BVerfGE 8, 81; DÖV 1958, 958; JZ 1958, 660; NJW 1958, 1436; RzW 1959, 94
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BVerfGE 8, 81 (81):
Beschluß
des Ersten Senats vom 10. Juli 1958
- 1 BvR 532/56 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Bankkaufmanns ... gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts München - Strafsenat - vom 31. August 1956 - Ausl. Reg. 9/56 (2/56)
Entscheidungsformel:
Der vorläufige Auslieferungshaftbefehl des Oberlandesgerichts München - Strafsenat - vom 31. August 1956 - Ausl. Reg. 9/56 (2/56) - verletzt die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 und Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG.
Die Beschlüsse des Oberlandesgerichts München - Strafsenat - vom 31. August 1956 und vom 12. Oktober 1956 - Ausl. Reg. 9/56 (2/56) - verletzen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 16 Abs.2 Satz 1GG.
Die Entscheidungen werden aufgehoben.
Die Sache wird an das Oberlandesgericht München zurückverwiesen.
Gründe
I.
Gegen den Beschwerdeführer, dessen Auslieferung die Schweizerische Bundesregierung wegen verschiedener ihm zur Last ge
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legter strafbarer Handlungen begehrt, hat das Oberlandesgericht München durch Beschluß vom 31. Januar 1956 einen vorläufigen Auslieferungshaftbefehl erlassen. Durch die Beschlüsse vom 31. August und 12. Oktober 1956 hat es die Einwendungen des Beschwerdeführers gegen diesen Haftbefehl als unbegründet verworfen sowie die Fortdauer der Auslieferungshaft angeordnet.
1. Der Beschwerdeführer, von Geburt deutscher Staatsangehöriger, gab im Jahre 1934 seinen Wohnsitz in Deutschland auf, da er wegen seines jüdischen Glaubens durch das nationalsozialistische Regime verfolgt wurde, und ließ sich einige Zeit später in den Vereinigten Staaten von Amerika nieder. Im Jahre 1938 wurde er auf Grund des Gesetzes über den Widerruf von Einbürgerungen und die Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit vom 14. Juli 1933 (RGBl. I S. 480) der deutschen Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt. Am 7. Januar 1946 erhielt er auf seinen im Dezember 1943 gestellten Antrag die Staatsangehörigkeit der USA. Im Jahre 1948 kehrte der Beschwerdeführer, der von Beruf Bankkaufmann ist, nach Europa zurück, um sich hier internationalen Bankgeschäften zu widmen. Seine Tätigkeit führte ihn zwar in verschiedene europäische Länder und insgesamt dreimal für wenige Monate in die Vereinigten Staaten von Amerika. Von seinen Auslandsreisen kehrte er aber stets wieder nach Deutschland zurück, wo er sich noch jetzt aufhält. Er lebt in München; hier wohnt er aus persönlichen Gründen in einem Hotel.
2. In dem Auslieferungsverfahren erhob der Beschwerdeführer u. a. den Einwand, daß die zur Vorbereitung seiner Auslieferung ergehenden Entscheidungen schon deshalb unzulässig seien, weil er nach Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG deutscher Staatsangehöriger sei und seiner Auslieferung daher das Grundrecht des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG entgegenstehe.
Das Oberlandesgericht München verwarf durch Beschluß vom 31. August 1956 diesen Einwand mit folgender Begründung: es
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sei nicht nachgewiesen, daß der Beschwerdeführer nach dem 8. Mai 1945 seinen Wohnsitz in Deutschland genommen und keinen dem Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit entgegenstehenden Willen geäußert habe. Es spreche nichts dafür, daß er in Deutschland einen Wohnsitz genommen habe; im Jahre 1952 habe er in einem Devisenstrafverfahren als Wohnsitz stets New York angegeben. In diesem Verfahren und auch noch bei seiner ersten Vernehmung in dem Auslieferungsverfahren habe er sich nicht als deutscher, sondern als amerikanischer Staatsangehöriger bezeichnet.
