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Dereliktion
Die Dereliktion (lat., Aufgabe, Zurücklassung)1 bezeichnet die freiwillige Aufgabe des Eigentums und des Besitzes an einer Sache.2 Gemäß § 959 BGB wird eine bewegliche Sache dadurch herrenlos und kann gemäß § 958 I BGB durch Inbesitznahme eigentümlich erworben werden. Als triviales Beispiel für die Dereliktion diene das schlichte Wegwerfen einer beweglichen Sache im Alltag, z.B. einer Flasche oder einer Zeitung. Ferner kann gemäß § 928 I BGB die Aufgabe des Eigentums an einem Grundstück erfolgen, sofern der Verzicht gegenüber dem Grundbuchamt erklärt und in das Grundbuch eingetragen wird. Macht der Landesfiskus von seinem Aneignungsvorrecht nach § 928 II 1 BGB Gebrauch, so reicht gemäß § 928 II 2 BGB für den Eigentumserwerb die Eintragung des Fiskus als Eigentümer in das Grundbuch aus. Des Weiteren können gemäß § 7 I SchiffRG auch Schiffe derelinquiert werden.
1. § 959 BGB: Sachdereliktion
1.1. Aufgabe
Der Dereliktionstatbestand des § 959 BGB setzt sowohl auf einen Willens- als auch auf einen Handlungsmoment (Doppeltatbestand):
- Zunächst muss der Eigentümer überhaupt den Willen haben, sein Eigentum an der beweglichen Sache aufzugeben.3
Hierin ist eine einseitige, nicht empfangsbedürftige Willenserklärung zu sehen, die z. B. nach §§ 119 ff. BGB anfechtbar sein kann, Geschäftsfähigkeit voraussetzt und allen anderen Regeln über Rechtsgeschäfte untersteht.4 Das Willenselement entspricht also der Eigentumsaufgabe. - Hinzukommen muss zudem die tatsächliche Besitzaufgabe (Realakt), sodass die Sache besitzlos wird.
Es sind zudem auch Fälle denkbar, in denen die Besitzaufgabe vor der Eigentumsaufgabe erfolgt. Als Beispiel diene ein im Zug vergessenes Buch, das mit der Absicht nicht zurückgeholt wird, um eine „ordentliche Lektüre unter die Leute zu bringen“.5 Ferner ist auch die Aufgabe des mittelbaren Besitzes, die im Wege einer einseitigen Erklärung gegenüber dem Besitzmittler erfolgt, ausreichend.6
Beide Tatbestandselemente müssen für die Dereliktion vorliegen. Aus der Besitzaufgabe bzw. der Besitzlosigkeit der Sache ergibt sich nicht automatisch auch eine Eigentumsaufgabe, vielmehr muss die Absicht des Eigentümers hinzukommen, auf das Eigentum zu verzichten (animus derelinquendi). Zu denken ist hierbei insbesondere an private Gegenstände, derer man sich zwar entledigen möchte, aber zugleich keinem anderen gestatten will, sie an sich zu nehmen.
