BVerfGE 9, 124; AP Nr. 45 zu Art. 3 GG; DÖV 1959, 384; DVBl 1959, 324; JZ 1959, 313; MDR 1959, 363; NJW 1959, 715; SozVers 1959, 200
Titel zum Volltext
Daten
- LSG Schleswig-Holstein, 06.04.1955 - L-U 548/54
Rechtsnormen
Seitennummerierung nach:
Seiten:
BVerfGE 9, 124 (124):
1. "Herkunft" in Art. 3 Abs. 3 GG bedeutet die von den Vorfahren hergeleitete soziale Verwurzelung, nicht die in den eigenen Lebensumständen begründete Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht.
2. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung mit der Sozialpflicht des Staates (Art. 20 Abs. 1 GG) verlangt eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Sie kann je nach der Eigenart der Materie und der Ausgestaltung des Verfahrens in den verschiedenen Zweigen und Instanzen der Gerichtsbarkeit in verschiedener Weise erreicht werden.
3. Im Sozialgerichtsverfahren erster und zweiter Instanz ist der unbemittelten Partei die Verwirklichung ihres Rechtsschutzes auch ohne die Möglichkeit der Anwaltsbeiordnung hinreichend gewährleistet.
BVerfGE 9, 124 (125):
Beschluß
des Ersten Senats vom 22. Januar 1959
- 1 BvR 154/55 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau Agnes G. gegen den Beschluß des Landessozialgerichts in Schleswig vom 6. April 1955 - L-U 548/54 -.
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Gründe:
A. - I.
Die Beschwerdeführerin hat vor dem Sozialgericht in Schleswig gegen die Schleswig-Holsteinische Landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft auf Aufhebung eines Bescheides geklagt, durch den ihr Antrag auf Gewährung einer Unfallrente abgelehnt worden war. -Gegen das klageabweisende Urteil erster Instanz hat sie Berufung zum Landessozialgericht in Schleswig eingelegt und gleichzeitig um Beiordnung eines Armenanwalts gebeten. Das Berufungsgericht hat durch Beschluß vom 6. April 1955 das Armenrechtsgesuch mit der Begründung zurückgewiesen, daß im Verfahren vor dem Landessozialgericht die Bewilligung des Armenrechts und die Beiordnung eines Anwalts nicht vorgesehen sei.
Die Beschwerdeführerin rügt mit der gegen diesen Beschluß gerichteten Verfassungsbeschwerde die Verletzung der Art. 3 und 103 Abs. 1 GG. Sie fühlt sich durch die - ohne Rücksicht auf die Erfolgsaussichten der Berufung erfolgte - Ablehnung einer Anwaltsbeiordnung sowohl gegenüber mittellosen Parteien in anderen gerichtlichen Verfahren wie gegenüber bemittelten Klägern im Sozialgerichtsverfahren benachteiligt. Ferner macht sie geltend, daß die Versagung der Beiordnung eines Armenanwalts gegen das Prinzip der Waffen- und Chancengleichheit der Parteien ein und desselben Prozesses verstoße, da die Prozeßgegner der Rentenkläger - die Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts - sich regelmäßig durch juristisch vorgebildete Beamte oder Angestellte vertreten ließen. Sie ist der
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Ansicht, das Sozialgerichtsgesetz lasse - entgegen der Interpretation durch das Landessozialgericht - die Beiordnung eines Armenanwalts zu. Halte man aber die Interpretation durch das Landessozialgericht für zwingend, so sei das, Gesetz selbst insoweit mit dem Grundgesetz unvereinbar.
Die Beschwerdeführerin beantragt, den angefochtenen Beschluß aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Auf mündliche Verhandlung hat sie verzichtet.
II.
Der Bundesminister für Arbeit tritt der Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin entgegen; er führt vor allem aus, daß angesichts der besonderen Gestaltung des Sozialgerichtsverfahrens und der Eigenart des Streitstoffes, über den in diesem Verfahren entschieden werde, nicht das gleiche Bedürfnis für die Beiordnung eines Armenanwalts bestehe wie in anderen Verfahren.
