Art. 63 I GG: Die Nichtausübung des präsidialen Vorschlagsrechts und ihre Rechtsfolge
Gemäß Art. 63 I GG wird der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten vom Bundestag ohne Aussprache gewählt. Fraglich ist, welche Rechtsfolge eintritt, wenn der Bundespräsident keinen Vorschlag macht bzw. machen möchte. Durch Nichtausübung des präsidialen Vorschlagsrechts könnte der erste Wahlgang entfallen, sodass dann der Bundestag nicht auf diesen Vorschlag angewiesen ist.
1. Beispiel
Nach den Neuwahlen zum Deutschen Bundestag diskutiert Bundespräsident P mit den jeweiligen Fraktionen des Bundestages über einen mehrheitsfähigen Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers. Die stärkste Fraktion, die A-Fraktion, schlägt dem P ihren Kanzlerkandidaten K vor. P ist sich jedoch aufgrund unklarer Mehrheitsverhältnisse unsicher, ob er K auch tatsächlich vorschlagen soll. Auch zwölf Wochen nach der Bundestagswahl und weiteren Gesprächen mit den Fraktionen hat er noch keinen Kandidaten vorgeschlagen. Zudem hat er es versäumt, gem. Art. 69 III Alt. 1 GG den alten Bundeskanzler zur Weiterführung der Geschäfte bis zur Ernennung seines Nachfolgers zu ersuchen. Indes dauert der A-Fraktion die führungslose Zeit schon zu lange. Sie erreicht, dass eine ordnungsgemäß einberufene Bundestagssitzung mit dem Tagesordnungspunkt "Wahl des Bundeskanzlers" stattfindet. Dort sieht sich P immer noch nicht in der Lage einen Kandidaten vorzuschlagen. Daraufhin schlägt die A-Fraktion K vor, der mit der Mehrheit der Stimmen des Bundestages zum Bundeskanzler gewählt wird. P hat Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit dieses Wahlverfahrens, da man seinen Vorschlag hätte abwarten müssen.
2. Auslegung des Art. 63 GG
2.1. Wortlaut
Weder in Art. 63 GG noch in anderen Normen des Grundgesetzes ist geregelt, was passieren soll, wenn der Bundespräsident nicht von seinem Vorschlagsrecht Gebrauch macht. Insbesondere wird auch nicht dem Bundestag ausdrücklich die Kompetenz zugewiesen, ohne Vorschlag des Bundespräsidenten einen Bundeskanzler zu wählen (vgl. Art. 63 III GG: "der Vorgeschlagene", "nach dem Wahlgange"). Vielmehr geht aus der Konzeption Grundgesetz hervor, dass der Bundespräsident aufgrund seiner Integrations- und Kontinuitätsfunktion (Art. 54 II 2 GG) als "Geburtshelfer der Kanzlerwahl" dienen soll und letztlich auch darauf vertraut wird.
2.2. Systematik
Aus Art. 63 I GG ("ohne Aussprache") geht wiederum hervor, dass eine zeitlich Blockade der Bundeskanzlerwahl dem Grundgesetz zuwider wäre. Zudem ist dem Art. 63 III GG zu entnehmen, dass dem Bundestag auch kein Kanzler durch den Bundespräsidenten aufgezwungen werden kann, da der Bundestag binnen 14 Tagen nach dem ersten Wahlgang mit mehr als der Hälfte seiner Mitglieder einen Bundeskanzler – unabhängig vom Vorschlag des Bundespräsidenten – wählen kann, sofern denn der aus dem ersten Wahlgang Vorgeschlagene nicht gewählt wurde. Wurde jedoch im ersten Wahlgang gar kein Kandidat vorgeschlagen, so könnte man diesen Wahlgang völlig überspringen und zum zweiten, allein dem Bundestag obliegenden, übergehen.
2.3. Teleologie
Die teleologische Auslegung des Art. 63 GG bestätigt das in der systematischen Auslegung gesagt insofern, als man unter Berücksichtigung der 14-Tage-Frist in Art. 63 III GG zu der Einsicht gelangt, Ziel der Norm sei es, die Periode des geschäftsführenden und damit des innen- und außenpolitisch schwachen Kanzlers so klein wie möglich zu halten.
2.4. Auslegungsergebnis
Folglich ergibt sich aus der Auslegung in positiver Hinsicht zum einen, dass die Bundeskanzlerwahl schnellstmöglich zu vollziehen ist; zum anderen, dass der Bundestag nicht auf den Vorschlag des Bundespräsidenten angewiesen ist. In negativer Hinsicht ist jedoch bei dieser Problematik eine Regelungslücke zu erblicken.
