Im Maelstrom der Argumente – Juristischer Denkstil in Kafkas Prosa

*In Franz Kafkas literarischem Werk dreht sich alles um ein einziges – allerdings sehr großes – Thema: Die Wahrheit; und weil er als Jurist täglich mit Rechtsfragen zu tun hatte, verknüpfte er dieses Thema in vielen Texten mit der Frage nach der Gerechtigkeit. Sie stand tagtäglich im Zentrum fast jeden Problems, mit dem Kafka sich als Versicherungsjurist zu beschäftigen hatte: War der Unfall wirklich so geschehen, wie geschildert? Wer hat ihn verursacht, wer verschuldet? Sind die Beurteilungen der Ärzte richtig oder müssen sie von Fachärzten überprüft werden? Zu welchen Renten führt das Ereignis? Vor Klärung all dieser Tatsachen können die Ermessensspielräume, die in jeder Norm stecken, nicht ausgefüllt werden. Aus der jahrelangen praktischen Tätigkeit entwickelt sich so der juristische Denkstil, den wir in zahllosen beruflich veranlassten Texten finden, die Kafka geschrieben hat1.

Kafka schrieb – vor allem in seinen kleineren Texten – poetisch, er entwickelte fantastische Bilder (»Kübelreiter«), aber die großen Versuche (»Proceß«, »Das Schloss«, »In der Strafkolonie«) sind von diesem juristischen Denkstil stark beeinflusst. Das »Schloss«2 ist in wenigen Monaten vom Januar 1922 bis Juli 1922 entstanden, kurz nachdem er wegen seiner Tuberkulose unheilbar erkrankt aus dem Dienst ausgeschieden war (er starb 1924 mit 41 Jahren).

Wieder einmal nennt Kafka seinen Helden K., und lässt ihn zu später Stunde in einem tief verschneiten Dorf ankommen, das am Fuß eines Schlossberges liegt und im ganzen Jahr nur wenige Tage Frühling und Sommer kennt. Hat ihn ein »Graf Westwest« gerufen, der Herrscher, den niemand im Dorf je gesehen hat und dessen Namen vor den Ohren von Kindern auszusprechen offenbar eine Obszönität ist? Das wird bestritten, aber halbherzig, vielleicht hat Abteilung A sich in diesem Sinne geäußert, dabei aber gegen Kompetenzregeln der Abteilung B verstoßen, vielleicht wurde die Korrespondenz fehlgeleitet, vielleicht die Akten falsch beschriftet? Kafka liefert uns hier Momentaufnahmen aus den langen Amtswegen der Bürokratie, die er nicht nur aus beruflicher Praxis, sondern auch als Teilhaber eines kleinen Asbestwerks kannte3.

Im »Brückenhof« will man K. kein Zimmer geben, also holt er sich einen Strohsack vom Dachboden und legt sich neben den Ofen. Kurz danach wird er von »Schwarzer« geweckt, einem Hilfslehrer, der offenbar Beziehungen zum Schloss hat und sich verpflichtet sieht, mitten in der Nacht im Schloss anzurufen, um zu klären, ob man dort wirklich einen Landvermesser bestellt habe. Zu aller Erstaunen wird das bestätigt, aber in den nächsten Tagen und Wochen will niemand mehr für dieses Telefonat zuständig gewesen sein. In fernen Ländern hat K. sich von Frau und Kind befreit, denn »… dieses ganze Fieber, das mir den Kopf Tag und Nacht heizt, stammt von Unfreiheit«4 – und jetzt hängt er in der Luft. »Ich will frei sein« ruft er, aber das ist ein Ruf ins Leere, denn wo gibt es Freiheit in diesem gottverlassenen schneebedeckten Dorf, in dem niemand ihn haben will? »Alles, was wir waren und hatten, traf die gleiche Verachtung« (S. 280). Vorläufige Aufenthaltsgenehmigung: offenbar ja, Arbeitsgenehmigung: Nein, aber eine unbezahlte Arbeit als Schuldiener scheint möglich, wenn K. bereit ist, in der Turnhalle zu schlafen. Warum lässt K. nicht locker? Was will er in Dorf und Schloss? Was bedeuten diese Metaphern? Die Antwort ergibt sich aus einer kleinen Tagebuchnotiz vom 6. August 19145:

»Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern (sic) Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt und es ist in einer schrecklichen Weise verkümmert und hört nicht auf zu verkümmern. Nichts anderes kann mich jemals zufrieden stellen…. Andere schwanken auch, aber in untern (sic) Gegenden, mit stärkeren Kräften; drohen sie zu fallen, so fängt sie der Verwandte auf, der zu diesem Zweck neben ihnen geht. Ich aber schwanke dort oben, es ist leider kein Tod, aber die ewigen Qualen des Sterbens«

In dem Romanfragment »Schloss« soll sich – wie in Kafkas anderen Texten – dieser Anspruch verwirklichen. Es geht also nicht, wie in vielen anderen Interpretationen zu lesen ist, um eine Kritik an der ineffizienten, willkürlichen und anmaßenden Bürokratie, es geht auch nicht um abstrakte philosophische Fragen, es geht um eine Darstellung der Innenwelt des Autors, der um diese Fragen ringt. Diese Innenwelt ist eisig, vom Schnee verweht, unzugänglich. In den rauchverhangenen Räumen brennt nur trübes unbarmherziges Licht – das sind die poetischen Bilder, die in einem auffälligen Kontrast zu dem Berichtsstil stehen, der die Handlung vorantreibt:

»… Ein Schuldiener ist für die Lehrerschaft, und gar für einen Lehrer von Schwarzers Art, eine sehr wichtige Person, die man nicht ungestraft missachten darf, und der man die Missachtung, wenn man aus Standesinteressen auf sie nicht verzichten kann, zumindest mit entsprechender Gegengabe erträglich machen muss. K. wollte bei Gelegenheit daran denken, auch war Schwarzer bei ihm noch vom ersten Abend her in Schuld, die dadurch nicht kleiner geworden war, dass die nächsten Tage dem Empfang Schwarzers eigentlich recht gegeben hatten. Denn es war dabei nicht zu vergessen, dass der Empfang vielleicht allem folgenden die Richtung gegeben hatte. Durch Schwarzer war ganz unsinnigerweise gleich in der ersten Stunde die volle Aufmerksamkeit der Behörden auf K. gelenkt worden, als er, noch völlig fremd im Dorf, ohne Bekannte, ohne Zuflucht, übermüdet vom Marsch, ganz hilflos, wie er dort auf dem Strohsack lag, jedem behördlichen Zugriff ausgeliefert war. … Man konnte freilich von anderer Seite her auch sagen, dass K. diesem Verhalten Schwarzers sehr viel verdanke. Nur dadurch war etwas möglich geworden, was K. allein niemals erreicht, nie zu erreichen gewagt hätte und was auch ihrerseits die Behörde kaum je zugegeben hätte, dass er nämlich von allem Anfang an, ohne Winkelzüge, offen, Aug in Aug, der Behörde entgegentrat, soweit dies bei ihr überhaupt möglich war. Aber das war ein schlimmes Geschenk, es ersparte zwar K. viel Lüge und Heimlichtuerei, es machte ihn auch fast wehrlos, benachteiligte ihn jedenfalls im Kampf und hätte ihn im Hinblick darauf verzweifelt machen können, wenn er sich nicht hätte sagen müssen, dass der Machtunterschied zwischen der Behörde und ihm so ungeheuerlich war, dass alle Lüge und List, der er fähig gewesen wäre, den Unterschied nicht wesentlich zu seinen Gunsten hätte herabdrücken können… (S. 219)«.

