Streitkultur im Recht

*Das Verfahren der Rechtsgewinnung kann den Anforderungen der Gerechtigkeit nur genügen, wenn es den Kriterien der Gleichheit, der Fairness und der Ausgewogenheit entspricht. Das gelingt nur, wenn alle Beteiligten eine gemeinsame Streitkultur schaffen, in der sich das Recht auf rechtliches Gehör verwirklichen kann. Das ist möglich, wenn alle Beteiligten – trotz ihrer gegensätzlichen Rollen – Respekt voreinander haben.

1. Streit, Entscheidung und Ausgleich

1.1. Die Entstehung der Streitkultur

„Der Krieg führt zusammen
und Recht ist Streit
und alles Leben entsteht
durch Streit und Notwendigkeit.“
2

Dieses Fragment Heraklits, ist wie sein Satz „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“3 wohl die erste Bemerkung über die Streitkultur, die wir kennen4.

Drei Aspekte sind es, die sie für uns besonders interessant machen:

  • „Der Krieg führt zusammen“ – er trennt also nicht,
  • das „Recht ist Streit“ – also nicht Harmonie
  • und schließlich entsteht das Leben aus „Streit und Notwendigkeit“, also nicht aus Konfliktscheu und Überfluss.

Es ist das Spiel mit den Gegensätzen, das dieses Fragment auszeichnet.

Die Entwicklung solcher Spannungsbögen, die auch Form und Inhalt miteinander verbinden, ist eine hohe, bis heute wirkende Kulturleistung, denn ob wir mit Rudolf von Jhering vom „Kampf ums Recht“ oder mit Heraklit vom Recht als Streit reden, ist kein großer Unterschied. Man kann kaum abschätzen, wie viele tausend Jahre es gebraucht hat, um von den Anfängen der Sprachkultur bis zur Streitkultur vorzudringen, die schon vor 2.500 Jahren in voller Blüte vor uns steht.

Heraklits dunkle Bemerkung vom Krieg als Vater aller Dinge lässt sich gewiss so deuten: Ganz am Anfang müssen wir sprachlos und blind über uns hergefallen sein und uns gegenseitig erschlagen haben, wenn wir uns nicht ausweichen konnten.

Tatsächlich ist es auch heute noch so in den segmentären Gesellschaften von Jägern und Sammlern, die wir in entfernten Gegenden beobachten können: dort gibt es mehr oder weniger regellosen Krieg, wenn Rangkämpfe in der Horde oder Revierkämpfe mit anderen Horden stattfinden. Wer unterliegt muss ausweichen. Er wird in die Natur verjagt, die er außerhalb der Horde nicht mehr beherrschen kann, nicht die Horde sondern die Natur spricht das Urteil.

Erst wenn Ansiedlungen entstehen, wenn also die Kontrahenten unter definierten Raum-/Zeitbedingungen um das Recht streiten, wenn das Ausweichen immer schlechter möglich ist, wird die Ebene des Krieges verlassen und wir können vom Streit sprechen. Was ist der Unterschied zwischen beiden? Im Krieg gibt es keine Gesetze5 und es wird Gewalt angewendet. Streit hingegen läuft auch dann nach Regeln ab, wenn man sie vorher nicht vereinbart hat, denn sie sind Teil der allgemeinen Kommunikationskultur6.

Streitkultur im Recht umfasst alle Regeln, an die wir uns trotz des Streites miteinander halten, Regeln, die notwendig sind, damit ein Dritter über den Streit entscheiden kann. Diese fünf Regeln lauten:

  • Es wird mit der Sprache und nicht mehr mit der Faust gestritten.
  • Alle müssen das Werkzeug des logischen Denkens benutzen.
  • Man sucht nach der Wahrheit und dazu lernt man zwischen Tatsachen und Meinungen zu unterscheiden.
  • Man entwickelt Distanz und Respekt vor den unterschiedlichen Perspektiven, die jeder einnimmt.
  • Wer seine Gefühle äußert, muss auch die Fähigkeit entwickeln, sie zu bändigen und auf die Gefühle anderer Rücksicht zu nehmen.

1.2. Rechtssysteme im Westen

Aus diesen Rahmenbedingungen der Streitkultur sind in Europa und Amerika Rechtssysteme entstanden, die ihre vielfältigen Wurzeln aus der griechischen Rhetorik, der Erfindung des Denkens in Ansprüchen bei den Römern, der Auslegung der Thora bei den Juden und germanischen Stammesrechten ebenso gezogen haben, wie aus mittelalterlicher Scholastik, dem Kirchenrecht oder den vielfältigen Verfahrensordnungen, die überall entstanden sind. Form und Inhalt waren vielfältig ineinander verwoben und nicht wie heute systematisch sauber getrennt.

1.3. Harmonie statt Streit – der Osten

Wir kennen allerdings im Osten große Bereiche, die ganz andere Streitkulturen entwickelt haben als die, die wir in den westlichen Kulturkreisen kennen. Sie finden sich schon bei den Naturvölkern, die Konflikte kommunikativ zu beseitigen versuchen, in dem sie gemeinsam nach den Wurzeln von Konflikten graben, den Gefühlen freien Lauf lassen, um so – „djugaruru“ zu finden – den „geraden Weg“, wie die australischen Ureinwohner ihre Rechtsvorstellung bezeichnen7. In langen, nicht enden wollenden Gesprächen wird der Konflikt durchgearbeitet, es ist längst alles gesagt worden, aber noch nicht von allen, aber das ist wichtig, denn erst beim Sprechen jedes Einzelnen ändern sich seine Gefühle und so auch seine Perspektive.8

In vielen Ländern Asiens haben sich aus diesen Anfängen ganz andere Verfahren entwickelt, als wir sie in unserer heutigen Streitkultur finden. Die Interessengegensätze und die Spannungen zwischen den Menschen sind die Gleichen, aber es wird früher nach Harmonie und Ausgleich gesucht. Verhandlungen über widerstreitende Gegensätze heißen in Japan: „nemawashi“ – „gemeinsam die Wurzeln freilegen“. Vor aller Augen steht dabei das Bild einer Arbeitsgruppe, die die unterschiedlichen Interessen freilegt, um aus ihnen dann etwas Gemeinsames entstehen zu lassen9. Schwerstarbeit ist es, und es mag auch Streit hier und da aufflammen, aber das gemeinsame Verständnis ist Arbeit und nicht Auseinandersetzung10. Kommt es bei dieser Arbeit zu offenen Auseinandersetzungen, verzichtet man eher auf Rechtsansprüche, ehe man dabei sein Gesicht verliert. Das chinesische Zeichen für: „Gesicht“ bedeutet auch: „Beziehungen“. Wer sein Gesicht verliert, verliert seine Beziehungen: Diese Beziehungsnetze sind in den asiatischen Kulturen aber viel wichtiger als bei uns, denn dort ist die Gruppe das tragende Element und nicht der Einzelne11.

Recht als Ordnungssystem wird im Westen und im Islam aus der Perspektive des Jägers gesehen, der das Unrechte aufspüren und zur Strecke bringen soll. Deshalb ist die westliche Streitkultur von Strukturen geprägt, die wir bei Wettbewerben jeder Art antreffen und die ein allgemein akzeptiertes faires Ergebnis sichern sollen: Es gibt formale und inhaltliche Regeln und neutrale Richter entscheiden über Sieg und Niederlage.