B. - I.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Gegen den Beschluß des Landessozialgerichts gibt es keinen Rechtsbehelf, so daß der Rechtsweg für das Armenrechtsverfahren erschöpft ist (§ 177 SGG). Da das Landessozialgericht über die Berufung der Beschwerdeführerin noch nicht entschieden hat, besteht auch ihr rechtliches Interesse an einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde fort.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet.
1. Zunächst ist die Interpretation des Sozialgerichtsgesetzes durch dar Landessozialgericht nachzuprüfen; denn wäre diese Interpretation unhaltbar, so würde die behauptete Grundrechtsverletzung nicht auf dem Gesetz beruhen; sie läge vielmehr allein in dem angegriffenen Beschluß, und allein dieser wäre am
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Grundgesetz zu messen. Ist die Interpretation durch das Landessozialgericht hingegen unbedenklich, dann beruht die behauptete Grundrechtsverletzung letztlich auf dem Gesetz, so daß geprüft werden muß, ob die gesetzliche Regelung mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Das Landessozialgericht folgert den Ausschluß der Beiordnung eines Anwalts aus den §§ 183, 167 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Aus § 183 SGG ergibt sich, daß das Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit gebühren- und auslagenfrei ist; § 167 Abs. 1 SGG sieht für das unter Vertretungszwang stehende Verfahren vor dem Bundessozialgericht die Beiordnung eines Rechtsanwalts im Armenrechtsverfahren vor, während eine entsprechende Regelung für das nicht unter Vertretungszwang stehende Verfahren vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht fehlt.
Das Gericht meint, wenn die Verweisung des § 202 SGG auf die Zivilprozeßordnung die Armenrechtsregelung der §§ 114 ff. ZPO mit umfassen sollte, so hätte es der Sonderregelung für das Bundessozialgericht in § 167 SGG nicht bedurft. Sie stehe in Zusammenhang mit der Bestimmung des § 166 Abs. 1 SGG, der Vertretungszwang nur für das Verfahren vor dem Bundessozialgericht vorsieht. Aus der Sonderregelung des § 167 SGG ergebe sich, daß für eine ergänzende Anwendung der zivilprozessualen Armenrechtsvorschriften nach Sinn und Wortlaut des Gesetzes kein Raum sei.
In der Literatur ist zwar vereinzelt die Meinung vertreten worden, das Sozialgerichtsgesetz lasse auch im Verfahren vor den Sozialgerichten und Landessozialgerichten die Beiordnung eines Armenanwalts zu. Doch entspricht die Ansicht des Landessozialgerichts der einhelligen Rechtsprechung der Sozialgerichte
- vgl. BSG in NJW 57, 1294; LSG Nordrhein-Westfalen in Breithaupt 1954 S. 654; ZfS 1955, 221; LSG Stuttgart in BB 1954, 1064; LSG Schleswig in "Die Berufsgenossenschaft" 1954 S. 445; LSG Bremen in Breithaupt 1958 S. 905 -.
Sie ist hiernach so gesichert, daß sie der verfassungsrechtlichen Beurteilung zugrunde gelegt werden kann.
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2. Die Entscheidung hängt also davon ab, ob der Ausschluß der Beiordnung eines Armenanwalts im Verfahren vor den Landessozialgerichten durch das Sozialgerichtsgesetz mit Artikel 3 in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG vereinbar ist.
a) Art. 3 GG enthält neben dem allgemeinen Gleichheitssatz (Absatz 1) Bestimmungen, durch die eine verschiedene Behandlung im Recht trotz bestimmt bezeichneter faktischer Verschiedenheiten untersagt ist (Absatz 2 und 3). Die Prüfung der angegriffenen Regelung des Sozialgerichtsgesetzes an dem allgemeinen Gleichheitssatz müßte zurücktreten, wenn einer der in Absatz 2 und 3 aufgezeigten besonderen Wertmaßstäbe angewendet werden könnte; das ist jedoch nicht der Fall.
In Betracht kommt hier nur das Verbot, jemanden "wegen seiner Herkunft" zu benachteiligen.