3. Die Landeshauptstadt München wies in dem bei ihr anhängigen Verfahren über den Antrag des Beschwerdeführers auf Feststellung seiner deutschen Staatsangehörigkeit noch auf weitere Bedenken hin: Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG könne nur auf solche Personen angewendet werden, die bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes einen Wohnsitz in Deutschland begründet hätten. Diese Voraussetzung erfülle der Beschwerdeführer nicht. Falls man seine damalige Ausbürgerung als nichtig ansehen wolle, habe er durch den auf seinen Antrag erfolgten Erwerb der amerikanischen Staatsangehörigkeit gemäß § 17 Ziffer 2, § 25 Abs. 1 RuStAG seine deutsche verloren.
4. Die rechtzeitig erhobene Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts München vom 31. August 1956. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit Art. 116 Abs. 2 GG.
Er ist der Ansicht, er habe spätestens im Jahre 1951 in München einen Wohnsitz begründet, weil er sich dort für unbestimmte Zeit niedergelassen und den räumlichen Mittelpunkt seines Lebens begründet habe. Er ist weiter der Auffassung, er habe keinen, dem Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit entgegenstehenden Willen geäußert, der übrigens ausdrücklich hätte bekundet werden müssen. Die deutsche Staatsangehörigkeit habe er durch die Einbürgerung in den Vereinigten Staaten von Ame
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rika nicht verloren. Zwar sei zweifelhaft, ob die Wiederverleihung der deutschen Staatsangehörigkeit gemäß Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG tatsächlich mit rückwirkender Kraft erfolge. Die Anwendung der §§ 17 Ziffer 2, 25 Abs. 1 RuStAG verbiete sich auf jeden Fall aber schon deshalb, weil die Wiederverleihung der deutschen Staatsangehörigkeit ein Akt der Wiedergutmachung sei.
5. Der Bundesminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet: die tatsächlichen Feststellungen hatten nicht ergeben, daß der Beschwerdeführer nach dem 8. Mai 1945 seinen Wohnsitz in Deutschland begründet habe; infolgedessen könne er sich nicht auf Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG berufen.
Das Bayerische Staatsministerium der Justiz gelangt aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zu dem gleichen Ergebnis.
Das Bayerische Staatsministerium des Innern bejaht dagegen die Frage, ob der Beschwerdeführer gemäß Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG deutscher Staatsangehöriger sei. Es ist der Meinung, der Beschwerdeführer habe in München einen Wohnsitz begründet; auch könne sein Verhalten in Deutschland nicht dahin gedeutet werden, daß er einen "entgegengesetzten Willen" zum Ausdruck gebracht habe.
6. Der Beschwerdeführer hat auf mündliche Verhandlung verzichtet.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.
1. In einem Auslieferungsverfahren haben die Behörden von Amts wegen die Zulässigkeit der beantragten Maßnahme festzustellen; vor allem haben sowohl die Staatsanwaltschaft als auch das Gericht im Hinblick auf das Grundrecht des Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG die Verpflichtung, den Sachverhalt auch so weit aufzuklären, daß die Eigenschaft des Auszuliefernden als Nichtdeutscher eindeutig feststeht (vgl. Mettgenberg/Doerner,
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Deutsches Auslieferungsgesetz, 2. Aufl. 1953, Erl. z. 1. Abschn. Anm. 15 (S. 164 ff.) und Anm. 22 [S. 188]).
Das Oberlandesgericht hätte daher von Amts wegen ermitteln müssen, ob der Beschwerdeführer nach Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Es ist dadurch, daß es diese Frage auf Grund eines nur unzureichend aufgeklärten Sachverhalts beantwortet hat, zu einer unrichtigen Schlußfolgerung gelangt.
2. Nach Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG gilt der Beschwerdeführer nicht als ausgebürgert, sofern er nach dem 8. Mai 1945 seinen Wohnsitz in Deutschland genommen und nicht einen entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht hat.
Das Bundesverfassungsgericht ist zu der Überzeugung gelangt, daß diese Voraussetzungen gegeben sind.
a) Der Beschwerdeführer hat nach dem 8. Mai 1945 seinen Wohnsitz in Deutschland genommen.