Die östliche Auffassung ist ganz anders: Hier wird der Jäger zum Gärtner, der für den Ausgleich der einzelnen Elemente untereinander sorgen muss, nur in seltenen Fällen unmittelbar eingreift. Diese Systeme vertrauen mehr auf Selbstregulierung als auf richterliche Entscheidung.

Ruth Benedict12 hat die westlichen Strukturen als „Schuldkultur“ und jene im Osten als „Schamkultur“ bezeichnet. Der Unterschied zwischen beiden Perspektiven ist aber nicht so groß, wie er auf den ersten Blick zu sein scheint. Das Gleichgewicht der Kräfte funktioniert nämlich sehr oft nur deshalb, weil die an einem möglichen Konflikt Beteiligten sich an sehr strenge Spielregeln halten, so dass es oft genug gar nicht erst zum Konflikt kommt. Vor allem in Japan gilt das Sprichwort: „Der Nagel, der heraussteht, wird eingeschlagen“. Die daraus entstehende Gruppendisziplin kommt uns aus deutscher Sicht sehr vertraut vor.13

Kurz: es gibt gewiss in den östlichen Kulturen nicht weniger Konflikte als bei uns, aber sie werden dort in viel größerem Umfang außerhalb der Rechtssysteme ausgetragen und geregelt. Nicht nur die Entscheidung eines Gerichts wird als endgültig akzeptiert sondern auch der Hinweis auf Konventionen, angemessenes Gruppenverhalten, drohende Beziehungsverluste etc.

Man sieht auf den ersten Blick, wie stark diese außerrechtlichen Regelungsmechanismen sind, wenn man einmal die Zahl der Anwälte in unterschiedlichen Ländern miteinander vergleicht. Anwälte werden nämlich nur dort gebraucht, wo Rechtssysteme überwiegend Konflikte regeln. Dazu drei Vergleichszahlen:

  • In USA waren im Jahr 2005 1.104.766 Anwälte tätig14. Die Bevölkerungszahl betrug damals 295.734.13415. Folglich wurden 267 Einwohner durch einen Anwalt betreut, wobei die Anwalts-dichte natürlich in den Großstädten viel größer ist als auf dem flachen Land.
  • In Deutschland hatten wir zum gleichen Zeitraum eine Bevölkerung von 80.430.00016 und gleichzeitig waren 133.113 Rechtsanwälte tätig17, also hatten wir einen Anwalt auf 619 Einwohner.
  • Japan hingegen hatte bei einer Bevölkerungszahl von 127.417.24418 nur etwa 20.000 Anwälte19, die im Übrigen hauptsächlich in der Region zwischen Tokio und Osaka tätig sind. Statistisch betreut also ein Anwalt 6.370 Einwohner, de facto aber wahrscheinlich auf dem flachen Land eher die doppelte Zahl.

Alle drei Länder sind politisch und wirtschaftlich sehr ähnlich strukturiert, gelten innerhalb ihrer Erdteile trotz vieler Kritik als führend und haben doch so unterschiedliche Konfliktregelungs-strategien entwickelt! Das zeigt sich deutlich, wenn man Japan mit Indien oder China vergleicht: Für Indien und China stehen kaum belastbare Vergleichszahlen zur Verfügung, dort schätzt man aber eine ähnliche Anwaltsdichte wie im ländlichen Japan, also ein Anwalt auf ca. 10.000 bis 12.000 Einwohner.

Man kann an der Zahl der Anwälte auch ablesen, ob ein Rechtssystem von der Bevölkerung akzeptiert wird oder nur zum Schein errichtet ist: 1989 gab es in der damaligen DDR etwa 530 Rechtsanwälte20. Bezogen auf die damalige Einwohnerzahl von ca. 16,3521 Millionen hätte ein Anwalt über 30.000 Einwohner betreuen müssen. Bei der Mehrzahl der Gerichtsverfahren vor allem im Rahmen der betriebsinternen Konfliktregelungen wurden Anwälte allerdings ganz bewusst nicht beteiligt. Nur Nordkorea hatte eine geringere Anzahl von Anwälten.

Die bemerkenswerten Unterschiede in der Anwaltszahl die man auch innerhalb der westlichen Rechtssysteme wahrnimmt, erklären sich in erster Linie aus der unterschiedlichen Ausgestaltung zwischen den Ländern, die weitgehend kodifiziertes Recht verwenden und jenen, die stärker mit dem „Case-Law“ arbeiten. Es ist ein erheblich höherer Aufwand, festzustellen, ob ein bestimmter Fall einem anderen vergleichbar ist, der schon entschieden wurde, oder ob man sich im Wesentlichen auf den Gesetzestext stützen kann und die Rechtsprechung nur ergänzend zur Klärung einzelner Probleme hinzuzieht. Deshalb ist auch der finanzielle Aufwand für Rechtsberatungen in den anglo-amerikanischen Ländern viel höher als bei uns.

Die verschiedenen Streitkulturen finden schwer zueinander und besonders interessante Mischungen entstehen in Japan, wo man die westlichen Rechtssysteme wie wertvolle Schwerter zur Schau stellt, sie aber selten – und meist nur gegen Ausländer – benutzt.

2. Die Elemente der Streitkultur

2.1. Das Werkzeug der Streitkultur: Die Sprache

Von Anfang an war die Sprache das bestimmende Element der Streitkultur. Protagoras war wohl der erste der „Wettkämpfer in der Kunst des Redekampfes, (ein) Mann also, der sich die Streitkunst als Feld seines Ehrgeizes erkoren hatte“22. Hier fällt erstmals der Begriff „Streitkunst“, hier wird sie erstmals als Wettkampf bezeichnet und nur wenig später spricht Aristoteles von uns als den politischen Wesen deren „Sprache dazu bestimmt (ist) das Nützliche und Schädliche kundzutun und also auch das Gerechte und Ungerechte“23 – auch hier wieder die Brücke zwischen dem Streit und der Suche nach gerechten Ergebnissen.

Von Beginn an sieht man bereits die Probleme, die daraus entstehen, dass mit Worten und Sprache gekämpft wird, denn diese Waffen sind nicht so eindeutig wie Schwert und Lanze. Die Frage der ethischen Rechtfertigung von Rede und Gegenrede, das Problem von Lüge und Wahrheit ist bei der Debatte um Protagoras schon voll entflammt, einem Mann, dessen Redekunst so nachgefragt war, dass er mehr verdiente als der schon nicht schlecht bezahlte Bildhauer Phidias. Seneca berichtet: „Protagoras behauptet, dass man über jede Sache mit gleichem Rechte nach beiden Seiten diskutieren könne auch eben darüber, ob sich über jede Sache nach beiden Seiten diskutieren lasse“24. Die Fähigkeit sophistischer Redner, für ein Problem genauso gute Argumente wie Gegenargumente zu finden, ist von Anfang an kritisiert worden und zwar von Plato, mehr noch aber von Aristoteles25.