Der Begriff "Herkunft" ist als soziale Herkunft zu verstehen. Die - in Art. 3 Abs. 3 GG verwendeten - Begriffe "Abstammung", "Heimat" und "Herkunft" überschneiden und ergänzen einander nach dem üblichen Sprachgebrauch wechselseitig, wobei jedoch "Abstammung" vornehmlich die natürliche biologische Beziehung eines Menschen zu seinen Vorfahren, "Heimat" die örtliche Beziehung zur Umwelt und "Herkunft" die sozial-standesmäßige Verwurzelung bezeichnet (vgl. BVerfGE 5, 17 [22]). Die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes bestätigt, daß "Herkunft" auch hier in diesem Sinne gebraucht ist: Die vom Ausschuß für Grundsatzfragen in erster Lesung angenommene Fassung der Grundrechtsartikel enthielt im damaligen Artikel 19 Absatz 3 lediglich ein Differenzierungsverbot wegen der Abstammung, der Rasse, des Glaubens sowie der religiösen und politischen Anschauungen eines Menschen. In einem dem Parlamentarischen Rat erstatteten Gutachten schlug Professor Dr. Thoma vor, auch die Bevorrechtigung oder Benachteiligung eines Menschen wegen "seiner Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse" zu verbieten. Der Abgeordnete Dr. Dehler hat später im Grundsatzausschuß berichtet, daß die Worte "Heimat und Herkunft" in Anlehnung an diese Anregung von Thoma durch den Allge
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meinen Redaktionsausschuß - dem Dehler selbst angehörte - eingefügt worden seien, wobei man "an die soziale Herkunft und besonders an die Vertriebenen gedacht" habe. Die vom Redaktionsausschuß beschlossene Fassung ist dann sachlich unverändert in das Grundgesetz übernommen worden (vgl. JöR N. F. Bd. 1 S. 66 ff.).
Dem Wort "Herkunft" ist, ähnlich wie dem verwandten, gelegentlich sogar synonym gebrauchten Wort "Abstammung", das Element des Überkommenen eigentümlich, das zwar in die Gegenwart hineinwirkt aber von der gegenwärtigen Lage des Menschen unabhängig ist, ja häufig gerade als Ausdruck eines gewissen Spannungsverhältnisses zwischen der gegenwärtigen sozialen Lage und derjenigen gebraucht wird, in die der Mensch hineingeboren ist. "Herkunft" meint also die von den Vorfahren hergeleitete soziale Verwurzelung, nicht die in den eigenen Lebensumständen begründete Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht.
Keinesfalls trifft der Begriff sonach das von der Beschwerdeführerin berufene Vergleichspaar bemittelt/unbemittelt im Sinne des Prozeßrechts (wie das in Bemerkungen zu der Entscheidung BVerfGE 2, 336 - Beiordnung eines Armenanwalts im Klageerzwingungsverfahren - in der Literatur gelegentlich behauptet worden ist). "Herkunft" im Sinne sozialer Abstammung kann zwar einer der Faktoren sein, welche die gegenwärtige Vermögens- und Einkommenslage beeinflussen; das aber reicht nicht aus, um die finanzielle Fähigkeit oder Unfähigkeit einer Partei, ihrem Anwalt aus eigenen Mitteln zu honorieren, unter den Begriff "Herkunft" zu bringen.
b) Kommt hiernach die besondere Ausprägung des Gleichheitssatzes in Art. 3 Abs. 3 GG nicht in Betracht, so ist die gesetzliche Regelung des Armenrechts im Sozialgerichtsverfahren an dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zu messen. Dieser verpflichtet den Gesetzgeber nicht, unter allen Umständen Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Nur dann ist nach Art. 3 Abs. 1 GG Gleiches gleich, Un
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gleiches aber nach seiner Eigenart zu behandeln, wenn die Gleichheit oder Ungleichheit in dem jeweils in Betracht kommenden Zusammenhang so bedeutsam ist, daß ihre Beachtung bei einer gesetzlichen Regelung nach einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise geboten erscheint (vgl. etwa BVerfGE 1,264 [275 f.]; 2,118 [119f.]).Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt, auch wenn man Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 103 Abs. 1 GG betrachtet.
