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§ 94 LVwVfG - Pflichten der Gemeinden gegenüber den Bürgern (Kommentar)

(1) ¹Die Gemeinden sind im Rahmen ihrer Verwaltungskraft ihren Einwohnern bei der Einleitung von Verwaltungsverfahren behilflich, auch wenn für deren Durchführung eine andere Behörde zuständig ist. ²Zur Rechtsberatung sind die Gemeinden nicht verpflichtet.

(2) Die Gemeinden haben Vordrucke aller Art, die ihnen von anderen Behörden überlassen werden, bereitzuhalten.

(3) ¹Die Gemeinden haben Anzeigen, Anträge und Erklärungen, die beim Landratsamt oder beim Regierungspräsidium einzureichen sind, entgegenzunehmen und unverzüglich an diese Behörden weiterzuleiten. ²Die Einreichung bei der Gemeinde gilt als bei der zuständigen Behörde vorgenommen, soweit Bundesrecht nicht entgegensteht.

1. Zweck

Die Vorschrift ist als kodifizierte Bürgerfreundlichkeit zu verstehen. Die rechtliche Perspektive aus der die Vorschrift gesehen werden muss ist jene der (tatsächlichen) Leistungsverwaltung. In landesverfassungsrechtlicher Hinsicht besteht ein Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 2, 69, 77 Abs. 2 LV. Im Hinblick auf das Grundgesetz besteht ein Zusammenhang zum sozialen Rechtsstaat (Art. 20 Abs. 1, Abs. 3 GG). Auf der Ebene des Europarechts ist Art. 41 GrCH eine ähnliche Vorschrift. Landesgesetzlich ist die Vorschrift im Zusammenhang mit § 25 Abs. 1, Abs. 2 LVwVfG zu verstehen.

Die Vorschrift zielt darauf ab, dass die Gemeinden für deren Einwohner quasi als Eingangstor zu den staatlichen Behörden fungieren. Somit normiert die Vorschrift gleichzeitig aus Sicht der Gemeindeeinwohner eine Verwaltung der kurzen Wege. In psychologischer Hinsicht soll mit der Vorschrift erreicht werden, dass es sich insbesondere bei der Gemeindeverwaltung – unabhängig davon, welche Größe die Gemeinde hat – um eine nahbare Verwaltung handelt.

Eine Aufweichung sachlicher und örtlicher Zuständigkeiten findet durch die Vorschrift aber nicht statt, da lediglich, aber immerhin eine Hilfeleistungspflicht normiert wird.

Speziell einklagbare subjektiv-öffentliche Rechte enthält die Vorschrift nicht. Das folgt bereits daraus, dass sich die Hilfeleistungspflicht nur auf die Einleitung von Verwaltungsverfahren bezieht, nicht hingegen auf das spätere Verwaltungsverfahren oder eine Sachentscheidung. Da die Vorschrift in der Überschrift von einer gemeindlichen Pflicht ausgeht, ist damit aber jedenfalls mehr als eine bloße Obliegenheit normiert.

2. Absatz 1

Satz 1 enthält eine Einschränkung der Hilfeleistungspflicht in doppelter Hinsicht. Einerseits stellt der Rechtssatz die Verpflichtung der Gemeinde nur im Zusammenhang mit ihren eigenen Einwohnern im Sinne des § 10 GemO BW auf. Andererseits nimmt die Vorschrift auf die eigene Verwaltungskraft der Gemeinde Bezug und relativiert die Hilfeleistungspflicht auch vor dem Hintergrund. So kann das Hilfeleistungsprogramm einer Gemeinde umso eingeschränkter sein, je weniger personelle und finanzielle Mittel die Gemeinde hat. Außerdem ist die Hilfeleistungspflicht selbst als relativ anzusehen, da Hilfe nicht jedem Gemeindeeinwohner zukommen muss, sondern nur jenen, welche tatsächlich auch auf Hilfe angewiesen sind.

Satz 2 hat einen starken Zusammenhang mit dem Auskunftsrecht in § 25 Abs. 1 S. 2 LVwVfG. In der Gesamtschau beider Vorschriften folgt daraus, dass die Gemeinde nicht dazu verpflichtet ist, ihre Einwohner möglichst umfassend rechtlich zu beraten. Dies kollidierte auch regelmäßig mit ihrer eigenen Verwaltungskraft, zumal kleinere Gemeinden oft über gar keine spezielle Literatur zu einzelnen fachrechtlichen Themen verfügen. Gleichzeitig soll durch die Vorschrift aber auch sichergestellt werden, dass kein Konflikt mit dem Rechtsdienstleistungsgesetz oder rechtsberatenden Berufen entsteht.

3. Absatz 2

Die Vorschrift ist weitgehend selbsterklärend. Sie enthält jedoch nicht die Verpflichtung, dass eine Gemeinde quasi alle erdenklichen Vordrucke bereithalten müsste. Die Vorschrift wird dadurch relativiert, dass andere Behörden aktiv auf die Gemeinde zugehen und die Vordrucke dieser überlassen müssen.