Die Regeln der Streitkultur haben mit solchen moralischen Fragen solange nichts zu tun, als wir uns auf der Ebene der Verhaltensregeln bewegen. Bei der Sachentscheidung allerdings können sie eine Rolle spielen. Aus der Sprache sind dann ebenfalls sehr früh die Texte26 entstanden, die das Rechtssystem beschreiben. Ebenso wie die Sprache sind Texte von Natur aus mehrdeutig, da sie Realität beschreiben, sie aber auch verleugnen können. Bis vor sehr kurzer Zeit stoßen wir immer wieder auf die naive Auffassung, Text könne mit genügend gutem Willen eindeutig und widerspruchsfrei gelesen werden.

Jonathan Swift hat sich darüber schon in „Gullivers Reisen“ lustig gemacht. Im Lande „Brobdingnag“ ist angeordnet: „Kein Gesetz in diesem Land darf mehr Worte umfassen, als das brobdingnaggische Alphabet Buchstaben enthält, und das sind nur zweiundzwanzig. Die meisten Gesetze sind sogar wesentlich kürzer. Sie sind in einer einfachen und klaren Sprache abgefasst; es fehlt diesen Leuten an Geschick, mehr als einen Sinn in ihnen zu finden. Wer Gesetzeskommentare schreibt, gilt als Verbrecher und wird strafrechtlich verfolgt“.27 Noch 60 Jahre später hat Friedrich der Große den ernst gemeinten Versuch gemacht, ein lückenloses Gesetz zu schaffen. In seiner „Allerhöchsten Königlichen Cabinets-Ordre die Verbesserung des Justiz-Wesens betreffend“ vom 14.04.1780 heißt es: „Dagegen aber werden wir nicht gestatten, dass irgendein Richter, Collegium oder Etats-Ministre unsere Gesetze zu interpretieren, auszudehnen oder einzuschränken, viel weniger neue Gesetze zu geben sich einfallen lasse.“28 Damit hatte er das Todesurteil über das Preußische Allgemeine Landrecht gesprochen, denn ein Gesetz, das man nicht auslegen darf, ist nicht lebensfähig. Die Gesetze sollen die Realität einfangen, wie in einem Netz, aber die Maschen müssen groß genug sein, um alles durchfließen zu lassen, was dem Gesetzeszweck nicht dient. Der Streit um die richtige Größe dieser Maschen ist es, der das Netz funktionsfähig erhält. Man sieht das am deutlichsten im Steuerrecht: Immer wieder wird von Leuten, die die Funktion des Rechtssystems nicht wirklich verstanden haben, von den Schlupflöchern gesprochen, die hier und da gelassen worden seien. Das sind aber, wie wir wissen, jene Stellen, die offen bleiben müssen, damit das Ganze überhaupt funktioniert. Netze haben Löcher, damit sie flexibel sind. Wäre es anders, müsste man den Artisten raten, sich fünf Meter unter der Zirkuskuppel einen Betonboden einziehen zu lassen, weil die Netze zu große Löcher haben!

Auch die wissenschaftliche Durchdringung der Funktion von Sprache in Linguistik, Semiotik und den Arbeiten zur formalen Logik hat uns gezeigt: Wir müssen uns mit der Mehrdeutigkeit der Sprache nicht nur abfinden sondern erkennen, dass nur sie uns die unterschiedlichen Perspektiven liefert, aus denen die Realität sich im jeweiligen Verfahren rekonstruieren lässt29.

Man kann die Mehrdeutigkeit der Sprache besser in den Griff bekommen, wenn man sich darüber klar wird, dass wir im Rechtsstreit stets drei unterschiedliche Sprachebenen benutzen:

  • Die Alltagssprache bei der Schilderung des Sachverhalts,
  • Spezialsprachen (z. B. diejenigen der Architekten, der Informatiker, der Ärzte etc.) bei der Beschreibung von Tatsachen, die nur in diesen Sprachen erfassbar sind.
  • Die juristische Sprache, die die Rechtslage schildert.

Immer wieder wird die sinnlose Forderung erhoben, die Rechts-sprache müsse allgemeinverständlich sein. Wäre sie das, würde sie ihre Aufgabe nicht erfüllen. Allgemeinsprachlich mag man von „Besitz“ sprechen, wenn man “Eigentum“ meint, bei der Beurteilung der Rechtslage darf das nicht geschehen. Dass die Sprache die Basis jeden rechtlichen Verstehens und Handelns ist, hat niemand besser ausgedrückt, als Konfuzius:

„Wenn die Sprache nicht stimmt, so ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist; ist das, was gesagt wird, nicht das, was gemeint ist, kommen die Werke nicht zu Stande; kommen die Werke nicht zu Stande, so gedeihen Moral und Kunst nicht; gedeihen Moral und Kunst nicht, so trifft die Justiz nicht; trifft die Justiz nicht, so weiß die Nation nicht, wohin Hand und Fuß setzen. Also dulde man keine Willkürlichkeit in den Worten. Das ist es, worauf alles ankommt.“30

Allerdings ist zu bedenken, dass die Sprache des Rechts – anders als etwa technische Fachsprachen – das Material darstellt, aus dem für uns alle – ob wir Juristen sind oder nicht – Recht und Gerechtigkeit entstehen sollen. Man kann gewiss auch wortlos gerecht handeln, aber wird damit keine für andere nachvollziehbaren Maßstäbe setzen. Wie kann man es schaffen, juristische Sprache als Fachsprache zu belassen und gleichzeitig die Forderung erfüllen, die so geschaffenen Ergebnisse müssten jedermann verständlich sein?

Die Antwort ist einfacher als man denkt: Die Juristen müssen auf allen drei Sprachebenen Übersetzungsarbeit leisten. Der Anwalt muss seinem Mandanten anders schreiben als dem Gericht und nicht umsonst trennt das Gericht den Tatbestand von den Urteilsgründen: Der Tatbestand muss allgemeinverständlich geschildert sein, die Rechtsgründe hingegen müssen das rechtlich relevante so übersetzen, dass auch die Parteien verstehen, was gemeint ist. Diese Arbeit kann nur von Juristen gemacht werden, da nur sie gelernt haben, wie man sich in allen drei Ebenen richtig bewegen kann. Diese Aufgabe wird umso schwieriger, je weiter die drei Ebenen jeweils voneinander entfernt sind. Schwierig wird es darüber hinaus, wenn man – wie etwa im Steuerrecht – nicht mehr davon ausgehen kann, dass der Gesetzgeber seinen eigenen Text versteht, weil er nicht einmal innerhalb der Fachsprache nachvollziehbar ist.

Alle Versuche, die juristische Fachsprache mit der Allgemeinsprache zu versöhnen, sind gescheitert, weil jede dieser Sprachen einen eigenen Zweck erfüllt, der von der anderen nicht geleistet werden kann. Die Lösung besteht darin, die Juristen an ihre Aufgabe als Übersetzer zu erinnern.

2.2. Die Logik der Debatte31

Rechtssysteme müssen der formalen Logik32, auch der Sprachlogik gehorchen, weil es feste Strukturen geben muss, innerhalb derer man Argumente austauschen kann. Im Zentrum steht die Vermeidung der Widersprüche: Einen Mord in Köln kann niemand begehen, der gleichzeitig in Hamburg ist und auch der Begriff „gleichzeitig“ muss widerspruchsfrei sein. Wer sich wie wir täglich im Minenfeld der Widersprüche bewegt, dessen Toleranzgrenzen sind nicht sehr hoch, wenn er sich mit Leuten streitet, denen die Denkgesetze ein ewiges Geheimnis bleiben werden – das ist der Mutterboden der Ironie, die wir als Salz in die Wunden der Gegner streuen, die es wieder mal nicht gerafft haben.