(1) Ehe das an Hand der einzelnen in Betracht kommenden Vergleichstatbestände aufgezeigt werden kann, bedarf es eines Blickes auf die allgemeine Bedeutung der Institution des Armenrechts. Es umfaßt in erster Linie die einstweilige Befreiung von Gerichtskosten, Gebühren und Auslagen und unter Umständen die Beiordnung eines Anwalts zur vorläufig unentgeltlichen Wahrnehmung der Rechte eines unbemittelten Beteiligten. Gewährt wird es nur bei hinreichender Erfolgsaussicht. Das allein zeigt schon, daß es nicht volle formelle Gleichheit herstellen kann und soll, sondern nur bewirken will, daß der Unbemittelte wenigstens einigermaßen in der gleichen Weise Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann, wie das ein seine Prozeßaussichten vernünftig erwägender Begüterter tun könnte. Mehr fordert auch der Gerechtigkeitsgedanke nicht, bei dem auch die Rücksicht auf den Steuerzahler, der die Prozeßkosten des prozessierenden Unbemittelten zu tragen hat, nicht außer Betracht bleiben darf. Die arme Partei kann insbesondere nicht schon deshalb die Beiordnung eines Anwalts verlangen, weil der Gegner anwaltlich vertreten ist. Abgesehen von der Arbeitsgerichtsbarkeit mit ihren soziologisch bedingten, häufig besonders scharfen Interessengegensätzen, ist die Beiordnung in allen Verfahrensarten unabhängig davon, wie der Prozeßgegner vertreten ist. Vollständige Chancen- und Waffengleichheit ist nie zu erreichen. Auch für Staatsbürger, die nicht arm im Sinne des Verfahrensrechts sind, ist sie nicht gegeben; angesichts des Kostenrisikos werden sie sich notwendigerweise je nach ihrer wirtschaft
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lichen Lage leichter oder schwerer entschließen, sich in Gerichtsverfahren einzulassen und einen Anwalt zu bestellen.
Ist hiernach eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten im Bereich des Rechtsschutzes ausreichend, so ist solche Angleichung zugleich durch den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) in Verbindung mit der Sozialpflicht des Staates (Art. 20 Abs. 1 GG) geboten. Nach Sinn und Zweck staatlichen Rechtsschutzes ist das Wesentliche, daß Bemittelten und Unbemittelten im gesamten Ablauf des Verfahrens Gelegenheit gegeben wird, gleichermaßen alles für die Entscheidung des jeweiligen gerichtlichen Verfahrens Erhebliche vorzutragen. Hierzu ist die herkömmliche Institution des Armenrechts mit der Bewilligung von Auslagen- und Gebührenfreiheit und der Beiordnung eines Armenanwalts im Einzelfall nur eines unter verschiedenen möglichen Mitteln. Ob und in welchem Umfang die Verwendung gerade dieses Mittels verfassungsrechtlich notwendig ist, kann nicht für alle Verfahrensarten und alle Instanzen sozusagen abstrakt entschieden werden, hängt vielmehr von der Bedeutung der Auslagen- und Gebührenfreiheit und der anwaltlichen Vertretung nach der Eigenart der Materie und der Ausgestaltung des Verfahrens ab. Die Verfahren können also nicht rein formal danach verglichen werden, ob sie das Armenrecht nach Art der Zivilprozeßordnung zulassen oder nicht; es kommt darauf an, wie sie in ihrer Gesamtkonstruktion auf den Rechtsschutz der Unbemittelten Rücksicht nehmen, ob sie ihnen in einer der Eigenart des Verfahrens angepaßten und hiernach ausreichenden Weise Zugang zum Gericht und sachgemäßen Vortrag ihrer Anliegen ermöglichen.
(2) In Verfahren, für die Gerichtskosten- und Gebührenpflicht und Anwaltszwang besteht, muß allerdings - bei hinreichender Aussicht auf Erfolg (vgl. BVerfGE 2, 336 [341]) - Bewilligung des Armenrechts und Beiordnung eines Armenanwalts vorgesehen sein. Dem Unbemittelten wäre andernfalls Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung im Vergleich zum Bemittelten unverhältnismäßig erschwert, wenn nicht gar ver
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sperrt. Würde die Armenrechtsbewilligung in solchem Fall von vornherein durch das Gesetz abgeschnitten, so wäre daher der aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende Anspruch auf Berücksichtigung der Ungleichheit von bemittelt und unbemittelt im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
Für, die erste und zweite Instanz des Sozialgerichtsverfahrens spielt dieser Gesichtspunkt keine Rolle, da sie gebührenfrei sind und hier kein Anwaltszwang besteht, der besondere Gesichtspunkt des Art. 103 Abs. 1 GG also in die nach Art. 3 Abs. 1 GG vorzunehmende Abwägung nicht hineinwirkt. Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet nur das rechtliche Gehör als solches, nicht rechtliches Gehör gerade durch die Vermittlung eines Anwalts.