Auch wenn zwar im Wortlaut mittelbar angelegt, enthält die Vorschrift keine Einschränkung dahingehend, dass es sich bei den Behörden um staatliche Behörden handeln müsse. Denkbar ist auch, dass andere Gemeindebehörden den Gemeinden eigene oder staatliche Formulare zukommen lassen. Ein Beispiel hierfür wäre, dass im Rahmen einer Verwaltungsgemeinschaft die erfüllende Gemeinde den anderen Gemeinden jeweils entsprechende Formulare übermittelt.

Im Zeitalter moderner elektronischer Datenverarbeitung kann sich die Bereithaltungspflicht von Formularen auch lediglich darauf beschränken, diese auf der (gemeindlichen) Homepage eingepflegt zu haben oder auf eine entsprechende Internetseite zu verweisen.

4. Absatz 3

Satz 1 normiert eine grundsätzliche Entgegennahme- und Weiterleitungsverpflichtung der Gemeinde von Anzeigen, Anträgen und Erklärungen. Einschränkung erfährt die Vorschrift dahingehend, dass sie lediglich eine Weiterleitungspflicht an die Landratsämter oder Regierungspräsidien normiert, nicht hingegen aber an Bundesbehörden. Interessant in dem Zusammenhang ist weiter, dass die Vorschrift für sich betrachtet keine Einschränkungen hinsichtlich des Einwohnerbegriffs in § 10 GemO macht. Systematisch kann Absatz 3 jedoch im Zusammenhang mit Absatz 1 stehend gesehen werden, sodass eine entsprechende Einschränkung vorhanden ist. Zwingend ist diese Auslegung jedoch nicht.

Der Begriff der Anzeige ist hier weit zu verstehen. Darunter fallen auch bloße Gefahrenanzeigen. Die Gemeinden sind als Ortspolizeibehörden (§§ 106 Abs. 1 Nr. 4, 107 Abs. 4 PolG) zur Abwehr von Gefahren für die örtliche Gemeinschaft verpflichtet. Der Begriff kann aber auch so verstanden werden, dass Personen oder Einwohner die Gemeinde auch dann aufsuchen können, wenn diese beispielsweise eine Straf- oder Ordnungswidrigkeitenanzeige abgeben wollen.

Der Begriff des Antrags nimmt auf § 22 S. 2 Nr. 1 Alt. 2, Nr. 2 LVwVfG Bezug und meint die etwas förmlicheren antragsgebundenen Verwaltungsverfahren.

Der Begriff der Erklärung bezieht sich sowohl auf Wissens- als auch Willenserklärungen und ist ebenfalls weit zu verstehen. Sofern es sich um eine entgegengenommene Wissenserklärung handelt, ergeben sich Überschneidungen mit einer Gefahrenanzeige. Mit der Willenserklärung sind einseitig empfangsbedürftige Willenserklärungen gemeint, so wie dies beispielsweise in § 71 Abs. 2 LBO normiert ist. Denkbar ist jedoch auch, dass bei der Gemeindebehörde eine empfangsbedürftige Willenserklärung abgegeben wird, mit der beispielsweise ein Vergleichsvertrag (§ 55 LVwVfG) mit der unteren Baurechtsbehörde bei einem Landratsamt abgeschlossen werden soll.

Entgegennehmen bedeutet hauptsächlich in Empfang nehmen oder annehmen. Ob hierunter auch verstanden werden kann, dass Anzeigen, Anträge und Erklärungen mündlich zur Niederschrift genommen werden können, oder dass eine Hilfestellung bei der Erstellung des Antrags generell gemacht werden kann, dürfte bei systematischer und landesverfassungskonformer Auslegung der Vorschrift zu bejahen sein (Art. 77 Abs. 2, 78 LV).

Unverzüglich ist im Sinne des § 121 Abs. 1 BGB als „ohne schuldhaftes Zögern“ auszulegen. Wie lange eine derartige Zeitspanne dauert, ist stark einzelfallabhängig. Der Gemeindebehörde kommt eine gewisse Zeit für die Überprüfung der entgegengenommenen Anzeigen, Anträge und Erklärungen zu. Außerdem muss der Begriff „unverzüglich“ auch immer vor dem Hintergrund der jeweils unterschiedlichen Verwaltungskräfte der jeweiligen Gemeinden ausgelegt werden.

Satz 2 normiert eine Eingangsfiktion. Findet die Vorschrift Anwendung, kommt es zur Vorverlagerung des Eingangs der Anzeige, des Antrags oder der Erklärung auf den Zeitpunkt des Eingangs bei der Gemeinde. Ein Systembruch mit § 53 Abs. 2 LBO, § 3 LBOVVO kann der Vorschrift jedoch nicht entnommen werden, da das OZG und die ERVV insofern als einschränkendes Bundesrecht zu verstehen ist.