Ich war ganz begeistert, als ich in meinem ersten Semester in Berlin 1965 das gerade erschienene Buch „Logik für Juristen“ entdeckte, ein Buch unseres heutigen Anwaltskollegen Egon Schneider33, damals Landgerichtsrat in Köln. Egon Schneider hat den großen Vorzug, sowohl die Streitkultur der Richter wie die der Anwälte bestens zu kennen und wir verdanken ihm eine Vielzahl von Veröffentlichungen, die aus beiden Welten berichten. Ich glaube dabei herauszulesen, dass wir beide ein ganzes Berufsleben gebraucht haben, um zu lernen, dass die Logik nur die Statik des Systems ausmacht, sein Skelett, auf das wir als Fachleute den Röntgenblick werfen, das für die Übrigen aber völlig anders aussieht:

Angefüllt mit unzähligen Tatsachen, die mit der Sache selbst nichts zu tun haben, umrankt von Gefühlen, die natürlich auch nichts mit der Sache zu tun haben und überwuchert von Ansichten die endgültig mit der Sache nichts mehr zu tun haben. Mit schwerem Gerät müssen wir hier erst einmal an die Aufgabe gehen, den Kern des Problems im Streit sichtbar zu machen. Wollte man Vereinbarungen darüber aushandeln, kämen wir nie zu einem Ergebnis!

Aber auch der Bundesgerichtshof, der Gralswächter der Denkgesetze, vermag solchen Irrtümern nicht auszuweichen, vor allem wenn er sich kritischen Themen nähert wie der Lohnsteuerfreiheit gewerbsmäßiger Unzucht34 oder der Unerreichbarkeit eines verdeckten Ermittlers in Rauschgiftsachen35, bei denen es sehr schwer ist, der Versuchung zu widerstehen, sich die Begründungen passend zu machen.

Leider hat sich auch die Hoffnung nicht erfüllt, wenigstens im Bereich der Logik Hilfsmittel zu finden, um die gröbsten Irrtümer zu vermeiden.

In den 60‑er und 70‑er Jahren, als die Computer sich langsam zu einem allgemeinen Werkzeug entwickelten, glaubte man noch, man könne mit formal logischen Operatoren eine Art Nürnberger Trichter konstruieren, bei dem man oben die Tatsachen hinein schüttet und unten die Urteile heraus kommen36. Fritjof Haft hat eine unglaubliche Mühe in den Versuch gesteckt, diese Maschine wenigstens beim § 147 StGB, der sich mit der Unfallflucht beschäftigt, zum Laufen zu bringen. Die Forschungsgruppe ist nach langen Anstrengungen am Ende gescheitert und hat es mit Humor getragen. Sie haben stattdessen Lernwerkzeuge entwickelt, in die diese Erfahrungen eingeflossen sind37.

Warum scheitern wir Juristen an einem einzigen Paragraphen, während die Biologen das menschliche Genom entschlüsseln? Der Grund ist schnell erklärt: Die Genome haben keine Konflikte, weder mit sich noch mit uns! Rechtswissenschaft ist Verständigungswissenschaft38 und kann deshalb an naturwissenschaftlichen Kriterien nicht gemessen werden.

Neurobiologische Forschungen legen uns in letzter Zeit nahe, anzunehmen, dass es jedenfalls mit der Handlungsfreiheit nicht weit her sein kann und manche nehmen an, auch die Willensfreiheit sei eine Illusion39. Wenn das wirklich so ist, hätte die Schuldkultur ihr Thema verloren und müsste sich in eine „Verantwortungskultur“ verwandeln. Sie rückte dann näher an die Modelle der Schamkultur heran40.

2.3. Tatsachen, Meinungen und Lügen

Der Streit um die Tatsachen ist bei all dem viel heftiger als jener um die Meinungen. Das beruht auf dem systematischen Unterschied zwischen beiden, denn sobald ein Werturteil einsetzt, ist das Verständnis für die Tatsachen getrübt, wie Max Weber festgestellt hat41. In der Welt der juristischen Streitkultur, brauchen wir die philosophische Frage: Was sind Tatsachen? – oder weiterführend:

Was ist Wahrheit? – nicht zu stellen, denn wir können uns darauf beschränken zu fragen: Welche Tatsachen können wir im Streit und im Verfahren ermitteln? Auf welche können wir uns einigen? Es ist sinnvoll diese Fragen davon zu trennen, wie man die Tatsachen dann bewertet, denn dort sind die Einigungschancen weit geringer als dort, wo die Sachen sich hart im Raume stoßen42. Man sollte sich deshalb um Meinungen erst streiten, wenn man den Sachverhalt geklärt hat und jeder erfahrene Anwalt weiß, dass darin 80 % unserer Arbeit steckt, wenn wir sie richtig machen. Über das rechtliche Ergebnis gibt es dann oft genug nichts zu streiten. Aber der Weg zu den Tatsachen ist dornenreich, denn wir alle konstruieren unsere Welt nun einmal so, wie wir sie brauchen43. Diese Subjektivität steht jedem zu. In die Diskussion um die Frage „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ (Watzlawick) mischt sich immer wieder die Behauptung ein, die Radikalen Konstruktivisten leugneten, dass es Realität überhaupt gäbe. Solche Ansätze finden sich zwar schon in den Debatten der Sophisten, die moderne Diskussion dreht sich aber nicht um solche Sophistereien. Sie wendet sich nur gegen die Vorstellung, man könne Wirklichkeit und damit Wahrheit suchen wie einen Diamanten im Heuhaufen. Tatsächlich aber ist hier – wie auch in anderen Bereichen – der Weg das Ziel und Wahrheit das, was wir in Händen haben, wenn wir die Suche abbrechen.

Diese Erkenntnis gilt umso mehr in allen rechtlich konstruierten Verfahren, denn sie haben natürliche Grenzen in Raum, Zeit und Gegenstand. Es ist sinnlos, einen Prozess zu entscheiden, bei dem die Beteiligten längst verstorben sind und bei unklarer Tatsachenlage muss man in angemessener Zeit auch dann zum Freispruch kommen, wenn der entscheidende Zeuge fehlt. In welchem Umfang wir solche Beschränkungen in rechtsstaatlichen Verfahren akzeptieren müssen, hängt ausschließlich davon ab, wie viel wir über die jeweiligen Perspektiven der Beteiligten erfahren.

Aufgabe der Juristen ist es, sich auch vorstellen zu können, wie dieser Sachverhalt aus der Perspektive des Gegners oder anderer Beteiligter wohl ausgesehen haben mag. Darin steckt ein wesentlicher kreativer Beitrag, über dessen Inhalt und Form trefflich gestritten werden kann. Schon hier geraten wir Anwälte in unmittelbare Gegnerschaft zu unseren Mandanten und fechten Probleme aus, die der Richter nicht mehr sieht, sondern allenfalls ahnt. Wer nach der Wahrheit sucht, begegnet erst mal einem Haufen Lügen als Abfall – das ist wie beim Kartoffelschälen. Da die meisten Zeugen keinen Anwalt damit beauftragen, ihr Sparringspartner in diesen Fragen zu sein, wird nirgendwo mehr gelogen als vor Gericht. Mich überrascht das genauso wenig, wie die Behauptung, es gebe nirgendwo mehr Prügel als im Boxring: Hier wie dort ist kein Ausweichen erlaubt, der Prozess stellt für die Zeugen eine geschlossene Situation dar, bei der sie sich – anders als im normalen Leben – nicht ins Schweigen flüchten dürfen.

