Antisemitismus – Der Konflikt zwischen Fremdheit und Identität, Schuld und Sühne

Der Terrorangriff der Hamas gegenüber Israel vom 7. Oktober 2023 hat weltweit zu einer Welle von Protesten gegenüber den Notwehrmaßnahmen Israels geführt, die sich vor allem auf die Ursache dieses Konflikts – insbesondere die Siedlungspolitik – stützen. Nicht nur die UNO und der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag befassen sich mit den Auswirkungen, in deutschen und ausländischen Universitäten kommt es zu massiven Demonstrationen gegen Israel. Dagegen richtet sich der Vorwurf des Antisemitismus. Der Beitrag befasst sich mit der Geschichte dieses Begriffs und seinen aktuellen Auswirkungen.

1. Die Aktualität des Themas

Der Staat Israel wurde vom ersten Tag seiner Gründung an von seinen Nachbarstaaten und in den späteren Jahrzehnten von anderen islamistischen Kräften bekämpft. Die militärischen Angriffe konnten zurückgewiesen werden, aber die in Israel lebenden Menschen sind in verschiedenen Fällen der Intifada Selbstmordattentaten ausgesetzt worden. Als Reaktion hat Israel die Besiedlung angrenzender Regionen unterstützt und/oder geduldet, um auf diese Weise Sicherheitszonen zu schaffen, während palästinensische Flüchtlinge sich über Jahrzehnte finanziert von der UN an den israelischen Grenzen niedergelassen haben. Zahllose Versuche, Frieden zu stiften, sind gescheitert. Im Oktober 2023 eskalierte die Situation:

»Durch die Massaker der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober wurden rund 1200 Israeli und Angehörige anderer Staaten getötet, mehr als 4600 wurden verletzt. Mindestens 251 Personen wurden verschleppt. Laut den IDF befinden sich noch mindestens 111 Geiseln in Gefangenschaft der Hamas. 39 von ihnen hat Israel für tot erklärt.
Im Gazastreifen wurden laut Angaben des von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums mehr als 40 223 Palästinenser getötet und mehr als 92 981 verletzt. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen. Zudem unterscheidet die Terrororganisation in ihren Angaben nicht zwischen getöteten Zivilisten und getöteten Hamas-Kämpfern. Schätzungen gehen davon aus, dass rund ein Drittel der Getöteten Kämpfer sind.«1

2. Definition

Es gibt zahllose Definitionen des Begriffs »Antisemitismus«. Für die politische Diskussion ist es zweckmäßig, sich an die Definition zu halten, die die International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) geprägt hat und die von der deutschen Bundesregierung im September 2017 übernommen worden ist2:

»Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.«

Das Problem dieser Definition besteht in der Definition des Begriffes »Hass« und der Einbeziehung des Staates Israel.3 Die Statistiken zum Antisemitismus zeigen eine vielfältige kritische Einstellung zu den Juden (vor allem unter Jugendlichen), belegen aber nicht gleichzeitig, dass diese Kritik auch immer von Hass geprägt ist. Das allerdings belegen antisemitische Gewalthandlungen aller Art, wie sie dort auch erfasst sind. Ich werde im Verlauf der nachfolgenden Überlegungen versuchen, eine Antwort auf die Frage zu finden, unter welchen Bedingungen »Hass gegenüber Juden« nur von fehlgeleiteten Emotionen geprägt wird oder die Kritik am Verhalten einzelner Juden oder des Staates Israel sich auf rationale und vertretbare Gründe zu stützen vermag. Die zentralen Thesen sind:

Die Juden sind gezwungen, ihre kulturelle Identität in allen Ländern zu verteidigen, in die sie sich vor 2000 Jahren geflüchtet haben. Oft wurde ihnen eine Anpassung verweigert, bei denen sie wesentliche Teile ihrer Identität hätten sichern können: Sie dürften gewisse Berufe nicht ergreifen, wurden zur Konversion gezwungen, in Ghettos gesperrt und in Pogromen abgeschlachtet.

Das hat im Lauf der Jahrtausende zu zahllosen weiteren Fluchtbewegungen geführt, die auch die Familien auseinandergerissen haben, die dem durch Aufrechterhaltung von persönlichen Beziehungen und Netzwerken über alle Grenzen hinweg entgegenzuwirken suchen. Dadurch werden die Unterschiede zu den kulturellen Identitäten der Menschen in diesen Ländern, in die die Juden sich geflüchtet haben, besonders deutlich sichtbar.

Die Identität der Juden speist sich zum einen durch die über Jahrhunderte gepflegte genetische Abschottung gegenüber anderen Völkern und/oder Kulturen, die es in früheren Zeiten verbot, Nichtjuden zu heiraten oder in die jüdische Gemeinschaft zu integrieren. Diese Ansicht wird heute nur von sehr orthodoxen Juden vertreten, es gibt schon seit über hundert Jahren Reformgemeinden und andere modernen Strömungen des Judentums. Die israelische Politik wird aber seit vielen Jahren sehr stark durch die orthodoxen Juden bestimmt, die überwiegend aus den USA und Russland stammen.

Die zweite Quelle der Identität der Juden ist ihre unbedingte Beziehung zu den heiligen Schriften, die man nur mit Lesen, Schreiben und Interpretieren beherrschen kann. Synagoge und Schule (shul) sind Synonyme. Dadurch entsteht weltweit ein hohes Bildungsniveau. Die Besonderheit in diesem Bereich besteht darin, dass die Juden – anders als andere Buchreligionen – immer Interpretationen tradiert haben, die sich offen widersprechen. Man findet sie in den Kommentaren jedem der heiligen Texte.

Die Fähigkeit, kontrovers zu diskutieren ist auch eine der wichtigsten Grundlagen unserer europäischen Rechtstradition geworden, die sich aus den antiken Texten, der mittelalterlichen Scholastik und der jüdischen Interpretationskunst zusammensetzen. Sie sorgt dafür, dass der berühmte Satz, die Juden seien das »auserwählte Volk Gottes in den Jahrtausenden nie untergegangen ist. Da aber zur jüdischen Kultur die Kunst des Streits gehört, ist auch er nicht unumstritten. Das geht so weit, dass einige jüdische Kommentatoren sich selbst als Agnostiker bezeichnen.

Die Ausgrenzung, die die Juden international erfahren, ist leider auch die Quelle für ihre hin und wieder zu beobachtende Arroganz gegenüber anderen Völkern und Kulturen. Sie rechtfertigt sich teilweise aus einer intellektuellen Überlegenheit jüdischer Menschen, die im Vergleich zu anderen im Durchschnitt besser ausgebildet werden. (So unter anderem die hohe Nobelpreisrate jüdischer Wissenschaftler im Verhältnis zur Bevölkerungszahl).

Das zentrale politische Thema der Juden ist aus der Tatsache entstanden, dass sie vor 2000 Jahren ihre Heimat verloren haben, weil sie sich mit den Römern nicht arrangieren konnten. So haben sie sich über die Welt verstreut, aber in allen Ländern, in denen sie dann sesshaft geworden sind, ihre Identität (siehe oben) aufrechterhalten. Das ist der Grund für den Dauerkonflikt in all diesen Gastländern. Wenn man über Antisemitismus spricht, dann geht es um diesen Konflikt, der sich nur durch gegenseitige Toleranz lösen lässt und in vielen Kulturstaaten auch so gelöst worden ist.

Der Antisemitismus ist weltweit eine besondere – und überwiegend irrationale – Ausprägung der Angst und Sorge, die eigene Identität könne durch die starke Identität der Juden, ihre Bildung und ihre internationalen Verbindungen gefährdet werden. So kommt es, dass in Staaten, in denen es keine erkennbaren jüdischen Minderheiten gibt (z. B. Japan), der Antisemitismus als Ausdruck der Furcht vor ihren internationalen Beziehungen zu beobachten ist.

Der Völkermord an den Juden in Deutschland ist neben vielen anderen Faktoren auch das Ergebnis eines tragischen – hinter dem Schleier des Krieges teilweise verborgenen – Zusammenspiels zwischen Autorität und Gehorsam der Deutschen und deren politischer Ausnutzung durch die Nationalsozialisten. Der Holocaust ist ein singuläres Ereignis, deren Ideen sich historisch zwar erklären lassen, unerklärlich aber ist, warum die Deutschen sie wirklich »im Schatten des Krieges« in die Praxis umgesetzt haben.

Ohne den Holocaust wäre der israelische Staat vermutlich nicht entstanden. Einige Juden – darunter interessanterweise auch orthodoxe Strömungen – haben sich gegen diese Gründung mit dem Argument ausgesprochen, Gott habe vor zweitausend Jahren die Juden zur Strafe ins Exil geschickt und gegen Gottes Willen dürfe man nicht verstoßen, ja nicht einmal den Tempel in Jerusalem wieder errichten. Sie müssten im Exil ausharren. Diese Ansicht hat sich nicht durchgesetzt.

In der aktuellen Krisensituation wird die israelische Regierung und das Militär von innen, wie von außen wegen ihrer Reaktion auf die Terrorakte der Hamas kritisiert. Zwei Stoßrichtung lassen sich unterscheiden: zum einen geht es um die Art und Weise der Militärreaktion, die in verschiedener Hinsicht über das Recht zur Notwehr und zur Nothilfe hinauszugehen scheint, zum anderen – und insoweit schwerwiegender – wegen ihrer Siedlungspolitik, die als einer der wesentlichen Auslöser für den Überfall der Hamas angesehen wird. Nun sind die Friedensbemühungen früherer israelischer Regierungen immer an der Unversöhnlichkeit der anderen Seite gescheitert, andererseits wird jetzt als Ziel der Terrorakte in aller Deutlichkeit gesagt, dass sie sich gegen die Existenz des Staates Israel und der Menschen, die in ihnen leben, richten, man will »die Juden ins Meer treiben«.

Die Terrorakte der Hamas und ihrer Verbündeten (vor allem: Iran) erfüllen zweifellos den Begriff des Antisemitismus. Die Diskussion um die Frage, ob die Reaktion Israels darauf die Grenzen der Notwehr/Nothilfe überschreiten und welche Bedeutung Siedlungspolitik und andere Maßnahmen der israelischen Regierung zum Auslöser für diese Terrorakte geworden sind, ist es nicht. Sie wird aber vielfältig als Rechtfertigung der Terrorakte angesehen. Diese Diskussion belastet auch die Grenzen der Meinungsfreiheit, die in den nationalen wie internationalen Normen geschützt ist. Die Vermischung der Argumente der öffentlichen Diskussion hat gleichzeitig den Begriff des Antisemitismus fragwürdig gemacht.

Eine Lösung des Problems ist nur durch unmittelbaren und persönlichen Kontakt zwischen allen Beteiligten möglich, der von der Bereitschaft geprägt ist, die Wunden zu schließen.

3. Der historische Hintergrund des Antisemitismus

Die historisch wichtigste und früher gewiss tiefste Wurzel des Antisemitismus stammt aus dem religiösen Vorwurf, die Juden hätten Christus getötet. Dieser Vorwurf ist schon deshalb absurd, weil ohne die Kreuzigung Christi (sofern sie stattgefunden hat) das Christentum nicht hätte entstehen können. Aus diesem Grund werden in der koptischen Kirche nicht nur der Verräter Judas, sondern auch der Römer Pilatus, als Heilige verehrt. Dieser allgemeine Antisemitismus und die damit verbundene Diskriminierung waren über lange Zeiträume hinweg in vielen europäischen Ländern zu beobachten. In England werden die Juden 1290 durch königliche Anordnung des Landes verwiesen (das Land war noch katholisch). In Spanien kam es 1391 und 1531 zu großen Austreibungen der sephardischen Juden. In Russland und Polen zeigt der Antisemitismus sich in ständigen »Pogromen« (ein russischer Begriff): 1563, 1648, 1790, 1881, 1905. War Hass oder Neid auf die Juden der Grund für diese Austreibungen?

3.1. Die Lage in Deutschland

Kein Zweifel: Auch die Mehrzahl der Deutschen war – unabhängig von ihrem Bildungsniveau – seit Jahrhunderten schon aufgrund der ausgeprägt christlichen Traditionen antisemitisch eingestellt. Das reichte vom frühesten Mittelalter (das die gelbe Kennzeichnung erfand) bis in die Neuzeit. Im Kaiserreich gab es die »Antisemitische Deutsch-Soziale Partei«, die »Deutsche Reformpartei« und andere offen antisemitische Splittergruppen, die sich auch in der Weimarer Republik entsprechend betätigten. Wilhelm II. schob nach dem Ersten Weltkrieg – wie so viele – die Schuld daran auch den Juden zu. Liest man die Geschichte gerade der erfolgreichen jüdischen Familien (Rothschild, Warburg, Liebermann, Rathenau etc.), ist der ständige Kampf gegen die dauernde Diskriminierung unverkennbar. Wie sie sich im Alltagsleben einfacherer Familien fortsetzt, ist in der damaligen Tagespresse und noch deutlicher in kritischen Blättern wie etwa dem Simplicissimus unschwer nachvollziehbar.4 Das alles, obwohl gebildete und wohlhabende Juden sich entweder taufen ließen, um Karriere zu machen oder sich sonst assimilierten. In Deutschland wurden die Juden – jedenfalls im Verhältnis zu Spanien, Russland, Polen usw. – nur selten in Pogromen verfolgt und vielerorts aktiv unterstützt. Von einigen Fürsten wurden Bankiers oder Unternehmer als »Schutzjuden« akzeptiert und gefördert. So empfanden viele Juden Deutschland noch bis weit in die Dreißigerjahre hinein als relativ sicheren Boden. Die Berufe der Ärzte, Rechtsanwälte und Wissenschaftler, die ihnen im Lauf der Zeit zugänglich wurden, haben sie sich schnell erobert.

So haben Juden vor allem in Deutschland in allen Berufen Bedeutendes geleistet, zu denen sie zugelassen waren. Im Mittelalter waren ihnen die Handwerksberufe versperrt, also wurden sie Händler. Da den Christen der Zins verboten war, vor allem die Fürsten aber Kredite brauchten, wurden sie Bankiers. Der öffentliche Dienst war ihnen völlig versperrt. An den Universitäten wurden sie erst sehr spät – und nur in begrenzter Zahl – zugelassen. Einfacher war es nur für Mediziner und Rechtsanwälte. 1933 wurden die Zahlen für Rechtsanwälte erhoben, um die Berufsverbote auszusprechen. Von damals 19.208 Rechtsanwälten waren ca. 5000 »nichtarisch«, die prozentual höchsten Anteile lagen in Berlin (54 %), Frankfurt (45,8 %) und München (45 %)5. Ihren augenfälligsten Ausdruck findet die Assimilation im Familiennamen »Deutsch«, der in vielen jüdischen Familien verbreitet war. Hätte dieser Prozess sich kontinuierlich fortsetzen können (wie etwa in Frankreich, Großbritannien oder den USA), wäre die Entwicklung in Deutschland wahrscheinlich ohne weiteren Schaden verlaufen. In Deutschland haben sich viele Menschen aus anderen Nationalitäten/Religionen ohne große Schwierigkeiten integriert. Man sieht das etwa an den polnischen Bergleuten, die etwa ab 1920 in das Ruhrgebiet einwanderten, oder vergleichbarer Migrationsströme von Italienern und Spaniern nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch hier gab es viele Konflikte, aber sonntags traf man sich in der Kirche und auch in den Fußballvereinen waren die Fremden willkommen. Juden gegenüber waren solche Integrationsleistungen nicht selbstverständlich. Der Schwelbrand des allgemeinen Antisemitismus wurde zum Flächenbrand, als die Deutschen in der verwirrenden Zeit nach dem Ersten Weltkrieg alles zusammenbrechen sahen, was ihnen bisher von Wert erschien und so schnell keine neue Orientierung finden konnten.