Auf Grund der vom Bundesverfassungsgericht angestellten Ermittlungen steht fest, daß der Beschwerdeführer sich in München ständig niedergelassen hat und er auch willens gewesen ist, München zum Ort seiner ständigen Niederlassung zu machen. Dafür spricht vor allem, daß der Beschwerdeführer in München und von da aus eine umfangreiche geschäftliche Tätigkeit entfaltet hat, mehrere Handelsgesellschaften gegründet und verschiedene Finanzierungsverträge abgeschlossen hat, in denen u. a. als Erfüllungsort und Gerichtsstand ausdrücklich München vereinbart worden ist. Fast sein gesamtes, nicht unerhebliches Vermögen hat er in Süddeutschland angelegt. Von seinen Geschäftsreisen ins Ausland ist er stets wieder nach München zurückgekehrt.
Der Annahme eines Wohnsitzes steht nicht entgegen, daß der Beschwerdeführer in München nur in einem Hotel gewohnt hat; entscheidend ist lediglich, ob eine Niederlassung vorliegt; diese kann nach der ständigen Rechtsprechung auch durch das Beziehen eines Hotelzimmers begründet werden. Ohne Bedeutung ist auch, daß der Beschwerdeführer anläßlich einiger gegen ihn an
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hängiger Verfahren New York als seinen Wohnsitz bezeichnet hat. Der zur Begründung eines Wohnsitzes erforderliche Willensentschluß braucht sich nicht auf den Rechtserfolg des Wohnsitzes, sondern nur auf die Niederlassung zu erstrecken. Es kommt daher nicht darauf an, ob der Beschwerdeführer sich bewußt gewesen ist, daß er mit seiner Niederlassung im rechtlichen Sinne in München einen Wohnsitz genommen hat.
Es bedarf keiner Feststellung, ob der Beschwerdeführer einen Wohnsitz in Deutschland vor dem Inkrafttreten des Grundgesetzes begründet hat, weil Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG auch für die Verfolgten gilt, die nicht bis zum Inkrafttreten des Grundgesetzes, sondern erst nach diesem Zeitpunkt zurückgekehrt sind. Schon im Hinblick auf den Wiedergutmachungscharakter dieser Bestimmung ist eine einengende Auslegung allein durch den Hinweis auf den Gebrauch der Perfektform "genommen haben" nicht gerechtfertigt.
b) Der Beschwerdeführer hat auch keinen dem Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht.
An die Begründung eines Wohnsitzes in Deutschland nach dem 8. Mai 1945 knüpft Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG die Vermutung, daß der Betroffene auch den Willen hat, deutscher Staatsangehöriger zu sein. Diese gesetzliche Vermutung ist nur widerlegt, wenn ein "entgegengesetzter Wille" des Betroffenen festgestellt werden kann.
Die Rechtslage ist hier eine andere als bei den Personen, denen in den Jahren von 1933 bis 1945 die deutsche Staatsangehörigkeit zwangsweise verliehen worden ist und die auch nach dem Zusammenbruch noch als deutsche Staatsangehörige gelten wollen. Für diese Personen hat das Bundesverfassungsgericht in mehreren Entscheidungen ausgesprochen, daß sie nur dann die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, wenn sie nach 1945 ständig den Willen bekundet haben, als deutsche Staatsangehörige behandelt zu werden (BVerfGE 1, 322 [331]; 2, 98 [99]; 4, 322 [329 ff.]). Dieses Erfordernis kann aber nicht auf den unter Art.