So entsteht in den Tatsacheninstanzen eine ganz andere Streitkultur als etwa bei den Revisionsgerichten, die sich mit den Tatsachen nicht beschäftigen dürfen. Dort gehen die Beteiligten so gentle-manlike miteinander um, weil sie es gewöhnt sind, sich nur über Meinungen auszutauschen. Die Zivilsenate44 des BGH beharren auf dieser Streitkultur, die eher derjenigen eines Kammerorchesters gleicht, während die anderen Revisionsgerichte sich gelegentlich mit uns staubigen Gesellen von der Tatsachenfront herum schlagen müssen, die da stillos herum polemisieren.

2.4. Respekt vor den unterschiedlichen Perspektiven und Gefühlslagen

Aber diese Diskussionen sind nichts im Vergleich mit jenen, die die einzelnen Berufsgruppen voneinander unterscheiden: Parlamentarier streiten anders über Gesetze als Anwälte in den Prozessen oder die Richter in ihren Beratungszimmern. Jeder hat seine eigene Streitkultur und muss lernen, dass die Welt aus der Perspektive der anderen nicht so aussieht, wie er sie sehen will.

2.4.1. Die Parlamentarier

Die Parlamentarier befassen sich leider zu wenig mit der handwerklichen Kunst des Gesetzemachens, weil sie ihre Zeit lieber damit verbringen, sich gegenseitig Meinungen an den Kopf zu werfen, die die andere Seite sowieso nicht hören will. Häufig ufert das aus: „Amokläufer, Bauernkiller, Dreckschleuder, Lackschuh-Panther, Beamtenkuh, Cheflügner und Obertünnes“ – das ist nur eine kleine Auswahl original dokumentierter Beleidigungen im Parlament. Einer der kreativsten auf diesem Gebiet, Herbert Wehner, hat sogar die Kunst der abstrakten Beleidigung entwickelt. Er beschäftigt noch heute so manchen Germanisten mit der Frage, was er wohl mit einem „Frühstücksverleumder“ oder gar einem „Düffel-Doffel“ gemeint haben könnte45.

Solche massiven Regelverletzungen legen den Verdacht nahe, dass es sich nicht mehr nur um den Streit über die Gesetze handelt, sondern um Geschrei bei der Verteilung der Kriegsbeute, ganz jenseits jeglicher Streitkultur.

Demgegenüber sind Beleidigungen im Gerichtssaal gar nicht erwähnenswert. Es gibt schon einmal jemand, der in einer Verkehrssache auf das Letzte Wort verzichtet, weil er seiner Ansicht nach vor Gericht ja nur „auf dem Bauch zu liegen und ja und amen zu sagen“46 hat. Und von einer Anwältin ist dokumentiert, sie habe dem Vorsitzenden zugerufen „Sie machen sich doch lächerlich“47. Beide Bemerkungen wurden zunächst geahndet, die Ordnungsbeschlüsse später aber wieder aufgehoben, denn Streit ohne eine gewisse Toleranz auch für Ausrutscher kann man nicht führen.

2.4.2. Die Rechtsanwälte

Die Anwälte streiten um Perspektiven, also darüber, wie man Tatsachen und Meinungen sehen sollte. Sie tun das streng aus der Sicht ihrer Parteien, die dafür ja niemand anderen haben und diese Arbeit nicht selbst machen können: Im Streit braucht man den Stellvertreter, weil den die Gefühle der Streitenden nicht überschwemmen. Er mag sich von emotional aufgeladenen Situationen zwar anstecken lassen, kann aber immer wieder zu sich zurückkehren, da er selbst vom Streit nicht betroffen ist.

Die Institution der Stellvertretung hat weit jenseits des rechtlichen Bereichs eine hohe Bedeutung in unserem sozialen Gefüge48. Die Vorstellung, das jeder unter allen Umständen für sein eigenes Handeln die volle Entscheidungsverantwortung trage, erweist sich bei näherem Hinsehen als unzutreffend: Von Anwälten, Ärzten und anderen Experten erwarten wir Entscheidungsvorschläge, deren Wert wir selbst nicht beurteilen können. Sie sind keineswegs auf Fachfragen beschränkt, sondern gipfeln regelmäßig in der Frage: „Wie würden Sie an meiner Stelle entscheiden?“ Auch in gruppendynamischen Prozessen jeder Arte wird Verantwortung bewusst oder unbewusst auf andere delegiert, was unmittelbar Einfluss auf das Schuld- und Verantwortungsgefühl des Handelnden hat49.

Der Stellvertreter erfüllt so auch die Funktion des Sündenbocks50, wie wir in manchen Mandatsbeziehungen erleben, in denen wir versuchen, unseren Mandanten die Perspektiven der anderen Seite zu erläutern.

Diese Arbeit kann lebensgefährlich sein, weil andere Prozessbeteiligte den Stellvertreter von seinem Mandanten häufig genug nicht unterscheiden können51.

Um die Streitkultur untereinander nicht zu gefährden haben Anwälte seit jeher dafür gesorgt, durch berufsrechtliche Regelungen unter sich eine Streitkultur herzustellen, die es ermöglicht, Personen und Sachen zu trennen. So bildeten die Anwälte in früheren Zeiten einen Club unter sich, einen „Orden“ wie die niederländischen Anwälte sich bezeichnen (De Orden van de niederlands Advocaaten). Auch die französischen Barreaux haben sich als „L’ordre des avocats“ verstanden52. Der Versuch, diese Strukturen in die Moderne zu retten, ist leider gescheitert: Die Franzosen konnten ihre elitäre Stellung gegenüber den andrängenden englischen und amerikanischen Büros nicht wirksam verteidigen, aber auch das Alltagsgeschäft wie etwa die Regulierung von Verkehrsunfällen wurde ihnen von den Versicherungen weggenommen – Entwicklungen, die wir auch in Deutschland, wenn auch in gemildert, erlebt haben.

2.4.3. Die Richter

Anwaltliches Denken entsteht aus dem Streit, richterliches Denken aus dem Entscheidungszwang. Anwälte arbeiten an dem, was Wahrheit sein könnte, Richter müssen uns sagen, was innerhalb der Verfahrensregeln feststellbare Wahrheit ist. Sie müssen unter den verschiedenen Perspektiven eine als die Richtige auswählen, eine als die Wahre bezeichnen. Das ist vor allem für nachdenkliche Richter nicht einfach. Sie kennen vielleicht die Szene in der der Richter nach dem Vortrag des Klägers zustimmend nickte und dem Beklagten nach dessen Vortrag sagte: „Sie haben ganz recht“. Empört springt im Zuschauerraum ein anderer Anwalt auf und sagt: „Sie können doch nicht gleichzeitig beiden Parteien recht geben!“ – „Dem kann ich kaum widersprechen“ sagte der Richter und vertagte.

