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BVerfGE 30, 108; NJW 1971, 79; NJW 1971, 795; MDR 1971, 372; DVBl 1971, 394; DÖV 1971, 384

Daten

Fall: 
Gnadenwiderruf
Fundstellen: 
BVerfGE 30, 108; NJW 1971, 79; NJW 1971, 795; MDR 1971, 372; DVBl 1971, 394; DÖV 1971, 384
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
12.01.1971
Aktenzeichen: 
2 BvR 520/70
Entscheidungstyp: 
Beschluss

Rechtsnormen

Seitennummerierung nach:

BVerfGE 30, 108

Seiten:


BVerfGE 30, 108 (108):
Der Widerruf eines Gnadenerweises unterliegt der gerichtlichen Kontrolle nach Art. 19 Abs. 4 GG (Ergänzung zu BVerfGE 25, 352).

  Beschluß

des Zweiten Senats vom 12. Januar 1971

- 2 BvR 520/70 -

in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Dieter Sch... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Dr. Rüdiger Feine, Neu-Ulm, Augsburger Straße 10 - gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 5. August 1970 - 2 VAs 97/70 -.

Entscheidungsformel:

1. Der Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 5. August 1970 - 2 VAs 97/70 - verletzt Artikel 19 Absatz 4 des Grundgesetzes; er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Stuttgart zurückverwiesen.

2. Das Land Baden-Württemberg hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 


BVerfGE 30, 108 (109):
Gründe

I.

1. Dem Beschwerdeführer war durch Gnadenerweis des Justizministeriums des Landes Baden-Württemberg vom 10. September 1968 für eine Reststrafe von 61 Tagen Gefängnis Strafaussetzung zur Bewährung bis zum 31. Dezember 1969 bewilligt worden. Am 2. Juni 1970 widerrief der Oberstaatsanwalt in Ulm die Strafaussetzung und ordnete den Vollzug der Reststrafe mit der Begründung an, der Beschwerdeführer habe sich innerhalb der Bewährungszeit nicht so geführt, wie dies von ihm erwartet worden sei. Insbesondere habe er nicht regelmäßig gearbeitet, erhebliche Schulden gemacht und keinen Unterhalt für seine Familie gezahlt. Der Beschwerde des Beschwerdeführers gab das Justizministerium Baden-Württemberg durch Erlaß vom 1. Juli 1970 keine Folge. Den gegen diese Bescheide gerichteten Antrag auf gerichtliche Entscheidung gemäß §§ 23 ff. EGGVG verwarf das Oberlandesgericht Stuttgart durch Beschluß vom 5. August 1970 unter Hinweis auf BVerfGE 25, 352 als unzulässig, weil weder positive noch negative Gnadenentscheidungen einer gerichtlichen Kontrolle unterlägen und gleiches für den Widerruf eines Gnadenaktes gelten müsse.

2. Gegen diesen Beschluß richtet sich die am 20. August 1970 eingegangene Verfassungsbeschwerde, mit der Verletzung des Art. 19 Abs. 4 GG gerügt wird. Der Beschwerdeführer macht geltend, ein einmal gewährter Gnadenerweis dürfe unter Berücksichtigung der schutzwürdigen Interessen des Begünstigten nicht unkontrollierbar widerrufen werden. Der Begünstigte habe sich auf den Straferlaß eingestellt und seine Dispositionen entsprechend getroffen. Aus diesem Grunde könne hinsichtlich der Justitiabilität für den Widerruf eines Gnadenerweises nicht das gleiche gelten wie für den ablehnenden Gnadenbescheid.

Der Justizminister des Landes Baden-Württemberg hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Er ist der Ansicht, weil die positive Gnadenentscheidung einer gerichtlichen Kontrolle nicht unterliege, müsse notwendig auch der Widerruf eines Gna


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denerweises als actus contrarius der gerichtlichen Kontrolle entzogen sein.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und begründet.

In dem Beschluß vom 23. April 1969 (BVerfGE 25, 352 ff.) hat das Bundesverfassungsgericht nicht zu der Frage Stellung genommen, ob der Widerruf eines einmal gewährten Gnadenerweises der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Der Beschluß behandelte den Fall der erstmaligen Ablehnung eines Gnadenerweises. Der Fall des Widerrufs eines gewährten Gnadenerweises unterliegt einer anderen Beurteilung.