Und so geht es weiter in einem unendlichen Regress. Man muss durchhalten, um so einen Text zu ertragen. Jedes Wort, jeder Begriff wird in seine Einzelteile zerlegt, seine theoretischen und praktischen Gegenstücke begutachtet, sie alle werden bis auf die Buchstaben (K.!) zerschlagen, zermahlen, neu zusammengefügt und wieder dekonstruiert. Zu später Stunde versinkt man im Strudel dieses Denkens genauso wie K., der mitten in einem vergleichbaren Monolog des Beamten Bürgel auf dessen breitem Bett einnickt und sich gerade noch am Bettgestell halten kann. Ein schräges Kompliment für den Autor: Der beste Beweis für die Wirksamkeit eines Textes, der von der Hoffnungslosigkeit handelt, ist es, wenn auch der Leser die Hoffnung verliert (bei Kleist fallen die Helden in kritischen Situationen in Ohnmacht).

Geht es dem Richter bei juristischen Schriftsätzen nicht in vielen Fällen ganz ähnlich? Der Kläger trägt aus seiner Perspektive vor, der Beklagte aus der seinen, es folgen die Dupliken, die Repliken, die Tripliken, die Quadrupliken (für die nachfolgenden Schriftsätze, die vermutlich Quintipliken oder Sexpliken usw. heißen könnten, hat man sich besondere Begriffe erspart); Streitverkündete treten in die Arena, Politiker melden sich als amici curiae, die Sachverständigen kämpfen gegeneinander; immer wird das nach kurzer Zeit leer gedroschene Stroh von neuem aufgewühlt und immer noch findet jemand ein verlorenes Korn und schreibt seitenweise darüber, dass der Fall jetzt aus völlig neuer Perspektive betrachtet und entschieden werden muss.

Diese Denkstile sind in der Hermeneutik des Mittelalters entwickelt worden, deren Wurzeln sich in den frühesten Anfängen rhetorischer und besonders sophistischer Widerlegungstechniken finden und in die mittelalterliche Scholastik (Thomas von Aquin) münden. Parallel dazu entwickelt sich eine jüdische Scholastik aus ihren eigenen – auch auf Platon und Aristoteles zurückgehenden Denkstilen: Solomon Ibn Gabirol (oder latinisiert: Avicebron (1021–1070) und Maimonides (1135-1204) stützen sich zusätzlich auf die in Babylon seit etwa 200 n.Chr. entstandenen Auslegungsregeln der jüdischen Tora (7-32 Midhot)6 mit hermeneutischen Werkzeugen, die dazu geschliffen werden, das Erlaubte vom Verbotenen zu unterscheiden (»Eines hat Gott gesagt – zweierlei hörte ich«). Beide Quellen wirken dann auf rechtliche Auslegungstechniken ein, die im Rahmen der Rezeption der alten römischen Rechtstexte verwendet und wissenschaftlich in den jetzt entstehenden Rechtsfakultäten zuerst in Bologna (1088), dann in Paris (1200) durchgearbeitet werden.

Die zentrale Fähigkeit dieses Denkens besteht darin, Widersprüche zu artikulieren und auszuhalten, ein Denken, das nicht nur in der Welt des Rechts, sondern auch in der jüdischen Kultur – vor allem der Literatur – geradezu selbstverständlich verankert ist. Auf ihr beruhen die Besonderheiten des jüdischen Witzes und die Brillanz ihrer politischen und literarischen Kritik (Heinrich Heine, Karl Kraus, Kurt Tucholsky u.a.). Vielleicht hat Kafka diese Denkstile nicht in der Synagoge7 (Shul) kennengelernt, die er selten besuchte, aber es ist gewiss kein Zufall, dass K. in »Schwarzer« der ersten Person des Dorfes, die mit ihm spricht, einen Hilfslehrer antrifft und ihm Arbeit als Schuldiener zugewiesen wird. Man lässt den Landvermesser nicht das Land vermessen, er darf die Wahrheit nicht überprüfen, bevor er nicht selbst überprüft wurde und die Regeln gelernt hat – und diese Prüfungen finden kein Ende. Je öffentlicher ein Verfahren, umso geringer die Chancen einer Entscheidung, Bestechungsgelder werden von den Parteien beiläufig angenommen, damit sie das Gefühl bekommen, nichts versäumt zu haben, vor allem von Beamten, die auf die Entscheidung des Falles gar keinen Einfluss nehmen können. Nur informell kann man (vielleicht) etwas erreichen. Alles Warten ist vergeblich, ein Motiv, das dass wir schon aus der Novelle »Vor dem Gesetz« kennen, denn: »Amtliche Entscheidungen sind scheu wie junge Mädchen« (S. 230).

