschauer entscheiden am Ende – wie Gott – »ob Richard Gärtner das Medikament bekommt«. Dafür stimmt im Fernsehen die überwiegende Mehrheit der Zuschauer (78,2 %) (nur in einer Berliner Theateraufführung findet der Antrag nur 40 % Zustimmung). Das liegt völlig im Trend früherer Umfragen: In einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung von FORSA aus dem August 2012 erklärten 77 % der Befragten es für wünschenswert, dass Ärzte Sterbenskranken ein tödliches Medikament zur Verfügung stellen sollten, das der Patient dann selbst einnimmt.6 Im Juli 2015 stellte die Agentur Ipsos MORI im Auftrag des Economist7 in 15 Ländern die Frage, ob assistierter Suizid bei medizinischer Indikation gewünscht werde. In Europa wurde die Frage eindeutig bejaht: Die Bandbreite bewegte sich zwischen Belgien 86 % und Italien 61 % und lag nur in Polen und Russland unter 50 %.8 Die Schweiz nimmt in diesen Fragen international eine Sonderstellung ein, weil sie die Assistenz bei jeder Art von Freitod für straffrei erklärt, die nicht in »selbstsüchtiger Absicht«9 (§ 113 StGB Schweiz) geleistet wird. Die Niederlande (2002), Belgien (2002 – für Kinder: 2014), Frankreich (2005), Luxemburg (2009) haben zu diesen Fragen gesetzliche Regeln erlassen, die definierte Verfahren vorsehen, in denen eine medizinischen Indikation und die freiwillige Entscheidung des Patienten geprüft werden. In Großbritannien sind 2009 vergleichbare Richtlinien für die Beteiligten erlassen worden, deren Einhaltung die Gerichte überwachen. In Schweden, Dänemark, Finnland ist es ähnlich, in Norwegen unklar, in Italien dem Richterrecht überlassen, dessen Inhalt schwankt. In anderen europäischen Ländern (Spanien, Ungarn, Irland) ist die Tendenz der Rechtsprechung ablehnend und schwer durchschaubar. Im angloamerikanischen Rechtskreis gibt es sowohl gesetzliche Regelungen10 als auch Richterrecht, die alle eine medizinische Indikation voraussetzen.

Die unterschiedliche Behandlung durch Gesetzgebung und Rechtsprechung in den einzelnen europäischen Ländern wird sich in näherer Zukunft nicht vereinheitlichen, denn dahinter steckt keine Diskriminierung, sondern die Ausübung eines Ermessens, das Gesetzgeber und Gerichte aufgrund der unterschiedlichen kulturellen Rahmenbedingungen zu Recht in Anspruch nehmen:
»Es gibt unter den Mitgliedstaaten des Europarats keinen Konsens über das Recht einer Person zu entscheiden, wann und auf welche Weise sie ihr Leben beenden möchte. Deswegen haben die Staaten insoweit einen erheblichen Ermessensspielraum«11.

Auch deshalb ist ein »Sterbetourismus« für alle Beteiligten riskanter als der Versuch, im eigenen Land unter Bedingungen zu sterben, die man besser kennen und beherrschen kann. Es geht um eine Vielzahl von rechtlichen Einzelfragen. Die jetzt vom Bundesverfassungsgericht definierte verfassungsrechtliche Garantie der Menschenwürde beantwortet nur die Grundsatzfrage, die Probleme aber liegen in den Details. Die wichtigste Frage ist zweifellos: Beruht der Wunsch zu sterben auf einer freien Entscheidung und nicht auf Depression, Psychosen und anderen mentalen Beeinträchtigungen? Ist Krankheit nur eines von unzähligen Ermessenselementen und welchen Rang hat sie gegenüber anderen Kriterien? Welche Maßnahmen entsprechen dem Wunsch des Patienten wirklich? Und schließlich: Muss nicht jeder, der einen Sterbenden antrifft, ihn unabhängig von dessen vorgängigen Entscheidungen am Sterben hindern, um nicht z.B. wegen »unterlassener Hilfeleistung« (§ 323c StGB) strafbar zu sein?

