Art. 63 I GG: Ausübung des präsidialen Vorschlagsrechts
Gemäß Art. 63 I GG wird der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ohne Aussprache gewählt. In der Praxis wird regelmäßig der Kanzlerkandidat der größten Koalitionspartei vorgeschlagen. Es stellt sich die Frage, ob der Bundespräsident bei seinem Vorschlagsrecht irgendeiner Bindung oder Bedingung unterliegt oder absolut frei über sein Vorschlagrecht verfügen kann.
1. Beispiel
Die größte Bundestagsfraktion A, die mit der Partei B eine mehrheitsfähige Koalition eingehen möchte, bietet dem Bundespräsidenten P an, ihren Kanzlerkandidaten K vorzuschlagen. P kommt diesem Vorschlagsangebot jedoch nicht nach, da in letzter Zeit immer mehr Abgeordnete aller Parteien, insbesondere auch der A- und B-Partei, ihre Antipathie zu K öffentlich geäußert haben und daher nicht mit einer Mehrheit für K zu rechnen sei. Er schlägt stattdessen den parteiübergreifend hoch angesehenen und geachteten Abgeordneten L aus der A-Fraktion vor, der am ehesten mehrheitsfähig sei.
2. Auslegung von Art. 63 I GG
2.1. Wortlaut
Aus dem Wortlaut der Norm ergibt sich keinerlei Bindung des Bundespräsidenten bei seinem Vorschlagsrecht. Vielmehr impliziert der "Vorschlag", dass dem Präsidenten diesbezüglich eine Einschätzungsprärogative zukommt.
2.2. Systematik
Aus systematischer Sicht wird die Einschätzungsprärogative insofern bestätigt, als Art. 63 III GG (zweiter Wahlgang) zu entnehmen ist, dass sich der Bundestag über den Vorschlag des Bundespräsidenten hinwegsetzen kann und dieser dadurch entbehrlich wird.
2.3. Teleologie
Telos der Norm ist die schnelle Wahl des Bundeskanzlers. Dies geht zum einen aus der imperativischen Formulierung durch das "wird" und zum anderen durch die zeitlich verkürzende Bedingung "ohne Aussprache" hervor. Hier soll der Bundespräsident vor allem aufgrund seiner Kontinuitätsfunktion (gem. Art. 54 II 1 GG fünfjährige Amtsdauer; der Bundestag ist hingegen gem. Art. 39 I 1 GG auf vier Jahre gewählt) und Integrationsfunktion helfend tätig werden (sog. „Geburtshilfefunktion“/„Geburtshelferfunktion“). Er muss daher seinem Ermessen bzw. seiner Einschätzungsprärogative die Prognose zugrunde legen, ob sein Vorgeschlagener auch tatsächlich mit stabilen Mehrheitsverhältnissen rechnen kann. Dabei muss er auch nicht zwingend den Kanzlerkandidaten der stärksten Fraktion vorschlagen. Auch muss er sich bei seiner Prognose nicht an die Prognosen, Empfehlungen und Orientierungshilfen der Fraktionen halten, sofern diese nicht auf einen eindeutig mehrheitsfähigen Kandidaten hindeuten.
Schlägt der Präsident einen evident nicht mehrheitsfähigen Kandidaten vor, so wirkt er entgegen dem Ziel der Norm desintegrierend und verlängert dadurch das Wahlverfahren. In solchen Fällen übt der Präsident sein Ermessen fehlerhaft aus.
3. Ergebnis
Der Bundespräsident kann sein Vorschlagsrecht relativ frei ausüben. Sein Ermessen hat sich lediglich an stabile Mehrheitsverhältnisse zu richten. Bei dem o. g. Beispiel war dies der Fall.