Der dann folgende offene Bürgerkrieg in den Jahren zwischen 1918 und 1932 zwischen Kommunisten, Nationalsozialisten, Freikorps und anderen Splittergruppen und die politische Schwäche der Weimarer Republik erregte panische Angst unter den Menschen. Die Nationalsozialisten schürten die Wut über den Versailler Vertrag, sie erhöhten bedenkenlos die Verschuldung, was kurzfristige Erfolge bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bewirkte und sie setzten dem Chaos klare Ordnungsbegriffe entgegen. Die Begeisterung darüber, dass viele sich nicht mehr mit der Rolle in der Geschichte abfinden mussten, die ihnen bis dahin zugewiesen worden war, führte zu einer breiten Zustimmung für die Politik der NSDAP, die keinesfalls allein Hitlers Politik war. Die meisten durchschnittlichen Deutschen haben sich – ob zu Recht oder zu Unrecht – als die Fußabstreifer Europas gefühlt. Die mit der neuen Politik verbundene Beseitigung von Demokratie und Freiheit wurde als notwendiges Opfer gesehen. Teilweise gab es zu alldem Zustimmung aus dem Ausland.

Im Historikerstreit6 hat man 1986 diese Deutung scharf angegriffen, und ganz gewiss ist der Nationalsozialismus nicht nur aus dem Kampf gegen die Kommunisten entstanden. Nur hätten die Nazis nicht annähernd die Chancen gehabt, die sie nutzten, wenn es die Kommunisten – in jeder Hinsicht sehr deutsche Gegner – nicht gegeben hätte. Sie waren beide ideologiekrank.

Zu den Opfern dieses Bürgerkriegs gehörten alle, die das Regime als seine Gegner ansah, vor allem die Juden. Deren Isolierung gelang vor allem deshalb, weil die einzelnen Terrormaßnahmen zeitweise relativiert wurden, wie etwa um die Zeit der Olympiade 1936. Die Nürnberger Gesetze waren da, aber wie sie im Einzelfall durchgesetzt wurden, war von Zufällen oder persönlicher Protektion abhängig. Wer Jude war, konnte man nicht ohne weiteres wissen, denn den Judenstern gab es noch nicht (er wurde in Deutschland erst 1941 befohlen). So wurde die Integration der Juden in Deutschland, die sie seit dem 17. Jahrhundert geschafft hatten, in wenigen Jahren vernichtet.

Dahinter stand Hitlers persönlicher Hass, der von vielen Deutschen geteilt wurde. Er hatte sich in seiner Wiener Zeit7 entwickelt, einer Stadt, in der fast 20 % Juden lebten, davon nicht wenige Ostjuden, die in das prosperierende Wien eingewandert oder vor Pogromen geflüchtet waren. Diese – überwiegend orthodoxen – Einwanderer behielten auch in der Großstadt ihr Aussehen schon deshalb bei, um sich selbst innerhalb der eigenen Gruppe zu identifizieren und nahmen die ablehnende Haltung anderer Teile der Bevölkerung hin. Hitler hatte bis dahin keine allgemeinen antisemitischen Tendenzen, sein Antisemitismus passt aber zu den völkischen Ideen, die er in der gleichen Zeit entwickelte.

Der Hass auf die Juden hatte in seiner politischen Entwicklung den Zweck, die eigene Identität zu festigen, weil damit ein völkischer Feind definiert werden konnte. Zwischen 1921 und 1933, als Adolf Hitler als »Trommler der Bewegung« in ganz Deutschland unterwegs war, hatte er leichtes Spiel, das Feindbild der Juden als politisches Konzept verständlich zu machen, denn der Antisemitismus war in Deutschland (wie auch in vielen anderen Ländern, wie wir sogleich sehen werden) zu dieser Zeit ein geradezu selbstverständlicher politischer Standard. So erklärt sich auch das tiefe Schweigen in der Bevölkerung, dass die Entrechtung der Juden zwischen 1933 und 1939 begleitete.

3.2. Die Lage in Europa

Vor 1917 hat es in vielen europäischen Ländern immer wieder Austreibungen von jüdischen Einwohnern und Pogrome gegeben, aber das waren einzelne Vorfälle mit mehr oder weniger individualisierbaren Gründen. Einzelne wurden getötet, andere konnten emigrieren, wieder andere sich verstecken und auf bessere Zeiten warten. 1918 beim Untergang der Kaiserreiche von Russland, Österreich und Deutschland, brachen für die Juden in Europa zeitgleich an vielen Stellen sichere Systeme zusammen, in denen sie bis dahin lebten. Viele von ihnen hatten nicht die Nationalität des Staates, in dem sie lebten, manche besaßen über Jahrzehnte hinweg nur Flüchtlingsausweise (Nansen-Pass) und so kamen zu der schon seit Jahrhunderten bestehenden Fremdheit noch weitere Unsicherheitsfaktoren. Die Konzepte, sich zu assimilieren, zerbrachen oder wurden von anderen zerschlagen. Sie waren plötzlich wieder Fremde im eigenen Land. So flüchteten viele Juden aus den unterschiedlichsten europäischen Ländern nach USA, teilweise aber auch in die Weimarer Republik (!), um dort Schutz zu suchen. Sie haben ihn trotz der antisemitischen Grundstimmung in vielen Formen gefunden. Marcel Reich-Ranicki etwa wurde 1929 als Gymnasiast von Warschau nach Berlin geschickt, um ihm eine bessere Zukunft zu sichern und konnte trotz des offenen Antisemitismus ab 1933 noch 1938 Abitur machen.

In Frankreich, wo der Antisemitismus aufgrund der starken katholischen Tradition sehr ausgeprägt war, hatte man seit der Revolution 1789 die Gleichstellung der Juden erreicht, aber die Dreyfus-Affäre (1894) zeigte, was auch 100 Jahre später noch unter der Oberfläche brodelte. Der Schock der Dreyfus Affäre hat das nicht geändert, im Gegenteil: Er provozierte die Gründung der Action francaise, die ab 1940 offen ihre Zustimmung zur Deportation der Juden im besetzten Frankreich äußerte (purifier la France).

In der Schweiz entwickelte sich die Lage bis 1933 ähnlich wie in Deutschland und Österreich. Danach wurden Juden wie politische Flüchtlinge behandelt, nicht schlechter, aber auch nicht besser. An den klassischen bürgerlichen Vorurteilen gegenüber den Juden änderte sich auch in der Nachkriegszeit im vollen Bewusstsein des Holocaust nicht viel. Roger Schawinski, Schweizer Journalist und Sohn polnisch-jüdische Eltern berichtet über seine Zeit bei der Armee: dort habe noch 1965 das Hackfleisch in Dosen »gschtampfte Jud‘« geheißen. Er war aber an derartige Witze gewöhnt und hat ihnen keine besondere Bedeutung beigemessen.

In Italien lebten 1938 nur etwa 60.000 Juden und der Umgang mit ihnen hing im wesentlichen von der Qualität ihrer Netzwerke und ihrer Einbindung in ihre soziale Umgebung ab. Die meisten Faschisten waren Antisemiten, aber ihre Handlungen wurden mehr von ihren persönlichen Interessen als der Staatsräson bestimmt.

In Spanien erklärt sich die sehr geringe Zahl der Juden durch die radikale Ausweisungspolitik, die das Land seit 1492 praktiziert hat. Am Anfang des 20. Jahrhunderts lässt sich eine Duldungspolitik feststellen, die Franco allerdings verbal bekämpfte. Hier wie in anderen Fällen zeigt sich, dass Antisemitismus nichts damit zu tun hat, ob es in einem bestimmten Land überhaupt relevante Zahlen von Juden gibt.

In England konnten Juden seit etwa 1700 wieder einwandern und wurden stillschweigend emanzipiert. Immerhin hatte England mit Benjamin Disraeli einen jüdischen – wenn auch anglikanisch getauften – Premierminister (1874-1880)! Liberalität gehört zu den Grundtugenden des Landes, die aber nicht ausreichten, jedenfalls in den Führungsschichten bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs einen selbstverständlichen Antisemitismus zu verhindern.

Kurz: In anderen europäischen Ländern war der Antisemitismus nicht geringer als in Deutschland, aber es gab außerhalb von Russland und Polen immer institutionelle Rettungsinseln, die diese Grundhaltung durchbrechen konnten.

3.3. Die internationale Lage

In den USA war das nicht anders. Auch dort duldeten die angelsächsischen weißen Protestanten (WASPs) in den dreißiger Jahren in ihren Clubs und Firmen keine Schwarzen, Juden oder Katholiken. Werner Vordtriede, 1938 aus Deutschland in die USA geflohen, bewarb sich an der University of Rutgers (New Brunswick) als Assistent:

»Als mich der Headmaster fragte, ob ich Engländer sei (die übliche Frage wegen meiner britischen Aussprache), und erfuhr, ich sei Deutscher, schrie er jovial: ›Never mind! That’s all the same around here: Negroes, Jews or Germans.‹«8.

Man hat diese Unterschiede in der Tat »jovial« gesehen, also aus der Gutsherren-Perspektive, und das galt auch noch lange nach dem Krieg, als der Holocaust mit all seinen Auswirkungen bekannt war. Spätestens dann hätte sich der latente Antisemitismus in den USA und anderen westlichen Ländern ändern müssen. Das war aber nicht der Fall. Joe Flom, der Mitbegründer der New Yorker Anwaltssozietät Skadden Arps, bekam 1949 nur durch Zufall bei dieser Firma einen Job, die damals aus zwei nichtjüdischen Anwälten bestand und heute vor allem dank seiner Ideen zu den größten Anwaltsfirmen der Welt gehört. Auch Louis Begley, Anwalt bei Debevoise & Plimpton (später berühmter Autor), berichtet über die auch in den fünfziger Jahren noch beinharte Haltung des New Yorker Establishments, Juden, Negern, Iren und Katholiken den Zutritt zu ihren Clubs zu verwehren:

»Umbringen ist eine andere Sache, aber ich muss doch bestimmen können, mit wem ich persönlich Umgang haben will.«.

Nur der Harvard-Club musste jeden nehmen, der dort studiert hatte. Solche Diskriminierungen wurden nicht nur von den Juden, sondern auch den Katholiken und den Farbigen als selbstverständliche Rahmenbedingungen ihrer Existenz anerkannt. Den katholischen (also meist irischstämmigen) und den farbigen Anwälten ging es ganz ähnlich und solche Diskriminierungen wurden von allen – auch den Betroffenen – als selbstverständliche Rahmenbedingungen ihrer Existenz anerkannt. Sie wussten, dass sie nicht die gleichen Chancen hatten, aber vertrauten darauf, das werde sich ändern. Als John F. Kennedy Präsident wurde, haben sich viele darüber aufgeregt, dass es erstmals ein Katholik geschafft hatte! Der Unterschied zur deutschen Haltung beruht auf dem völlig anders gearteten Modell der USA, wie man mit Fremden umgehen wollte. Dort ist man sich bewusst, dass die britischen, französischen, spanischen, deutschen und niederländischen Einwanderer noch vor wenigen hundert Jahren selbst Fremde waren. Es mag sogar sein, dass die Schuld an der Vertreibung der indianischen Bevölkerung intuitiv dadurch gesühnt wird, dass man Fremde in das Land aufnimmt.

Am allerwichtigsten aber war es, dass kein religiöses Ressentiment und kein Vorurteil in den USA so stark war, dass es die politische Gleichberechtigung jüdischer Einwanderer auch nur infrage gestellt, geschweige denn behindert hätte9. So ist ein Schmelztiegel entstanden, der über die Einbürgerungspolitik vielen Fremden ab der zweiten oder dritten Generation die Chance gegeben hat, tatsächlich »Amerikaner« zu werden. Das geschah unter historisch einmaligen Rahmenbedingungen, die man nicht künstlich herstellen kann.

Antisemitismus ist ein internationales Phänomen.

»Die Anti-Defamation League (ADL) stellte gemäß einer Umfrage aus 2014 in über 100 Ländern (4.161.578.905 Erwachsene) fest, dass weltweit davon 26 % – über eine Milliarde Menschen – antisemitisch eingestellt sind. 35 % der Menschen haben noch nie vom Holocaust gehört. 41 % glauben, dass Juden Israel gegenüber loyaler sind als ihrem eigenen Land gegenüber. 74 % der Menschen in der Türkei, im Nahen Osten und in Nordafrika sind antisemitisch – der höchste regionale Prozentsatz der Welt. Von den Menschen, die antisemitische Ansichten vertreten, haben 70 % noch nie eine jüdische Person getroffen.10«

Zwar ist es nur in Deutschland zum Völkermord gekommen, aber wie ist es erklärbar, dass der Antisemitismus sich selbst in Ländern wie Japan, in denen sich nie viele Juden angesiedelt haben, ausgebreitet hat11? Diese Ablehnung beruht vermutlich auf Informationen, dieses Volk wolle sich in keine Gesellschaft einfügen – ein Albtraum für eine Gesellschaft, die unbedingte Anpassung verlangt und Fremde immer als fremd bleibend betrachtet hat. Vermutlich wirken hier zwei Faktoren mit. Zum einen wird die Politik des Staates Israel von allen seinen Gegnern weltweit propagandistisch ausgenutzt und die Juden als besondere Störenfriede dargestellt, sowie ihre Verteidigungspolitik ins Gegenteil verkehrt. Zum anderen entwickeln sich auf den oben geschilderten Hintergründen besonders leicht Verschwörungsfantasien, die auch dort für das Gefühl einer Bedrohung sorgen, wo sie keinerlei äußeren Anlass hat.

3.4. Der Holocaust

Der latente – und im Vergleich zur internationalen Lage nicht ungewöhnlich starke – Antisemitismus steigerte sich in Deutschland ab 1933 in ungewöhnlich hohem Maß. Im Zuge der Gleichschaltung und der Nürnberger Gesetze wurden Juden nun aus vielen Berufen entfernt und entrechtet. Erst 1938 (Reichspogromnacht) war der Druck aber so übermächtig, dass die Auswanderungswelle immer höherschlug. Nur wenige Staaten waren zur Aufnahme bereit. 1939 begann Hitler den Krieg gegen den Rat der meisten aus seiner Umgebung und begründete das am Rande mit seinem Alter (damals 50): Würde er länger warten, wäre er der Aufgabe nicht mehr gewachsen. Tatsächlich steckte dahinter immer stärker werdende Wunsch nach Rache an den Franzosen und die irregeleitete Idee der Erweiterung des Lebensraumes nach Osten. Hitler war es, der den Krieg auslöste und sich damit gleichzeitig das Recht anmaßte, eine Prophezeiung zu erfüllen, die er schon in »Mein Kampf« formuliert hatte: Wenn es noch einmal zu einem Krieg komme, müssten die Juden dafür bezahlen. Die Idee zum Massenmord entstand irgendwann im Winter 1941, wurde in der Wannseekonferenz Januar 1942 formuliert und im März 42 liefen die ersten Gaskammern in Auschwitz an. Der zeitnahe Zusammenhang mit dem Angriff auf Russland im Juni 1941 und der Tatsache, dass die deutschen Truppen in diesem ersten Kriegswinter ihre Ziele nicht erreichen konnten, liegt es nahe anzunehmen, dass Hitler schon damals ahnte: Diesen Krieg kann ich nicht mehr gewinnen. Damit beschloss er seinen Selbstmord und in diesen Selbstmord zog er nicht nur die kämpfenden Soldaten, die getöteten Zivilisten, sondern auch die Juden ein.