Das Bundesverfassungsgericht hatte in dem angeführten Beschluß ausgesprochen, daß Art. 19 Abs. 4 GG für (erstmals) ablehnende Gnadenentscheidungen nicht gilt. Diese Entscheidung beruhte auf der Erwägung, daß der Gnadenakt einen Eingriff der Exekutive in den Bereich der rechtsprechenden Gewalt bedeutet, wie er sonst dem Grundsatz der Gewaltenteilung fremd ist. Der Grundgesetzgeber selbst hat aber dadurch, daß er das Begnadigungsrecht in dem geschichtlich überkommenen Sinn übernommen hat, die Gewaltenteilung modifiziert und im Bereich der Einzelbegnadigung dem Träger des Gnadenrechts eine Gestaltungsmacht eigener Art verliehen. Es ergibt sich deshalb aus dem System und dem Gesamtgefüge des Grundgesetzes, daß die Ablehnung eines Gnadenerweises einer gerichtlichen Nachprüfung nicht unterliegen kann. Das entspricht auch der Eigenart der Einzelbegnadigung, auf die der Verurteilte kein Recht hat (BVerfGE a.a.O. 361 ff.). Bis zum Ausspruch eines Gnadenerweises wird die Rechtsstellung des Verurteilten ausschließlich durch das rechtskräftige Strafurteil und die für seine Vollstreckung maßgebenden gesetzlichen Vorschriften bestimmt.

Dies ändert sich mit dem Eingreifen des Trägers des Gnadenrechts. Durch den Gnadenerweis wird die Wirkung des Urteils umgestaltet. So werden bei einer gnadenweisen Strafaussetzung zur Bewährung dem Verurteilten einerseits Pflichten auferlegt, andererseits aber auch Freiheitsrechte eingeräumt, auf deren


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Wahrung er sich verlassen und auf deren Fortbestand er vertrauen kann, solange er seine Verpflichtungen erfüllt. Infolge der Umgestaltung der Rechtsstellung des Verurteilten durch den Eingriff in den Bereich der Rechtspflege ist nunmehr nicht mehr das Urteil, sondern die Entscheidung der Exekutive bestimmend. Wie vorher die Vollstreckungsbehörde durch das rechtskräftige Urteil, so ist nunmehr die Exekutive durch ihre Gnadenentscheidung gebunden. Der dem Verurteilten gewährte Freiheitsraum unterliegt nicht mehr der freien Verfügung der Exekutive. Er kann dem Begünstigten nur noch unter den im Gnadenakt selbst gesetzten Voraussetzungen genommen werden.

Anders als die Ablehnung eines Gnadenerweises, auf den ein Anspruch nicht besteht, ist demnach jede, den Verurteilten belastende Entscheidung der Gnadenbehörden dann ein rechtlich gebundener Akt, wenn sie eine dem Verurteilten zuvor im Gnadenwege eingeräumte Rechtsstellung verschlechtert. Dies gilt für den Widerruf des Gnadenerweises ebenso wie für die Ablehnung des Straferlasses nach Ablauf der Bewährungszeit. Diese Entscheidungen der Gnadenbehörden unterliegen der gerichtlichen Kontrolle nach Art. 19 Abs. 4 GG.

Die Frage, welcher Rechtsweg gegeben ist, kann dahingestellt bleiben. Es ist nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts, dies zu entschieden. Das Oberlandesgericht Stuttgart wird die Frage zu prüfen haben, ob der Widerruf eines Gnadenaktes einen Justizverwaltungsakt im Sinne der §§ 23 ff. EGGVG darstellt. Keinesfalls hätte es den Antrag des Beschwerdeführers mit der Begründung als unzulässig verwerfen dürfen, der Widerruf eines Gnadenerweises sei der gerichtlichen Nachprüfung überhaupt entzogen. Diese Entscheidung verletzt Art. 19 Abs. 4 GG.

Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen beruht auf § 34 Abs. 4 BVerfGG. Erstattungspflichtig ist das Land Baden-Württemberg, dem die von dem Beschwerdeführer erfolgreich gerügte Grundrechtsverletzung zuzurechnen ist.

Diese Entscheidung ist im Ergebnis einstimmig ergangen.


BVerfGE 30, 108 (112):
Vier Richter bejahen die Justitiabilität des Widerrufs der Gnadenentscheidung aus den in dem Beschluß vom 23. April 1969 (BVerfGE 25, 352 [363 ff.]) dargelegten Erwägungen.

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