BGHSt 27, 191; MDR 1977, 770; NJW 1977, 1599
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Daten
- OLG Stuttgart
Rechtsnormen
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BGHSt 27, 191 (191):
Die Auslieferung eines den Kriegsdienst mit der Waffe aus Gewissensgründen verweigernden jugoslawischen Staatsangehörigen an sein Heimatland ist nur dann zulässig, wenn die Gewähr besteht, daß er dort innerhalb der Frist des Art. 25 Abs. 1 Buchstabe b) des deutsch-jugoslawischen Auslieferungsvertrages nicht gegen seinen Willen zum Wehrdienst mit der Waffe herangezogen wird. Diese Gewähr kann durch eine diesem Erfordernis Rechnung tragende förmliche Zusicherung der jugoslawischen Regierung gegeben sein.
GG Art. 4 Abs. 3; Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien über die Auslieferung vom 26. November 1970 Art. 6 Abs. 1, 25 Abs. 1; DAG § 27
4. Strafsenat
Beschluß
vom 24. Mai 1977 g.M.
- 4 ARs 6/77 -
Oberlandesgericht Stuttgart
Gründe:
I.
Der Verfolgte, jugoslawischer Staatsangehöriger, ist durch rechtskräftiges Urteil des Kreisgerichts Belgrad wegen schweren Diebstahls in fünf Fällen, Anstiftung zum schweren Diebstahl in einem Fall und Urkundenfälschung in zwei Fällen zu drei Jahren strengem Gefängnis abzüglich der erlittenen Untersuchungshaft verurteilt worden. Das Bundessekretariat für Gerichtsbarkeit und Organisation der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien hat um seine Auslieferung zur Vollstreckung dieser Strafe ersucht. Der Verfolgte ist mit der Ausliefe
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rung nicht einverstanden. Er läßt sich u.a. ein, die jugoslawischen Behörden begehrten seine Auslieferung in erster Linie deshalb, weil er Kriegsdienstverweigerer sei. Er gehöre einer Glaubensgemeinschaft an, die den Kriegsdienst mit der Waffe verweigere. Aus diesem Grund habe er sich schon vor dem Verlassen seines Heimatlandes nach dem Erhalt des Gestellungsbefehls verborgen gehalten. Im Falle seiner Auslieferung nach Jugoslawien werde er dort nicht nur die Strafe verbüßen müssen, sondern unmittelbar danach zum Wehrdienst einberufen werden. Da er einer solchen Aufforderung aus Gewissensgründen nicht nachkommen könne, habe er mit sofortiger neuer Strafverfolgung zu rechnen.
Das Oberlandesgericht, das nach § 25 DAG über die Zulässigkeit der Auslieferung zu entscheiden hat, sieht die Taten, deretwegen der Verfolgte verurteilt worden ist, als auslieferungsfähige strafbare Handlungen im Sinne des Art. 2 Abs. 1 und 2 des deutsch-jugoslawischen Auslieferungsvertrages vom 26. November 1970 (BGBl 1974 II 1258; 1975 II 1725) an. Es hat jedoch Bedenken gegen die Zulässigkeit der Auslieferung, weil es die Einlassung des Verfolgten, daß er der genannten Glaubensgemeinschaft angehöre, für glaubwürdig hält und meint, die Annahme liege "zumindest nicht fern, daß das allgemeine Menschenrecht des Art. 4 Abs. 3 GG über Art. 6 Abs. 1 des Auslieferungsvertrages die Auslieferung dann unzulässig" mache, "wenn der Auszuliefernde in seinem Heimatland sofort neue Strafverfolgung wegen Verweigerung des Wehrdienstes zu gewärtigen" habe. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung hat es die Sache dem Bundesgerichtshof zur Entscheidung vorgelegt.
Der Generalbundesanwalt teilt in Übereinstimmung mit dem Generalstaatsanwalt, der die Auslieferung des Verfolgten beantragt hat, die Bedenken des Oberlandesgerichts nicht. Er ist der Meinung, Art. 4 Abs. 3 GG gelte unmittelbar nur für den Personenkreis, den die deutsche Wehrpflicht erreiche, also für die in den §§ 1 und 2 des Wehrpflichtgesetzes genannten Personen, zu denen der Verfolgte nicht gehöre. Art. 6 Abs. 1 des Auslieferungsvertrages stehe deshalb der Auslieferung nicht entgegen.