Wer die Vorgänge so darstellt, setzt sich immer dem Vorwurf aus, den Tatbeitrag hunderttausender Deutscher und ihrer Hilfsvölker in diesen Vernichtungsvorgang kleinzureden. Tatsächlich waren vom Zugführer der Transportzüge bis zur 19-jährigen Buchhalterin, die in Stutthof (bei Danzig) die Beute zählte12, vom jungen ukrainischen Wachmann bis zum SS-Führer Heinrich Himmler Tausende an diesem Mord bewusst beteiligt. Und zahllose andere haben die Tatsachen verdrängt, die sie auf den Mord hätten hinweisen können, wieder andere haben ihn geahnt und haben geschwiegen. Aber ohne Hitler als das Zündholz im Heuhaufen hätte er nicht angefangen zu brennen.

Die Singularität des Holocaust wird – vor allem in der antisemitischen Diskussion – immer wieder bezweifelt. Tatsächlich ist der in zwei Gesichtspunkten mit keinem anderen bekannten Völkermord vergleichbar:

  1. Er wurde mit kaltem Herzen geplant und mit kaltem Herzen ausgeführt, er beruhte nicht auf einem emotionalen Sturm der Gefühle von Hass, Furcht, Angst, wie sie z. B. im Kampf der Hutu gegen die Tutsi oder vor allem auch bei früheren Pogromen in Russland und Polen sichtbar wurden. Da ermordeten aufgehetzte Bürger andere Bürger. Hier hingegen nicht.
  2. Dieses kalte Herz zeigt sich in der technischen Systematisierung und Perfektion, mit der dieser Mord durchgeführt wurde. Die Mörder ließen sich nicht nur technisch geeignete Werkzeuge herstellen (Verbrennungsöfen: Topf & Söhne), man führte Buch über jeden geraubten Gegenstand. Man verwertete alles. Man muss leider sagen: Ohne die organisatorische und technische Begabung der Deutschen wäre der Mord nicht oder jedenfalls nicht so geschehen.

4. Die fremden Juden

Wir alle haben aber nur sehr wenig Einfluss auf das Bild, das andere von uns gewinnen. Biologen und Psychologen belehren uns, dass wir – sobald wir auf einen anderen Menschen treffen – innerhalb von Bruchteilen von Sekunden entscheiden, ob er »zu uns gehört«, oder nicht13. Das geschieht alles im Unterbewusstsein (man kann es instinktiv nennen) und eine unserer zentralen kulturellen Pflichten ist es, unsere Abwehrreaktionen daraufhin zu überprüfen, ob wir sie einfach hinnehmen oder korrigieren müssen. Juden sind vom Phänotyp her äußerst unterschiedlich. Die Nationalsozialisten haben das mit ihren »Stürmer« – Karikaturen zu verwischen versucht. Dort wurde das verzerrte Bild eines Ostjuden zum Standard, eines Menschentyps, denn die meisten Deutschen noch nie gesehen hatten – und der gerade deshalb besonders furchteinflößend war. Damit wurde eine psychologische Abwehrreaktion ausgenutzt: Wer einer anderen Gesellschaftsschicht angehört (ob reich oder arm), wer nicht mit uns in eine Kirche geht, wer sich in seiner Lebensführung von uns unterscheidet, wird als fremd wahrgenommen, dagegen kann er gar nichts tun.

Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Juden und anderen Kulturen ist der Schwerpunkt, die sie auf die Bildung legen. Der Grund: Jede jüdische Bildung beginnt mit der Auslegung der Tora. Der Anteil ungebildeter oder analphabetischer Menschen war – vor allem im Vergleich mit dem Bildungsstand anderer Menschen – sehr gering. Nicht nur die heiligen Texte, auch die Vorschriften über das richtige Leben (die 613 Vorschriften des Halacha), wurden jedem lebenslang vermittelt. Das Gotteshaus enthält immer eine Bibliothek und Unterrichtsräume, die Synagoge heißt im Jiddischen »Shul« – also Schule. Die Auslegungstechniken verlangen eine ständige Auseinandersetzung zwischen Argument und Gegenargument, es wird dialektisch gearbeitet, Widersprüche werden nicht eingeebnet, sondern hervorgehoben.

»Warum stellen wir Juden alles infrage?«
»Warum sollten wir nicht?«

Die dauernde und herausfordernde Schulung des Denkens, die zur jüdischen Tradition gehört, die Pflicht zum Argumentieren über die heiligen Texte, schärfte den Verstand junger Leute, die nicht nur Rabbis, sondern auch Künstler, Schriftsteller und Anwälte wurden. Sie zeichneten sich aus durch »polemisches Temperament, melancholische Heiterkeit, göttliche Frechheit und widersprüchliche Andersartigkeit«, wie Rudolf Walter Leonhardt einmal über Heinrich Heine geschrieben hat14. Viele wissen nicht, dass unser europäisches Rechtsdenken unter anderem auf solchen Denkstrukturen beruht.

Diese und viele andere kulturelle Unterschiede kann man nur überwinden, wenn sich eine – auf beiden Seiten bestehende –innere Bereitschaft zum Frieden, zur Anpassung und zum gegenseitigen Respekt aufbauen lässt. Das kann nur gelingen, wenn beide Seiten sich an den drei Grundregeln der Moral orientieren15:

  • Dem Bewusstsein, dass wir alle voneinander abhängen (Interdependenz),
  • die Anerkennung des Prinzips vom Geben und Nehmen (Reziprozität),
  • der gegenseitigen Empathie.

Solche günstigen Voraussetzungen fanden sich nur selten. Seit ihrer Vertreibung aus Israel durch die Römer um 70 n. Chr. mussten sich die Juden in jedem Land, in dem sie siedelten, als Fremde durchsetzen. Wie das Verhältnis zu ihrer Umgebung sich danach entwickelt hat, ist von Land zu Land sehr unterschiedlich und es hängt wesentlich auch vom Konzept der Juden ab, wie sie sich in Bezug auf ihre Umwelt verhalten wollen. Einige haben ihre Herkunft einfach über Bord geworfen, andere haben sich beruflich, kulturell usw. assimiliert, einige praktizieren ihre Religion intensiv, andere weniger. All das sind keine Lösungen, die man erzwingen kann, sie müssen sich aus der individuellen Biografie ergeben. Die Grenzziehung ist schwierig. Wer seine Identität schützen will, kann sich nicht leicht für den Weg der Assimilation entscheiden. Das gilt nicht zuletzt z. B. für die zahllosen hygienischen Regeln der Halacha (koschere Küche), die in früheren Zeiten sinnvoll gewesen sind, oder die vielen Vorschriften über das Verhalten am Sabbat. Auch wenn sie heute keinen praktischen Sinn mehr ergeben, sind sie doch ein unübersehbarer Hinweis auf das Nachdenken über Gott, das wir uns in unserem täglichen Leben nicht verlieren sollten. Diese Rituale sind keinesfalls absurder, als die meisten christlichen Dogmen (Dreieinigkeit, Jungfrauengeburt, Unfehlbarkeit des Papstes usw.) – und natürlich schweißen sie die Gruppe zusammen, die an diesen gemeinsamen Ritualen festhält.

Im Lauf der Jahrhunderte treten von all diesen Motiven des Antisemitismus die religiösen zurück, weil die Identifikation der Menschen mit ihren jeweiligen Religionen insgesamt an Bedeutung verliert. Jetzt stützt sich der Antisemitismus vor allem auf die Ablehnung des Fremden. Die Juden werden – ob sie wollen oder nicht – schon deshalb zu Fremden gemacht, weil ihnen die Assimilation verwehrt wird: Die Zünfte nehmen sie nicht auf, sie können nicht studieren oder gar an Schulen und Universitäten unterrichten, sie können nur als Kreditgeber in den Dienst der Fürsten treten (weil den Christen die Zinsgeschäfte verboten waren) und brauchen Schutzbriefe für diese Privilegien. Sie können keinen Handwerksberuf ergreifen. Goldhagen16 und andere, die in nahezu jedem Deutschen, der zur fraglichen Zeit in Deutschland gelebt hat, einen »willigen Vollstrecker« zu sehen geneigt sind, führen den Holocaust auf die Ressentiments gegenüber den Juden zurück, die die Deutschen mehr beherrscht hätten als andere. Damit erkennen wir eine weitere Facette, die soziologische Untersuchungen uns als »gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit«17 vorstellen.

Sie benötigt außer der Fremdheit der jeweils anderen Gruppe keinen weiteren Anlass. Das herausragende Beispiel sind die afrikanischen Sklaven, die im 17. Jahrhundert nach Amerika verschleppt wurden. Sie hatten schon wegen ihrer Hautfarbe, aber mehr noch wegen ihrer sozialen Stellung niemals eine Chance, ohne ausdrückliche politische Maßnahmen in die Gesellschaft integriert zu werden. Dies gelang während des amerikanischen Bürgerkriegs durch den 13. Zusatzartikel der US-Verfassung (1865). Er ist mit jedem der Toleranzedikte vergleichbar, das wir über die Juden in Europa zu den unterschiedlichsten Zeiten finden. Wie lange man braucht, um der juristischen Gleichstellung praktische Wirkung zu verschaffen, können wir 150 Jahre später in den USA auf den ersten Blick sehen: Der Präsident Barack Obama gehört selbst dieser Bevölkerungsgruppe an, aber er kann nicht verhindern, dass ständig Farbige (nicht nur Afroamerikaner) von der Bevölkerung, vor allem aber von den Polizeikräften drangsaliert werden.

Im politischen Bereich gibt es historisch wie aktuell unzählige Beispiele für vergleichbare Ausgrenzungen. In Europa genügt der Hinweis auf Schotten, Katalanen oder Basken. Die katholischen Iren waren jahrhundertelang weltweit dem Verdacht ausgesetzt, den Befehlen des Papstes in Rom mehr zu gehorchen als den nationalen Interessen des Landes, dessen Bürger sie sind. Der aktuelle Konflikt in Syrien (seit 2013) findet als erster Opfer religiöse und ethnische Minderheiten, auch die tiefgreifenden Auseinandersetzungen zwischen Türken, Kurden und Armeniern folgen dieser Regel. Das jüngste Beispiel18: In Burma lebt die muslimische Minderheit der Rohinga, die nicht einmal die Staatsbürgerschaft erwerben können, weil diese nur der buddhistischen Mehrheit gewährt wird. Die Regierung hat Angst, die Muslime könnten sich nach dem Vorbild des islamischen Staates radikalisieren und weil es ihnen alle Rechte verweigert, wird daraus eine selbsterfüllende Prophezeiung.

Die Distanz zu Fremden zeigt sich als Phänomen sogar in Israel: Orthodoxe Juden (die oft aus den früheren Ostblockländern oder den USA einwandern) möchten religiöse Regeln auf den gesamten Staat angewendet wissen, Liberale hingegen lehnen das ab, wollen aber auch keinen gemeinsamen Staat mit Arabern und schon gar keinen Vielvölkerstaat. Das ist auf dem Hintergrund der israelischen Geschichte gut verständlich, denn hier sollte ein geschützter Raum entstehen, der sich ganz bewusst nach außen abgrenzen musste und wollte. Politische oder individuelle Entscheidungen können soziale Interaktionsmuster, wie die Reaktion geschlossener Gruppen auf Fremde nicht aushebeln. Mit diesem Problem muss jeder leben, der aus welchen Gründen auch immer es ablehnt, sich der Gruppe anzupassen, die ihn umgibt. Vor allem deshalb können wir sagen, dass Antisemitismus heute – anders als etwa im Mittelalter – keine Form des Religionshasses ist: Sogar die Muslime haben über Jahrhunderte mit den Juden friedlicher zusammengelebt, als sie es heute tun. Viele Juden, die die jüdische Religion nicht akzeptieren, haben auch durch die Verfolgungen nicht zu ihr gefunden. Nur die Solidarität mit den Menschen, die andere mit diesem Stempel versehen hatten, hat sie auf ihre Seite gerückt, wie etwa Louis Begley aus eigenem Erleben berichtet: »Da man mich zum Juden gemacht hat, muss ich solidarisch bleiben«.

5. Identität, System und Umwelt

Wir können uns deshalb nicht damit begnügen, herauszufinden, wie die Ablehnung der Juden als Fremde in der Vergangenheit zustandegekommen ist, wir müssen uns fragen, worauf sie in ihrem tiefsten Kern beruht. Heute wie damals handelt es sich um einen Konflikt zwischen der Identität, die ein Mensch in seinem persönlichen Leben wie in seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe entwickelt und der Akzeptanz/Ablehnung die er von anderen Menschen/Gruppen erfährt, mit denen er in Berührung kommt. Das ist kein spezifisches Problem religiöser oder politischer Art, denn jeder Mensch entwickelt notwendig eine Vorstellung von seiner eigenen Identität, weil er – wie bereits viele Tiere – sonst die Differenzen zu anderen gar nicht wahrnehmen und ein soziales Wesen werden könnte19. Identitätsprobleme entstehen, wenn jemand z. B. in eine andere Gesellschaftsschicht auf – oder absteigt, seiner Heimat verlässt, seinen Beruf wechselt und so die von ihm vertraute – seine Identität stiftende – Umgebung verliert.

Die Identität, die man selbst und in seiner Gruppe gewinnt, ist in jedem Fall von unzähligen Klischees durchzogen. Den Deutschen wird nachgesagt, sie seien romantisch, verfolgten ein Ziel nur um seiner selbst willen, seien extrem sauber – und all das, obwohl wir selbst genau wissen, dass diese Romantik ihre Grenzen hat, dass wir auch faul sind und unsere Unterwäsche zu selten wechseln.20 All diese Klischees hatten irgendwann einmal einen rationalen Kern, aber der ist mit dem kritischen Verstand nicht mehr auszumachen. Nur die Emotionen bleiben in uns hängen, denn denen sind die Tatsachen gleichgültig.

Menschen, die ein gestörtes Verhältnis zu ihrer eigenen Identität haben, neigen dazu, sie durch Angriff auf andere zu verfestigen, wie Norbert Bischof21 gezeigt hat. Entweder ziehen sie sich völlig aus der Außenwelt zurück, wie wir es bei den japanischen Hikikomori sehen22, oder werden zum aggressiven Einzelgänger und oft auch Attentäter. Der jüngste Fall: Stephan Balliet, der die jüdische Synagoge in Halle angriff (September 2019). Studium abgebrochen, keine geregelte Berufstätigkeit, lebte bei seiner Mutter. Vorbild: Anders Breivik (Attentat Juli 2011 in Oslo/Utoya) – Schule abgebrochen, keine geregelte Berufstätigkeit, lebte bei seiner Mutter. Mit ihren Taten wollten beide auch die Zustimmung der rechtsradikalen Gruppen, denen sie sich im Internet verbunden fühlten. Die Furcht vor Strafe schreckt sie nicht ab. Meist ist mit dem Attentat die Idee des Selbstmords verbunden, aber für jemand wie Stefan Balliet, der jahrelang im selbstgeschaffenen Gefängnis lebte, ist der Wechsel in ein anderes Gefängnis kein Schrecken.

Auf dem oben kurz skizzierten historischen Hintergrund des Antisemitismus sind die Juden eine naheliegende Gruppe, gegen die sich der Zorn von Menschen mit gestörter Identität richtet. Der Kern des Reaktors, in dem sich der Judenhass erhitzt, beruht häufig auf der Behauptung, die Juden beherrschten im Geheimen mithilfe ihrer politischen und wirtschaftlichen Beziehungen andere Völker und fügten ihnen dauernd Schaden zu. So jedenfalls die Thesen des berühmtesten antisemitischen Werkes »Die Protokolle der Weisen von Zion«. Diese groteske Fälschung von Verschwörungsriten aus dem Russland des Jahres 1903, für deren Verbreitung nicht nur Henry Ford sorgte, hat deshalb so große Wirkung gehabt, weil sie an Beobachtungen anknüpfte, die offen zu Tage lagen – es ist die enge Bindung an Familie und Religion, die die Juden Jahrhunderte lang über alle Grenzen, Sprachen, Nationen und kulturellen Unterschiede hinweg miteinander verbunden hielten.