Rechtssysteme, die auf ihre logische und systematische Richtigkeit vertrauen, wie wir das vor allem in Deutschland haben, sehen nicht immer mit der gebotenen Klarheit, dass zu dieser Arbeit viel Lebenserfahrung gehört. Anders die amerikanischen Rechtssysteme: „Justice“ ist die Bezeichnung sowohl für die Gerechtigkeit wie für den Richter, ein Begriff, der System und Person auf einleuchtende Weise zusammenfügt. Und so ist es unumgänglich, dass auch die einzelnen Personen, die Richter sind, sich in den Kollegialgerichten untereinander streiten, wie zu entscheiden ist. Bei uns geschieht das meistens geschützt vom Deckmantel des Beratungsgeheimnisses. Leise, aber doch vernehmbar kommen jetzt auch wir in den Genuss der dissenting votes53.

Die Richter haben den großen Vorzug, dass sie nach außen hin völlig die Ruhe bewahren dürfen und sich mit niemand streiten müssen. Wie weit sie sich auf das Risiko des Rechtsgesprächs einlassen, ist die persönliche Entscheidung jedes Richters. Je weiter man nach Norden kommt, um so mehr nimmt die Leidenschaft dafür ab.

Es hat Zeiten gegeben, in denen die Richter es an Respekt vor den anderen Prozessbeteiligten haben fehlen lassen, ja, es gab auch Zeiten, in denen sie ihre wahre Aufgabe völlig vergessen haben. Die obrigkeitsstaatlichen Attitüden, die noch weit in die Weimarer Zeit reichten, wird man aus dem Selbstverständnis dieser Zeit heraus milder beurteilen als Kurt Tucholsky, der dem Angeklagten empfahl, die Hacken zusammen zu klappen, die Hände an die Hosennaht zu nehmen und laut zu rufen: „Ich habe meine Strafe verdient und bitte um eine gehörige solche!“.

Das Auftreten der Nazi-Richter oder die stalinistischen Säuberungs-prozesse in Moskau, Prag, Budapest oder Berlin kann man nicht mehr unter den Kategorien der Streitkultur bewerten. Was dort geschah war Krieg und auf Krieg kann man mit den Mitteln des Rechts nicht antworten.

2.4.4. Die Staatsanwälte

Die Staatsanwälte allerdings scheinen von der Streitkultur ausgenommen, denn ihrer eigenen Einschätzung nach sind sie ja „die objektivste Behörde der Welt“54. Und wer so objektiv ist, der kann sich doch um nichts streiten?

Wenn Sie mit mir einig sind, dass es eine allgemein feststellbare Objektivität ohnehin nicht gibt, sondern nur das Bemühen, die Dinge aus möglichst vielen Perspektiven zu betrachten, dann bedeutet der Satz im Kern, dass die Staatsanwälte sich genau darum bemühen wollen. Dem stehen aber etliche Hindernisse im Weg. Ich glaube, auch die Staatsanwälte wissen, dass der Staat, der ihnen die Weisungen gibt, damit zunächst einmal seine eigenen Interessen verfolgt, und das es eine große moralische Anstrengung braucht, um sich dieser Interessen bewusst zu sein. Anwälte dürfen offen sagen, welche Interessen sie vertreten, Staatsanwälte nicht immer. Ent-scheidend ist aber, dass auch Staatsanwälte Gefühle haben. Wie finden Sie folgenden Prozessbericht: „Keiner der Angeklagten zeigte irgendwelche Gefühle, als das Urteil verlesen wurde, während der Oberstaatsanwalt Mühe hatte, seine Freudentränen zurückzuhalten“55. Ich meine, wenn wir Anwälte uns über einen Freispruch freuen, müssen wir es auch den Staatsanwälten gestatten, dass sie die Contenance verlieren, wenn sich die Türen der Gefängnisse für ihre Stammkunden in die richtige Richtung öffnen.

Ich lasse diese Frage einstweilen offen, denn ihre Lösung wird uns in den Schoß fallen, wenn wir dem Zusammenhang zwischen Rechtsstreit und Gefühlen näher nachgehen.

2.4.5. Die Verwaltungsjuristen

Auch die Verwaltungsjuristen gehören nicht zu denen, die das Streiten gelernt haben. Sie müssen ja nur den Buchstaben des Gesetzes und der Verwaltungsanordnungen umsetzen und geraten so in den Verdacht, dabei immer weniger zu denken oder gar zu fühlen. Dieser Verdacht ist aber falsch: Jedenfalls in den höheren Verwaltungsrängen finden sich Ermessensspielräume genug, um sich so oder anders entscheiden zu können und innerhalb der Verwaltung wird – so hören wir jedenfalls – nicht wenig um die Frage gestritten, ob die Richtlinien so oder anders ausfallen sollen.

Vor allem die Finanzverwaltung gibt sich genauso wenig wie die Anwälte und ihre Mandanten damit zufrieden, was die Gerichte entscheiden. Den Urteilen des Bundesfinanzhofs folgen unverzüglich die Nichtanwendungserlasse, die ja nur deshalb Sinn haben, weil es im freien Raum noch Menschen geben muss, die nicht wegen jeder Kleinigkeit zum Anwalt laufen. Auch so kann man ein bisschen Geld im vollen Bewusstsein eintreiben, dass das im Grunde Unrecht ist.

2.4.6. Die Anwälte: Qualitätstester des Rechtssystems

Wissenschaftlichen Streit will ich nur am Rande erwähnen, denn er ist nichts Besonderes: Wissenschaftler müssen sich streiten, weil es sonst keine Erkenntnisse geben kann. Sie haben aber den großen Vorzug, dass keiner gegenüber dem anderen das letzte Wort behalten kann – der Widerspruch endet nie.

Es ist nicht einfach, sich bei so heterogenen Perspektiven und Ansätzen den Respekt für die andere Seite zu erhalten. Aber ohne diesen Respekt, der zu bestimmten Verhaltensregeln führt, wäre gar kein Streit denkbar. Er würde sofort in Krieg ausarten.

Der Respekt vor den Anwälten leidet immer wieder darunter, dass wir tief unten auf der Sohle der Tatsachen ein hartes Geschäft verrichten, das manchem von uns die Staublunge der Rechthaberei beschert. Auf dem Feld der Meinungen ist es nicht viel einfacher: Anwälte haben ähnlich wie Journalisten das Image dessen, der zerstört, respektlos ist und alles in Frage stellt.

Wir werden das kaum leugnen können, aber ich glaube, wir haben einen guten Entschuldigungsgrund: Wir sind die Qualitätstester des Rechtsystems!

Sie haben wahrscheinlich schon einmal bei IKEA in der Sesselabteilung die brutale Maschine gesehen, die 24 Stunden am Tag über viele Wochen lang einem dicken Clubsessel ständig in den Bauch tritt, um zu warten, bis die Federn herausspringen. Das kann man eine Clubsesselzerstörungsmaschine nennen oder auch eine Testeinrichtung für Hochqualitäts-Möbel. Egal wie man es nennt: Die Rollenverteilung der Streitkultur hat uns diesen Job zugewiesen und nur weil jemand diese Arbeit tut, erreichen wir insgesamt ein System, in dem Gerechtigkeit sich verwirklichen kann.

