Die Absurdität der Gerechtigkeitsformeln – Überlegungen zu Kafkas Strafkolonie

*Kann der Mensch mit seinen Mitteln und Möglichkeiten eine „absolute Gerechtigkeit“ schaffen? Unter dem Blickwinkel dieser Fragestellung lässt sich die Erzählung „In der Strafkolonie“ von Franz Kafka lesen. Der Beitrag interpretiert den Text Kafkas als – im weiteren Sinne – parabolisch formulierte Kritik an einem absolut verstandenen Gerechtigkeitsbegriff und benennt zugleich als notwendig vorauszusetzende Elemente eines Systems der Gerechtigkeit.

Franz Kafka 1910
Foto: Franz Kafka, 1910, Wikimedia, Atelier Schlosser & Wenisch - Otto Schlosser (1880-1942) & Max Wenisch (1876–?)

Wirf einen kühlen Blick auf Leben und Tod, Reiter – reit‘ weiter!1

1. Gefährliches Leben in der Versicherung

Die meisten von uns haben sich in jüngeren Jahren in den Kopf gesetzt: »Lebe wild und gefährlich«! Franz Kafka2 dachte an etwas ganz anderes:

»Ich sass einmal vor vielen Jahren, gewiss traurig genug, auf der Lehne des Laurenziberges. Ich prüfte die Wünsche, die ich für das Leben hatte. Als wichtigster oder als reizvollste ergab sich der Wunsch, eine Ansicht des Lebens zu gewinnen (und – das war allerdings notwendig verbunden – schriftlich die anderen von ihr überzeugen zu können) in der das Leben zwar sein natürliches schweres Fallen und Steigen bewahre, aber gleichzeitig mit nicht minderer Deutlichkeit als ein Nichts, als ein Traum, als ein Schweben erkannt werde. Vielleicht ein schöner Wunsch, wenn ich ihn richtig gewünscht hätte. Etwa als Wunsch, einen Tisch mit peinlich ordentlicher Handwerksmäßigkeit zusammen zu hämmern und dabei gleichzeitig nichts zu tun und zwar nicht so, dass man sagen könnte: »Ihm ist das Hämmern ein Nichts« sondern »ihm ist das Hämmern ein wirkliches Hämmern und gleichzeitig auch ein Nichts«, wodurch ja das Hämmern noch kühner, noch entschlossener, noch wirklicher und wenn Du willst noch irrsinniger geworden wäre….«3

Den Wunsch nach einem Leben im Hier und Jetzt und zugleich halb im Traum hat er tatsächlich verwirklicht. Er arbeitete »halbe Frequenz« (8:00 Uhr bis 14:00 Uhr) in seinem Büro, schlief kurz, um Abstand zu gewinnen, schrieb und las, besuchte Freunde, machte Sport usw. und gegen 22:00 Uhr begann das halb geträumte Leben außerhalb des »Hauptquartiers des Lärms«: Jetzt arbeitete er an seinen eigenen Texten oft bis in den Morgen hinein. Immer unter den größten Zweifeln an seinen Fähigkeiten. Später hat er notiert:

»Wenn ich mich zum Schreibtisch setze, ist mir nicht wohler als einem, der mitten im Verkehr des place de l‘Opera fällt und beide Beine bricht.«4

Welcher Schreibtisch war da gemeint? Wer als Sachbearbeiter sein Leben mit Denken, Lesen und Schreiben verbringt, käme nie auf so einen Gedanken. Und doch hat der Brotberuf, für den Franz Kafka sich entschieden hat, ihm bedeutendes Material für sein Denken und Schreiben geliefert, darunter vor allem die Fähigkeit, genau hinzusehen und die Ergebnisse präzise zur Sprache zu bringen. Kafkas Texte öffnen sich für unzählige Interpretationen5. Ganz überraschend hat Reiner Stach6 uns vor kurzem – gestützt auf jahrelange Arbeit –noch viele neue Aspekte zeigen können. Vor allem die Entdeckung und Aufbereitung der im beruflichen Zusammenhang entstandenen Texte Kafkas zeigt uns, wie eng seine literarische Sprache mit der Sprache des Rechts verbunden ist. Sie ist durchsetzt von rechtlichen Metaphern bis in die Titelbegebung hinein: Das Urteil, Zur Frage der Gesetze, Der Proceß, Der Unterstaatsanwalt, Der Mord. Kafkas Erzählungen sind gereinigt von Geschichte, Lokalkolorit, Individualität und sein geradezu chemisch – gereinigter Stil wird von zwei Einflüssen bestimmt: Er lebte in Prag innerhalb des sonst tschechischen Böhmen mitten in einer deutsch/jüdischen Sprachinsel und arbeitete an seinen »Amtlichen Schriften«, also den Jahresberichten und rechtlichen Gutachten für die Unfallversicherung. Seine Texte sind geradezu durchsichtig und doch ahnt man die »ungeheure Welt, die ich im Kopf habe«, von der er gelegentlich und äußerst zurückhaltend gesprochen hat.