Das ist den Juden auf internationaler Ebene viel leichter gelungen als anderen Gruppen. Je erfolgreicher sie dabei waren, umso stärker haben sich offenbar die Ängste derjenigen entwickelt, die vergleichbare Fähigkeiten oder Beziehungen nicht hatten – und zwar ungeachtet der hohen kulturellen Beiträge, die die Juden vor allem in Deutschland geleistet haben. Aber all diese Bemühungen haben offenbar in den Deutschen die Angst vor dem Fremden nicht überwinden können. Auch die archaische Idee vom Schutz des Fremden (das Gegenstück zur Angst), der ihm gewährt wird, sobald er den Altar der Götter erreicht, ist als Motiv zu schwach, um eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung dieser Art zu beeinflussen.

6. Gruppendynamik

Identitätsprobleme zeigen sich – wie oben schon angedeutet – zwischen unterschiedlichen Gruppen besonders deutlich. Innerhalb von Gruppen entwickelt sich daraus eine besondere Dynamik. Drei historische Beispiele:

  1. In der französischen Revolution mussten unzählige Menschen ihre, im Ancien Régime gewonnene Identität ändern und kaum jemand hatte eine klare Vorstellung davon, in welche Richtung das geschehen sollte. Die Verteidigung der revolutionären Werte gegenüber den Angriffen von außen boten jedem einzelnen, wie der Gruppe die Chance, eine neue nationale Identität zu stiften. Der Ausruf der französischen Nationalhymne »Vorwärts, Kinder des Vaterlandes« drückt das hinreichend klar aus.
  2. Das Deutsche Reich fand 1870/71 seinen Begriff der Einheit erst im Angriff auf Frankreich vollendet, den Bismarck in Bad Ems provoziert hatte. Besonders arrogant: Die Gründung des Reiches in Versailles auf dem Boden des Feindes.
  3. Niemand kann sagen, wie der Kommunismus sich nach Abschluss der Revolution entwickelt hätte. Aber der »Große Vaterländische Krieg« hat die Russen jahrzehntelang von inneren Konflikten – vor allem von den Verbrechen Stalins – abgelenkt und mit seinem erfolgreichen Abschluss identifizieren sie sich auch heute noch, auch dann, wenn sie mit ihrer Regierung nicht einverstanden sind.

Feste biologische soziologische und psychologische Konstanten23 sorgen dafür, dass jede Gruppe von Menschen danach bestrebt ist, ihre innere Stabilität (das System24) dadurch zu sichern, dass sie sich nach außen (von der Umwelt) abgrenzt, ein »anthropologisches Erfordernis zur Aufrechterhaltung einer stabilisierenden Gruppennorm25«. Das beginnt bei kleinsten Gruppen wie den Familien und setzt sich über Ortsgemeinschaften, Zünfte, Sprachgruppen, kulturelle und religiöse Identifikationen bis in nationale Identifikationen fort. Die Schichten, die solche Gruppierungen voneinander unterscheiden, können sehr unterschiedlich sein.26 In Deutschland etwa definieren viele Menschen sich über ihre regionale Herkunft, die nicht zufällig alten Stammesgrenzen entsprechen, sofern sie sich über die Jahrhunderte einigermaßen gehalten haben (z. B. in Bayern). Deshalb bevorzugen Politiker in Deutschland gern ihren heimatlichen Sprachklang. In Großbritannien hingegen definieren die Menschen sich über ihre soziale Schicht, die ebenfalls untrüglich an der Sprache zu erkennen ist: Wer in Oxford studiert hat, spricht keinen regionalen Dialekt, sondern die Sprache seiner Klasse. In Frankreich ist das ähnlich. Noch eindeutiger entwickelt sich das Bild, wenn die Fremdheit an der Hautfarbe oder anderen einfachen Merkmalen erkennbar ist.

Das wird in der Diskussion um vergleichbare Abgrenzungsphänomene wie Rassismus, Sexismus oder Hass auf Behinderte, Obdachlose oder Empfänger von Sozialleistungen ebenfalls deutlich. Besonders klar wird es bei den Homosexuellen27. Die Zahl der Homosexuellen bewegt sich weltweit vermutlich bei etwa 4-6 % unter Schwulen und 3-5 % bei Lesben (die Dunkelziffer ist hoch). Daneben gibt es eine Dunkelziffer diverser anderer sexueller Verhaltensweisen. Interessanterweise stehen in den meisten Ländern nur gleichgeschlechtliche Aktivitäten unter Männern unter Strafe und werden scharf kulturell abgelehnt28. In Ländern, die sich aktiv um eine Liberalisierung bemühen, ändert sich das Bild, aber ein Homosexueller hat sehr geringe Chancen, seine Rechte zu schützen, wenn sie nicht aktiv politisch geschützt werden. Den Juden geht es nicht anders.

All diese Behauptungen – vor allem über die biologischen und psychologischen Zusammenhänge – stoßen in der öffentlichen Diskussion vor allem in Deutschland auf Widerspruch, denn die meisten intelligenten Menschen bemühen sich sehr, Fremden gegenüber tolerant oder mindestens neutral zu sein29. Aber die inneren Haltungen, um die es hier geht, liegen überwiegend im Unterbewusstsein und können durch intellektuelle Bemühungen nur ungenügend beeinflusst werden. Wer das nicht glaubt, kann sich einer Reihe von Tests unterziehen, die im Internet auch in deutscher Sprache leicht zugänglich sind.30 So entwickeln sich die Grenzen und Konflikte zwischen den einzelnen Gruppen, die kein einzelner Mensch verändern oder verschieben kann, weil sie sich entsprechend den jeweiligen Rahmenbedingungen unterschiedlich entwickeln.31

Entscheidend ist immer die Frage, ob das Misstrauen der einen Gruppe gegenüber der anderen überwindbar ist, oder nicht.

Die erste Möglichkeit dazu ist die Assimilation in die größere Gruppe. Dazu muss die Bereitschaft bestehen, die bisherige Identifikation mit der eigenen Gruppe aufzugeben. Die Risiken sind hoch, denn durch diesen Schritt verliert man nicht nur wichtige kulturelle Werte, sondern oft auch einen Teil seiner persönlichen Identität und die Unterstützung durch andere, die diesen Schritt nicht tun wollen.

Wer sich trotzdem dazu entschließt, stößt in der Regel auf hohe Hürden bei der aufnehmenden Gruppe. Jeder Versuch, einen Fremden in die eigene Gruppe aufzunehmen, stößt spiegelbildlich auf die gleichen Probleme, die man hat, wenn man eine Gruppe verlässt. Beide Seiten müssen also eine erhebliche moralische Leistung erbringen, wenn die Assimilation ein Erfolg werden soll.

Innerhalb der jüdischen Welt hat es immer eine Diskussion über die Frage gegeben, ob die Juden sich ganz oder teilweise in die Völker integrieren sollten, mit denen sie lebten. Die Aufnahmebedingungen (Niederlegung der eigenen Religion) waren jedoch immer nahezu unüberwindbar. Viele moderne Juden haben ihren Glauben verlassen und unter ihnen hatten viele auch keinerlei persönliche Kontakte zu den örtlichen jüdischen Gemeinden. Trotzdem wurden sie unter den damals herrschenden Rassentheorien für Juden erklärt.

7. Isolation und Netzwerke

Wir haben gesehen, wie notwendig es für die in aller Welt verstreuten Juden war, sich intensiv zusammenzuschließen, um überleben zu können. Ohne die intensive Pflege von Netzwerken wäre das nicht gelungen. Diese Netzwerke entwickelten sich international, weil die laufenden Vertreibungen, Pogrome usw. zu immer wieder neuen Auswanderungswellen führten. Die Familien mussten zusammenhalten. Sigmund Freuds Vater, ein unbedeutender Textilhändler aus Böhmen hatte Verwandte in Deutschland, Frankreich, England usw., bedeutendere Familien wie die Rothschilds knüpften globalisierte Netzwerke zu einem Zeitpunkt, als das im Übrigen völlig ungewöhnlich war. Hätte man auch die Fugger aus Deutschland vertrieben, hätten sie nicht anders reagiert. Die daraus über Jahrhunderte entstandene Dominanz in den Finanzmärkten ist eine logische Folge dieser Entwicklung. Das gleiche gilt z. B. für die Medienindustrie in den USA. Die ersten Filmindustrien sind von Juden gegründet worden (Carl Laemmle, Louis B. Mayer) und es liegt auf der Hand, dass daraus starke Netzwerke unter Verwandten und Freunden (friends and family) entstanden sind. Vergleichbare Entwicklungen sieht man in der Abwehr jüdischer Anwälte durch etablierte Anwaltsfirmen, die noch bis weit in die Fünfzigerjahre den Markt stark prägten. Selbst Menschen jüdischer Herkunft, die keine Religion ausüben und auch kein Bestandteil solcher Netzwerke sind, fühlen sich zurecht solidarisch mit der Gruppe, der sie aufgrund ihrer Geburt angehören. Louis Begley, in Polen geboren, US-amerikanischer Rechtsanwalt und Schriftsteller hat sinngemäß gesagt: »Adolf Hitler hat mich zum Juden gemacht«. Jede Gruppe, die von anderen unterdrückt, ignoriert oder behindert wird (auch Farbige, Latinos, Asiaten) hat keine andere Wahl, als sich auf diese Weise ihrer Identität zu versichern. Wäre es anders, bräuchten wir keine Diversity-Programme.

Die absurden Theorien über die jüdische Weltverschwörung beruhen in erster Linie auf den guten internationalen Kontakten und der Förderung jedes zuverlässigen Menschen, der »Glaubensgenosse« war. So entstand neben einer Vielzahl armer Juden auch eine sehr reiche Oberschicht. Sie alle waren – vor allem in Deutschland – einem alles zerstörenden Gefühl ausgesetzt: dem Neid. Götz Aly32 sieht darin den treibenden Faktor für den Antisemitismus der Deutschen. Seine Wirksamkeit kann man im Bereich des mittleren und vor allem des gehobenen Bürgertums nicht leugnen. Reiche jüdische Kaufleute mit internationalen Beziehungen wurden zu ebenso einflussreichen Industriellen. Der verarmte Adel heiratete die Töchter (sofern sie sich vorher taufen ließen), was an dem Neid gegenüber den Schwiegervätern nichts änderte. Die kulturelle Szene war von kreativen Juden stark beeinflusst und weil begabte Leute als Ärzte und Anwälte arbeiten konnten, dominierten sie auch diese Berufe. In München waren 1933 von 800 Anwälten fast 60 % Juden. Ihre Vertreibung hat die Märkte für die arischen Anwälte auf einen Schlag wieder geöffnet.

Außerhalb dieser Bereiche hat das Leitmotiv des Neides aber nicht sehr stark wirken können. Wer hätte Neid auf die Millionen verarmter polnischer Juden entwickeln können und wo hätte sich der Hass und Neid gespeist gegenüber sozial völlig gleichgestellten Leuten, mit denen man täglich umgeht? Hitlers antisemitische Ressentiments stammen aus seinem Hass gegenüber den Ostjuden, die er als Untermenschen diskreditiert. Neid spielt da keine Rolle. Er ist ein Element, aber bei weitem nicht das einzige. Entscheidend ist etwas anderes: Die unterschiedlichsten Motive, die den Antisemitismus geschürt haben, führten am Ende dazu, dass alle Juden, auch jene, die seit Jahrhunderten in Deutschland lebten und selbst keinerlei Bezug mehr zum Judentum hatten, als Fremde gebrandmarkt wurden. Die Deutschen haben damit einen wesentlichen Teil ihrer eigenen Familie zerstört, der für ihr wirtschaftliches, politisches und kulturelles Leben wichtigste Beiträge geleistet hat. Wie konnte das geschehen?

8. Autorität und Gehorsam

Unter den zahllosen Faktoren, die zum Völkermord an den Juden beigetragen haben, sehe ich einen wichtigen – und zu wenig diskutierten – Schlüssel in der Tatsache, dass damals eine große Anzahl der Deutschen den Gehorsam gegenüber der staatlichen Autorität für wichtiger hielten, als die Sprache des eigenen Gewissens33. In vielen Ländern Europas herrschten damals Diktatoren, aber die Menschen lagen ihnen nicht so zu Füßen wie in Deutschland.

Die Neigung, sich an Befehl und Gehorsam zu halten, ist den Deutschen nicht in die Wiege gelegt worden – im Gegenteil. Nach Griechenland und Rom haben germanische Stämme, aus eigenen Wurzeln ein System der Wahlen und Abstimmungen entwickelt: Wer die Macht beanspruchte, wurde auf den Schild gehoben, wenn genügend Leute akklamiert hatten. Herausragend vor allem die Franken, die bis heute den Begriff »Freiheit« in ihrem Namen führen (und tatsächlich den ganzen Rhein entlang ihre Unabhängigkeit verteidigt haben34). Es wäre interessant, zu untersuchen, wann die Deutschen diese innere Einstellung verloren und begeisterte Knechte geworden sind. Schon Rudolf Smend sprach über sie als einem »rührend legalitätsbedürftigen Volk«, was gleichzeitig bedeutet: Wenn jemand die formalen Anforderungen an die Legalität erfüllt, ist die Legitimität seines Vorgehens kein Thema mehr. Die Demokratie kann genauso wenig wie andere politische Form dafür sorgen, dass oben die richtigen Leute stehen, aber sie kann die ungeeigneten aus dem Amt jagen. In Diktaturen ist das nicht möglich.

Spätestens seit der Zeit, als die deutschen Könige sich berufen fühlten, dass »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« in enger Verbindung von Kreuz und Schwert zu führen, hat der feste Glaube an den politischen Erfolg strenger Hierarchien sich gegenüber anderen Modellen durchgesetzt. Wer dieses Modell nicht akzeptierte, verlor nicht nur die Zustimmung des Herrschers, sondern auch den göttlichen Beistand, den die Kirche repräsentierte. Der Kirchenbann bedrohte sogar zeitweise den Kaiser und seine Fürsten. Das strenge Autoritätsmodell wurde in jedem der deutschen Länder, reichsfreien Fürsten usw. nachgebildet. Wir hatten nicht einen Absolutismus wie etwa in Frankreich, sondern zahllose kleinere Formate dieses Stils. Schon im Wiener Kongress wurde die Zahl der unabhängigen Länder auf etwa zweihundert reduziert, mit der Inthronisierung eines neuen deutschen Kaisers (1871) bestand das Reich aus zweiundzwanzig vom monarchischen Prinzip gestützten Königen, Herzögen, Fürsten usw.35, die bis zum Ende des ersten Weltkriegs jede rechtliche Möglichkeit hatten, von ihren Untertanen Gehorsam zu verlangen.

Die Jugend hat spätestens ab der Jahrhundertwende den Widerspruch zwischen der modernen Industrialisierung und einem politischen System »von Gottes Gnaden » als unerträglich empfunden. Der »Jugendstil« bezeichnet den Beginn dieser Epoche, und es ist bezeichnend, dass der Begriff im künstlerischen Umfeld auftaucht, also nicht etwa im Bereich der Politik: die Jugend weiß ganz genau, dass sie dort nichts zu sagen hat. Junge Intellektuelle (Ernst Jünger, August Macke) gehen 1914 lieber begeistert in den Tod, als sich mit den herrschenden Autoritäten abzufinden, gegen die sie keine Mittel finden.

Die Weimarer Republik war zu kurz, um das Autoritätsmodell ernsthaft zu gefährden. Die Deutschen hatten anders als früher die Engländer oder die Franzosen (von den Amerikanern ganz zu schweigen) in den wenigen Jahren der Weimarer Republik praktisch keine Chance, die Demokratie – also den realistischen Umgang mit Macht und Autorität – zu lernen. 1918 hat Heinrich Mann den Untertan skizziert und an diesem Bild hat sich bis 1945 nicht viel verändert.