Wir kennen dabei weder Freund noch Feind, wie folgende Geschichte anschaulich zeigt: Ein Anwalt erstattete 1981 Straf-anzeige gegen Ärzte, denen vorgeworfen wurde, eine Thrombose nicht verhindert zu haben. Die Staatsanwaltschaft lehnte gestützt auf eine Stellungnahme des gerichtsärztlichen Ausschusses den Antrag ab. Daraufhin schreibt der Anwalt: „Ich muss sagen, ich habe im Laufe meines langen Anwaltslebens schon manchen Unsinn gelesen. Dies übersteigt jedoch das übliche Maß.“

Verärgert schickte der Staatsanwalt eine Kopie des Briefes an die Rechtsanwaltskammer, die dem Anwalt eine Rüge erteilte. Es gibt ja Kollegen, die solche Rügen sammeln wie die Schmetterlinge, aber dieser gehörte nicht dazu. Er legte alle möglichen Rechtsmittel ein und als nichts mehr ging, auch die Verfassungsbeschwerde. Und sein Anwalt, Michael Kleine-Cosack56, dessen historisches Verdienst diese Idee bleiben wird, entdeckte, dass die Anwaltskammer für ihre Tätigkeit keine gesetzliche Grundlage hatte. Er hatte wirklich den Mörtel aus den Fugen gehauen und gezeigt: Das ganze System war auf Sand gebaut und jetzt wurde es vor den Augen aller mit einer wenige Seiten langen Entscheidung völlig zerstört57. Nur eine winzige Unkorrektheit, der untaugliche Versuch einer Beleidigung, der Flügelschlag eines Schmetterlings hatte den Orkan ausgelöst und dadurch unsere ganze Streitkultur verändert.

2.5. Systeme und Gefühle

Was wäre geschehen, wenn dieser Anwalt sich ein bisschen zusammengenommen hätte? Wenn er statt vom „Unsinn“ zu reden sich am Riemen gerissen hätte? Jahrelang musste er das doch Tag für Tag tun, wenn er zu Gericht ging. Tag für Tag hat er seine Mandanten ermahnt, sich nicht aufzuregen, sondern „cool“ zu bleiben. In modernen Rechtssystemen, die hohe Komplexitätsgrade erreichen, besteht der Kern der juristischen Leistung auch aus der totalen Gefühlsamputation, dem Skelettieren fremder und eigener Gefühle beim Betrachten des Streits. Juristen lernen sehr schnell, ihre Gefühle in den Griff zu bekommen. Unerbittlich werden wir darauf getrimmt, in allen Lagen, in denen wir uns befinden, die Tatsachen von den Meinungen zu trennen. Mandanten haben das nicht gelernt und auch ein Jurist in eigener Sache bleibt immer Mandant. Das Wichtigste, die Distanz zu seinen Gefühlen, kann er in eigener Sache niemals einhalten.

Erst wenn man gelernt hat, seine Gefühle zu beherrschen, können Verfahrensregeln entstehen, wie etwa die Festlegung der Redezeit für jeden Beteiligten, die man schon im griechischen Prozess mit Wasseruhren58 genau bemessen konnte, die Reihenfolge der Rede, wie etwa das letzte Wort für den Angeklagten oder die Umgangsformen vor Gericht.

Nur mit Hilfe solcher Regeln kann Verfahrensgerechtigkeit59 – also vor allem die Fairness des Verfahrens – gesichert werden. Dadurch entsteht ein ganzer Formenkatalog von Checks and Balances, von Anstoß und Balance, von Provokation und Reaktion. Mehr als im Materiellen Recht wird durch diese Form Tiefe und Tragweite der Ergebnisse bestimmt. Keine Szene zeigt das besser, als jene Situation 1967 im Landgericht Berlin, als der Vorsitzende Richter Schwerdtner den Studenten Fritz Teufel, der gemütlich seine Zeitung lesend auf der Anklagebank saß, aufforderte, sich zu erheben. „Na, wenn es der Wahrheitsfindung dient!“ meinte der Angeklagte und machte großzügige Anstalten sich zu erheben60. Das Gelächter – übrigens auch das des Richters – war groß und anders als in vielen Szenen danach hat sich Fritz Teufel für diese Bemerkung keine Ordnungsstrafe eingefangen61. Sie ist tatsächlich entwaffnend: Was hat das Aufstehen des Angeklagten mit der Wahrheitsfindung zu tun? Vielleicht so viel: Wir erheben uns nicht vor dem Richter als individueller Person sondern als einem von uns, dem man für gewisse Zeit das Gewaltmonopol überlassen hat. Wenn wir ihm den Respekt versagen, haben wir auch keinen Respekt vor uns selbst. Und wenn der Richter sich diesen Respekt nicht erzwingt, der nicht ihm, sondern seiner Aufgabe gilt, verliert er ihn. Und was noch schlimmer ist: Obgleich ja nur sein Amt verletzt wurde, ist er selbst verletzt und er gefährdet so unbewusst seine eigene Neutralität, zu deren Stütze der Respekt am Ende auch dient.

Das anglo-amerikanische Verfahrensrecht hat diese Zusammenhänge viel früher verstanden als wir das in Deutschland konnten, denn dort ist das System des waffengleichen Prozesses Hunderte von Jahren älter als bei uns62. Die Respektlosigkeit vor Gericht, der Contempt of Court, wird als schwerer Verstoß gegen die Regeln der Fairness verstanden63.

Aus unserer Sicht geht vor allem die amerikanische Rechtsprechung dabei aber immer wieder zu weit: Man hat manchmal den Eindruck, der Angeklagte müsse gelegentlich aktiv beim Verfahren mitwirken wenn er keine Ordnungsstrafen oder sogar den Vorwurf des „Betruges“ des Gerichts riskieren will64.

2.6. Das Rechtsgefühl

Ich habe deshalb so ausführlich über Gefühle als Elemente der Streitkultur gesprochen, weil sie ein bisher weitgehend unentdecktes Element der Gerechtigkeit sind65. Juristen machten in ihrer wissenschaftlichen Diskussion einen Bogen um das Thema, weil es zu sehr von anderen Hilfswissenschaften bestimmt zu sein scheint. Vor allem die Psychologie und die Soziologie mit ihren unendlichen Literaturen will man gar nicht erst wahrnehmen sondern prüft – der juristischen Tradition entsprechend – erst einmal ihre mögliche Relevanz.

Dabei wird vergessen, dass die Kunst der Rechtfindung im Unterschied zu anderen Wissenschaften, wie etwa der Medizin oder Ingenieurkunst keine anderen Fähigkeiten erfordert, als die, die wir alle haben. Wäre es anders, dann dürften wir gar keine Laienrichter einsetzen, die den gelehrten Berufsrichter überstimmen können. In den anglo-amerikanischen Systemen geschieht das in noch viel größerem Umfang als bei uns.

