BGHSt 14, 159; JZ 1960, 378; MDR 1960, 599; NJW 1960, 1396
Titel zum Volltext
Daten
- LG Duisburg - 07.11.1959
Rechtsnormen
Seitennummerierung nach:
Seiten:
BGHSt 14, 159 (159):
1. Eine Beweisperson, welche die zum Verständnis ihres Zeugnisverweigerungsrechtes nach S 52 StPO erforderliche geistige Reife nicht besitzt, darf nur mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters vernommen werden. Trotz dessen Zustimmung darf sie nicht vernommen werden, falls sie selbst erklärt, nicht aussagen zu wollen.
2. Der gesetzliche Vertreter ist über das Zeugnisverweigerungsrecht der Beweisperson zu belehren.
StPO § 52
2. Strafsenat
Urteil
vom 2. März 1960 g.H.
- 2 StR 44/60 -
I. Landgericht Duisburg
Gründe:
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Unzucht mit einer Abhängigen (§ 174 Nr. 1 StGB) in Tateinheit mit Unzucht mit einem Kinde (§ 176 Abs. 1 Nr. 3 StGB) zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. Seine Revision hat Erfolg.
Er macht geltend, seine Tochter Betty, die zur Zeit der Tat etwa 6 1/2 Jahre und zur Zeit der Hauptverhandlung knapp 7 3/4 Jahre alt war, sei, wie sich aus dem Urteil ergebe, geistig nicht in der Lage gewesen, die Frage zu erfassen, ob sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch machen wolle; ihre Aussage hätte deshalb nicht verwertet werden dürfen.
Die Rüge greift durch.
Der Große Senat für Strafsachen hat im Beschluß BGHSt 12, 235 [240] ausgesprochen, daß, wenn einer Beweisperson wegen mangelnder Verstandesreife das Verständnis für das ihr nach § 81c Abs. 1 und 2 StPO zustehende Recht, die körperliche Untersuchung zu Beweiszwecken zu verweigern, abgeht, nach allgemeinen Grundsätzen der gesetzliche Vertreter als Vertreter im Willen zu entscheiden hat, ob die Beweisperson die Untersuchung erdulden oder von ihrem Weigerungsrecht Gebrauch machen soll, und daß er hierüber zu belehren ist. Das gilt nach den Ausführungen des angeführten Beschlusses ent
BGHSt 14, 159 (160):
gegen der vom 5. Strafsenat im Urteil vom 3. März 1959 - 5 StR 1/59 - geäußerten Ansicht auch für das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 Abs. 1 StPO, um das es in jenem Beschlusse allerdings nicht ging, das aber sowohl nach der Natur der Sache wie nach dem Willen des Gesetzgebers (§ 81 c Abs. 1 Satz 2 StPO: "Die Untersuchung kann aus den gleichen Gründen wie das Zeugnis verweigert werden") den Ausgangspunkt für die Behandlung des Weigerungsrechtes nach § 81 c Abs. 1 und 2 StPO bildet. Wenn eine Beweisperson infolge mangelnder geistiger Reife die Bedeutung des ihr nach § 52 Abs. 1 StPO zustehenden Zeugnisverweigerungsrechtes nicht erfaßt, so darf sie nur mit Zustimmung ihres gesetzlichen Vertreters vernommen werden, vorausgesetzt, daß sie aussagen will. Erklärt sie selbst, nicht aussagen zu wollen, so bleibt es dabei, durch die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters wird sie nicht gezwungen, entgegen ihrem Willen auszusagen. Das Erfordernis der Zustimmung zu ihrer Vernehmung soll sie nur davor schützen, aus Mangel an Verständnis für ihr Zeugnisverweigerungsrecht auszusagen und damit etwas zu tun, was sich möglicherweise zum Nachteil des angeklagten Angehörigen auswirkt und sie später nach erlangter Verstandesreife seelisch belastet. Der gesetzliche Vertreter einer in diesem Sinne unreifen Person ist nach § 52 Abs. 2 StPO zu belehren. Der erkennende Richter muß demgemäß prüfen und feststellen, ob der weigerungsberechtigte Zeuge die erforderliche Verstandesreife besitzt, um Tragweite und Bedeutung des ihm zustehenden Zeugnisverweigerungsrechtes und seines Entschlusses, aussagen zu wollen, zu verstehen. Die ohne die danach erforderliche Zustimmung des gesetzlichen Vertreters oder zwar mit seiner Zustimmung, aber ohne vorherige richterliche Belehrung über das Weigerungsrecht erstattete Aussage darf nicht verwertet werden. Die Nichtbeachtung dieser Grundsätze kann mit der Revision geltend gemacht werden (BGHSt 12, 243). Diese Auffassung hat der erkennende Senat bereits seinen Urteilen vom 14. Oktober 1959 - 2 StR 249/59 (BGHSt 13, 394) und vom 11. November 1959 - 2 StR 471/59 - (BGHSt 14, 21) zugrunde gelegt. Die vom 5. Straf
BGHSt 14, 159 (161):
senat in dem oben angeführten Urteil geäußerte gegenteilige Ansicht zwingt nicht zur Anrufung des Großen Senats in Strafsachen; denn dieses Urteil ist nach dem Beschluß des Großen Senates ergangen und beruht auch nicht auf der gegenteiligen Ansicht. Soweit der 5. Strafsenat im Urteil vom 30. November 1954 - 5 StR 394/54 - ausgesprochen hat, bei der Vernehmung eines Kindes könne das Zeugnisverweigerungsrecht nicht durch einen, gesetzlichen Vertreter ausgeübt werden, ist diese Entscheidung durch den Beschluß des Großen Senates für Strafsachen BGHSt 12, 235 überholt.
