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Verwaltungsvorschrift
Unter der Rechtsfigur Verwaltungsvorschrift wird eine abstrakt-generelle Regelung verstanden, die von der Verwaltung (Exekutive) selbst erlassen wurde, um einen einheitlichen und vorhersehbaren Gesetzesvollzug zu gewährleisten. Mit Verwaltungsvorschriften lassen sich die behördeninterne Organisation und interne Prozesse regeln oder aber die Art und Weise, auf die Verwaltungsaufgaben erledigt werden sollen. Insoweit stellen Sie als Innenrecht häufig eine Handlungsanleitung dar, um vom Gesetz zur Einzelfallentscheidung zu kommen. In der Praxis finden sich unterschiedliche Bezeichnungen für die Verwaltungsvorschriften, wie etwa „Richtline“, „Rundschreiben“, „Erlass“ oder jünger „FAQ“.
1. Zweck und Inhalt der Verwaltungsvorschriften
Gibt das Gesetz keine Handlungsmaßstäbe für die Verwaltung vor und ist auch der parlamentarische Gesetzgeber durch den Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes nicht zur Regelung verpflichtet, können mittels gesetzesvertretender Verwaltungsvorschriften das Verwaltungshandeln programmmieren. Bei Verwaltungsvorschriften handelt es sich daher dem Grunde nach erstmal nicht um Rechtsnormen, sondern nur um innerdienstliche Richtlinien.1
Auf Bundes- und auf Landesebene existieren eine Vielzahl entsprechender Regelungen. Sie bieten eine Entlastung der Legislative von der Regelung technischer Detailfragen und können, ohne die Flexibilität der Verwaltung einzuschränken, ein einheitlichen und vorhersehbaren Vollzug der Gesetze und Rechtsverordnungen gewährleisten.
Den größten Teil der Verwaltungsvorschriften machen dabei Organisations- und Dienstvorschriften aus, die sich etwa auf die Organisation und Prozesse innerhalb einer Behörde beziehen. Exemplarisch hierfür sind Regelungen, die etwa die Arbeitszeit, die Ausgestaltung des mobilen Arbeitens, des Homeoffice oder den Umgang mit dienstlichen Geräten betreffen.
Mittels der Verwaltungsvorschriften können aber auch, innerhalb des legislativ gesetzten Rahmens, Auslegungen und Definitionen unbestimmter Rechtsbegriffe erfolgen. So können auf Tatbestandseite einer Rechtsnorm zum einen norminterpretierende Verwaltungsvorschriften erlassen werden. Beispielsweise ist eine Verwaltungsvorschrift denkbar, die die Anforderungen der „Zuverlässigkeit“ im Waffenrecht in der unteren Jagdbehörde interpretiert.
Zum anderen können auf Tatbestandsseite normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften erlassen werden, wie etwa die TA Lärm2 und TA Luft3.
Für die Rechtsfolgenseite einer Rechtsnorm lassen sich dann ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften implementieren. Denkbar wäre etwa eine Verwaltungsvorschrift, welche der unteren Baubehörde vorgibt, unter welchen Voraussetzungen der Abriss eines baulichen Anlage angeordnet werden soll.
2. Reichweite und Abgrenzung
Die Befugnis zum Erlass entsprechender Verwaltungsvorschriften lässt sich grundsätzlich aus der Leitungs- und Weisungskompetenz der jeweiligen Verwaltungsstelle herleiten. Der Erlass erfolgt daher von einer vorgesetzten Behörde an eine nachgeordnete Behörde bzw. durch einen Behördenleiter an die ihm unterstellten Beschäftigten.
Eine Ausnahme hiervon bildet die Verpflichtung von Beschäftigten anderer Behördenstränge desselben oder eines anderen Verwaltungsträgers. Hierbei handelt es sich dann um intra- bzw. intersubjektive Verwaltungsvorschriften. Da diese nicht der Weisungsbefugnis der erlassenden Stelle unterfallen, ist in solchen Konstellationen von der Notwendigkeit einer Ermächtigungsgrundlage auszugehen.4
Im Gegensatz zu etwa Verordnungs- und Gesetzgebungsverfahren ist der Erlass von Verwaltungsvorschriften formfrei5 und bietet somit ein schnelles und flexibles Steuerungsinstrument. Faktisch erforderlich ist lediglich die Bekanntgabe gegenüber den Betroffenen.
