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Die Garantie der Menschenwürde (Art. 1 I GG) - Schema
Kurzeinführung
(1) Ein historischer Rückblick in die Zeit der nationalsozialistischen Diktatur liefert die Erkenntnis, dass die Würde des Menschen damals mit Füßen getreten wurde.1 Aus diesen bitteren Erfahrungen heraus wurde die Würde des Menschen als oberster Wert an die Spitze des Grundgesetzes gestellt.2 Die Norm ist überdies im Zusammenhang mit Art. 79 III GG zu lesen: Daraus ergibt sich, dass die Menschenwürdegarantie in ihrer Unabänderlichkeit zusammen mit Art. 20 GG die tragenden Säulen des Grundgesetzes darstellen.3
(2) Art. 1 I GG bildet die „Wurzel aller Grundrechte“,4 da sich letztlich daraus alle weiteren Grundrechte ableiten lassen. Doch die anfangs scheinbar so klar verständlich Norm bereitet auf den zweiten Blick nicht unerhebliche Schwierigkeiten: Was ist mit „Würde“ genau gemeint? - Spätestens wenn sie verletzt ist wird es von uns allen bemerkt. - Es handelt sich hierbei also um einen komplexen Begriff, der einen weiten Umfang hat, aber einen kleinen Kern. Somit ist der Begriff schwierig einheitlich und allgemein zu definieren.5 Darüber hinaus ist umstritten, ob Art. 1 I GG überhaupt ein Grundrecht als solches darstellt, wenn die Norm im Zusammenhang mit Art. 1 III GG gelesen wird.6 Jedoch muss der Grundrechtscharakter des Art. 1 I GG bejaht werden, da es zu einem widersinnigen Ergebnis führte, wenn die Königsnorm der Verfassung keinen subjektiv-öffentlichen Charakter hätte.7
(3) Im Verhältnis zu den anderen Grundrechten wird die Gewährleistung des Art. 1 I GG durch diese konkretisiert.8 Insofern ist die Menschenwürdegarantie eine Art „letzte Verteidigungslinie“.9 Davor sind stets konkrete Normen aufgrund von Spezialität zu prüfen. Erscheint bei deren Auslegung die Menschenwürde als ausreichend berücksichtigt, erübrigt sich freilich der Rückgriff auf Art. 1 I GG.10
Schematische Übersicht
I) Schutzbereich
1) Persönlicher Schutzbereich
- Normalfall: jedermann, also alle natürlichen Personen (vgl. Wortlaut: „Menschen“)11
- Sonderfall: Grundrechtsträgerschaft des ungeborenen Lebens im Mutterleib12
- Jedenfalls objektive Schutzverpflichtung des Staates
- Eventuell Vorwirkung des werdenden Lebens, aber sonst Konkurrenz zu Art. 2 II 1, Art. 1 I GG
- Sonderfall: Grundrechtsträgerschaft bereits Toter13
- Grundsätzlich zu bejahen (Nachwirkung)
- Geltendmachung aber nur von Angehörigen
2) Sachlicher Schutzbereich: Die Würde des Menschen
- Positive Definition: Der „allgemeine Eigenwert, der dem Mensch kraft seiner Persönlichkeit zukommt“.14
- Negativdefinition: Der Mensch darf nicht zum Objekt staatlichen Handelns gemacht werden. Er darf keinen Behandlungen ausgesetzt werden, die dessen Qualität als Subjekt in Frage stellen.15
- Kombination beider Umschreibungsversuche: „Die Menschenwürde ist der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellen“.16
II) Eingriff
Ein Eingriff ist grundsätzlich unzulässig. Die Menschenwürde ist stets indisponibel, das heißt auch ein Eingriff trotz Einwilligung stellt einen Verstoß dar.17 Da Eingriffe in die Menschenwürde stets unzulässig und nie rechtfertigbar sind, ist der Schutzbereich restriktiv auszulegen.18 Für den Prüfungsaufbau bei Art. 1 I GG empfiehlt es sich, nicht so wie hier aus didaktischen Gründen, keine strikte Trennung zwischen Schutzbereich und Eingriff vorzunehmen.19
III) Rechtfertigung
Eingriffe in die Menschenwürde sind nie verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Sie kann niemals durch den Staat beschränkt werden (vgl. Wortlaut: „unantastbar“). Umstritten, wenngleich denkbar, sind Begrenzungen im Bereich der Vor- und Nachwirkung der Menschenwürdegarantie.20
Fallbeispiel (fiktiv)
Die Polizisten P1 und P2 befinden sich auf ihrer nächtlichen Streife durch den Stadtpark. Dort entdecken sie die auf einer Parkbank schlafende Obdachlose O. Laut Stadtparksatzung ist dies nicht erlaubt. Da die beiden Polizisten zuvor Ärger mit ihren Gattinnen hatten, möchten sie ihre Wut auf Frauen an O auslassen und diese einmal „tüchtig vermöbeln“. Die O beschimpfend treten P1 und P2 mit ihren schweren Sicherheitsstiefeln auf diese ein. Nur durch Glück überlebt die O und erliegt dank rechtzeitiger Hilfe eines Unbekannten nicht den ihr zugefügten inneren Blutungen.