2. Ein vollendetes Fragment

Die Erzählung In der Strafkolonie7 gehört zu den wenigen – insgesamt 57 – Veröffentlichungen, die Kafka selbst zu Lebzeiten freigegeben hat (darunter einige Texte mehrfach). Es sind jene Handvoll Texte, die er – ähnlich wie Rilke – in einem Strom der Inspiration wie aus einem Guss niederschreiben konnte. Er lebte wie ein Prophet nur für die ekstatischen Momente des »flow«. Bei der Strafkolonie gelang ihm das nicht ganz:

»Niemals habe ich aus ganz freien Herzen die Veröffentlichung dieser Geschichte verlangt. Zwei oder drei Seiten kurz vor ihrem Ende sind Machwerk, ihr Vorhandensein deutet auf einen tieferen Mangel, es ist da irgendwo ein Wurm, der selbst das Volle der Geschichte hohl macht.«8

Wir empfinden das Fragment gleichwohl als vollkommen, denn die Erzählung zeigt auf Probleme der Gerechtigkeit, die wir nur außerhalb der juristischen Logiken erkennen können – und nur ein Dichter konnte sie so erzählen, der auch in der Welt des Rechts zu Hause war.

3. Gefährliche Maschinen

Auch wenn Kafka häufig über die Arbeit in der Versicherung klagte, hat er sie doch unter Anerkennung seiner Abteilungsleiter und Direktoren verrichtet. Seine große literarische Begabung verhalf seinen Texten zu Klarheit und Verständlichkeit, auch wenn sie stets das Ergebnis von Pflichtübungen sind, die auf durchwachte Nächte folgen. Aus dem Jahresbericht 19099:

»Unsere Abbildungen zeigen den Unterschied der Vierkant-Wellen und der runden Wellen in schutztechnischer Hinsicht…. An diesen Wellen wurde daher entweder gearbeitet in Unkenntnis der Gefahr, die dann womöglich noch größer wurde, oder es wurde im Bewusstsein einer ununterbrochenen Gefahr gearbeitet, die sich nicht vermeiden ließ. Ein äußerst vorsichtiger Arbeiter konnte wohl darauf achten, dass bei der Arbeit, also bei dem Hinwegführen des Holzstückes über den Hobelmesserkopf kein Fingerglied über das Arbeitsstück hinaus vorstand, aber die Hauptgefahr spottete jeder Vorsicht. Selbst die Hand des vorsichtigsten Arbeiters mußte in die Messerspalte geraten beim Abrutschen, beziehungsweise bei dem nicht selten vorkommenden Zurückschleudern des Holzes, wenn er mit der einen Hand das zu hobelnde Stück auf den Maschinentisch aufdrückte und es mit der anderen Hand der Messerwelle zuführte.... Ein solcher Unfall ging aber nicht vorüber, ohne dass mehrere Fingerglieder, ja selbst ganze Finger abgeschnitten wurden..«

Hier die Beschreibung einer anderen Maschine:

»Also hier ist das Bett, … hier am Kopfende des Bettes, wo der Mann, …. zuerst mit dem Gesicht aufliegt, ist dieser kleine Filzstumpf, der leicht so reguliert werden kann, dass er dem Mann gerade in den Mund dringt. Er hat den Zweck, am Schreien und am Zerbeißen der Zunge zu hindern. Natürlich muss der Mann den Filz aufnehmen, da ihm sonst durch den Halsriemen das Genick gebrochen wird… Wie Sie sehen, entspricht die Egge der Form des Menschen; hier ist die Egge für den Oberkörper, hier sind die Eggen für die Beine. Für den Kopf ist nur dieser kleine Stichel bestimmt … Wenn der Mann auf dem Bett liegt und dieses ins Zittern gebracht ist, wird die Egge auf den Körper gesenkt. Sie stellt sich von selbst so ein, dass sie nur knapp mit den Spitzen den Körper berührt; ist die Einstellung vollzogen, strafft sich sofort dieses Stahlseil zu einer Stange. Und nun beginnt das Spiel. Ein Nichteingeweihter merkt äußerlich keinen Unterschied in den Strafen. Die Egge scheint gleichförmig zu arbeiten. Zitternd sticht sie ihre Spitzen in den Körper ein, der überdies vom Bett aus zittert. Um es nun jedem zu ermöglichen, die Ausführung des Urteils zu überprüfen, wurde die Egge aus Glas gemacht. Es hat einige technische Schwierigkeiten verursacht, die Nadeln daran zu befestigen, es ist aber nach vielen Versuchen gelungen…«

Dieser Text findet sich nicht im Jahresbericht der Versicherungsanstalt, sondern in einer Novelle, die davon erzählt, wie ein Forschungsreisender eine Strafkolonie besucht, eine Visitation, wie Kafka sie bei den von ihm betreuten Unternehmen ständig vornahm. Der Reisende wird gebeten, einer Exekution beizuwohnen, die ein Offizier - trotz seiner Jugend bereits Richter und Henker - vornehmen will. Er erklärt dem Reisenden die von dem »alten Kommandanten« entwickelte Maschine10 und das zugehörige archaisch wirkende Verfahren: Wenn jemand gegen ein Gesetz verstößt, wird er ohne Prozessverfahren allein durch den Spruch des Kommandanten dazu verurteilt, sich den Wortlaut des Gesetzes mit Nadeln auf den blutigen Leib schreiben zu lassen11 – was immer zum Tod führt. Die Frage nach der Schuld wird nicht gestellt. Gerade führt man in Ketten einen Delinquent vor, der auf Wache eingeschlafen war und den Offizier, der ihn mit der Peitsche weckte, angefahren hatte: »Wirf die Peitsche weg, oder ich fresse dich«. Nun soll ihm der Satz »Ehre deinen Vorgesetzten« eingraviert werden. Man schnallt ihn auf das Bett, programmiert den »Zeichner«, der den Text des Gesetzes enthält und lässt die »Egge« auf den Rücken des Delinquenten herab, in der gläserne Nadeln eingelassen sind. Die Arbeit dauert Stunden, denn das

Gesetz muss in Fleisch und Blut übergehen: Wer nicht hören will, muss fühlen. Der Offizier erläutert:

»Erst um die sechste Stunde verliert er das Vergnügen am Essen. Ich knie dann gewöhnlich hier nieder und beobachte diese Erscheinung. Der Mann schluckt den letzten Bissen selten, er dreht ihn nur im Mund und speit ihn in die Grube. Ich muß mich dann bücken, sonst fährt er mir ins Gesicht.«

4. Die Kälte der Entscheidung

Kafka war dieser Text so wichtig, dass er ihn – ganz gegen seine Gewohnheiten – bei einem von Max Brod organisierten Vortrag in München am 10. November 1916 dem Urteil des Publikums aussetzen wollte. Dazu musste er wegen der Kriegszeiten einen besonderen Pass beantragen. Sogar seine Verlobte Felice Bauer war aus Berlin angereist. Er wohnte im Bayerischen Hof und hatte nur einen kurzen Weg zur Galerie Neue Kunst Hans Goltz in der Briennerstraße 8. Der Vortrag (anwesend unter anderem: Rainer Maria Rilke) endete im allgemeinen Entsetzen: »… Der gesamte Text besteht in einer verschleppten Folterphantasie: Er ist selbst die Foltermaschine12«. Die Erzählung schildert diese Folter wie eine chirurgische Operation und wirkt dadurch absolut unerträglich. Sie zeigt uns fast in jedem Satz das Werkzeug der Juristen: die latente Ironie, die Kälte des Blicks, die Fähigkeit, die Gefühle völlig von dem abzukoppeln, was in der Realität zu sehen ist. Man hat in dem Reisenden selbst einen grausamen Menschen gesehen, der sich durch sein Nichteingreifen schuldig macht. Aber tatsächlich ist die Fähigkeit zur genauen Betrachtung (ein Buchtitel von Kafkas Novellen) die absolute Voraussetzung für juristisches wie literarisches Arbeiten:

»Vor einer langen Weile hatte er sich fest entschlossen, alles vollkommen genau zu beobachten, damit er nicht irgendwie auf Umwegen, von hinten her, von oben herab überrascht werden können. Jetzt erinnerte er sich wieder an den längst vergessenen Entschluss und vergaß ihn, wie man einen kurzen Faden durch ein Nadelöhr zieht«13.