1.2. Abfallentsorgung
So ist das Herausstellen des Mülls in der Regel keine Offerte zur Übereignung für jedermann, sondern nur für das Müllentsorgungsunternehmen.7 Das LG Ravensburg8 hat bei der Bereitstellung von Sperrmüll auf der Straße ein Übereignungsangebot an den Betreiber der Abfallwirtschaft gesehen, soweit es um Sachen ging, die erkennbar in einer besonderen Beziehung zum Eigentümer gestanden haben, wie z. B. Briefe, Bankunterlagen oder sonstige persönliche Dokumente. Bei nicht erkennbar persönlichen Sachen sei dagegen eine Dereliktion anzunehmen.9 Vertreten wird fernerhin, dass das abfallrechtliche Dereliktionsverbot in Verbindung mit § 134 BGB eine wirksame Dereliktion verhindere.10 Nach einer restriktiven Ansicht von Baur und Stürner sei diese Wertung zweifelhaft, weil jemand, der seinen Haushalt von nicht mehr benötigten Gegenständen entrümple, im Zweifel gar nichts dagegen haben könne, dass diese noch von beliebigen Personen genommen und weiterer Verwendung zugeführt werden; für Gegenstände, die zwar entsorgt, aber vor unbefugtem Zugriff geschützt werden sollten (z. B. persönliche Dokumente), gäbe es schließlich geeignetere Entsorgungsmöglichkeiten als die Bereitstellung auf offener Straße.11
1.3. Dereliktionsverbot
Der § 959 BGB führt selbst keine Dereliktionsverbote an. Es bestehen nur wenige öffentlich-rechtliche Ge- und Verbote zur Eigentumsaufgabe. So etwa die in § 13 KrW-/AbfG geregelte Verpflichtung, Abfälle (§ 3 I KrW-/AbfG) einem öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger zu überlassen; oder das Tieraussetzungsverbote wie in § 3 Nr. 3, 4 TierSchG. Diesen Ge- und Verboten kann sich der Eigentümer auch durch eine zivilrechtlich wirksame Dereliktion nicht entziehen.12
Nach einer anderen Auffassung seien die umweltrechtlichen Abfallvorschriften (wie §§ 10, 13 KrW-/AbfG) nicht als Dereliktionsverbote zu interpretieren, da sie rein faktische Verhaltensweisen erzwingen wollen, nämlich eine geordnete, die öffentliche Sicherheit und Ordnung nicht gefährdende Weise der Abfallbeseitigung. Für dieses Ziel sei die Eigentumslage des Abfalls irrelevant.13 Das gleiche gelte hiernach im Übrigen auch für die naturschutzrechtlichen, jagdrechtlichen und fischereirechtlichen Tieraussetzungsverbote.14
Die Aufgabe eines Miteigentumsanteils ist nicht möglich, da der Teilhaber seine Verpflichtung zur anteiligen Tragung der Lasten und Kosten (§ 748 BGB) nicht einfach durch einseitigen Verzicht auf seinen Anteil abschütteln können soll15 – jeder Teilhaber kann aber gemäß § 747 I BGB jederzeit die Aufhebung der Gemeinschaft begehren.
1.4. Aneignung
Nach der Dereliktion kann der Eigentumserwerb dieser herrenlos gewordenen beweglichen Sachen (Rechtsfolge der Dereliktion) kraft Aneignung erfolgen (§ 958 BGB). Diese Aneignung ist – im Gegensatz zur Dereliktion – nicht dem rechtsgeschäftlichen, sondern dem gesetzlichen Eigentumserwerb zuzuordnen, da dafür statt eines Rechtsgeschäftes der natürliche Aneignungswille bereits ausreicht.16
2. § 928 BGB: Grundstücksdereliktion
2.1. Aufgabe
§ 928 BGB ist das Gegenstück zu § 959 BGB für Grundstücke, mithin zur Dereliktion von unbeweglichen Sachen.
- Die Grundstücksdereliktion setzt zunächst eine Verzichtserklärung des verfügungsberechtigten Eigentümers voraus. Auch diese Erklärung ist – ähnlich wie bei der Sachdereliktion – eine einseitige, abstrakte, gegenüber dem Grundbuchamt abzugebende rechtsgeschäftliche Willenserklärung, die eine Verfügung über das Grundstück enthält und den allgemeinen Vorschriften über Rechtsgeschäfte (§§ 104 ff. BGB) unterliegt. § 925 II BGB ist auf die Verzichtserklärung analog anzuwenden; formell-rechtlich ist § 29 GBO zu beachten.17 Mit dem Zugang der Verzichtserklärung beim Grundbuchamt ist diese gemäß § 130 I, III BGB unwiderruflich.18
- Nach dem Verzicht ist die Eintragung in das Grundbuch zur Eigentumsaufgabe erforderlich. Die Eintragung ist konstitutiv für die Dereliktion. Mit ihr wird das Grundstück herrenlos.19 Selbiges gilt für die wesentlichen Bestandteile (§§ 93, 94 BGB). Für die beweglichen Sachen innerhalb des Grundstücks gilt diese Dereliktion allerdings nicht; dafür gilt explizit als lex specialis § 959 BGB.