Der Wunsch zu sterben kann sich bis in die letzten Sekunden hinein verändern: Peter Noll (Rechtsphilosoph (1926 - 1982), Freund von Max Frisch) entschied sich, gegen den diagnostizierten Blasenkrebs nicht vorzugehen und beschrieb das letzte Jahr voller Schmerzen – aber auch »unbegründeter« euphorischer Stimmungen – akribisch12. Andere nutzen vielleicht die Zeit, ein ausführliches Testament zu schreiben, kurze Lebenserinnerungen (wenigstens auf Video) zu hinterlassen etc., was aber nur möglich ist, wenn der Schrecken der Schmerzen palliativ gelindert werden kann. Und plötzlich verschwindet der Wunsch zu sterben (manchmal nicht wenige Tage vor dem Tod), weil überraschend die eigene Position in der Welt – auch in die Zukunft gerichtet – auf neue Weise sichtbar wird13. Früher bediente man sich drastischer Methoden, über die Mark Twain berichtet:

Der Hausarzt kommt in das Sterbezimmer einer alten Frau, die sich zuvor mit ihm zerstritten hatte:
»Er hatte seinen großen Schlapphut auf und einen Viertelmorgen Ingwerkuchen unter dem Arm, und während er sich gedankenvoll umschaute, brach er große Stücke von seinem Kuchen ab, mampfte vor sich hin und ließ die Krümel auf seine Brust und zu Boden rieseln…. (Dann) legte er der sterbenden Frau seinen Ingwerkuchen auf die Brust und sagte barsch: »Was schluchzt ihr Idioten? Der Schwindlerin fehlt nichts. …. Was sie braucht, ist ein Beefsteak und eine Waschschüssel!« Da richtete sich die sterbende Frau im Bett auf und ihre Augen sprühten vor Kampfeslust… Sie schüttete ihr ganzes gekränktes Wesen über den Arzt aus – ein Vulkanausbruch, begleitet von Blitz und Donner, Wirbelwinden und Erdbeben, Bimsstein und Asche. Es war genau die Reaktion, die er haben wollte und sie wurde gesund14«.

So ein Arzt wird heute nicht mehr geboren, aber auch nicht die Patienten, die darauf reagieren – außer jene, die einen gescheiterten Suizidversuch hinter sich haben15. So kommt es, dass es »fast unmöglich (ist) einzuschätzen, ob der Sterbewunsch eines Patienten endgültig ist, oder sich doch noch ändert«16.

Seit dem Urteil des BVerfG kann man in Deutschland Vereinen die Organisation von Sterbehilfe nicht verbieten, denn bei allen Grundrechten (z.B. Berufsfreiheit Art. 12 GG) sind sie den Einzelpersonen gleichgestellt17. Allerdings werden sie personelle Verantwortungen definieren müssen und jedenfalls die Frage der Freiwilligkeit des Entschlusses im Zweifelsfall durch Ärzte treffen lassen. Ob man das als »gewerblich« bezeichnet und nur wegen der Gewerblichkeit verbieten kann, ist absolut unklar, denn es gibt keine scharfe Abgrenzung zwischen freien Berufen und gewerblich tätigen Personen. Dignitas, einer Organisation, die Menschen in der Schweiz beim Sterben hilft, wird oft Geldschneiderei vorgeworfen. Unterschiedliche Gebühren können bis zu 9000 € erreichen18, ein Betrag, der zweifellos höher ist, als der Einzelfall veranlasst, aber Bedürftige erhalten Nachlässe, es muss geworben werden, die Organisation hat laufende Kosten usw. Seit 1998 hat Dignitas ca. 1.700 Menschen auf diese Weise in ihrem Tod begleitet19. Das sind durchschnittlich 100 Einzelfälle, in Deutschland wären es vermutlich nicht mehr als 1.000. Vielleicht werden wir etwas ruhiger über dieses Thema reden können, wenn wir seine praktische Relevanz im Auge behalten. Warten wir ab, wie der Gesetzgeber all diese konfligierenden Interessen miteinander verbinden wird. Mit Sicherheit muss es ein Verfahren geben, in dem der Sterbewunsch geprüft wird und ebenso wird man keinen Arzt verpflichten können, an einem solchen Verfahren teilzunehmen. Die Ärzte berufen sich zu Recht darauf, dass sie nur kranken Menschen Sterbehilfe geben können und dass sie die Entscheidung, ob sie z.B. mit Morphium den Sterbevorgang beschleunigen, nicht ins Gefängnis bringen darf. Allerdings sind die Ärzte und Apotheker die einzigen, die über die todbringenden Medikamente verfügen. Unter welchen Umständen kann man sie verpflichten, sie herauszugeben? Kann man im Einzelfall wirklich ausschließen, dass es Menschen (Erben!) gibt, die ein Interesse am Tod der Älteren haben?