(3) Aber auch darüber hinaus wird im Sozialgerichtsverfahren auf die Lage der Unbemittelten in besonderer Weise Rücksicht genommen, so daß ein schematischer Vergleich mit anderen Verfahrensarten nicht möglich ist.
Zwar handelt es sich im Sozialgerichtsverfahren häufig um lebenswichtige Interessen der Beteiligten; die Gegenseite ist stets mindestens fachkundig vertreten; auch ist es richtig, daß in anderen auch in nicht anwaltspflichtigen Verfahren die Möglichkeit und eine gewisse Bereitschaft gegeben ist, der unbemittelten Partei in wichtigen Verfahren die Beiordnung eines Anwalts zuzubilligen, zumal wenn die Gegenseite fachkundig vertreten ist. Wenn danach auf den ersten Blick der generelle Ausschluß der Anwaltsbeiordnung in den unteren Instanzen, der Sozialgerichtsbarkeit eine formale Rechtsungleichheit zum Nachteil der unbemittelten Parteien darzustellen scheint, so ist dem entgegenzuhalten, daß dieser Nachteil vollauf aufgewogen wird durch die Besonderheit des Streitstoffes, des Parteigegners und vor allem der Gesamtkonstruktion des Verfahrens.
Die Beantwortung der Streitfragen hängt in den typischen Verfahren aus dem Sozialversicherungsrecht - übrigens ebenso aus der Kriegsopferversorgung - weithin von Tatsachen ab, deren Bedeutung auch die rechtsunkundige Partei erkennen kann, häufig auch von der medizinischen Begutachtung des Falles.
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Durch die Erörterung der Sache in den vorausgehenden Verwaltungsverfahren wird ferner bewirkt, daß in dem gerichtlichen Verfahren bereits von einem vergleichsweise klaren Sach- und Streitstand ausgegangen werden kann, so daß die wesentlichen Streitpunkte - das, "worauf es ankommt" - auch für den Rechtsunkundigen deutlich sind.
Nicht ohne Bedeutung ist ferner, daß die Bevollmächtigten der Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts, die formal als Prozeßgegner der unbemittelten Partei auftreten, ihr wohl als Wahrer spezifischer Interessen der Versicherungsträger gegenüberstehen, daß sie jedoch gleichzeitig an Gesetz und Satzung gebunden und kraft der ihnen obliegenden Amtspflicht gehalten sind, zur Wahrheitserforschung zur Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken. Ja sogar eine grundsätzlich entgegenkommende Haltung gegenüber den Versicherten darf bei ihnen vorausgesetzt werden. Denn das Sozialversicherungsrecht ist Recht der Fürsorge im weiteren Sinne, und die Bindung der Versicherungsträger an das so in seiner Struktur bestimmte Recht bietet eine gewisse Gewähr für die Berücksichtigung aller wirklich berechtigten Ansprüche. Das war. auch der Grund, warum man früher eine Art Selbstkontrolle der Verwaltung durch Spruchbehörden, die nicht in jeder Beziehung von der Verwaltung getrennt waren, als ausreichend ansah.
Vor allem aber muß das Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit im Zusammenhang mit dem materiellen Recht der Daseinsvorsorge gesehen werden, dem es dient. Der Bedeutung dieses Rechts entsprechend, das zu den Fundamenten unserer sozialen Ordnung gehört, ist auch das seiner Durchsetzung dienende Recht - obwohl als Streitverfahren ausgebildet - vom Gesetzgeber in seiner gesamten Anlage von vornherein als Schutzrecht gedacht und gestaltet. Es ist als Ganzes gesehen für die unbemittelte Partei soviel günstiger als andere Verfahrensarten, daß bei unbefangener Betrachtung der Ausschluß von Anwaltsbeiordnung in den unteren Instanzen gar nicht als unbillig erscheinen konnte. Die Regelung ist deshalb weder in der Regierungsvorlage be
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sonders begründet noch in den Ausschußberatungen oder im Plenum dem Bundestages von irgendeiner Seite zur Diskussion gestellt worden
(Regierungsentwurf: BT I/1949 Drucks. Nr. 4357; Bericht des Ausschusses für Sozialpolitik: aaO. Drucks. Nr. 4567; Änderungsvorschläge des Bundesrates: aaO. Drucks. Nr. 4662; Bericht des Vermittlungsausschusses: aaO. Drucks. Nr. 4667; Beratungen des Bundestages 1. Wahlperiode 1949, Bd. 16, 17 S. 13161 ff.; S. 14075 ff.; S. 14263 ff.).