Diese Fähigkeit ist verbunden mit der diplomatischen Höflichkeit, die Juristen in ihren Berufen lernen, um ihre Aggressionen zu verbergen, auch wenn sie zum Beispiel der Exekution in einer Strafkolonie beiwohnen sollen:

»Der Reisende überlegte: es ist immer bedenklich, in fremde Verhältnisse entscheidend einzugreifen. Er war weder Bürger der Strafkolonie noch Bürger des Staates, den sie angehörte. Wenn er diese Exekution verurteilen oder gar hintertreiben wollte, könnte man ihm sagen: Du bist ein Fremder, sei still… die Ungerechtigkeit des Verfahrens und die Unmenschlichkeit der Exekution war zweifellos….«.

Das sind die taktischen Überlegungen, die jeder Anwalt (Heinrich Heine: Die Bratenwender der Gesetze) in jeder Verhandlungssituation hin - und herzuwenden gewöhnt ist und Kafka hatte seine berufliche Welt auch aus der anwaltlichen Perspektive zu betrachten gelernt. Er hatte ein praktisches Jahr bei einem Anwalt in Prag absolviert, bevor er in die Versicherung wechselte und dort arbeitete er nicht nur inhouse als Assistent der Geschäftsleitung, sondern besuchte gefahrenträchtige Betriebe, repräsentierte dort das »Amt« (eine halbstaatliche Pflichtversicherung) und hatte sich mit Unternehmern wie mit Gewerkschaftlern auseinanderzusetzen. Menschen, die ihm nur auf privater Ebene begegnet sind, haben sich ihn in solchen Rollen gewiss kaum vorstellen können, wenn sie den wortkargen, stillen, stets höflichen Mann beschrieben.

Doch zurück in die Strafkolonie: Die Sonne scheint wie kaltes Bühnenlicht über die einsame Szene. Der Offizier schildert, wie es früher war: Die Leute versammelten sich wie zu einem Volksfest, elegant aufgemachte Damen wedelten mit parfümierten Tüchern, und fütterten das vorbeigeschleppte Opfer mit »Zuckerwerk«, bereit in Ohnmacht zu fallen, wenn es los geht. Ob nicht auch der Forschungsreisende solche Szenen vermisse? :

»Nun, und dann kam die 6. Stunde! …. Oft hockte ich dort, zwei kleine Kinder rechts und links in meinen Armen. Wie nahmen wir alle den Ausdruck der Verklärung von dem gemarterten Gesicht, wie hielten wir unsere Wangen in den Schein dieser endlich erreichten und schon vergehenden Gerechtigkeit! Was für Zeiten, mein Kamerad!«

Der versucht, die Entscheidung zu vermeiden, schwankt zwischen Wahrheit, Höflichkeit und Ekel und ahnt nicht, dass er mit seiner Entschlusslosigkeit14 dem Offizier das Todesurteil spricht. »Das Verfahren hat Sie also nicht überzeugt!« stellt der Offizier lakonisch fest, befreit den Gefangenen und legt sich selbst in die Maschine. Programmiert ist jetzt der Satz: »Sei gerecht«. Diesmal dauert es nicht Stunden, sondern nur Minuten: Die Maschine tätowiert nichts, sie versteht den Text nicht, tötet den Offizier sofort und während sie ihn in die Grube wirft, zerstört sie sich selbst.