2.2. Aneignung
Dem Fiskus steht zwar bei der Grundstücksdereliktion gemäß § 928 II 1 BGB ein Aneignungs(vor)recht20 zu, jedoch keine Aneignungspflicht.21 Daher ist auch ein Verzicht möglich,22 nach dem dann jedermann ein Aneignungsrecht zukommt.23 Dieser Verzicht mag in vielen Fällen auch sinnvoll sein, da die Grundstücksdereliktion vor allem bei überschuldeten oder unrentablen Grundstücken vorkommt. Dies liegt daran, dass sich der Eigentümer zwar nicht seiner durch die Grundpfandrechte gesicherten persönlichen Verbindlichkeiten entziehen kann, aber nach der Dereliktion zumindest nicht mehr der Hypothekenklage ausgesetzt ist (§§ 58, 787 ZPO).24 Die dinglichen Rechte am Grundstück, wie z.B. Grundpfandrechte, werden durch die Dereliktion also nicht tangiert.25
Der Antrag auf Ausübung der Aneignung unterliegt der Form des § 29 GBO; daneben ist ein, formlos gültiger, Eintragungsantrag erforderlich.26 Das Grundstückseigentum wird mit der Eintragung in das Grundbuch erworben.27
2.3. Miteigentum & Wohnungseigentum
Eine teilweise Aufgabe, also die Dereliktion von Miteigentum an einem Grundstück, ist hingegen wegen der wechselseitigen Rechte und Pflichten innerhalb einer Miteigentümergemeinschaft nicht möglich.28 Ebenso ist nach herrschender Meinung die Dereliktion von Wohnungseigentum ausgeschlossen, da dies einer unzulässigen einseitigen Teilaufhebung gleichkäme und ein Unterlaufen des § 16 II WEG droht29 – zulässig ist allerdings ein allseitiger Verzicht sämtlicher Eigentümer.30
3. § 7 SchiffRG: Schiffsdereliktion
3.1. Aufgabe
Gemäß § 7 I SchiffRG kann das Eigentum an einem Schiff dadurch aufgegeben werden, dass der Eigentümer den Verzicht dem Registergericht gegenüber erklärt und der Verzicht in das Schiffsregister eingetragen wird. Ein solcher Verzicht ist vor allem bei gesunkenen Schiffen und Wracks von praktischer Bedeutung.31 § 7 SchiffRG ist hier als Pendant zu § 928 BGB zu sehen.
Bei eingetragenen Schiffen ist eine Verzichtserklärung und die Eintragung in Spalte 5 der Zweiten Abteilung des Schiffsregisters (§§ 28, 35 SchRegDV) erforderlich; bei nicht eingetragenen Schiffen genügt hingegen die bloße Absicht zur Eigentumsaufgabe (§ 959 BGB) – dies gilt auch, sobald das Schiff dem Schiffsregister als endgültig verloren oder ausbesserungsunfähig (Totalverlust oder Wrack) gemeldet und von ihm gelöscht worden ist (§ 17 IV, 20 I SchRegO).32
3.2. Aneignung
Nach § 7 II SchiffRG steht das Recht zur Aneignung des herrenlosen Schiffs nur dem Bund zu (S. 1), der das Eigentum dadurch erwirbt, dass er sich als Eigentümer in das Schiffsregister eintragen lässt (S. 2). Da es oftmals eine Pflicht des Eigentümers zur Beseitigung gesunkener Schiffe geben wird, die mit nicht unerheblichen Kosten verbunden ist, wird der Bund den Eigentümer in der Praxis nicht durch sein Aneignungsrecht aus seiner Verpflichtung entlassen.33
- 1. Derelikten (lat. res derelictae) = herrenlose, aufgegebene Sachen (früher auch als Derelicta bezeichnet, vgl. Herders Conversations-Lexikon, Bd. 2, Freiburg im Breisgau 1854, S. 329); derelinquieren = aufgeben, verlassen, zurücklassen. Vgl. zu allen drei Begriffen: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 4, Leipzig 1906, S. 654. Lateinisches Substantiv = derelictio; lateinisches Verb = derelinquere; Zusammensetzung aus Präfix de (ab-, weg-) und relinquere (verlassen, zurücklassen, aufgeben).