Anders im Rechtssystem. Behörden und Gerichte sind zur Entscheidung verpflichtet. Wir erkennen, wie unverzichtbar der in unseren modernen Prozessordnungen festgeschriebene Grundsatz ist: Das Gericht oder die Behörde müssen in angemessener Zeit entscheiden (§ 198 GVG8; § 75 VwGO)! Das gelingt nicht einmal den Gerichten immer9. Gewiss kannte Kafka Goethes Berichte aus seiner Referendarzeit beim Reichskammergericht (1772)10, die unter anderem davon handeln, dass viele Parteien längst verstorben sind, bevor ein Urteil ergeht und wollte uns wissen lassen: Da hat sich nichts geändert. Und wenn wir heute im modernen Rechtsstaat unseren rechtlichen Umgang mit den Fremden analysieren, müssen wir uns sagen: Nur manchmal überwinden wir diese Probleme besser als damals, denn auch die Welt des Rechts zeigt sich dem Außenstehenden immer wieder in der Undurchschaubarkeit der Strukturen. Auch hier stoßen wir auf eine »sonderbare Form von Beredsamkeit, die mit analytischer Genauigkeit ins Dunkle führt«11.

Diesen Denkstil finden wir allzu oft in juristischen Dokumenten, in der Literatur entwickelt er eine andere Funktion: Hier geht es nicht nur um Kritik an Ämtern und Behörden, die verrottete Justiz bildet – wie im »Proceß« – nur den Hintergrund der viel tiefer liegenden und widersprüchlichen Wahrheit, dass die Gerechtigkeit die Macht nicht nur begrenzt, sondern in ihrer Ordnungsfunktion auch ihre Stütze ist. Die Gesetze kennen wir, aber die Regeln der Macht sind in ihnen stets doppelgesichtig abgebildet. Auch wenn wir ihre Fußspuren im Schnee erkennen, können wir sie niemals nur nach einer Seite interpretieren. Im »Schloss« befinden wir uns weit außerhalb rechtlicher Prozessstrukturen. Dort wird mit verteilten Rollen gespielt, hier muss K. selbst alle Rollen übernehmen. Er ist der Verdächtige, der vielleicht bald Angeklagte, der demnächst Vertriebene – und gleichzeitig soll er, um sein Ziel zu erreichen mit dem Kopf des Anklägers, des Verteidigers, der Behörde, der Staatsanwälte denken. Er schwankt pausenlos zwischen Selbstanklagen und Schuldzuweisungen gegenüber anderen und weil er keine Chance hat, die Tatsachen wirklich aufzuklären, bewegt er sich in Nacht und Nebel ohne die geringste Chance der Aufklärung – und am Ende soll er noch als Richter über sich selbst entscheiden!