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II.
Die Vorlegung ist nach § 27 Abs. 1 DAG zulässig.
III.
In der Sache tritt der Senat der Rechtsansicht des Oberlandesgerichts bei, daß die Auslieferung unzulässig ist, wenn sie dazu führen würde, daß der Auszuliefernde gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen wird.
1. Art. 6 Abs. 1 des deutsch-jugoslawischen Auslieferungsvertrages verbietet die Auslieferung, wenn ihr Bestimmungen der Verfassung des ersuchten Staates entgegenstehen. Das ist hier der Fall, denn die Auslieferung würde gegen das Grundrecht des Art. 4 Abs. 3 GG verstoßen, daß niemand gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden darf.
a) Dieses Grundrecht gilt entgegen der Ansicht des Generalbundesanwalts nicht nur für die Personen, die in der Bundesrepublik nach dem Wehrpflichtgesetz wehrpflichtig sind, und erfaßt nicht nur die Verweigerung des Dienstes mit der Waffe in den deutschen Streitkräften. Es ist vielmehr ein in der Verfassung der Bundesrepublik verankertes, auf dem Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit beruhendes allgemeines Grundrecht, das ohne Einschränkung für jeden gilt, der zum Kriegsdienst mit der Waffe herangezogen werden kann. Das ergibt sich schon aus dem eindeutigen Wortlaut des Art. 4 Abs. 3 GG sowie aus dem Umstand, daß dieses Grundrecht bereits zu einer Zeit in der Verfassung verankert war, in der eine Wehrpflicht in der Bundesrepublik noch nicht bestand. Seine Geltung als allgemeines Grundrecht im Sinne des Grundgesetzes wird, soweit ersichtlich, in der Rechtsprechung und im verfassungsrechtlichen Schrifttum allgemein anerkannt (vgl. BVerwGE 7, 242 [250] = NJW 1959, 353; Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz Art. 4 Rn. 169; Bonner Kommentar Art. 4 Rn. 94; von Mangold/Klein, Das Bonner Grundgesetz Anm. VI 6 zu Art. 4 GG u.a.). Sie ergibt sich insbesondere auch aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, nach der das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen auf dem Grundsatz der Freiheit des Gewissens und seiner Entscheidungen (Art. 4 Abs. 1 GG) beruht, welcher der freien mensch
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lichen Persönlichkeit und ihrer Würde unmittelbar zugeordnet ist (BVerfGE 12, 45 [53, 54]; 32, 40 [45]). Das Bundesverwaltungsgericht spricht sogar von einem allgemeinen Menschenrecht im Sinne des Grundgesetzes (BVerwG a.a.O.).
Dieses Grundrecht erlaubt die Verweigerung des Waffendienstes schlechthin und umfaßt auch das Recht, den Dienst mit der Waffe schon in Friedenszeiten zu verweigern (BVerfGE 12, 45 [56]; 32, 40 [45]). Es bedarf als unmittelbar wirksames Grundrecht nicht erst der Aktualisierung durch ein Gesetz und kann vom (einfachen) Gesetzgeber nicht eingeschränkt werden (BVerfGE 12, 45 [53]; 28, 243 [259]; 32, 40 [45]). Die Bestimmungen des Wehrpflichtgesetzes, welche die Wehrpflicht und das Anerkennungsverfahren für Kriegsdienstverweigerer regeln, können deshalb an seinem rechtlichen Gehalt und an seiner Reichweite nichts ändern (vgl. Scherer/Krekeler, Wehrpflichtgesetz 3. Aufl. Anm. I 2 b) zu § 25). Sie haben lediglich zur Folge, daß die Aktualität dieses Grundrechts, soweit die deutsche Wehrpflicht in Betracht kommt, auf die von ihr betroffenen Personen beschränkt ist (vgl. Maunz/Dürig/Herzog a.a.O. Art. 4 Rn. 169). Sie können aber nicht, wie der Generalbundesanwalt meint, eine Beschränkung des Kriegsdienstverweigerungsrechts auf den der deutschen Wehrpflicht unterliegenden Personenkreis begründen.
Eine solche Beschränkung würde auch dem wesentlichen Zweck des Art. 4 Abs. 3 GG zuwiderlaufen, der darin besteht, die Gewissensposition gegen den Kriegsdienst mit der Waffe zu schützen und den Kriegsdienstverweigerer vor dem Zwang zu bewahren, töten zu müssen (BVerfGE 28, 243 [262]; 32, 40 [45]), einem Zwang, der notwendig mit jedem Wehrdienst mit der Waffe verbunden ist, gleichviel in weichem Land er abzuleisten ist.