5. Ein Lehrstück über die Gerechtigkeit

Kafka Texte sind nicht hermetisch, sie zeigen uns die Welt aus unzähligen – wenn auch nicht leicht dechiffrierbaren – Perspektiven. Dieser Text hat unzählige Interpretationen provoziert. Als erstes enthüllt sich eine Kritik an grausamer Folter15, die der neue Kommandant ebenso wie der Forschungsreisende ablehnen. Auf tieferen Ebenen zeigt der Text das Leben als tödliche Maschine, der wir nicht entrinnen können, als Zeichen der Willkür der Macht, als Bild einer Schreibmaschine, die ihren Autor vernichtet16, als Plädoyer gegen die Todesstrafe, als Vorahnung der Gemetzel der Weltkriege usw. und als Darstellung der Jüngsten Tage des Gerichts.17

All diese Perspektiven haben ihre Berechtigung, aber neben ihnen enthüllt sich der Text als Lehrstück über die Gerechtigkeit. Der Begriff wird in dem Text häufig im Zuge der Beschreibung des alten, archaischen Systems gebraucht, dass er beschreibt. Es hat mit unseren Vorstellungen von Gerechtigkeit nichts zu tun, weil es nicht an einen Schuldbegriff anknüpft18, den man in den frühesten Rechtssystemen tatsächlich nicht findet. Im Verfahren des alten Kommandanten fehlt das »Erkenntnisverfahren«, denn auf die Tat folgt unbewiesen und unbeweisbar sofort das Urteil – es ist ein Standgericht19. Gerechtigkeit so wie wir sie verstehen ist hingegen das Ergebnis eines Verfahrens, sie ist kein Gegenstand, hinter dem man herjagen kann (wie Plato noch gedacht hat20). Nur in einem Verfahren, in dem Rechtsnormen zu Inhalt und Verfahren die notwendige Orientierungshilfe bieten, kann ein konkreter Zustand entstehen, den wir gerecht nennen. Die zahllosen theoretischen Modelle, die sich mit dem Begriff beschäftigen21, kreisen im Kern immer um drei Elemente: Gleichheit, Fairness und Angemessenheit. Sie bilden eine Art Grammatik, aus der sich konkrete – aber nicht beliebige –Wertvorstellungen entwickeln lassen. Im alten wie im neuen System finden wir nur die Gleichheit als Ordnungskriterium. Für Fairness und Angemessenheit fehlen Grammatik und Sprache, denn man kann sie nur gewinnen, wenn man das persönliche Schicksal des Einzelnen in den Blick nimmt. Da »Gerechtigkeit« eine Leerformel ist, kann man auch Ruinen von Systemen als gerecht bezeichnen (wie es im Text immer wieder geschieht), obwohl wir wissen: abstrakte Gerechtigkeit kann nicht definiert oder verstanden werden, nicht einmal durch schmerzhafte Erfahrungen.

Allerdings zeigt uns die archaische Maschine Züge jedes Rechtssystems so, wie es von außen auf uns wirken kann. Man versteht weder ihre Sprache noch wie sie arbeitet, ihr Räderwerk ist nach außen hermetisch abgeschlossen. Kafka empfand jede Art rechtlicher Argumentation als eine Bewegung ins Leere: »Die Schrift ist unveränderlich und die Meinungen sind oft nur ein Ausdruck der Verzweiflung darüber … Richtiges Auffassen einer Sache und Missverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus«, wie es im Proceß heißt22. Nicht der Verstand, nur der Schmerz helfen, das Gesetz zu begreifen:

»Wie still wird dann aber der Mann um die sechste Stunde! Verstand geht dem Blödesten auf. Um die Augen beginnt es. Von hier aus verbreitet es sich. Ein Anblick, der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu legen. Es geschieht ja weiter nichts, der Mann fängt bloß an, die Schrift zu entziffern, er spitzt den Mund, als horche er. Sie haben gesehen, es ist nicht leicht, die Schrift mit den Augen zu entziffern; unser Mann entziffert sie aber mit seinen Wunden. Es ist allerdings viel Arbeit; er braucht sechs Stunden zu ihrer Vollendung. Dann aber spießt ihn die Egge vollständig auf und wirft ihn in die Grube, wo er auf das Blutwasser und die Watte niederklatscht«