Werden Bürgerinnen und Bürger oder Gerichte unmittelbar durch die Verwaltungsvorschrift berechtigt oder verpflichtet, so gebietet allerdings das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG sowie die Garantie effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG eine Verkündung nach außen (Publikationspflicht), die sinngemäße inhaltliche Widergabe genügt hierfür nicht.6
Nicht immer lässt sich eine klare Abgrenzung der Verwaltungsvorschriften zu den Rechtsverordnungen vornehmen. Die Rechtsverordnungen werden als abstrakt generelle Regelungen ebenfalls von der Exekutive erlassen und können Vorgaben für die Gesetzesanwendung enthalten. Eine Differenzierung kann vielfach anhand materieller Kriterien möglich sein. Hierbei können insbesondere die typischen Regelungsgegenstände, die Adressaten (Verwaltung einerseits/Bürger und Gerichte andererseits) und die Bindungswirkungen (nur Innenbereich einerseits/Innen- und Außenbereich andererseits) herangezogen werden.7
Allerdings können auch Verwaltungsvorschriften Außenwirkung entfalten8 und umgekehrt Rechtsverordnungen allein an die Verwaltung adressiert sein. Eine praktische Relevanz hat die Abgrenzung aber regelmäßig nicht. Genügt eine Regelung den gesetzlichen Anforderungen an eine Rechtsverordnung nicht, etwa weil sie den Formerfordernissen des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG nicht entspricht, ist die Rechtsverordnung als rechtswidrig anzusehen.9 Eine rechtswidrige Rechtsverordnung lässt sich zwar in eine Verwaltungsvorschrift umdeuten. Diese ist aber wiederum nur dann rechtmäßig und wirksam, wenn sie keine Vorschriften enthält, die nur in einem formellen oder materiellen Gesetz erlassen werden dürften.10
Abzugrenzen sind Verwaltungsvorschriften auch von privaten technischen Regelungen. Private technische Regelungen, wie etwas DIN-Vorschriften entlasten die Verwaltung bei dem Erlass, ohne selbst Verwaltungsvorschrift zu sein.
Nicht geeignet sind Verwaltungsvorschriften, jedenfalls nach Auffassung des EuGH, um den nationalen Verpflichtungen bei der Umsetzung europäischer Richtlinien nachzukommen.11 Im Hinblick auf die mangelnde Bindungswirkung der Verwaltungsvorschriften im Außenbereich bestehen Zweifel daran, ob Sie den Vorgaben des Art. 288 UAbs. 3 AEUV genügen können.
3. Zur Bindungswirkung der Verwaltungsvorschriften
3.1. Organisations- und Dienstvorschriften
Die Organisations- und Dienstvorschriften binden als eine spezifische Form der Weisung lediglich die Adressaten innerhalb der Verwaltung. Die Bindungswirkung ergibt sich dann für die jeweiligen Adressatenkreis aus unterschiedlichsten Regelungen, etwa dem arbeitsrechtlichen Weisungs- und Direktionsrecht, § 106 GewO, für Bundesbeamte aus § 62 Abs. 1 S. 2 BBG oder für Soldaten aus § 11 SG.
3.2. Norminterpretierende Verwaltungsvorschriften
Werden durch die Behördenleitung unbestimmte Rechtsbegriffe näher geregelt, sind die Bediensteten der Verwaltung an diese Interpretation gebunden. Das gilt auch dann, wenn die Regelung rechtswidrig ist, aber auf eine Remonstration der Beamten hin von der Leitung der Behörde bestätigt wird.12 Die Gerichte sind dagegen an die Interpretationsvorgaben der Verwaltung nicht gebunden, sondern können diese vollinhaltlich auf ihre Vereinbarkeit mit Gesetz und Verfassung überprüfen. Sie haben ihrer Entscheidung im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG eine eigenständige Auslegung der Gesetze zu Grunde legen. Denn auch durch eine ständige Verwaltungspraxis lässt sich das Gesetz nicht ändern.13
3.3. Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften
Bezieht sich die Verwaltungsvorschrift auf offene Tatbestände mit unbestimmten Gesetzbegriffen, in denen für die Behörde ein Beurteilungsspielraum besteht, kann auch hier eine Selbstbindung der Verwaltung nach den o.g. Grundsätzen erfolgen. Nur in atypischen Einzelfällen wird sie durch den Gleichheitssatz zu einer Abweichung berechtigt und verpflichtet.14 Anwendung finden normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften vor allen im Sicherheits- und Technikbereich, soweit der Gesetzgeber im verfassungsrechtlich zulässigen Rahmen auf eine exakte normativ Festlegung verzichtet hat.15 Eine Bindungswirkung kann sich dann auch für die Gerichte entfalten. Normkonkretisierende Verwaltungsvorschriften haben dann quasi normsetzende materielle Bedeutung. Sie sind nach Auffassung der Rechtsprechung nur darauf überprüfbar, ob die darin festgelegten Grenzwerte eingehalten oder ob diese durch den Stand von Wissenschaft und Technik überholt sind.16
3.4. Ermessenslenkende Verwaltungsvorschriften
Füllt eine Verwaltungsvorschrift den gesetzlich eingeräumten Entscheidungsspielraum einer Behörde aus, bindet dies zunächst unmittelbar die Adressaten innerhalb der Verwaltung. Allerdings bildet die Verwaltungsvorschrift damit auch die Grundlage für die Entwicklung einer bestimmten Verwaltungspraxis der Ermessensbetätigung aus. Im Lichte des Gleichheitssatzes aus Art. 3 Abs. 1 GG darf die Verwaltung im Einzelfall nicht ohne sachlichen Grund von dieser Praxis abweichen (Selbstbindung).17 Daher entsteht so faktisch auch eine Außenwirkung der Verwaltungsvorschrift.