Auch hat das Gesetz, bei einigen Stimmenthaltungen, einstimmige Annahme gefunden.
Der Schutzgedanke, der das ganze Sozialgerichtsgesetz trägt, ist in den Einzelregelungen des Verfahrens vielfach sichtbar und wirksam.
Vor allem ist das Verfahren vom Prinzip der Gerichtskostenfreiheit beherrscht (§ 183 SGG). Nur die Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts haben für jede Streitsache, an der sie beteiligt sind, eine Pauschgebühr zu entrichten (§ 184 Abs. I SGG). Die übrigen Beteiligten haben - von mutwillig verursachten Kosten abgesehen (§ 192 SGG) - keine Kosten zu bezahlen. Ebensowenig können sie - auch im Falle ihres Unterliegens - zur Kostenerstattung gegenüber Behörden, Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts herangezogen werden (§ 193 Abs. 4 SGG). Das Kostenrisiko beschränkt sich also von vornherein auf die eigenen Aufwendungen des Beteiligten. Über deren Erstattung durch die Gegenseite hat das Gericht zu entscheiden (§ 193 Abs. 1 SGG). Ferner können dem Beteiligten Barauslagen und Zeitverlust, auch wenn sein Erscheinen nicht angeordnet war, wie einem Zeugen vergütet werden (§ 191 SGG).
Von besonderer Bedeutung ist ferner die umfassende Rolle, die das Sozialgerichtsgesetz dem Gericht in den beiden Tatsacheninstanzen zuweist. Die streng durchgeführte Offizial- und Untersuchungsmaxime läßt schon an sich die Bedeutung der Vertretung durch einen Anwalt zurücktreten, zumal in verwal
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tungsmäßig weitgehend vorgeklärten Fällen. Hier wirkt sich noch besonders aus, daß die Gerichte neben den Berufsrichtern mit sachverständigen Beisitzern besetzt sind (§§ 3, 10, 12 Abs. 2, 31, 33 SGG) und daß die dem Vorsitzenden auferlegte besonders intensive Aufklärungspflicht (§ 106 SGG) zur Konzentration auf - grundsätzlich - eine mündliche Verhandlung führt, so daß auch die Beisitzer volle Übersicht über den Streitstoff gewinnen.
Schließlich ist dem Versicherten sowohl die eigene Wahrnehmung seiner Interessen wie die Vertretung durch Bevollmächtigte außerordentlich erleichtert.
Auf die Erleichterungen in der mündlichen Verhandlung - kein Anwaltszwang, Möglichkeit der Auslagenerstattung, Aufklärungspflicht des Vorsitzenden wurde schon hingewiesen. Außerhalb der mündlichen Verhandlung, bei der Erhebung einer Klage, der Einhegung der Berufung oder einer Beschwerde, kann die Partei sich der Hilfe des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle beim Landessozialgericht oder Sozialgericht bedienen, indem sie die Erklärung zu dessen Niederschrift (Protokoll) abgibt (§§ 90, 151, 173 SGG). Die Prozeßführung ohne Bevollmächtigten wird ferner durch die vorgeschriebene Rechtsmittelbelehrung erleichtert (§§ 66, 173 SGG). - Die Beschwerdeführerin weist besonders darauf hin, daß die Zulässigkeit der Berufung nach § 150 Nr. 2 SGG von der Rüge wesentlicher Verfahrensmängel abhängen könne, die eine rechtsunkundige Partei im allgemeinen nicht erkenne. Abgesehen davon, daß die Beschwerdeführerin selbst von § 150 Nr. 2 SGG nicht betroffen ist, hängt die Zulässigkeit der Berufung jedoch nur in Fällen von geringerer Bedeutung oder besonders einfacher materieller Rechtslage von der Rüge eines wesentlichen Verfahrensmangel ab (§§ 144-150 SGG) Zum anderen bietet die Anwendung von § 150 Nr. 2 SGG keine sonderlichen Schwierigkeiten. Eine Bezeichnung verletzter Paragraphen wird nicht gefordert, es genügt die Behauptung, daß ein wesentlicher Verfahrensmangel vorliege. Wesentliche Verfahrensmängel wie etwa das Übergehen von Beweis
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anträgen oder die unzureichende Anhörung werden auch von dem juristisch Ungeschulten als Unrecht empfunden und erkannt.