Die Erkenntnis, dass die Tat zugleich ein unausweichliches Schicksal ist, findet später statt. Der Delinquent begreift das unter strahlender Sonne vor aller Augen im Verfahren der Folter und die Lust an dieser Erkenntnis überstrahlt jeden Schmerz ….» ein Anblick, der einen verführen könnte, sich mit unter die Egge zu legen«23. Jedes neue Verfahren, das in der Strafkolonie vielleicht eingeführt wird, wird das Gegenteil des alten sein. Es wird heimlich und im Dunkeln stattfinden, und dem Delinquenten diese Einsicht verwehren, so wie Franz Kafka es in seinem – zeitgleich geschriebenen – Roman » Der Process « beschrieben hat. Josef K. stirbt in Scham und Schande am Rand eines Steinbruchs:

»Aber an K.s Gurgel legten sich die Hände des einen Herrn, während der andere das Messer ihm tief ins Herz stieß und zweimal dort drehte. Mit brechenden Augen sah noch K., wie die Herren, nahe vor seinem Gesicht, Wange an Wange aneinandergelehnt, die Entscheidung beobachteten. »Wie ein Hund!« sagte er, es war, als sollte die Scham ihn überleben.«

Ein solches Verfahren lehnt der Offizier ab. Ihm gehen andere Gedanken durch den Kopf: Das Todesurteil mag noch so ungerecht sein (im Process wurde es nicht einmal gesprochen), aber es darf nicht heimlich vollstreckt werden. Gerechtigkeit braucht Öffentlichkeit.[](Im Fragment einer Erzählung vom 22.07.1916 betritt der Scharfrichter nachts die Zelle des Verurteilten. Der schreit ihn an: »Du wirst mich nicht töten, wirst mich nicht auf die Pritsche legen und erstechen. ….kannst (mich) hinrichten auf dem Podium mit Gehilfen und vor Gerichtsbeamten, aber nicht hier in der Zelle ein Mensch den anderen Menschen.« (Tagebücher (Fn. 3), Seite 800).) Der neue Kommandant versteht nicht, dass nur die öffentlich dargestellte Grausamkeit der Maschine dem Delinquenten die Erkenntnis verschafft, wie unausweichlich für ihn dieses Urteil war und ihm so die Würde zurückgibt, die er durch die Tat verliert.

»Erkenne Dich selbst bedeutet nicht: Beobachte Dich. Beobachte Dich ist das Wort der Schlange. Es bedeutet: Mache Dich zum Herrn Deiner Handlungen. Nun bist Du es aber schon, bist Herr deiner Handlungen. Das Wort bedeutet also: Verkenne dich! Zerstöre dich! Also etwas Böses und nur wenn man sich sehr tief hinabbeugt, hört man auch sein Gutes, welches lautet: »Um Dich zu dem zu machen, der Du bist«.24

Als der Offizier begreift, dass der Forschungsreisende das alte System nicht unterstützen wird, geht er selbst den Weg der Wahrheit, der ihn vernichten wird und wird so zum Helden der Geschichte. Er entnimmt einer Ledermappe ein bisher noch nie benutztes Blatt. Auf ihm steht kein konkreter Gesetzestext mehr, sondern die abstrakte Leerformel: »Sei gerecht«25. Er programmiert diesen Text und fesselt sich selbst an die Maschine. Sie kann zwar Gesetze interpretieren, weiß aber nicht, was mit diesen Begriff gemeint sein soll – sie versucht gar nicht erst die Formel zu »schreiben«, sondern tötet den Offizier sofort und zerstört sich selbst. » Der Reisende musste gewaltsam das ihn überkommene Gefühl abwehren, dass in diesem Fall eine vollkommene Ordnung geschaffen sei« – diesen Satz, der für das Ende der Erzählung geplant war (und sich in den Tagebüchern findet26), hat Kafka verworfen. Allein durch Mord und Selbstmord konnte keine Gerechtigkeit erreicht werden.

6. Computer sorgen für Gerechtigkeit

Die Urteilsmaschine war ein Computer. Seit einiger Zeit diskutieren wir über die Frage, ob demnächst Computermaschinen und die Software, die sie steuern, statt der Menschen für Gerechtigkeit sorgen werden. Ob Maschinen, die zwar logisch arbeiten, aber keine Gefühle entwickeln können (die für menschliche Entscheidungen unabdingbar sind27), zu vergleichbaren Ergebnissen kommen, wissen wir noch nicht (vielleicht kann man Gefühle mit bestimmten statistisch gesteuerten Algorithmen simulieren?). Von den Antworten auf diese Frage wird es abhängen, ob in unseren Urteilen Gerechtigkeit oder nur Scham und Schande zum Ausdruck kommen. Wie tragisch, dass sich auch in der entsetzlichen Maschine, die der alte Kommandant entwickelt hat, Elemente finden, die im System der Gerechtigkeit unverzichtbar sind. Tagtäglich erreichen wir sie auch ohne Rechtsnormen (wir orientieren uns ständig am Schatten des Rechts), häufig durch Verständnis und Kooperation, selten durch Verstehen und Zögern und manchmal nur mit klaren Texten, Öffentlichkeit und Gewalt.