Eine Entscheidung, die zur Folge hat, daß jemand gegen sein Gewissen zum Wehrdienst mit der Waffe gezwungen wird, verstößt deshalb unabhängig davon, ob dieser Dienst im Inland oder im Ausland abgeleistet werden soll und ob der Betroffene nach deutschem Recht wehrpflichtig ist oder nicht, stets gegen Art. 4 Abs. 3 GG. Eine Auslieferung ist daher unzulässig,
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wenn sie dazu führt, daß der Verfolgte unmittelbar nach der Verbüßung der Strafe, noch ehe er das Land, an das er ausgeliefert wird, wieder verlassen kann, zum Wehrdienst mit der Waffe herangezogen wird und falls er aus Gewissensgründen diesen Dienst verweigert, Bestrafung zu gewärtigen hat.
b) Um einen solchen Fall handelt es sich hier. Art. 25 Abs. 3 des deutsch-jugoslawischen Auslieferungsvertrages gibt dem ersuchenden Staat die Möglichkeit, einen Ausgelieferten, der den gesetzlich vorgeschriebenen Militärdienst noch nicht abgeleistet hat, unmittelbar nach der Verbüßung der Strafe zur Ableistung dieses Militärdienstes einzuberufen. Die Verweigerung des Wehrdienstes ist, wie das Oberlandesgericht im Vorlagebeschluß dartut, nach dem jugoslawischen Recht mit strengem Gefängnis bis zu zehn Jahren bedroht. Es ist demnach davon auszugehen, daß der Verfolgte, der den gesetzlich vorgeschriebenen Wehrdienst noch nicht abgeleistet hat, im Falle seiner Auslieferung unmittelbar nach der Strafverbüßung in Jugoslawien zum Wehrdienst mit der Waffe einberufen wird und, wenn er gemäß seiner religiösen Überzeugung, also aus Gewissensgründen, diesen Dienst verweigert, Bestrafung zu gewärtigen hat. Seine Auslieferung nach Jugoslawien ist deshalb nach Art. 6 Abs. 1 des deutsch-jugoslawischen Auslieferungsvertrages i.V.m. Art. 4 Abs. 3 GG grundsätzlich unzulässig.
2. Diese Bestimmungen stehen der Auslieferung allerdings nicht entgegen, wenn gleichwohl die Gewähr gegeben ist, daß der Verfolgte im Anschluß an die Strafverbüßung, und zwar innerhalb der Frist des Art. 25 Abs. 1 b des Auslieferungsvertrages, in welcher ihm die Ausreise aus Jugoslawien gestattet ist (Art. 25 Abs. 2 des Vertrages), nicht zum Wehrdienst mit der Waffe einberufen wird und auch nicht auf Grund der früher erfolgten Einberufung hierzu herangezogen wird.
Diese Gewähr kann durch eine entsprechende förmliche Zusicherung der jugoslawischen Regierung, die um die Auslieferung nachsucht, gegeben sein. Daß der Verfolgte trotz einer solchen Zusicherung zum Wehrdienst mit der Waffe einberufen wird und im Weigerungsfall Bestrafung zu gewärtigen hat, ist nicht zu befürchten. Das jugoslawische Bundessekretariat für
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Gerichtsbarkeit und Organisation hat sich schon vor dem Inkrafttreten des deutsch-jugoslawischen Auslieferungsvertrages stets an seine Zusicherungen gehalten (vgl. BVerfGE 38, 398 [400 ff.]). Daß seinen Zusicherungen in Bezug auf die Behandlung Ausgelieferter vertraut werden kann, ergibt sich nunmehr vor allem aus diesem Vertrag, der insbesondere auch die Einhaltung des Spezialitätsgrundsatzes gewährleistet und damit dem Verfolgten Schutz gegen eine von ihm etwa befürchtete politische Verfolgung bietet. Er kann sich deshalb auch nicht auf das Asylrecht nach Art. 16 Abs. 2 GG berufen (vgl. BVerfGE 38, 403 [404]). Im Falle einer solchen Zusicherung besteht daher kein Grund, die beantragte Auslieferung zu versagen.