- 2. Besitzaufgabe und Eigentumsaufgabe sind für die Dereliktion komplementär notwendig. Dies geht auch aus § 959 BGB hervor, der die Besitzaufgabe mit dem Eigentumsverzicht verbindet. Lediglich von der Aufgabe des Besitzes oder der Aufgabe des Eigentums zu sprechen, ist daher nicht vollständig richtig.
- 3. Auch Entschlagungswille genannt.
- 4. Musielak, § 7, Rn. 308; Baur/Stürner, § 53, Rn. 70.
- 5. Beispiel nach Baur/Stürner, § 53, Rn. 70; ferner hierzu BeckOK-BGB/Kindl, § 959, Rn. 4; BayObLG JR 1987, 128.
- 6. BeckOK-BGB/Kindl, § 959, Rn. 4; Staudinger/Gursky, § 959, Rn. 6.
- 7. Grziwotz, MDR 2008, 726, 727; Musielak, § 7, Rn. 308.
- 8. LG Ravensburg NJW 1987, 3142.
- 9. LG Bonn NJW 2003, 673, 674.
- 10. Baur/Stürner, § 53, Rn. 69 m.Verw.a. MüKo/Quack, § 959 Rn. 14 f.; Schmidt, JuS 1988, 230.
- 11. Baur/Stürner, § 53, Rn. 69.
- 12. BeckOK-BGB/Kindl, § 959, Rn. 5.
- 13. So Staudinger/Gursky, § 959, Rn. 8.
- 14. Z.B. § 40 IV BNatSchG, § 28 II, III BJagdG und die nach § 28 IV BJagdG ergangenen landesrechtlichen Regelungen.
- 15. BeckOK-BGB/Kindl, § 959, Rn. 1; Staudinger/Gursky, § 959, Rn. 10.
- 16. Lüke, § 6, Rn. 258; BeckOK-BGB/Kindl, § 959, Rn. 1.
- 17. Staudinger/Grün, § 928, Rn. 4.
- 18. RGZ 82, 73, 74; Staudinger/Grün, § 928, Rn. 4.
- 19. Vgl. RGZ 82, 73, 74; Staudinger/Grün, § 928, Rn. 7.
- 20. Wegen der Bevorzugung ist Aneignungsvorrecht oder Aneignungsprärogative zutreffender.
- 21. BGHZ 108, 278; Baur/Stürner, § 53, Rn. 76.
- 22. LG Hamburg NJW 1966, 1715.
- 23. BGHZ 108, 278, 282; BVerwG NJW 2003, 2255.
- 24. Vgl. auch Wilhelm, Rn. 148, 850; Baur/Stürner, § 53, Rn. 76.
- 25. Baur/Stürner, § 53, Rn. 75; ausführlicher Wilhelm, Rn. 148.
- 26. Staudinger/Grün, § 928, Rn. 10.
- 27. RGZ 82, 73, 74; Staudinger/Grün, § 928, Rn. 11.
- 28. BGHZ 115, 1; BGH NJW 1991, 2488, 2489; 2007, 2254; 2007, 2547; OLG Celle MDR 2004, 29; Baur/Stürner, § 53, Rn. 76 m.w.Verw.; a. A. Kanzleiter NJW 1996, 905.
- 29. BGH NJW 2007, 2547 = ZMR 2007, 795; BayObLGZ 1991, 90 = NJW 1991, 1962; OLG Zweibrücken ZMR 2003, 137; OLG Celle, ZfIR 2003, 1040; ausführlicher Bärmann/Armbrüster, § 1, Rn. 169.
- 30. BGH NJW 2007, 2547; BeckOK-WEG/Dötsch, § 11, Rn. 43.
- 31. Vgl. Staudinger/Nöll, § 7 SchiffsRG, Rn. 1.
- 32. Aus Staudinger/Nöll, § 7 SchiffsRG, Rn. 1.
- 33. Staudinger/Nöll, § 7 SchiffsRG, Rn. 2.