Die Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten nach 1933 etablierte erneut das Autoritätsmodell – diesmal aber nicht zugunsten adeliger oder kapitalistischer Kreise: Sie brachte plötzlich und erfolgreich viele junge Leute in Positionen, die sie ohne diese Umstürze nie hätten erreichen können36. Auch wenn viele von ihnen später vor allem als Soldaten kritische Perspektiven einnahmen: Sie haben die frühe Macht am Anfang genossen, die sie ab 1933 an sich gerissen haben.

Die Tragödie des Judenmordes ist leichter erklärbar, wenn man sich klarmacht, dass Befehle aller Art, darunter auch der Befehl zum Wegsehen, der Befehl zum Schweigen und einige exemplarische (öffentliche!) Strafen gegenüber allen, die sich daran nicht halten wollten, in einer autoritätsversessenen Gesellschaft ganz anders wirken müssen, als in einer Gesellschaft, in der eine Mehrheit daran gewöhnt ist, sich politisch zu artikulieren.

Die Fähigkeit und der unbedingte Wille der Deutschen zum Gehorsam ist unter dem Einfluss der oben skizzierten historischen und soziologischen Faktoren von ihnen selbst (und nicht nur von den Nazis, Adolf Hitler usw.) auf seinen hohlen Kern reduziert und missbraucht worden. Viele Deutsche haben sich dafür geschämt – und haben trotzdem nichts unternommen. denn wie konnte es sonst dazu kommen, dass in den ersten Jahren nach 1933 weniger als 10 % der Bevölkerung die restlichen Deutschen so einschüchtern konnten, dass die meisten von ihnen nur noch mit dem Kopf genickt, nichts gesagt, nichts getan und niemals gegen die Zerstörung all ihrer persönlichen Rechte protestiert haben? Alle führenden Organisatoren des Judenmordes, darunter vor allem Adolf Eichmann, Rudolf Höß (Auschwitz) und Franz Stangl (Treblinka) haben sich als willenlose Werkzeuge in der Hand ihrer Vorgesetzten gesehen und schwankende Untergebene mit Hinweis auf die Befehle zurechtgewiesen. Diesen Befehlen wurde nur äußerst selten widersprochen, obwohl wir wissen, dass Leute ihre Versetzung aus den Vernichtungslagern und SS-Einsatzgruppen beantragten und nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Aber das waren Einzelfälle. Organisierten Widerstand gab es nur im Untergrund, weil er auf der Oberfläche nicht hätte überleben können. Der Terror und die Angst vor dem Terror waren die prägenden Elemente dieser Jahre, wie man aus vielen Interviews mit Zeitzeugen weiß. »Gehe nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst« war ein Leitsatz, den meine Mutter oft wiederholte. Sie war 1907 in den Zeiten der Monarchie geboren und dieser Satz hat ihr in der Weimarer Republik, im Dritten Reich, und später bei jedem genutzt, der sich als Fürst Macht verschafft hatte – auch bei den Franzosen, die nach 1945 das Dorf besetzten, in dem sie sich mit Leichenwaschen und Dolmetschen durchschlug.

In den anderen europäischen Ländern fehlt dieses entscheidende Element. Den einfachsten Beweis dafür liefern uns die Verläufe der Judenverfolgung in Dänemark, Südfrankreich und Italien. Auch hier versuchten Eichmann und seine Truppe die Kooperation mit den Judenräten und der Zivilbevölkerung, mit deren Antisemitismus sie rechneten. Die Bevölkerung verhielt sich stattdessen aber solidarisch mit den Juden (nicht zuletzt, weil sie selbst als Kriegsgegner der Deutschen im gleichen Boot saßen). In Dänemark hatten sie nur sehr geringen Erfolg, weil die dänische Zivilbevölkerung ihre jüdischen Mitbürger wirksam versteckten oder in das neutrale Schweden verschieben konnten. Bei der Besetzung Südfrankreichs konnten die dort lebenden Juden etwa zur Hälfte nach Italien oder der Schweiz emigrieren und in Italien selbst schützte ein Erlass Mussolinis alle Juden, die Faschisten gewesen waren. Zusammen mit der insgesamt ablehnenden Haltung der Zivilbevölkerung rettete das der Hälfte der Opfer das Leben.

Die Neigung der Deutschen, Autorität und Gehorsam als den zentralen Wert ihrer politischen Kultur zu sehen, ist spätestens seit der Bismarck Ära im Ausland vielfach kommentiert und karikiert worden. Dario Papa, ein italienischer Journalist (1846-1897), schrieb:

»Vielleicht werden die Sozialdemokraten eines schönen Tages zum Kaiser gehen und ihm sagen: Majestät, wir haben alles fertig, um unsere Revolution zu machen. Es fehlen uns nur die Offiziere und eure Majestät!«37.

Wenig später höhnte Lenin, die Deutschen wären nicht fähig, eine Revolution machen, die sie zwänge, den Rasen vor dem Schloss zu betreten. Am Ende hat immer die Angst vor der Obrigkeit und die Bereitschaft zum Gehorsam gegenüber den Gedanken von Freiheit und Gleichheit gesiegt. Die romantischen Ideen, die die Revolutionsversuche von 1848 geprägt haben, verschwanden in der »Gartenlaube«. Auf einmal erschien der Glaube an die Autorität im öffentlichen Leben attraktiv, weil er offensichtlich mit politischen Erfolgen verknüpft war38: Spätestens seit 1871, als die allgemeine Wehrpflicht das ganze Reich umfasste und zur »Schule der Nation« wurde39 war es – unabhängig von politischen Differenzen im übrigen – die feste Überzeugung der Deutschen, dass die Welt ohne klare Autoritäten, ohne Befehl und Gehorsam, ohne stilles Erfüllen der ihnen auch gegen jede eigene Einsicht auferlegten Pflichten, nicht gelenkt werden kann. Diese innere Haltung prägte Sozialdemokraten und Kommunisten genauso wie alle anderen Parteien. Sie ist es, die eine politische Revolution bei uns immer wirksam verhindert und zum »Sonderweg« der Deutschen40 geführt hat. Spätestens seit 1871 ist die Uniform im öffentlichen Leben präsenter als in jeder vergleichbaren Nation. Bis zum ersten Weltkrieg hatte das Ganze das Flair einer Operette (vor allem in Wien), danach klebte das Blut des Ersten Weltkrieges an den Uniformen. Um es zu entfernen, steckte man ab 1934 im Zug der Gleichschaltungspolitik nahezu die gesamte Nation in Uniform. Von der Hitlerjugend bis zum Reichsarbeitsdienst, vom Bund Deutscher Mädel bis zur Kraft-durch-Freude-Organisation gab es nur sehr wenige Deutsche, die sich einer dieser Gruppen entziehen konnten (die Juden waren aus ihnen verbannt). In jeder dieser Gruppe herrschte eine paramilitärische Struktur, in der alltäglicher Gehorsam erzwungen wurde. Und wir wissen: wenn Autorität und Gehorsam das prägende Stilmittel innerhalb einer Gruppe darstellen, können die Dinge sich – besonders in Deutschland – tragisch entwickeln, wenn das Gegenstück zum ständigen Druck der Mächtigen ist die Angst vor Ausgrenzung und Strafe.

Besonders tragisch ist die Feststellung, dass nicht nur die Täter und Helfer autoritätsversessen waren, sondern auch die Opfer. Bevor ich mich intensiv mit dem Thema beschäftigt habe, bin ich immer davon ausgegangen, dass deutsche Polizisten, SA oder SS-Leute die Juden in die Konzentrationslager geschafft hätten. Für die politischen Gegner traf das zu, nicht jedoch auf diejenigen, die ohne Grund vernichtet werden sollten: Sie mussten das selbst organisieren. Diese Aufgabe wurde den Judenräten mit der Lüge zugeschoben, sie sollten die Auswanderung organisieren und diese Lüge wurde auch dann aufrechterhalten, als sie viele Nachrichten enttarnt worden war. Hannah Arendt41 hat das als Kollaboration bezeichnet und tatsächlich zeigt sich, dass in Ländern, in denen die Judenräte sich dieser Mithilfe verweigert haben, die Zahl der Opfer sehr viel niedriger war. Aber auch die Judenräte waren Kinder ihrer Zeit und die jungen Juden hatten genauso gelernt, zu gehorchen, wie die jungen Deutschen.

Wer nach 1945 aufgewachsen ist, kann sich wahrscheinlich die Innenwelt eines Menschen nicht vorstellen, der von der täglichen Angst erfüllt ist, von Autoritäten welcher Art auch immer (Vorgesetzte, Eltern, Amtsträger, Uniformen etc.) in den kleinsten Dingen zurechtgewiesen zu werden, keinerlei Widerspruch leisten kann, und nirgendwo eine Plattform für eine Beschwerde oder den Austausch mit anderen findet. Einige aus unserer Generation haben aber genau diese Zustände zu Hause oder in den Internaten, Erziehungsanstalten etc. noch erlebt und wissen, wovon die Rede ist, wenn über die Jahre zwischen 1933 bis 1945 gesprochen wird.

Vergleichbares ist nur in kommunistischen Ländern gelungen. Sie haben ebenso wie Nazis begriffen, dass Jugendliche, die vom ersten Tag ihrer Geburt an in Angst versetzt, ihnen gleichzeitig aber mit der anderen Hand unerwartete Chancen geboten werden, zur Anpassung neigen. Zudem waren die Kommunisten, die die Revolution getragen haben, zutiefst davon überzeugt, dass die Zeit der Gewalt einmal ein Ende haben würde. Wie die stalinistischen Terrorprozesse zeigen, haben die Angeklagten das Wirken der Partei sogar dann durch fingierte und erzwungene Geständnisse unterstützt, wenn sie wussten, dass ihr Leben damit enden würde. Aber sie waren für die zukünftigen Generationen zu diesem Opfer bereit. In China bot sich während der Kulturrevolution das gleiche Bild und wir sehen es in Nordkorea bis heute. Auf die inneren Zusammenhänge zwischen der kommunistischen und der nationalsozialistischen Ideologie hat Ernst Nolte ganz zu Recht aufmerksam gemacht. Es war leicht, ihm dabei Befangenheit vorzuwerfen42, aber das ändert an der Richtigkeit seiner Analyse nichts.

Wie entsteht eine solche Haltung? Sie ist ganz unten in den Familien entstanden: unsere Großväter hatten Angst vor ihren Vätern (und die vor ihren usw.) und noch unsere Väter haben sich schon als Kinder drillen lassen wie die Soldaten – die beste Voraussetzung für die Armee, die gehorsam in den Krieg ziehen muss, wenn sie ihn gewinnen will. Die Angst durchzog aber auch jede andere soziale Institution, von den Schulen bis hin zu den Behörden, zu denen auch Post und Bahn gehörten. Die Angst der Untertanen vor Gott und Kaiser war die feste historisch gewachsene Klammer, aus der die Deutschen sich nicht befreien konnten: es war ihre feste Überzeugung, dass die Welt ohne klare Autoritäten, ohne Befehl und Gehorsam, ohne stilles Erfüllen der ihnen auferlegten Pflichten auch gegen jede eigene Einsicht nicht gelenkt werden kann. Es wird noch ein langer Weg werden, bis die Mehrheit der deutschen Bürger sich nicht nur aus Untertanen und Anarchisten zusammensetzt.

Die heute und für die Zukunft entscheidende Frage ist: Wenn wir davon ausgehen müssen, dass der Antisemitismus als Sorge vor einer Gefährdung der eigenen Identität trotz und gerade wegen seiner irrationalen Elemente nicht einfach auflöst, sondern immer wieder aufflammen wird, wie groß ist die Gefahr, dass er sich wieder bis hin zu Völkermord entwickeln kann?

Anders als die Weimarer Republik hat die Bundesrepublik Deutschland seit über 70 Jahren stabile demokratische Verhältnisse. Viele Generationen kennen nichts anderes und der Anteil derjenigen, die unter einer Diktatur leben wollen, ist gering. Wir sind nicht nur in Europa mit niemandem verfeindet, im Gegenteil: Wir sind einer der wichtigsten Garanten eines friedlichen Europa. Und was das Wichtigste ist: Die antisemitischen Angriffe ab 1933 waren staatlich unterstützt und gelenkt, der Staat, der verpflichtet war, verfolgten zu helfen war selbst der größte Aggressor.

Auch wenn die AfD seit 2019 relativ hohe Zustimmung erfährt, ändert sich an diesem Bild nichts. Viele Menschen stimmen ihr allein deshalb zu, weil sie von der politischen Korrektheit der letzten zwanzig Jahre ermüdet sind. Unter den Pegida-Demonstranten sind eine Reihe Leute, die im Parlament keine Repräsentanten finden und ihrem Ärger auf der Straße Luft machen. Es ist nichts anderes als eine außerparlamentarische Opposition, auch wenn die AfD ist nun schon einige Zeit in verschiedenen Parlamenten tätig ist. Nirgendwo hätte sie auch nur den Hauch einer Chance, eine Gleichschaltungspolitik zu entfesseln, wie sie 1933 in wenigen Monaten umgesetzt worden ist. Nur so konnte Deutschland in den Zweiten Weltkrieg steuern und erst danach war die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten möglich. Solche Szenarien sind heute unrealistisch. Allerdings ändert diese Einsicht nichts an dem nach wie vor latent vorhandenen Antisemitismus überraschend großer Teile der Bevölkerung, der unsere politische Kultur vergiftet. Man kann Verständnis damit haben, dass Einzelne diese Situation so unerträglich finden, dass sie nicht mehr in Deutschland leben wollen43. Solche Reaktionen muss man ernst nehmen.

9. Persönliche Begegnungen mit Juden

Als »Sohn« des Notars in dem kleinen, vom Weinbau geprägten Ort Ahrweiler im Rheinland hatte ich in der Schule keine leichte Stellung. Es war 1950 noch die typische deutsche Zwergschule – alle Klassen vom ersten bis zum vierten Schuljahr in einem Raum versammelt – und die Weinbauernkinder waren teilweise bösartig. Damals gab es noch Altwarenhändler, die durch die Stadt zogen und deren Singsang karikierten sie sofort: »Lumpen, Papier, altes Eisen, sinn dem Sickjutt seine Speisen«. Instinktiv habe ich niemanden gefragt, was das Wort »Sickjutt« wohl bedeuten könnte.

Ich kannte weder als Kind noch später einen Juden, erst als Erwachsener bin ich beruflich wie privat einigen begegnet, ohne je zu verstehen, warum man ihnen kritisch gegenüberstehen sollte, nur weil sie Juden sind. Der Begriff tauchte in der Bibel auf, ich hörte auch, dass »die Juden« Christus ermordet hatten. Ohne den »Gottesmord« hätte es aber gar keine christlichen Religionen gegeben. Wenn die Juden ihre Rückkehr nach Jerusalem besangen, so war das eine Stadt, die Christen in gleicher Weise verehrten. All diese Themen schwebten irgendwo am Rande, denn wegen des Holocausts lag jahrzehntelang ein absolutes Tabu über Deutschland, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Das fiel niemanden auf, denn der Geschichtsunterricht endete irgendwo 1870/71.