Kafka hat in der »Strafkolonie« die Gerechtigkeit in ihrer einfachsten Form, der Gewalt abgebildet. Dort gab es ein Standgericht, das nicht nach Schuld und Sühne fragte, sondern jedem Täter das Gesetz auf den Rücken schrieb und ihn dabei umbrachte. Im »Schloss« zeigt Kafka uns die subtileren Formen der Macht, die sich in der Zerstörung der Zusammenhänge von Zufall und Notwendigkeit, im Nichthandeln, in der Verweigerung der Kommunikation offenbaren. In beiden Fällen hat die Gerechtigkeit wenig Chancen, sich zu verwirklichen. Was immer jemand, der die Freiheit sucht, in diesem Szenario tun oder lassen kann, verstößt gegen irgendeine im Müllhaufen der Normen versteckte Regel. Ständig macht K. etwas falsch, aber alle anderen machen alles richtig, gleichgültig, wie sie sich verhalten: Die Beamten des Schlosses, »Herren«, die unten im Dorf im »Herrenhof« logieren, rufen sich jedes beliebige Mädchen aus dem Dorf ins Bett und ihre Knechte lassen sie »im Stall« von Prostituierten versorgen! K. führt unzählige Gespräche mit den Wirtsleuten, den Handwerkern, den Dienern, den Sekretären – ja sogar Beamte schildern freimütig den Weg der Entscheidungen, der Akten, der Personalpolitik:

»Es gibt natürlich unter den Sekretären Fleißige und minder Fleißige, wie überall; aber über allzu große Anstrengung klagt niemand von ihnen, gar öffentlich nicht. Es ist das einfach nicht unsere Art. Wir kennen in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen gewöhnlicher Zeit und Arbeitszeit. Solche Unterscheidungen sind uns fremd. Was also haben aber dann die Sekretäre gegen die Nachtverhöre? Ist es etwaige Rücksicht auf die Parteien? Nein, nein, das ist es auch nicht. Gegen die Parteien sind die Sekretäre rücksichtslos, allerdings nicht das Geringste rücksichtsloser als gegen sich selbst, sondern nur genauso rücksichtslos. Eigentlich ist ja diese Rücksichtslosigkeit nichts als eiserne Befolgung und Durchführung des Dienstes, die größte Rücksichtnahme, welche sich die Parteien nur wünschen könnten. Dies wird auch im Grunde – ein oberflächlicher Beobachter merkt das freilich nicht – völlig anerkannt…« (S. 344).

Die Beamten arbeiten oft zur Nachtzeit, meist liegen sie dabei im Bett (eine unwiderlegbare Geste der Macht, die die absolutistischen Könige erfanden) und schlafen mitten in den »Verhören« ein, die sie da veranstalten – ungeachtet des Lärms der zahllosen Aktenwagen, die auf den Korridoren an ihren Zimmern vorbei rattern, während die Diener sich die Aktenzeichen zurufen (S. 364). Über allem schwebt das Motto »nicht der Fall wird bewegt, sondern die Akten«, von Entscheidungen oder dem Abschluss einer Sache weiß niemand etwas und will es auch nicht wissen.

K. schwankt zwischen Müdigkeit und Schlaflosigkeit und versucht mit bewundernswertem Eigensinn (der auch Kafka auszeichnete) das Regelwerk zu verstehen, dem Schloss und Dorf unterliegen.

Dabei will er sich nur an der Wahrhaftigkeit orientieren, was voraussetzt, dass jeder einzelne Gedanke von allen Seiten her beleuchtet wird:

»… denn endgiltig durch Aufschreiben fixiert, dürfte eine Selbsterkenntnis nur dann werden, wenn dies in größter Vollständigkeit bis in alle nebensächlichen Konsequenzen hinein sowie mit gänzlicher Wahrhaftigkeit geschehen könnte. Denn geschieht dies nicht – und ich bin dessen jedenfalls nicht fähig – dann ersetzt das Aufgeschriebene nach eigener Absicht und mit der Übermacht des Fixierten das bloß allgemein Gefühlte nur in der Weise, dass das richtige Gefühl schwindet, während die Wertlosigkeit des Notierten zu spät erkannt wird.«12

Der Hauptgrund, warum die Sekundärliteratur zu Kafkas Werk sich immer noch geradezu unendlich vermehrt13, liegt darin, dass man in diesem Vexierspiegel wirklich alles sehen kann. »Das Schloss« öffnet sich jeder Deutung, denn der Text bricht am Ende einfach ab. Dieser Schluss überzeugt durch seine Form, die den Inhalt gerade dadurch verständlich macht, dass sie an dieser Stelle zerbrochen ist. Die unzähligen Versuche, das unlösbare Problem zu lösen, hat auch den Autor gebrochen, und nun sitzt er wie ein Krüppel vor dem Schreibtisch, getragen nur von der Gewissheit, dass er nie aufhören wird, es wieder zu versuchen: Die richtige Form zu finden, um der Welt zu sagen, was er leide.