Zwar können sich Bürgerinnen und Bürger nicht auf die Verwaltungsvorschriften als solche berufen. Aber der Gleichheitssatz gibt ihm das Recht zu verlangen, dass ihr Anliegen entsprechend der durch diese Vorschriften veranlassten Verwaltungspraxis behandelt wird. Dies gilt ab dem ersten Fall, der gemäß einer Ermessensrichtlinie zu entscheiden ist. Zwar setzt Art. 3 Abs. 1 GG grundsätzlich ein Vergleichen, also mindestens das Vorliegen zweier Fälle voraus.18 Die Rechtsprechung versteht Verwaltungsvorschriften jedoch als „antizipierte Verwaltungspraxis“ und vergleicht die Entscheidung über den ersten Fall daher mit den Entscheidungen, wie sie auf Grund der Ermessensrichtlinien für künftige Fälle zu erwarten sind.19 Verstößt die Regelung der Ermessensrichtlinie allerdings gegen gesetzliche Vorgaben, besteht keine Gleichheit im Unrecht und damit kein Anspruch auf eine rechtswidrige behördliche Entscheidung.20
Entwickelt sich eine von den Verwaltungsvorschriften abweichende, aber mit den gesetzlichen Vorgaben vereinbare Verwaltungspraxis, bildet allein diese tatsächliche Verwaltungspraxis den Anknüpfungspunkt für den Gleichheitssatz.21
Die Änderung einer Verwaltungspraxis für die Zukunft ist aber zulässig. Grundsätzlich besteht kein Vertrauensschutz in den Fortbestand einer bestimmten Verwaltungspraxis.22 Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich indes auf die Ermessensfehlerlehre. Die Prüfung beschränkt sich darauf, ob ein Ermessensfehler begangen wurde, also ob ein Ermessensnichtgebrauch, ein Ermessensfehlgebrauch oder eine Ermessensüberschreitung vorliegt.
- 1. Schoch/Schneider/Eichenberger/Buchheister VwGO § 137 Rn. 22.
- 2. TA Lärm v. 26.8.1998, GMBl., S. 503, geändert durch Verwaltungsvorschrift v. 1.6.2017 (BAnz. AT 8.6.2017 B5).
- 3. TA Luft v, 18.8.2021, GMBl., S. 1050.
- 4. Vgl. Voßkuhle/Wischmeyer JuS 2015, 311 (311).
- 5. Wobei es den Behörden unbenommen ist, selbst Form- oder Verfahrensvorschriften zu normieren.
- 6. BVerwG, Urt. v. 25.11.2004 – 5 CN 1.03.
- 7. Voßkuhle/Wischmeyer JuS 2015, 311 (315).
- 8. BVerwG, Urt. v. 25.11.2004 – 5 CN 1.03.
- 9. Dürig/Herzog/Scholz/Remmert GG Art. 80 Rn. 55.
- 10. Ausführlich hierzu: Voßkuhle/Wischmeyer JuS 2015, 311 (315).
- 11. EuGH, Urteil vom 30.05.1991 - Rs C - 361/88.
- 12. Voßkuhle/Wischmeyer JuS 2015, 311 (315).
- 13. Schmitz in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG § 1 RdNr. 213.
- 14. Voßkuhle/Wischmeyer JuS 2015,311 (316).
- 15. BVerfGE 49, 89 (136 ff)= NJW 1979, 359.
- 16. Vgl. etwa BVerfGE 49, 89 (134ff.)= NJW 1979, 359; BVerwGE 69, 37= NVwZ 1984, 371; 72, 300 (320)= NJW 1986, 208.
- 17. Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG § 40 RdNr. 215.
- 18. Zur Gleichheit ausführlich: Dürig/Herzog/Scholz/P. Kirchhof GG Art. 3 Abs. 1 Rn. 72 ff.
- 19. Vgl. BVerwG, Beschluss vom 17.01.2019 – 6 B 138.18.
- 20. Voßkuhle/Wischmeyer JuS 2015, 311 (316).
- 21. Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG § 40 RdNr. 215.
- 22. So auch BVerwG NVwZ 1998, 273.