Wäre ich vor meinem Erwachsenenalter einem Juden begegnet, hätte ich ihn genauso betrachtet wie einen Buddhisten oder einen Angehörigen jeder beliebigen anderen Religion. Dass die Deutschen ein politisches Problem gerade für die Juden darstellten (und umgekehrt), war mir absolut unbewusst. Mit etwa 16 Jahren begann ich, Kurt Tucholsky zu lesen, später Franz Kafka und danach unzählige andere jüdische Autoren (Norman Mailer, Philip Roth usw.), ohne mir bewusst zu sein, dass ich über meine Stellung zu diesen Autoren im Verhältnis zu anderen hätte nachdenken müssen. Deutlich erinnere ich mich an Fritz Kortner oder den Schauspieler Pinchas Braun – beide mit einem klassischen jüdischen Gesicht versehen –, die ich niemals als Juden identifiziert habe. Der Grund: Alle haben die Jahre zwischen 1933 - 1945 aus dem Gedächtnis gelöscht, verdrängt, geschwiegen, auch solche, die nach dem Krieg zweifellos gute Demokraten waren (Günter Grass, Walter Jens, Ehrhard Eppler usw.)44.

All das änderte sich nach den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt 1963, deren wirkliche Bedeutung ich allerdings erst im Jurastudium ab 1965 wahrnahm. Erst mit Anfang 20 verstand ich, warum Düsseldorf 1952 immer noch in Trümmern gelegen hatte (in unserem abgelegenen Schwarzwalddorf hatte ich sie ebenso wenig gesehen wie in dem unversehrten Städtchen Ahrweiler). Es gab einen Weltkrieg, den Adolf Hitler und seine Nationalsozialisten begonnen hatten – die anderen waren gezwungen gewesen, mitzumachen. Das war die Lesart und auch über sie wurde nur selten gesprochen. Es hat noch Jahre gedauert, bis mir die wirklichen Zusammenhänge klar wurden. Und jetzt erst, Jahrzehnte später, verstand ich langsam: »Sickjutt« bedeutete »Seichjude«, »Pissjude« und war schon in den Zwanziger Jahren (wenn nicht schon im Mittelalter) entstanden. Obwohl es in Ahrweiler 1933 nur 31 Juden gab, seit 1942 keinen einzigen mehr, wurde der Spottvers nach dem Krieg immer noch gesungen.

10. Das Problem Israel

Nicht nur heute, sondern auch in der Zukunft werden wir uns immer wieder unter anderen Rahmenbedingungen die Frage stellen müssen, wie wir auf die Verbrechen unserer Väter und Großväter an den Juden reagieren müssen, auch wenn uns die »Gnade der späten Geburt« (Helmut Kohl) zuteil geworden ist. Dabei können wir uns der Frage nicht entziehen, ob die Beurteilung der Politik des Staates Israel bei vielen Menschen von fehlerhaften Motiven, wenn nicht gar vom Hass auf die Juden geprägt ist. Kritik am persönlichen oder politischen Verhalten von Juden und/oder des Staates Israel ist ein unvermeidbarer Inhalt jeder Art von Kommunikation. Im Diskurs erweist sie sich als berechtigt oder gegenstandslos.

Theodor Herzl (1860-1904), ein deutscher Journalist, von dem die Idee stammt, die Juden könnten sich wieder im gleichen Gebiet ansiedeln, von dem sie vor 2000 Jahren durch die Römer vertrieben worden waren, hatte wie die meisten Zivilisten keine andere Idee, als dort Land zu kaufen und zu bestellen. Das politische Regime hat ihn nicht interessiert. Die Umsetzung dieser Idee wurde durch den Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im 1. Weltkrieg möglich und unter dem britischen Protektorat weiterverfolgt, nachdem die grundsätzliche Möglichkeit, in diesem Gebiet eine »nationale Heimstätte für das jüdische Volk« zu errichten, durch die 1. Balfour Deklaration vom 02.11.1917 abgesichert worden war. Die Versuche Großbritanniens, die weitere Ansiedlung nach dem Zweiten Weltkrieg zu unterbinden, waren nicht erfolgreich. Der von Ben Gurion am 14.05.1948 ausgerufene Staat ist nach schwierigen Anfängen von den meisten Staaten anerkannt worden. Viele haben es als eine Art Wiedergutmachung für die planmäßige Vernichtung der Juden durch die Deutschen während des Zweiten Weltkriegs betrachtet. Die Täter sind ungewollt zu Gründungsvätern geworden.

Das Gründungsproblem des Staates Israel im Verhältnis zu der Bevölkerung, die dort lebt und den angrenzenden Staaten ergibt sich aus dem 1948 undefinierten Status der Region. Großbritannien hat die Fläche mit harter Hand verwaltet, und natürlich haben viele Palästinenser damit gerechnet, bei Aufhebung dieses Status selbst eine staatliche Souveränität zu erhalten. Den Israelis wurde sie nicht ausdrücklich gegeben, sie haben sie genommen in der (zutreffenden) Vorstellung, dass niemand sie wieder vertreiben würde. Die Anfänge waren kriegerisch, die Israelis haben damals vielen Palästinensern unrecht getan, aber danach gab es lange Jahre relativen Friedens, der immer wieder durch Intifada, Selbstmordattentate und andere aggressive Akte von palästinensischer Seite gestört worden ist. Ohne Selbstmordattentate gibt es keine Mauer durch Jerusalem. Jeder israelischen Friedensinitiative sind diese Tatsachen entgegengehalten worden. Darüber hinaus kann man nicht leugnen, dass die arabischen Staaten den Staat Israel von Beginn an über Jahrzehnte hinweg bis heute immer wieder in offenen Kriegen bekämpft haben. Und dass israelische wie arabische Politiker, die eine Friedenspolitik versucht haben, von den Gegnern wie von den eigenen Leuten attackiert werden. Jitzchak Rabin hat das 1995 mit dem Leben bezahlt. Es ist ein schwieriger Bruderkrieg, dessen Ende man nicht absehen kann. Vor allem die orthodoxen Juden sorgen dabei für Probleme. Einige von ihnen lehnen die Staatsgründung grundsätzlich ab, weil sie es für Gottes Auftrag an die Juden halten, staatenlos zu bleiben und in der Welt umherzuirren. Leo Strauss, Philosoph, emigriert zunächst (auf Empfehlung von Carl Schmitt) nach Frankreich, dann in die USA (1938): »Die Juden wurden erwählt, um das Ausbleiben der Erlösung zu beweisen.45«

Die anderen hingegen sehen Israel als Gottesstaat, dessen Entscheidungen von den strengsten Regeln der Halacha bestimmt sein sollten und der Andersdenkenden – schon gar den Arabern – keine Heimat bieten dürfe. Wie soll man diese Ansichten mit dem lebensfrohen Liberalismus, der z. B. in Tel Aviv herrscht, in Übereinklang bringen?

Robert Schindel, jüdischstämmiger Schriftsteller aus Wien, hat eine Lösung: »Nicht der Staat Israel ist zu beurteilen, sondern nur deren jeweilige Regierung«.

Sehen wir uns an, was die Deutschen Bundesregierungen getan haben. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs haben sie alle darauf verzichtet, die israelischen Regierungen offen zu kritisieren und stattdessen ihre Solidarität gezeigt. Sie haben Israel immer mit Geld und Waffen unterstützt, auch wenn sie mit der Politik gegenüber den Palästinensern nicht immer einverstanden waren. Das ist eines der unverrückbaren Grundprinzipien aller politischen Parteien. Sollte die AfD Teil der Bundesregierung werden, könnte sich das ändern. Wir müssen uns deshalb rechtzeitig mit der Frage beschäftigen: Sind wir verpflichtet, dem Staat Israel unter allen Bedingungen (auch militärisch) zu helfen, in jeder Situation zu überleben – Situation, die er teils vorfand, teils selbst geschaffen hat. Helmut Schmidt hat das verneint:

»Die Last, welche die Opfer zu tragen haben, liegt auf einer ganz anderen Ebene. Die Last der Deutschen – auch der folgenden Generationen! – liegt in der Verantwortung dafür, dass sich dergleichen niemals wiederholen darf … Mitverantwortlich zu sein für Israels Sicherheit ist eine gefühlsmäßig verständliche, aber törichte Auffassung, die sehr ernsthafte Konsequenzen haben könnte. Denn wenn es z. B. zwischen Israel und Iran zum Krieg käme, dann hätte nach dieser Auffassung die deutschen Soldaten mit zu kämpfen – aus Verantwortung gegenüber einem Volk, dessen Verwandten von Vorfahren der heutigen Deutschen soviel Unrecht angetan worden ist.«46

Unterhalb der Ebene einer Waffenbrüderschaft haben wir alles getan, was wir konnten, um den Antisemitismus zu bekämpfen, und trotzdem sehen wir, dass jüdische Institutionen im ganzen Land von Polizisten bewacht werden müssen und antisemitische Übergriffe nicht selten sind. In Frankreich haben sie sogar zugenommen und in Polen und Russland ist der Antisemitismus genauso stark, als hätte es den Holocaust nie gegeben. Was müssen wir und was müssen die Juden tun, um diesen spannungsgeladenen Zustand aufzulösen?

Von dem ersten Wiedergutmachungsabkommen (1952) bis 2012 sind von der Bundesrepublik Deutschland etwa 70 Milliarden € geleistet worden. Nach der Wiedervereinigung konnten darin auch in der DDR gelegene Vermögenswerte mit einbezogen werden, und es gibt immer wieder aktuelle politische Entscheidungen, deren Motiv vom Gedanken der Wiedergutmachung bestimmt ist. Dabei haben beide Seiten von Anfang an betont, dass keinerlei finanzielle Entschädigungen angemessen sein würde, um die Schuld zu tilgen. Nicht nur die rechtsradikale Opposition in Deutschland, auch viele jüdische Stimmen haben die Wiedergutmachungspolitik von Adenauer und Ben Gurion offen abgelehnt, darunter vor allem Menachem Begin47:

»Unsere Ehre soll nicht für Geld verkauft werden, unser Blut soll nicht mit Gütern beglichen werden – wir werden die Entehrung austilgen!«

Er bezeichnete auch Adenauer als Mörder und half 1952, ein Attentat auf ihn zu organisieren, bei dem ein Polizist durch eine Briefbombe ums Leben kam. Der Versuch, dadurch eine breite internationale Boykottpolitik zu erreichen, ist gescheitert.

Die Vielzahl der offiziellen und inoffiziellen Gedenkstätten, die Veranstaltungen zu den Jahrestagen, die Reaktionen der Presse, die deutliche Verurteilung aller Stimmen, die eine andere Haltung einnehmen, dürfte auch im internationalen Vergleich einmalig sein. Das führt gelegentlich zu missverständlichen Äußerungen: Der Historiker Eberhard Jaeckel sprach am Holocaust-Mahnmal in Berlin zur fünfjährigen Feier seines Bestehens die denkwürdigen Worte: »Andere Länder beneiden uns um dieses Denkmal!«.

Auf solche Erkenntnisse konnten auch jüdische Kommentatoren nur noch ironisch reagieren: Henryk M. Broder besuchte das Denkmal als verkleideter Gedenkstein und schrieb, das Denkmal habe

»… sich mehrfach amortisiert. Es steht länger an seinem Ort als der Holocaust gedauert hat; es wurde von mehr Menschen – etwa acht Millionen – besucht, als Juden im Holocaust umgekommen sind, und es hat seine Baukosten, etwa 25 Millionen Euro, mehr als eingespielt, obwohl der Eintritt frei ist. Das Mahnmal ist eine Berliner Touristenattraktion erster Güte. In unmittelbarer Nähe des Reichstages und des Brandenburger Tores gelegen, trägt es wesentlich zum Umsatz der gewerblichen Betriebe in der Umgebung bei. "Mission accomplished", könnte man sagen.«

An diesen Kommentaren kann man am besten sehen, dass niemand den Deutschen vorwerfen kann, zu wenig Sühne geleistet zu haben. Was immer wir in diesem Zusammenhang tun, sollten wir, wie Henryk Broder uns rät, stillschweigend tun: »Sie haben das Recht zu schweigen«. Er kritisiert damit nicht nur den tatsächlich missglückten »neidvollen« Hinweis auf das Denkmal, er greift tiefer: Die Scham soll uns Nachkommen und gewiss auch unseren Kindern und Kindeskindern den Mund verschließen und das tut sie auch bis auf jene Schamlosen, die sich den Mund nicht verbieten lassen wollen. Folgen wir damit aber nicht erneut einer – diesmal politisch korrekten – Autorität? Wie lernen wir, die richtige von der falschen Autorität zu unterscheiden? Und was ist der Grund dafür, dass keine Wiedergutmachung, die wir leisten, uns oder den Juden die innere Ruhe bringt, die wir uns von der Sühne erhofft haben?

11. Der Konflikt der Nachgeborenen

Die Hoffnung, man werde diese Verbrechen eines Tages verstehen und durch Wiedergutmachung sühnen können, ist immer wieder gescheitert. Ständig gibt es neue Perspektiven und Argumente. Der lebensfrohe Journalist Tuvia Tenenbom unternimmt eine Reise durch Deutschland, hält 80 % seiner Gesprächspartner für Antisemiten und nimmt davon nur Helmut Schmidt und Kai Diekmann (damals Chefredakteur der Bild-Zeitung) aus48. Dagegen erhebt sich Sturm und sogar Liberale wie Jakob Augstein oder die Redaktion der Kulturzeit distanzieren sich von dem Buch. Als Kinder und Enkel einer ganzen Generation von Mördern wird man uns immer entgegenhalten, dass nur die Gnade der späten Geburt uns verschont hat. Man sagt uns: ein Verbrechen dieser Art ist tatsächlich nur in Deutschland geschehen (und konnte vielleicht auch nur hier geschehen). Man lässt uns aber mit der Frage allein, was wir außer den Entschädigungsmaßnahmen und den gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die wir erreicht haben, sonst noch tun sollen.

Unsere Reue geht ins Leere, weil wir nicht die Täter sind, daher können wir keine Vergebung erlangen, aber die dauernde Ermahnung, aufmerksam zu sein, müssen wir immer wieder demütig entgegennehmen49. Dabei ist eine Frage absolut entscheidend, der weder wir noch künftige Generationen ausweichen können: wie hätten wir uns verhalten, wenn wir damals gelebt hätten? Welche Rahmenbedingungen brauchen wir, um künftig die richtige Entscheidung zu treffen?

Die jüdischen Opfer stoßen auf vergleichbare Probleme. Wer den Holocaust überlebte, erfährt das häufig als unerlaubtes Privileg, das ihn in die Depression treibt, denn er spürt, dass er zur Generation der Opfer gehört und weiß nicht, warum es jene traf und ihn nicht: »Ich fühle mich schuldig als Überlebende den Toten gegenüber«50. Jüdischen Kindern und Enkeln geht es nicht besser. Auch sie sind in einem hoffnungslosen Zwiespalt: Wenn sie vergeben, lassen sie zu, dass die Wunde sich schließt und dann fürchten sie von neuem um ihr Leben. Zudem werden ihnen in dieser Diskussion auch noch politische Fehler des Staates Israel zugerechnet, von dem sie sich aus Solidarität nicht distanzieren können, sofern sie überhaupt die Einsicht gewinnen wollen, dass eine israelische Regierung auch Fehler machen kann. So riskieren sie es lieber, dass wir gelähmt dastehen mit unserer Reue und keine Vergebung bekommen. Am Ende stehen beide Seiten in einem langsam ansteigenden Grundwasser des Zorns über den double bind, der uns fesselt, weil die Juden (auch der jungen Generationen) uns nicht vergeben und wir nicht bereuen dürfen – deshalb leben sie bei uns unter Polizeischutz und wir schämen uns dafür. Und was das Schlimmste ist: Über diese paradoxe und unauflösbare Situation kann man nicht einmal sprechen, um wenigstens unser beider Situation zu betrauern: jede Art Sprache klingt wie eine schiefe Verteidigung, auch wenn es gar nichts zu verteidigen gibt, weil die Anklagen uns nicht betreffen. Auch deshalb werden die Wunden sich nicht allein durch den Ablauf der Zeit schließen51.