Im »Proceß« hat Kafka am Ende seinen Helden umbringen lassen, um ihn loszuwerden. In diesem letzten Fragment hat er die bessere Lösung gefunden: Das Problem hat sich durch die Beschreibung seiner Komplexität erledigt: Wer versucht, auch nur das einfachste Gerechtigkeitsproblem, dem er sich gegenübersieht, aus allen denkbaren Perspektiven zu betrachten und zu analysieren, wird am Ende in einem riesigen Strudel der Worte zermahlen.

  • *. Eine gekürzte Version wurde veröffentlicht in: Neue Juristische Wochenschrift, 2022, Heft 11, S. 751-754.
  • 1. Klaus Hermsdorf: Hochlöblicher Verwaltungsausschuß. Amtliche Schriften. Luchterhand, 1991, ISBN 3-630-61971-1.
  • 2. Hier zitiert nach der von Max Brod besorgten Ausgabe bei S. Fischer (1946).
  • 3. Reiner Stach hat herausgefunden, dass Kafka im September 1922 vom Prager Steueramt aufgefordert wurde, sich über die Kapitaleinlagen des »Asbestwerks« zu erklären. Das tat er – unter Angabe des Az. Rp 38/21 – sofort und erhielt drei Tage später die Mitteilung, man könne mit seinem Brief nichts anfangen, auch das Aktenzeichen sei nicht bekannt. Doch dauerte es nur einen Monat, bis das Steueramt sich beschwerte, der erste Brief sei unbeantwortet geblieben und ihm eine Ordnungsstrafe der Finanzbezirksdirektion Prag androhte. (Kafka, Die Jahre der Erkenntnis, S. Fischer 2008, Seite 486 f).
  • 4. Brief an Felice Bauer Mitte Februar 1916.
  • 5. Kafka: Tagebücher in der Fassung der Handschrift, hrsg. von Hans Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, S. Fischer 1990, Seite 546.
  • 6. https://www.hagalil.com/judentum/torah/midot.htm
  • 7. Schulunterricht ist religiöser Unterricht und er besteht seit seinen frühesten Anfängen aus Rede und Gegenrede, Argument und Widerlegung – Günter Stemberger: Der Talmud, C.H. Beck 5. Aufl. 2019 Seite 21 und die Auslegungsbeispiele dazu S. 96 ff.
  • 8. 22 Jahre für eine Entscheidung erster Instanz sind zu lang: BVerfG Beschluss vom 30.07.2009 - 1 BvR 2662/06, NJW-RR 2010, 207.
  • 9. Das längste Verfahren aus meiner Praxis begann 2005 und ist noch heute in der ersten Instanz nicht beendet.
  • 10. Dichtung und Wahrheit, Hamburger Ausgabe Bd. IX, C.H. Beck 10. Aufl. 1982 Seite 524 ff. (529, RZ 25).
  • 11. Reiner Stach: Kafka, Die Jahre der Erkenntnis, S. Fischer 2008 Seite 178.
  • 12. Kafka: Tagebuch vom 12.01.1911, ebda, Seite 143.
  • 13. https://de.wikipedia.org/wiki/Das_Schloss#Sekund%C3%A4rliteratur Die Deutsche Nationalbibliothek liefert 510 Nachweise zum »Schloss« – und das ist nur die Spitze des wissenschaftlichen Eisbergs.
Literaturverzeichnis
Zitierte Literatur: 
  • Siehe Fußnoten.