Spätestens an dieser Stelle müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass strafrechtliche Lösungen uns von vielen moralischen Problemen nicht befreien, die sich in diesem Zusammenhang stellen. Von Schirachs Stück konnte sich mit all diesen Details natürlich nicht beschäftigen. Aber ähnlich wie bei seinem Stück »Terror« führt die zur Abstimmung gestellte Frage »Bekommt Richard Gärtner das Medikament?« letztlich ins Leere: Wer der Grundidee des Bundesverfassungsgerichts folgt, wird die Frage natürlich bejahen, aber mit diesem »Ja« stehen wir vor einer leeren Fläche, die mit zahllosen weiteren Antworten ausgefüllt werden muss. Die jetzt relevante Frage ist: Welche Durchführungsbestimmungen werden einerseits dem Urteil des Verfassungsgerichts gerecht und sichern also die autonome Entscheidung des Sterbewilligen, wie aber können sie auch die Freiheit der Ärzte und anderer Helfer schützen, sie vor allem vor Strafbarkeit bewahren? Im Grunde muss man sich dazu nur die Modelle in den Niederlanden, der Schweiz und in Belgien ansehen und sich überlegen, welches man übernimmt oder an welches man sich anlehnt. Das Problem ist sehr komplex, denn die Lösung muss aus der Sicht aller Beteiligten den Maßstäben der Gleichheit, der Fairness und der Ausgewogenheit entsprechen, wenn daraus Gerechtigkeit und Rechtssicherheit entstehen sollen.

Ob und inwieweit jeder einzelne von seinem Sterbewunsch Gebrauch machen sollte, ist eine ganz andere Frage. Ich bin der Meinung: Da wir uns das Leben nicht gegeben haben, sollten wir es uns auch nicht ohne weiteres nehmen. Vielleicht sind auch die allerletzten Erfahrungen für uns bestimmt, vielleicht sind sie jene Tür, die nur für Dich bestimmt ist, vor der aber ein furchterregender Wärter steht, wie Kafka in seiner Novelle »Vor dem Gesetz« geschrieben hat. Man muss in diesem Zusammenhang folgendes bedenken: Das Einzige, was wirklich schwer zu bewältigen sein kann, sind Schmerzen, die Tatsache des Todes selbst ist jenseits der Sechzig nicht schreckerregend. (Seltsamerweise scheint es ja Leute zu geben, die vor lauter Angst vor dem Tod Suizid begehen). Die Schmerzen können zunächst von den Ärzten aufgefangen werden, dann von den Palliativmedizinern. Im Grunde stellt sich die Frage des Suizids erst dann, wenn auch von dort keine Hilfe mehr zu erwarten wäre und diese Leute sich weigerten, endlich mit Dir Schluss zu machen (»töten Sie mich, oder Sie sind ein Mörder«). Es werden also seltene Situationen sein und ich glaube, man ist sich selbst gegenüber verpflichtet, das abzuwarten.

Literaturverzeichnis
Zitierte Literatur: 
  • Siehe Fußnoten.