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116 Abs. 2 Satz 2 GG fallenden Personenkreis übertragen werden, weil bei ihm eine gesetzliche Vermutung für diesen Willen spricht. Im Rahmen dieser Bestimmung erhebt sich nicht die Frage, ob der Betroffene ständig den Willen bekundet hat, als deutscher Staatsangehöriger behandelt zu werden; es ist vielmehr umgekehrt zu fragen, ob der Betroffene einen dem Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit entgegengesetzten Willen zum Ausdruck gebracht hat. Es kann dahingestellt bleiben, ob ein solcher Wille nur festzustellen wäre, wenn er ausdrücklich bekundet worden ist. Soll er aus einem schlüssigen Verhalten gefolgert werden, muß sich der Wille, nicht mehr deutscher Staatsangehöriger zu sein, angesichts der zugunsten der Wiedergutmachungsberechtigten erklärten gesetzlichen Vermutung in diesem Verhalten völlig zweifelsfrei kundtun.
Allein aus der Tatsache, daß der Beschwerdeführer die Staatsangehörigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika erworben hat, kann schon deshalb kein "entgegengesetzter Wille" im Sinne des Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG gefolgert werden, weil dieser Erwerb noch vor Inkrafttreten des Grundgesetzes erfolgt ist.
Auch dadurch, daß sich der Beschwerdeführer in Deutschland mehrfach als amerikanischer Staatsangehöriger bezeichnet hat, ist von ihm kein "entgegengesetzter Wille" zum Ausdruck gebracht worden. Eine solche Folgerung wäre nur berechtigt, wenn festgestellt werden könnte, daß der Beschwerdeführer willens gewesen ist, mit der den Tatsachen entsprechenden Angabe seiner amerikanischen Staatsangehörigkeit eine Ablehnung der deutschen zu erklären. Es fehlen hinreichende Anhaltspunkte dafür, daß der Beschwerdeführer mit einem solchen Willen gehandelt hat.
3. Die im Jahre 1938 aus "rassischen Gründen" erfolgte Ausbürgerung des Beschwerdeführers gilt somit gemäß Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG als nicht ausgesprochen. Der Beschwerdeführer hat nach dem eindeutigen Wortlaut und Sinn dieser Bestimmung durch die Ausbürgerung seine deutsche Staatsangehörigkeit nicht verloren.
BVerfGE 8, 81 (88):
Ein Verlust dieser Staatsangehörigkeit kann auch nicht aus der im Jahre 1946 erfolgten Einbürgerung des Beschwerdeführers in den Vereinigten Staaten von Amerika aus § 17 Ziffer 2, 25 Abs. 1 RuStAG hergeleitet werden; eine Anwendung dieser Bestimmungen setzt voraus, daß der Betroffene im Zeitpunkt des Erwerbs der fremden Staatsangehörigkeit effektiv im Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit gewesen ist. Das ist nicht der Fall, wenn er zur fraglichen Zeit nicht in der Lage gewesen ist, sich auf seine deutsche Staatsangehörigkeit zu berufen; denn wenn erst durch ein nach diesem Zeitpunkt liegendes Gesetz eine vor diesem Zeitpunkt ausgesprochene Ausbürgerung für rechtsunwirksam erklärt wird, hat der Betroffene im entscheidenden Moment keine Veranlassung, die im deutschen Staatsangehörigkeitsrecht für den Fall des Erwerbs einer ausländischen Staatsangehörigkeit vorgesehenen Rechtsfolgen in den Kreis seiner Erwägungen zu ziehen. Eine gegenteilige Auffassung würde auch dazu führen, daß der mit dem Art. 116 Abs. 2 Satz 2 GG verfolgte Zweck der Wiedergutmachung vereitelt und der Betroffene in einer gegen Treu und Glauben verstoßenden Weise von seinem Heimatland behandelt würde.
4. Da der Beschwerdeführer deutscher Staatsangehöriger ist, darf er gemäß Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG nicht an das Ausland ausgeliefert werden.
Der angefochtene Beschluß des Oberlandesgerichts München vom 31. August 1956 und der weitere Beschluß vom 12. Oktober 1956 verletzen somit das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG und müssen aus diesem Grunde aufgehoben werden.
Der Auslieferungshaftbefehl vom 31. Januar 1956 verletzt die Grundrechte des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2, Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG, da die Auslieferung nach Art. 16 Abs. 2 Satz 1 GG unzulässig ist; er muß ebenfalls aufgehoben werden.
Die Sache ist an das Oberlandesgericht München zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).