  • *. Überarbeitete und erweiterte Zweitfassung. Erstveröffentlichung: NJW 2019, 721.
  • 1. Grabinschrift von William Butler Yeats (1865-1939) aus seinem Gedicht: »Under Ben Bulben«.
  • 2. Franz Kafka (1883 – 1924). Syndikusanwalt in der Arbeiter-Unterfall-Versicherung für das Königreich Böhmen (Prag) und Assistent der Geschäftsführung, zuständig für die Definition von Gefahrenklassen und jährlich beauftragt mit der Erstellung der Bilanzberichte.
  • 3. Tagebücher in der Fassung der Handschrift, herausgegeben von Hans Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Paisely, S. Fischer 1990, Seite 854 ff (15.02.1920). Kafka hat später hin und wieder mit Freude in einer Schreinerwerkstatt gearbeitet, um auf andere Gedanken zu kommen.
  • 4. Franz Kafka: Tagebücher (FN 2) vom 15.12.1910, Seite 130.
  • 5. Maria Luise Caputo-Mayr /‎ Julius M. Herz (Hrsg.) Franz Kafka, Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur1908-1997, 2. Aufl., de Gruyter, 2002.
  • 6. Die Kafka-Biographie in drei Bänden: Limitierte Gesamtausgabe. Mit dem Zusatzband »Kafka von Tag zu Tag« und einem Plan von Prag. S. Fischer 2017.
  • 7. Franz Kafka, In der Strafkolonie, Die Erzählungen, nach der kritischen Kafka Ausgabe des S. Fischer Verlages, Artemis und Winkler 2008, S. 142 ff. im Projekt Gutenberg: http://gutenberg.spiegel.de/buch/in-der-strafkolonie-9766/1. Geschrieben: Oktober 1914, gelesen in München: November 1917, veröffentlicht in Berlin: 1919.
  • 8. Brief an seinen Verleger Kurt Wolff vom 4. September 1917, Briefe 1914-1917 (herausgegeben von Hans Gerd Koch), S. Fischer 2005, Seite 311/312.
  • 9. Franz Kafka, Amtliche Schriften (Herausgeber Klaus Hermsdorf und Benno Wagner) S. Fischer Verlag 2004, S. 195.
  • 10. Die Kafka Forschung hat den Zusammenhang zwischen der Novelle und der beruflichen Tätigkeit Kafkas in der Versicherung schon früh gesehen, so etwa Klaus Wagenbach: In der Strafkolonie: Eine Geschichte aus dem Jahre 1914; mit Quellen, Abbildungen, Materialien aus der Arbeiter-Unfall-Versicherungsanstalt, Wagenbach 1975. Eine Inspiration für diese Maschine war vermutlich der Parlograph, das 1913 von der schwedischen Carl Lindström AG entwickelte, weltweit erste Diktiergerät. Die gesprochenen Texte wurde mit Nadeln und Stachelwalzen in eine Wachs-Schallplatte einritzt. (Abbildungen siehe Stichwort »Parlograph« bei wikipedia. Felice Bauer, Kafkas Verlobte war Vertriebsbeauftragte der Berliner Niederlassung.
  • 11. Die Zeichnungen werden von Hand in das Räderwerk umgesetzt. Kafka kannte bereits moderneren Methoden (Die Steuerung von Maschinen mit Lochkarten – die Vorläufer unserer heutigen Computer) aus den Industrieunternehmen, die er laufend besuchte (Seidenwebstühle:Joseph-Marie Jacquard 1808, Rechenmaschinen: Charles Babbage 1837, Tabelliermaschinen: Hermann Hollerith (1890).
  • 12. Karl-Heinz Bohrer: Imagination des Bösen, Edition Akzente Hanser 2004 Seite 206 ff.
  • 13. Franz Kafka: Das Urteil, Die Erzählungen, Artemis und Winkler 2008 Seite 31, (42).
  • 14. Kafka hat sich im Forschungsreisenden selbst porträtiert: »Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt« (Tagebuch 24.01.1922, (Fn. 3) Seite 888.