Die bisherigen Antworten bewegten sich überwiegend auf rechtlicher Ebene. Tatsächlich enthält unsere Verfassung alles, was man braucht, um ein Ereignis wie den Judenmord im Keim zu ersticken, aber eine Verfassung besteht nur aus Sätzen und nicht aus Handlungen. Wenn wir in einen Ausnahmezustand geraten, der die Verfassung hinwegfegt und damit auch keine politischen Lösungen mehr zulässt – worauf können wir uns dann noch verlassen? In solchen Situationen hilft nur ein sicheres moralisches Gerüst, das nicht nur die Entscheidungen eines Einzelnen stützt, sondern von vielen Menschen anerkannt und durchgesetzt werden kann. Mehr noch als unsere Generation müssen unsere Kinder und künftige Generationen an diesen Fragen arbeiten, denn das tragische ist: das nächste Verbrechen wird in einem Gewand verkleidet daher kommen, das wir in dieser Form noch nie gesehen haben.

12. Überwindung von Widerständen: Die Nazareth-Gruppenkonferenzen

Die Antwort auf all diese Fragen ergibt sich aus vielfältigen Ansätzen der Konfliktforschung52, so vor allem des Harvard-Verhandlungskonzepts53. Sie zeigen uns, dass Konflikte niemals beendet werden können, wenn die Beteiligten nicht fähig werden, sich persönlich zu begegnen und in diesen Begegnungen gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, eine Basis, aus der sich dann einzelne heilende Wirkungen ergeben54.

Aufgrund dieser Erkenntnisse haben sich deutsche und jüdische Psychoanalytiker in den »Nazareth-Gruppenkonferenzen« (1988-2008)55 getroffen. Bei früheren internationalen Begegnungen hatten sie festgestellt, dass sie einander trotz ihrer jahrzehntelangen Schulung in psychologischen Fragen mit den gleichen Denkschemata begegneten, in denen auch wir uns in der Diskussion zwischen Deutschen und Juden bewegen: Keiner von beiden konnte über die Tatsache hinweg sehen, dass er auf der Täter- bzw. der Opferseite stand. (»Deutsche und Juden sind durch die Schrecken des Holocaust gezeichnet, vielleicht für die Ewigkeit«).

Die beiden Gruppen beschlossen, den schützenden Rahmen einer Arbeitskonferenz einzurichten, in denen sie versuchten, mit Group-Relations-Methoden56 einer Lösung näherzukommen. Ein geschützter Raum entsteht, wenn verlässlich dafür gesorgt werden kann, dass außerhalb des Raumes kein Teilnehmer irgendwelchen Sanktionen ausgesetzt ist. Der geschützte Raum muss dafür sorgen, dass mit solchen Gefühlslagen gearbeitet werden kann und die Teilnehmer nicht in ihnen stecken bleiben57. Im Ergebnis zeigte sich immer wieder

»wie die aktuelle Gegenwart des anderen entscheidend für das Erreichen von Identitätsveränderung ist. Sie ist umso wirksamer wenn dieser andere nicht ›neutral‹, sondern einer ist, auf den die eigene Identität bezogen war und ist. Dieses Element kann nicht stark genug betont werden«58.

Erst das unmittelbare Aufeinandertreffen von Juden und Deutschen – beide aus der Generation der Nachkommen – enthüllte, wie stark die Gedanken und Gefühle jedes Einzelnen von kollektiven Denkschemata, Vorurteilen, Ängsten und Zweifeln geprägt waren. Für die Kinder der Opfer ist die Annahme von Sühneleistungen genauso schwer wie für die Opfer selbst, denn sie empfinden sie als Danaer-Geschenke: Wer die Sühne entgegennimmt, weiß, dass die Wunden nun heilen werden und wenn er das duldet, fürchtet er das Vergessen, er leiht geradezu seine Hand, um die Opfer der Vorfahren vergessen zu lassen – wer wird einen solchen Sprung wagen? Die Deutschen aber waren enttäuscht, dass diese Leistungen offenbar nicht ausreichten, um beiden Seiten innere Ruhe zu verschaffen.

Die Tatsache, dass jeder der Teilnehmer an den Nazareth – Konferenzen als Psychoanalytiker über erheblich höhere Fachkenntnisse auf dem Gebiet der Konfliktbewältigung verfügte, als jeder von uns, hat ihnen nicht viel geholfen. Entscheidend war die fachliche Fähigkeit, gemeinsam einen geschützten Raum zu definieren, wie er jedem der Teilnehmer aus der eigenen Arbeit gut vertraut war. Dazu kam der gute Wille, die Konferenzen nicht scheitern zu lassen, die ohne jede öffentliche Unterstützung, ja sogar gegen offizielle Absagen organisiert worden sind. Durch den einfachen Satz eines Teilnehmers: »Ich bin das Kind einer durchschnittlichen Nazi-Familie« oder umgekehrt: »Außer mir haben nur zwei andere Verwandte die Vernichtung überlebt« veränderten sich Gedanken und Gefühle auf unerwartete Weise. Vielleicht liegt es an der konkreten Verbindung eines Satzes mit einem Gesicht, einer Person und den kleinsten Reaktionen aufeinander, die während solcher Konferenzen entstehen. Der Kern dieser Veränderung besteht aus der Fähigkeit, die Angebote der jeweils anderen Seite zu begreifen, sie anzunehmen und zu erwidern.

Diese Erkenntnis entspricht dem unerschütterlichen Grundgesetz unseres sozialen Lebens vom Geben und Nehmen59: Eine Gabe in den leeren Raum hat keine Wirkung, erst wenn sie angenommen wird, entfalten sich direkte und indirekte Verpflichtungen, Samen, aus denen langsam das Vertrauen wachsen kann. In den Konferenzen wurde etwas wertvolleres als Gegenstände ausgetauscht: Die Geduld zuzuhören, die Bereitschaft, Verletzungen zu ertragen, das mühselige Ringen um Verständnis auch dann, wenn Formen verletzt werden usw. Fremde Geschenke werden nicht allein deshalb verstanden, weil sie gut gemeint sind. Darin liegt das Geheimnis der Gastgeschenke, mit denen Fremde aufeinander zugehen, die sich friedlich begegnen wollen: Sie müssen die Hände öffnen, um eine Gabe entgegenzunehmen – und sie müssen sie schließen, wenn sie das Geschenk erwidern wollen. Alle rechtlichen Vertragskonzepte knüpfen an solchen Modellen an, aber die Erfahrung zeigt uns, dass die Wirkungen eines Vertrages erst eintreten, wenn sich zwischen den Parteien Vertrauen gebildet hat. Dafür kann das Recht Werkzeuge entwickeln, aber die Anwendung liegt in der Hand eines jeden von uns.

13. Die völkerrechtliche Problematik

Politik ist Machtpolitik, sie bewegt sich aber nicht im freien Raum, sondern ist mit dem Recht untrennbar verbunden: Das Recht ist zwar die Grenze, gleichzeitig aber die Stütze der Macht.60 Macht, die das Recht ignoriert, kann nicht stabil bleiben. Zahllose Staaten, darunter vor allem Russland und China scheinen derzeit das Gegenteil zu beweisen. Aber ihre jeweiligen Vorgängerstaaten, die keine Rechtsstaaten waren, sind untergegangen. Wenn auch nach langer Zeit. Die hysterischen Gegenmaßnahmen dieser Regierungen, die die freie Meinungsäußerung unterdrücken, beweisen die Sorgen über eine solche Entwicklung.

Die Angriffe der Hamas und ihrer Verbündeten auf Israel verstoßen zweifellos gegen das Völkerrecht und die Reaktion Israels darauf stützt sich ebenso zweifellos auf die Gedanken der Notwehr und der Nothilfe (Notwehr zugunsten eines anderen) für die verschleppten Geiseln. Hier die Formulierung im deutschen Recht, die sinngemäß in zahllosen Rechtsordnungen und auch im Völkerrecht gelten:

Ȥ 32 Notwehr
(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.
(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.«

Das gilt, solange der Angriff andauert, im konkreten Fall: Solange die Angriffe der Hamas auf Israel nicht eingestellt und die Geiseln freigelassen werden. Problematisch ist jedoch die Frage, ob die Maßnahmen, die im Rahmen der Notwehr ergriffen werden, rechtmäßig oder jedenfalls entschuldbar sind. Das gilt vor allem für den Fall der sogenannten »Putativnotwehr«, also des Irrtums über die Grenzen der Notwehr. Hier hat das Verhalten des israelischen Militärs wie seiner Regierung zahllose Abgrenzungsfragen aufgeworfen, die in der juristischen Literatur diskutiert werden61.

Die zweite Argumentationslinie befasst sich mit der Frage, ob der Angriff der Hamas durch ein politischen und/oder gar rechtswidriges Verhalten der israelischen Regierung in Bezug auf die Siedlungspolitik entstanden ist. Die Frage nach den Ursachen ist – nicht zuletzt wegen des Prinzips der Meinungsfreiheit – durchaus gerechtfertigt, darf aber nicht mit der Frage verbunden werden, ob gegen die Angriffe Notwehr zulässig ist oder nicht. Selbst wenn nämlich diese Siedlungspolitik rechtlich angreifbar wäre, wäre sie in keinem Fall ein Rechtfertigungsgrund für einen militärischen Angriff:

»Einschränkungen des Notwehrrechts bei rechtswidrig provozierten Angriffen können damit legitimiert werden, dass der Verteidiger in diesen Fällen bei einer Gesamtbetrachtung des Geschehens, die das vorangegangene provozierende Verhalten einschließt, das Recht nicht in vollem Umfang auf seiner Seite hat. Die Rechtsordnung verlangt vom Angreifer zwar, sich nicht provozieren zu lassen, dh ungeachtet der Provokation ist es dieser, der letzten Endes den Rechtsfrieden bricht und deshalb grundsätzlich auch die einschlägigen Konsequenzen zu tragen hat. Diese Überlegung steht jedoch nur einem Ausschluss des Notwehrrechts, nicht aber einer Anpassung von dessen Reichweite an die atypische Ausprägung des Konflikts zwischen Recht und Unrecht entgegen. Die Verpflichtung des Verteidigers zu einer gewissen Mäßigung erscheint hier vielmehr schon im Hinblick auf das Wertgefälle zu den anderen Fallgruppen geradezu zwingend: Im Gegensatz zu den bereits besprochenen Konstellationen haben wir es bei der Notwehrprovokation mit einer echten Mitverantwortlichkeit des Notwehrtäters zu tun, die bei der Frage, ob ihm die Rechtsordnung ausnahmsweise ein partielles Nachgeben zumuten kann, prinzipiell viel stärker zu Buche schlagen muss als Besonderheiten des Angriffs, die der Verteidiger nicht zu vertreten hat (wie z. B. die Schuldunfähigkeit eines geisteskranken Angreifers).«62

Die Tatsache, dass solche Diskussionen stattfinden, kann nicht der Gegenstand des Vorwurfs sein, sie seien antisemitisch begründet. Der Vorwurf des Antisemitismus stützt sich in erster Linie auf die provozierenden Aussagen der Angreifer, ihr Ziel sei die Vernichtung der Existenz Israels: Gegen einen existenzgefährdenden Angriff sei jede Art der Verteidigung, auch eine rechtswidrige zulässig. Das aber ist eine Aussage der Machtpolitik und nicht des Rechts. Das Recht führt immer zu einer Beschränkung des politischen Möglichen gegenüber politischen Verwerfungen, Naturgewalten und technischen Entwicklungen: »Es lebt von Voraussetzungen, die es selbst nicht garantieren kann«63. Wer die Voraussetzungen, unter denen Recht funktionsfähig sein kann, infrage stellt, stellt damit auch den Rechtsstaat infrage. Die israelische Regierung nimmt diesen Standpunkt nicht ein, wohl aber Teile der öffentlichen Meinung. Solange die politischen Entscheidungsträger in Israel sich dem nicht anschließen, werden wir diskutieren müssen. Sollte sich das ändern, stehen ganz andere Themen im Vordergrund.

14. Ideen zur Bewältigung der Krise

Wenn wir uns nun der zu Beginn aufgeworfenen Frage zuwenden, wie man emotional irregeleiteten Hass von rationaler Kritik unterscheiden kann, so sind zwei Auslöser zu unterscheiden:

  1. Das Verhalten einzelner jüdischer Menschen (z. B. Harvey Weinstein)
  2. Die politischen Entscheidungen des Staates Israel gegenüber den Palästinensern und anderen mit ihm verfeindeter Staaten (z. B. die Siedlungsprogramme auf fremdem Gebiet).

Auf der ersten Ebene kommt es immer auf den Einzelfall an. Wir alle verletzten Normen, aber diese Verletzungen werden individuell beurteilt. Niemand macht unsere Familie, unseren Klub oder unsere soziale Umgebung für das Verhalten des Einzelnen verantwortlich. Allerdings gibt es Fälle, in denen eine einzelne Tat sich aus der Gruppendynamik heraus entwickelt, ihr Motiv und ihre Wurzel also in den moralischen Auffassungen der Gruppe findet, der ein einzelner angehört. Was Juden betrifft, kennen wir solche Fälle nicht. Harvey Weinstein hat seine Macht missbraucht, aber es war keine jüdische Macht.

Auf der zweiten Ebene ist es komplizierter. Politische Entscheidungen beruhen auf grundsätzlichen politischen Einstellungen, Prämissen, die die Entscheidungsträger grundsätzlich nicht mehr hinterfragen. Es gibt keinen Zweifel: Israel trägt die »Erbsünde des Westens«64, denn hier ist der Antisemitismus entstanden, der sich nun gegen den Staat Israel wendet. Aber genau aus diesem Grund wird Israel von zahllosen Staaten unterstützt, darunter vor allem den USA und Deutschland. Die Siedlungspolitik des Staates Israel z. B. beruht auf der Idee, wehrhafte Menschen an den Grenzen anzusiedeln, um das Land dadurch insgesamt sicherer zu machen. Wer diese Prämisse nicht teilt, muss sie entweder akzeptieren lernen oder sie laufend kritisieren – und zerstört damit möglicherweise alle weiteren Kommunikationsebenen.

Auf beiden Ebenen muss man einen Weg finden, um Argumente und emotionale Äußerungen des Hasses voneinander zu unterscheiden. Das Äußerungsrecht gibt uns hier die notwendigen Kriterien: Formalbeleidigungen oder üble Nachreden, die keinerlei Verbindung zu nachweisbaren Tatsachen enthalten, sind keine Formen rationaler Kritik und zwar weder gegenüber Einzelpersonen, noch gegenüber staatlichen Entscheidungen.

Schwieriger wird es, wenn Kritik auf Tatsachen beruht, in akzeptablen Formen geäußert wird und inhaltlich umstritten ist. Wer abweichende Meinungen generell als Äußerungen des Hasses bezeichnet, will der Diskussion ausweichen und zerstört damit die Grundvoraussetzung friedlicher Kommunikation. Aber auch innerhalb einer offen geführten Diskussion kann allein die Verwendung von Stilmitteln wie Ironie, das Bezweifeln des Offenkundigen (Holocaustleugnung) oder die Aufstellung pauschaler Behauptungen (»alle Deutschen sind Antisemiten«) die Kommunikationskultur zerstören. Es ist nicht leicht für die Beteiligten, in jeder Phase genügend Respekt für die Position der anderen Seite aufzubringen.

Dabei müssen wir uns bewusst sein, dass der Mord unserer Väter und Großväter an den Juden sich in seiner Wirkung nicht nur auf die unmittelbaren Opfer beschränkt. Seine Wirkungen reichen noch weit in die nachfolgenden Generationen hinein, sie betreffen nicht nur unsere Generation, sondern auch die unserer Kinder und Enkelkinder. Diese treffen nämlich in gleichaltrigen Juden auf Menschen, die nicht vergessen haben, dass ihre Familiengeschichte durch diese Verbrechen auf dramatische Weise unterbrochen worden ist und sie selbst zur Heimatlosen und Kindern von Heimatlosen gemacht hat.