Auch die unbemittelte Partei ist überdies in der Lage, sich eines fachkundigen Bevollmächtigten zu bedienen. Einmal werden im Sozialgerichtsverfahren die Anwaltsgebühren nicht nach den allgemeinen Regeln und Sätzen der Rechtsanwaltsgebührenordnung berechnet, sondern für jede Instanz nur einmal erhoben und vom Gericht innerhalb eines gesetzlichen Rahmens festgesetzt, der bei den Landessozialgerichten 60180 DM beträgt (Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte, § 116 Abs. 2, BGBl. I 1957 S. 926). Zum anderen kann die Partei sich nicht nur durch einen Rechtsanwalt, sondern durch jede prozeßfähige Person vertreten lassen (§ 73 SGG). Die größte praktische Bedeutung hat dabei die Vertretung durch "Mitglieder und Angestellte von Gewerkschaften, von selbständigen Vereinigungen von Arbeitnehmern mit sozial- oder berufspolitischer Zwecksetzung, von Vereinigungen von Arbeitgebern und von Vereinigungen der Kriegsopfer", die auch in dem unter Vertretungszwang stehenden Verfahren vor dem Bundessozialgericht ebenso wie Rechtsanwälte zur Vertretung zugelassen sind (§ 166 SGG). Unerheblich ist in diesem Zusammenhang, daß niemand gezwungen ist, einer derartigen Organisation beizutreten. Entscheidend ist, daß jeder Beteiligte des Sozialgerichtsverfahrens sich mit Hilfe dieser Verbände unter persönlich und sachlich zumutbaren Bedingungen einen geeigneten Vertreter zu verschaffen vermag (vgl. in gleichem Sinne LSG Bremen in Breithaupt 1958 S. 905).
(4) Vergegenwärtigt man sich nach alledem das Gesamtbild des Sozialgerichtsverfahrens in den Tatsacheninstanzen nach Streitstoff, Art des Parteigegners und Verfahrensordnung: die allgemeine Gebühren- und Kostenfreiheit, die Zusammensetzung des Gerichts und seine umfassende Einflußnahme auf die Wahrheitserforschung durch Untersuchungsgrundsatz und Amtsbetrieb, die Erleichterung der Wahrnehmung ihrer Interessen durch
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die Partei selbst und die breite Möglichkeit der Bestellung eines fachkundigen Vertreters unter zumutbaren Bedingungen, so erhellt, daß dieses Verfahren mit anderen Verfahren, auch wenn dort ebenfalls kein Anwaltszwang besteht, im Hinblick auf die Verwirklichung des Rechtsschutzes für die unbemittelte Partei nicht verglichen werden kann. Es fehlt die Gleichheit der für die Verwirklichung des Rechtsschutzes wesentlichen Gegebenheiten, so daß ohne Verfassungsverletzung Ungleiches nach seiner Eigenart behandelt wird.
Zugleich sichert die gesamte Gestaltung des Sozialgerichtsverfahrens durch die verschiedenen aufgeführten Regelungen der unbemittelten Partei die Verwirklichung ihres Rechtsschutzes auch ohne die Möglichkeit der Anwaltsbeiordnung in einem solchen Maße, daß die Gleichheit des Rechtsschutzes im Vergleich zu bemittelten Parteien im Sozialgerichtsverfahren allgemein und ebenso trotz der regelmäßig fachkundigen Vertretung des Prozeßgegners - die Chancengleichheit auch bei einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise hinreichend gewährleistet erscheint.