  • 15. Dieter Baldauf: Die Folter, Böhlau 2004; Wolfgang Schild: Die Geschichte der Gerichtsbarkeit – 1000 Jahre Grausamkeit, Callwey 1980/Nikol-Verlag 2003 (mit Bildern). Noch eindrücklicher sind die Bildstrecken bei Google unter dem Stichwort »Foltermethoden«.
  • 16. Das Leben wird dem Schreiben geopfert: » Es handelt sich … um eine die Kunst selbst, den Künstler und den künstlerischen Akt kommentierende Gewaltphantasie: die sadistische Phantasie als Metapher der schriftstellerischen Existenz, wie sie schon von Baudelaire und Nietzsche vorgedacht worden ist.« (Karl-Heinz Bohrer: Literatur oder Wirklichkeit, Merkur 2006, Seite 425 (430).
  • 17. Peter Höfle, Franz Kafka, in der Strafkolonie Text und Kommentar, Suhrkamp 2006. Peter – André Alt: Franz Kafka, C.H. Beck 2. Aufl. 2008 Seite 475 ff.; Maria Luise Caputo-Mayr /‎ Julius M. Herz (Hrsg.)Franz Kafka, Internationale Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur1908-1997, 2. Aufl., de Gruyter, 2002. Manfred Voigts: Geburt und Teufelsdienst. Franz Kafka als Schriftsteller und als Jude. Königshausen & Neumann, Würzburg 2008..Kurt Tucholsky besprach die Novelle am 3.06.1920 in der Weltbühne.
  • 18. Otto Edzard Dietz : Sumerische Rechtsurkunden des III. Jahrtausends, München 1968.
  • 19. So absurd rechtswidrig wie dieses Verfahren auch 1914 bereits erscheint, dürfen wir nicht vergessen, dass das Standgericht in der Militärjustiz seit der Antike einen selbstverständlichen Platz hatte. Es wurde erst im Zug der Aufklärung abgeschafft (s. etwa Stefan Schwenke: Hessen – kasselisches Militärstrafrecht vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zum Jahre 1780, Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte (ZHG) Bd. 113 (2008), Seite 125-134.
  • 20. Der Staat (Politeia) IV 433a, später zitiert bei Cicero, De legibus 1, 6 19.
  • 21. Übersicht: Rüthers/Fischer/Birk: Rechtstheorie, C.H. Beck 10. Aufl. 2018; Kap. III; Arthur Kaufmann: Rechtsphilosophie C.H. Beck 1997 Kap. 9-11; John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971), Suhrkamp 1979; Dietmar von der Pfordten: Rechtsethik 2. Aufl. 2011 Seite 231 ff; Benno Heussen: Die Ur-Grammatik des Rechts, RphZ 3/2018, 294 - 322.
  • 22. Gesammelte Werke S. Fischer 1960 Seite 259 – das Gespräch mit dem Geistlichen.
  • 23. Kafkas Gedanken kreisen in seinem Werk (auch Tagebüchern und Briefen) so unerbittlich um das Thema Tod und Selbstmord, dass diese Bemerkung nicht überraschen kann. Aber er hatte verstanden, dass es keine Erkenntnis gab, für die es sich hätte lohnen können, sich zu opfern.
  • 24. Franz Kafka: Notiz im Oktav –Heft (G) vom 23.10.1917, Nachgelassene Schriften und Fragmente in der Fassung der Handschriften, Bd. II, S. Fischer 1992, Seite 42.
  • 25. Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit? (1953), Nachdruck: Reclam 2000, S. 32 ff, zeigt das für viele der bekannten allgemeinen Gerechtigkeitsbegriffe.
  • 26. Tagebücher (Fn. 3), S. 825.
  • 27. Benno Heussen: Libet, Rizzolatti, Haidt – der Anteil des Unbewussten an rechtlichen Entscheidungen, RPhZ, 2017 Heft 3, S. 275-284.
Literaturverzeichnis
Zitierte Literatur: 
  • Siehe Fußnoten.