3. Mögliche Lösungen
Klärungsbedürftig ist nun, welche Lösung für dieses Problem besteht.
3.1. Präsidentenanklage gem. Art. 61 GG
Bei der Präsidentenanklage nach Art. 61 GG bedarf es einer vorsätzlichen Verletzung des Grundgesetzes. Im Regelfall wird es schwer sein, diese nachzuweisen. Ferner ist für den Beschluss auf Erhebung der Anklage gem. Art. 61 I 3 GG eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag oder Bundesrat erforderlich. Auch dies wird zu Anfang einer Wahlperiode eine Erschwernis darstellen.
3.2. Konstruktives Misstrauensvotum gem. Art. 67 GG
Der Bundestag könnte gem. Art. 67 I GG dem geschäftsführenden Bundeskanzler das Misstrauen aussprechen, um anschließend mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger zu wählen. Der Bundespräsident müsste gem. Art. 67 I 2 GG den Gewählten ernennen. Gegen das Misstrauensvotum spricht jedoch, dass der geschäftsführende, alte Bundeskanzler nicht das Vertrauen des neuen Bundestages, sondern des vorherigen erhalten hat. Hier ist also der Grundsatz der Diskontinuität einschlägig.
3.3. Organstreit gem. Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 BVerfGG
Bei einem Organstreitverfahren gegen den Bundespräsidenten stellt sich die Frage, ob die Nichtausübung des Vorschlagsrechts überhaupt rechtserheblich und rechtswidrig ist. Hier ist daher – ähnlich der Präsidentenanklage – auf eine vorsätzliche rechtswidrige Verletzung oder aber einer evident rechtswidrigen Verletzung abzustellen. Zudem nimmt ein Organstreitverfahren mehrere Monate in Anspruch. Eine solche Dauer widerspricht jedoch dem Telos von Art. 63 GG. Abhilfe bezüglich der Dauer könnte eine einstweilige Anordnung nach § 32 BVerfGG schaffen, doch scheitert dies am Verbot der Vorwegnahme der Entscheidung. Das heißt, dass § 32 BVerfGG keinen Antrag zulässt, der die in der Hauptsache ausstehende Entscheidung vorwegnimmt.
3.4. Lösungsergebnis
Keine der möglichen Lösungen vermag zu helfen. De constitutione lata ist hierbei also eine Regelungslücke zu erblicken, die durch verfassungsergänzende Auslegung (extra constitutionem) zu schließen ist.
4. Verwirkung
Die h.L.1 geht bei der Nichtausübung des Vorschlagsrechts von einer Verwirkung aus, obwohl staatsorganisatorische Rechte eigentliche nicht verwirkt werden können. Doch weil sie den jeweiligen Organen als Pflicht kraft Verfassungsrechts zukommen und ein Handeln-müssen zum Wohle der Allgemeinheit und zum Wohle des staatlichen Gesamtgefüges beinhalten, ist eine Verwirkung geboten. Diese Verwirkung setzt allerdings den Ablauf einer angemessenen Zeit voraus.
- Frühestens ist eine angemessene Zeit abgelaufen, wenn erkennbar wird, dass ein Kandidat die nötige Mehrheit auf sich vereinigen könnte, der Bundespräsident diesen aber nicht vorschlägt.
- Spätestens läuft diese angemessene Zeit ab, wenn die Kanzlerwahl bereits auf der Tagesordnung des Bundestages steht, der Bundespräsidenten aber gleichwohl keinen Vorschlag macht.
5. Ergebnis
Macht der Bundespräsident von seinem Vorschlagsrecht keinen Gebrauch, so verwirkt er nach Ablauf einer angemessenen Zeit dieses Recht. Der Bundestag ist dann nicht mehr auf den präsidialen Vorschlag angewiesen und kann daher den ersten Wahlgang (Art. 63 I, II GG) überspringen.
Bei dem o. g. Beispiel stand die Bundeskanzlerwahl auf der Tagesordnung des Bundestages. Gleichwohl hat P keinen Kandidaten vorgeschlagen. Ein angemessene Zeit ist also verstrichen. Somit hat P sein Vorschlagsrecht verwirkt, sodass der Vorschlag bundestagsimmanent gemacht und anschließend der Kanzler gewählt werden konnte.
- 1. S-B/H/H-Uhle, Art. 63, Rn. 10; v.M/K-Meyn, Art. 63, Rn. 2; v.M/K/S-Schröder, Art. 63, Rn. 25.