Wurde durch die Polizisten in die Menschenwürde der O eingegriffen?
Lösungsvorschlag
1) Eingriff in den Schutzbereich. Gegen die Garantie der Menschenwürde wird verstoßen, wenn der Mensch zum Objekt staatlichen Handelns degradiert wird und Behandlungen ausgesetzt wird, die seine Qualität als Subjekt grundsätzlich in Frage stellen. Das ist vor allem dann gegeben, wenn in erheblicher Weise in die geistige oder körperliche Unversehrtheit eines Menschen oder dessen Identität eingegriffen wird. Insbesondere zählen hierzu grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlungen.
Indem P1 und P2 die O mit ihren Stiefeln nahezu zu Tode prügelten, sie beschimpften und ihr nichteinmal Hilfe leisteten, als diese schwer verletzt war, liegt ein erheblicher Eingriff in deren körperliche Integrität vor. Überdies handelt es sich um eine unmenschliche und erniedrigende Sanktion seitens der Polizisten: Für einen Verstoß gegen eine bloße Stadtparksatzung kommen mildere Mittel zu deren Durchsetzung sehr wohl in Betracht. Somit liegt ein Eingriff in die Menschenwürde vor.
2) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung. Die Menschenwürde entzieht sich jeder staatlichen Beschränkung und verbleibt „unantastbar“. Eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung von Verstößen gibt es daher nicht.
3) Ergebnis. Daher liegt ein Verstoß gegen Art. 1 I GG vor.
- 1. Manssen, StaatsR II, § 9., Rz. 207.
- 2. Jarass/Pieroth, GG, Art. 1, Rz. 2.
- 3. Gröpl, StaatsR I, § 5., Rz. 232.
- 4. BVerfGE 93, 266 (293); Jarass/Pieroth, GG, Art. 1, Rz. 5.
- 5. Manssen, StaatsR II, § 9., Rz. 217.
- 6. Ipsen, StaatsR II, § 4, Rz. 234 – 236.
- 7. Manssen, StaatsR II, § 9., Rz. 208; Jarass/Pieroth, GG, Art. 1, Rz. 3.
- 8. Jarass/Pieroth, GG, Art. 1, Rz. 5.
- 9. Manssen, StaatsR II, § 9., Rz. 222.
- 10. Jarass/Pieroth, GG, Art. 1, Rz. 5.
- 11. Manssen, StaatsR II, § 9., Rz. 213.
- 12. Ablehnend: Ipsen, StaatsR II, Rz. 227 f.; befürwortend: Jarass/Pieroth, GG, Art. 1, Rz. 8.
- 13. Manssen, StaatsR II, § 9., Rz. 215 f.; Jarass/Pieroth, GG, Art. 1, Rz. 10.
- 14. Manssen, StaatsR II, § 9., Rz. 217.
- 15. ebda.
- 16. ebda.
- 17. Manssen, StaatsR II, § 9., Rz. 210.
- 18. ebda.
- 19. Manssen, StaatsR II, § 9., Rz. 219.
- 20. Jarass/Pieroth, GG, Art. 1, Rz. 16.