»Die Väter haben saure Trauben gegessen und den Söhnen sind die Zähne davon stumpf geworden«.65 Diesem Satz kann man nicht entkommen. Der Hinweis darauf, dass nicht alle Deutschen die Verantwortung für den Judenmord tragen (schon gar nicht diejenigen, die im Widerstand gewesen sind), hilft uns bei der Entscheidung nicht. Denn unabhängig von der Frage, wer sich an diesen Verbrechen beteiligt hat, werden sie uns als Nation zugerechnet. Vergleichbare Probleme hatten wir innerhalb Europas nach dem 1. Weltkrieg im Verhältnis zu Frankreich, England oder anderen Staaten. Auch damals mussten die Menschen versuchen, taktvoll mit den Verletzungen umzugehen, die andere Völker in diesem Krieg erlitten haben, auch wenn Deutschland daran zweifellos nicht allein schuld war. Auch im Verhältnis zu Israel liegt die Schwelle daher niedriger als in anderen Fällen.

Unser Verhalten sollte auch durch eine weitere Idee bestimmt sein: Gerade weil der Antisemitismus – wie oben gezeigt – nur eine unter vielen Ideen ist, in denen Gruppen sich voneinander abgrenzen, sich gegenseitig verachten und zu vernichten suchen, können wir hinter das Bewusstsein, was daraus entstehen kann, nicht zurückfallen. Wenn wir gegen Rassismus oder jede andere Art von Feindlichkeit gegenüber Gruppen (auch die Muslime), die wir als kulturell unterschiedlich empfinden, auftreten, geschieht das in dem Bewusstsein der Friedenspflicht, für die der Staat und die Bürger, die ihn bilden, verantwortlich sind.

Und schließlich: Zu harter Kritik ist jeder in höherem Maße berechtigt, der unter den Folgen seiner Entscheidungen unmittelbar zu leiden hat. Einer der schärfsten Kritiker israelischer Begehungen, der Schriftsteller David Grossmann hat einen Sohn in einem der Kriege verloren. Er kann sich in höherem Maße kritisch äußern als jemand, der dieses Leid nicht erfahren hat. Wir leben nicht in Israel und wir leiden nicht in vergleichbarem Maße unter seiner Politik, wie etwa die Palästinenser, denen zweifellos eine sehr viel massivere Kritik zusteht als uns. Ich schließe mich George Steiner an, der sogar das Recht der nicht in Israel lebenden Juden bestreitet, sich in dieser Frage politisch zu engagieren:

»Nur diejenigen, die bereit sind, in Israel zu leben, unter der Unmittelbarkeit der Gefahr und an den Orten des Hasses, haben das volle Recht, diese Frage zu stellen, ihre Qual darauf zu richten.«66

Politisches Engagement ist aber etwas anderes als ein rationaler Diskurs, den wir unter allen Umständen aufrechterhalten müssen, wenn uns an unserer Verfassung gelegen ist. Die Verwirrung eines Begriffs wie »Antisemitismus« kann ihn substanziell gefährden. Kong Fu Zi (Konfuzius):

»Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande; kommen die Werke nicht zustande, so gedeiht Moral und Kunst nicht; gedeiht Moral und Kunst nicht, so treffen die Strafen nicht; treffen die Strafen nicht, so weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Darum sorge der Edle, daß er seine Begriffe unter allen Umständen zu Worte bringen kann und seine Worte unter allen Umständen zu Taten machen kann. Der Edle duldet nicht, daß in seinen Worten irgendetwas in Unordnung ist. Das ist es, worauf alles ankommt.«67

  • 1. Neue Züricher Zeitung vom 21. August 2024.
  • 2. https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/themen/kulturdialog/-/2...
  • 3. Die IHRA hat am 26.05.2016 typische antisemitische Motive zusammengestellt: https://www.holocaustremembrance.com/de/node/196; hier eine Übersicht der Statistiken zum Antisemitismus: https://de.statista.com/infografik/13583/polizeilich-erfasste-antisemiti...
  • 4. Gregor von Rezzori hat uns mit den Memoiren eines Antisemiten (1979) eine detailreiche Schilderung darüber gegeben, wie man aus der geradezu selbstverständlichen Ablehnung der Juden zu einem eigenen Urteil finden kann – ein Weg, den nur wenige gegangen sind und noch weniger hatten den Mut, uns darüber etwas zu erzählen.
  • 5. Simone Ladwig-Winters: Vertreibung und Verfolgung jüdischer Anwälte, in: Anwälte und ihre Geschichte, Mohr Siebeck 2011, S. 285 (287).
  • 6. Die Thesen von Ernst Nolte (1923) u. a., die politische Entwicklung des Nationalsozialismus sei in erheblichem Umfang eine Antwort auf die Furcht vor den national wie international aggressiven Kommunisten, wurde von Jürgen Habermas ( 1929) u. a. teilweise polemisch bestritten.
  • 7. Brigitte Hamann: Hitlers Wien – Lehrjahre eines Diktators, Piper 2012.
  • 8. Werner Vordtriede, Das verlassene Haus – Tagebuch aus dem amerikanischen Exil (2002) S. 193.
  • 9. Abraham Lincolns Umgang mit dem Thema, s. Jonathan Sarna: Lincoln and the Jews: A History, Thomas Dunne 2015.
  • 10. https://de.wikipedia.org/wiki/Antisemitismus
  • 11. https://en.wikipedia.org/wiki/Antisemitism_in_Japan
  • 12. Sie wurde am 20. August 2024 im Alter von 99 Jahren vom Bundesgerichtshof zu zwei Jahren Gefängnis auf Bewährung wegen Beihilfe zum Mord in 10.500 Fällen verurteilt Prozess gegen KZ-Sekretärin: Warum die späte Aufarbeitung wichtig ist | tagesschau.de
  • 13. Robert Sapolsky, Gewalt und Mitgefühl – die Biologie des menschlichen Verhaltens – Hanser 2017 besonders Kap. 11.
  • 14. Cit.n. Maxim Biller, Der gebrauchte Jude – Selbstportrait, 2009 S. 163.
  • 15. Benno Heussen: Die Ur-Grammatik des Rechts – Auf der Suche nach den biologisch-psychologischen Wurzeln des Rechts.
  • 16. Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Goldmann (2000).
  • 17. So die Bezeichnung eine langjährige Untersuchung der Universität Bielefeld, www.uni-bielefeld.de/ikg/gmf .
  • 18. Der Spiegel Nr. 23/2015 vom 30.05.2015 Seite 82.
  • 19. Ein anrührendes literarisches Beispiel ist Bartelby, der von Herman Melville 1853 skizzierte Schreiber. Er definiert seine Identität immer negativ: »I prefer not to«.
  • 20. https://www.merkur.de/leben/gesundheit/erschreckend-selten-wechseln-deut...
  • 21. Moral, Böhlau 2012 Kap. 20.
  • 22. https://www.youtube.com/watch?v=oFgWy2ifX5s
  • 23. Klaus Wahl: Aggression und Gewalt: Ein Biologischer, Psychologischer und Sozialwissenschaftlicher Überblick, Spektrum 2012 Wolfgang / Seibt, Uta Wickler Das Prinzip Eigennutz. Ursachen und Konsequenzen sozialen Verhaltens, Hoffmann und Campe, 1977.
  • 24. Niklas Luhmann: Soziale Systeme – Grundriss einer allgemeinen Theorie, Suhrkamp 1987.
  • 25. Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie. Piper, München 1984.
  • 26. Elke M. Geenen: Soziologie des Fremden. Leske + Budrich, 2002.
  • 27. https://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualit%C3%A4t
  • 28. 2012 wurden in 78 der 193 Länder der Vereinten Nationen Homosexuelle strafrechtlich verfolgt. https://de.wikipedia.org/wiki/Homosexualit%C3%A4t
  • 29. Marielouise Janssen-Jurreit: Kampf der Wiegen unausweichlich. In: Der Spiegel. Nr. 6, 1989, S. 197–200.
  • 30. https://implicit.harvard.edu/implicit/germany. Ich verdanke diesen und andere Hinweise zum Thema Evelyn Roll: Das große Fremdeln, Süddeutsche Zeitung Nr. 122/2015 vom 30./31. Mai. Mein eigener Test fiel dort genauso aus wie ihrer, nämlich: »Mittlere Bevorzugung hellhäutiger vor dunkelhäutigen Menschen«.
  • 31. Fritz B. Simon: Tödliche Konflikte, Carl-Auer-Systeme 2001 Seite 141 ff., 220 ff.
  • 32. Warum die Deutschen? Warum die Juden? Gleichheit, Neid und Rassenhass – 1800 bis 1933, Fischer 2012.
  • 33. Thomas Petersen: Autorität in Deutschland. Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach. Gedanken zur Zukunft 20, Herbert-Quandt-Stiftung. Bad Homburg v.d. Höhe 2011.
  • 34. Wolfgang Fikentscher hat sie differenziert untersucht.: Zur Anthropologie der Körperschaft – Polis, Genossenschaft, Tewa Pueblo, Verlag der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1995.
  • 35. https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_F%C3%BCrsten_im_Deutschen_Kaiser...
  • 36. Ein Kreisleiter nach einem Schulungsabend: »Und nun gehen Sie mit das geistige Gut, dass ich Sie hier verabreicht habe, zu Hause« (cit.n. Walter Kempowski: Plankton, Knauss 2014, Seite 54.
  • 37. cit.n. Jürgen Kaube: Max Weber, Rowohlt Berlin 2014, Seite 306.
  • 38. »Dieses Schwanken zwischen radikalem Stalinismus und diesem Selbstzweifel, zwischen dröhnenden nationalen Überschwang und Selbstverleugnung…«. Evelyn Roll Süddeutsche Zeitung vom 30./31.05.2015, Seite 49.
  • 39. Wolfram Wette: Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2011.
  • 40. Karl Dietrich Bracher (Hrsg.): Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realität? Kolloquien des Instituts für Zeitgeschichte. Oldenbourg, München 1982; Die verspätete Nation: über die politische Verführbarkeit bürgerlichen Geistes, Helmuth Plessner, Suhrkamp 5. Aufl.; 1994.
  • 41. Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Piper 2011.
  • 42. Jürgen Habermas (geboren 1929), der im »Historikerstreit« jede Fairness vermissen ließ, stand als sein Altersgenosse näher an Nolte (geboren 1923), als ihm lieb sein konnte. Seine eigenen Lehren sind oft nicht frei von Ideologie, so vor allem wenn es um hehre Werte wie Europa geht.
  • 43. Richard C. Schneider, Interview DIE ZEIT Nr. 43/2019, 17. Oktober 2019.
  • 44. Dazu gehörte auch meine Mutter, die in Berlin in der gleichen Straße wohnte, in der eine große Synagoge stand, deren Zerstörung sie 1938 mit Sicherheit erlebt hat. Sie fühlte sich als Katholikin selbst verfolgt, weil sie sah, wie ihre Priesterfreunde teilweise ins KZ gesteckt wurden.
  • 45. FAZ vom 08.10.2008 N 3.
  • 46. Helmut Schmidt im Gespräch mit Giovanni di Lorenzo: Verstehen Sie das Herr Schmidt?, Kiepenheuer & Witsch 2012, S. 71.
  • 47. Friedensnobelpreisträger 1978 zusammen mit Muhammad Anwar as-Sadat; https://de.wikipedia.org/wiki/Luxemburger_Abkommen
  • 48. Allein unter Deutschen: Eine Entdeckungsreise, Suhrkamp 2012.
  • 49. Das ist der Kern der Kritik von Martin Walser in seiner Rede in der Paulskirche. Das Verständnis für seine Position ist durch die Erkenntnis getrübt, dass er selbst ein aktiver Hitlerjunge und möglicherweise als 16-jähriger NSDAP Mitglied war.
  • 50. George Tabori im Interview mit André Müller, 1994.
  • 51. Optimistischer: Gitta Sereny: Das Deutsche Trauma – eine heilende Wunde, Bertelsmann, 2000.
  • 52. Zeitschrift für Konfliktmanagement, Otto Schmidt Verlag seit 2000.
  • 53. Benno Heussen: Psychologische Faktoren bei Vertragsverhandlungen in: Heussen/Pischel (Herausgeber): Handbuch Vertragsverhandlung und Vertragsmanagement, Otto Schmidt, 4. Aufl. 2014, Seite 195 ff.
  • 54. Jürgen Habermas‘ »Theorie des kommunikativen Handelns«, Suhrkamp 1981, und andere Arbeiten zum Thema liefern das theoretische Gerüst zu diesen Wirkungen außerhalb der Psychologie.
  • 55. H. Shmuel Erlich / Mira Erlich-Ginor/Hermann Beland (Herausgeber): Gestillt mit Tränen – Vergiftet mit Milch: Die Nazareth-Gruppenkonferenzen. Deutsche und Israelis – Die Vergangenheit ist gegenwärtig, Psychosozial Verlag, 2009.
  • 56. Sie wurden ab 1947 im Tavistock Institute of Human Relations (London) – unter anderem auf der Basis von Wilfred Bions Konzepten – entwickelt, um Phänomene wie Übertragung, Projektion und Regression bewusst zu machen und mit ihnen zu arbeiten. Seither sind sie weltweit weiterentwickelt worden.
  • 57. Nicht alle bekannten Techniken kann man dabei als erfolgreich bezeichnen. Der »heiße Stuhl« der Gestalttherapie ist nicht ungefährlich (Fritz Perls: Grundlagen der Gestalttherapie – Einführung und Sitzungsprotokolle, J. Pfeiffer 1977, Seite 137 ff.
  • 58. H. Shmuel Erlich, a. a. O., Seite 17.
  • 59. Maurice Godelier: Das Rätsel der Gabe – Geld, Geschenke, heilige Objekte, CH Beck 1999; Adloff/Mau (Hg.): Vom Geben und Nehmen – zur Soziologie der Reziprozität, Campus 2005; Marcel Mauss Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, in: Soziologie und Anthropologie 2: Gabentausch – Todesvorstellung – Körpertechniken, VS Verlag 2011: die oft zitierte Einzelausgabe »Die Gabe« (Suhrkamp 1990) ist derzeit nicht verfügbar.
  • 60. Benno Heussen: Die Ur-Grammatik des Rechts – Auf der Suche nach den biologisch-psychologischen Wurzeln des Rechts, opinioiuris.de, Rn. 41..
  • 61. Ankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IGH) in Den Haag warnt Israel und Hamas :becklink 2028802 - beck-online IGH-Gutachten: Siedlungspolitik Israels ist völkerrechtswidrig: becklink 2031313 - beck-online The Israeli Approach to Detain Terrorist Suspects and International Humanitarian Law: The Decision Anonymous v. State of Israel : ZaöRV 2009, 347 - beck-online.
  • 62. Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 4. Aufl. 2020, § 32 StGB, Rn. 224.
  • 63. Ernst Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Suhrkamp 1976, S. 60.
  • 64. Joseph Joffe, Neue Züricher Zeitung vom 19. August 2024 (internationaler Teil).
  • 65. Hesekiel 18,1-4.21-24.30-32.
  • 66. Errata (1997), Hanser 1999 S. 204.
  • 67. Kong Fu Zi (Konfuzius), Lun Yü: Die Lehren des Konfuzius (chinesischen deutsch) Buch XIII, Kap. 3 »3. Staatsregierung«, Verlag 2001, 2008, (Übersetzung: Richard Wilhelm) S. 387 ff. Kong Fu Zi (Konfuzius), Lunyu - Gespräche, Buch XIII, 3. Staatsregierung, 3. Richtigstellung der Begriffe - Zeno.org.
Literaturverzeichnis
Zitierte Literatur: 
  • Siehe Fußnoten.