Im vorliegenden Falle hat der Vorsitzende der Strafkammer das Kind Betty über das ihm zustehende Zeugnisverweigerungsrecht belehrt und, nachdem Betty erklärt hatte, aussagen zu wollen, vernommen. Das Urteil läßt nicht erkennen, daß das Gericht die Frage geprüft hat, ob das Kind die für das Verständnis seines Zeugnisverweigerungsrechtes erforderliche Reife besaß. Auch das Sitzungsprotokoll bietet keinen Anhalt hierfür. Das Revisionsgericht hat deshalb davon auszugehen, daß eine solche Prüfung nicht stattgefunden hat. Sie war jedoch geboten sowohl im Hinblick auf das Alter des Kindes im Zeitpunkt der Hauptverhandlung wie auch deshalb, weil es trotz seiner 7 3/4 Jahre in seiner geistigen Entwicklung einem 5- bis 6jährigen Kinde entsprach. Im Urteil wird zwar das Kind als "aussagetüchtig" bezeichnet. Damit ist aber nur gemeint, daß es fähig war, das unsittliche Verhalten in seiner äußeren Erscheinung wahrzunehmen und im Gedächtnis zu behalten sowie in seinem Kerngeschehen sprachlich und sachlich richtig wiederzugeben. Für die Frage, ob Betty die erforderliche Reife besaß, die Bedeutung des Zeugnisverweigerungsrechtes und im Falle der Aussage deren Tragweite für das Schicksal ihres Vaters zu begreifen, ist aus ihrer so verstandenen Aussagetüchtigkeit nichts zu entnehmen. Wenn § 52 StPO auch nicht voraussetzt, daß die Beweisperson den Widerstreit empfindet, in den die familiären Beziehungen zum Angeklagten sie stellen, so muß sie doch fähig sein, diesen Widerstreit verstandesmäßig zu erfassen. Dazu gehört nicht, daß sie alle Folgen übersehen kann, die sich aus ihrer Aussage für den angeklagten Angehö
BGHSt 14, 159 (162):
rigen ergeben, wohl aber die Fähigkeit, zu erkennen, daß der, Angehörige mit seinem Verhalten etwas Unrechtes getan hat und daß ihm dafür Strafe droht, sowie daß ihre Aussage möglicherweise zu seiner Bestrafung beitragen wird. Dieses Verständnis hat ein noch nicht sieben Jahre altes Kind in der Regel nicht.
Das Urteil beruht auf der Aussage des Kindes Betty. Wenn - was nach den Feststellungen des Urteils für die Person des Kindes wahrscheinlich, jedenfalls aber nicht auszuschließen ist - die Prüfung ergeben hätte, daß Betty nicht die erforderliche Verstandesreife besaß, um Tragweite und Bedeutung ihres Zeugnisverweigerungsrechtes zu erfassen, und wenn deshalb der gesetzliche Vertreter belehrt und befragt worden wäre, so hätte er möglicherweise erklärt, daß er der Vernehmung des Kindes nicht zustimme. Es ist nicht auszuschließen, daß das Landgericht in diesem Falle nicht zu einem Schuldgekommen wäre.
Das Urteil ist wegen dieses Verfahrensfehlers aufzuheben. Die Sache ist an das Landgericht zurückzuverweisen. Auf das weitere Vorbringen der Revision braucht nicht eingegangen zu werden. Es enthält nur Angriffe gegen die richterliche Beweiswürdigung, die der Nachprüfung des Revisionsgerichts durch das Gesetz entzogen ist. Für die neue Verhandlung wird darauf hingewiesen, daß der Vater, da er Täter ist, von der Entscheidung über die Verweigerung des Zeugnisses ausgeschlossen ist (vgl. BGHSt 6, 155 für den Strafantrag; ferner BGHSt 12, 235 [241]).