Ein einfaches Gedankenexperiment kann uns zeigen, dass Recht aus dem bestehen muss, was wir alle verstehen66: Jeder von uns nimmt täglich vielfach am Rechtsleben teil, führt Verträge durch, schließt sie ab, verstößt gegen Gesetze etc. jeder muss also das Recht verstehen können. Wäre das anders, dann dürfte das Rechtssystem sich niemals mit der „Parallelwertung in der Laiensphäre“ begnügen sondern es dürften nur Juristen am Rechtsleben teilnehmen, nicht aber jedermann. Diese Überlegung zeigt uns: Da wir alle jeden Tag in vielfältigen Situationen (auch als Juristen) solche Parallelwertungen vornehmen müssen und da wir andererseits niemals über die detaillierten Rechtskenntnisse verfügen können, die für eine sichere rechtliche Beurteilung erforderlich wären, bleiben wir im Großen und Ganzen auch als Juristen die Amateure des täglichen Lebens. Auf was sollten wir im entscheidenden Fall vertrauen, wenn nicht auf unser Rechtsgefühl? Das Rechtsgefühl wird innerhalb des Rechtssystems nur deshalb nicht wahrgenommen, weil das System – um den Kopf frei zu halten – Gefühle ausdrücklich verbietet und uns zwingt, zunächst einmal die Vernunft zu gebrauchen, um alle denkbaren Perspektiven voneinander zu trennen und unter den Gesichtspunkten der Wahrscheinlichkeit und der Logik wieder zusammen zu fügen.

Diese Arbeit geschieht aber nicht in einem wissenschaftlichen Elfenbeinturm, sondern das Ergebnis wird aus dem Streit geboren und durch die Regeln der Streitkultur geschützt. Die Gefühlslagen, die sich dabei bei allen Beteiligten entwickeln, sind es letztlich, die am Ende eine Entscheidung erst ermöglichen. Dieses Verfahren der Rechtsgewinnung durchläuft verschiedene Stadien, die zuletzt Arthur Kaufmann67 untersucht hat. Dieses Verfahren ist außerordentlich vielschichtig, wechselt stets zwischen induktiven und deduktiven Methoden und bleibt auch von Moden nicht verschont, die hier und da überhand nehmen können. Am Ende jedoch verbleibt die zentrale Frage: Wenn alle Tatsachen festgestellt wurden und eine bestimmte Entscheidung als die Naheliegenste vor mir liegt, kann ich dem innerlich zustimmen? Und wenn das so ist, haben wir das erreicht, was wir als Juristen erreichen konnten, denn die Ergebnisse des Prozesses kann man nur an seinen Möglichkeiten messen.

In der lakonischen richterlichen Mitteilung: „Hier gibt es keine Gerechtigkeit, hier gibt es nur Urteile“, drückt sich diese realistische Selbstbescheidung provozierend aber zutreffend aus.

Wenn unser Gefühl im Streit mit den Ergebnissen liegt, die die juristischen Denkfiguren uns nahe legen, dann müssen wir solche Gefühlslagen wahrnehmen und dürfen sie nicht unterdrücken. Wir müssen vielmehr noch einmal von neuem anfangen und dürfen unsere Zweifel nicht einfach zubetonieren.

Auch unsere Streitkultur muss zulassen, dass die Gefühle zum Ausdruck kommen, die die Beteiligten in den Streit mitbringen oder im Streit entwickeln. Erst dadurch kann sich ihre eigene Perspektive ändern und werden sich auch die Perspektiven aller anderen selbst dann ändern, wenn sie immer wieder zu ihren Ausgangspunkten zurückkehren. Die reine Rationalität der Entscheidung trägt zu diesen Aspekten der Wirklichkeit nichts bei. Auch der Grundsatz „law and order“ ändert daran nichts, denn er bedeutet nicht: Ruhe und Ordnung!

Wir müssen spüren lernen, dass „das Leben eine Tragödie (ist) für die, die fühlen – und eine Komödie für die, die denken“68. Jean de la Bruyere, dem wir diese Erkenntnis verdanken, war Anwalt und er hat uns so auf einleuchtende Weise erklärt, warum wir Juristen uns im Stillen amüsieren, wenn unsere Mandanten sich so aufregen.

Wir wissen aber auch: Die Gefühle sind das Salz in der Suppe des Streits und wie jeder weiß, darf man sie nicht versalzen. Wir müssen vorsichtig von ihnen Gebrauch machen, aber wir müssen ihre Funktion im Streit und im Verfahren erkennen.

3. Gerechtigkeit: Der Weg ist das Ziel

Man kann die Gerechtigkeit entdecken, wenn man über das Ziel des Rechtstreits nachdenkt, wenn man versucht ins Auge zu fassen, zu welchem Ergebnis die Streitkultur führen soll. Es ist die richtige, die gerechte Entscheidung, nach der wir suchen. Bis heute ist es noch niemand gelungen, genau zu definieren, was Gerechtigkeit ist, wohl aber erkennen wir offensichtlich ungerechte Urteile. Wenn die Streitkultur sich richtig entwickelt, entwickeln wir auch ein Gefühl für Ungerechtigkeit, auch wenn wir es mit juristischen Argumenten nicht immer präzise beschreiben können. Eine Streitkultur, die uns dieses Gefühl nimmt oder auch nur gefährdet, wäre die wirkliche Bedrohung bei der Suche nach gerechten Ergebnissen, die nie an ihr Ziel kommen kann.

Ich weiß, dass das unseren Mandanten nur sehr schwer vermittelbar ist. Und doch gibt es einen einfachen Gedanken, der dabei hilft. Gerechte Ergebnisse kann man nur erhoffen, wenn man die Wahrheit der Tatsachen kennt. Der Prozess kann sie aber nicht alle

ermitteln, wie man vor allem an den Beweisverboten sieht69. Die Ehefrau des Mörders und einzige Augenzeugin darf die Aussage verweigern. Der Mörder wird freigesprochen. Warum nehmen wir das hin? Wir akzeptieren solche Ergebnisse, weil zur Streitkultur auch der Respekt vor dem Konflikt gehört, dem der Zeuge ausgesetzt ist. Die Streitkultur beschränkt sich nicht auf den Kern des Prozesses, sondern verzahnt ihn mit seiner Umgebung und allen potentiellen Konfliktherden, die ihn umringen. Jeder Streit ist nur Teil anderer Konflikte und darauf muss das Verfahren Rücksicht nehmen. Andere Kulturen vor allem in Indien, China und Japan aber auch frühe Naturvölkern sehen diese Zusammenhänge seit jeher. Wir müssen sie uns mühsam wieder zurück erobern.

Wir können richtige Entscheidungen treffen, wenn

  • wir die Tatsachen soweit das zumutbar ist ermitteln und beschreiben,
  • wir sie aus den unterschiedlichen Perspektiven aller am Streit Beteiligten bewerten
  • wir jedes Ergebnis mit den Gefühlen vergleichen, die in uns entstehen, wenn wir die Ergebnisse betrachten.

Wir müssen unseren Blick nicht nur zwischen den Tatsachen und den Bewertungen hin und her wandern lassen, es müssen auch die Gefühle aller Beteiligten, ihr Schmerz und ihre Reaktion bedacht werden, bevor die endgültige Entscheidung fällt. Und was das Schwierigste ist: Wer die Entscheidung zu treffen hat, muss versuchen, sich selbst zu erkennen, da er sonst die größte Fehlerquelle sein kann, die zu überwinden ist. Diese Aufgabe – Erkenne dich selbst – ist erstmals am Tempel des Apoll in Delphi70 gestellt worden und wir werden immer mit ihr beschäftigt bleiben.

  • *. Erweiterte Fassung des Festvortrages zum Hundertjährigen Jubiläum des Verlages Dr. Otto Schmidt KG, Köln.
  • 1. Das ist der Titel einer berühmten Schrift von William G. Hamilton (1754 – 1796), einem berühmten englischen Parlamentarier, der nur eine einzige Rede gehalten, aber viele für andere entworfen hat (Hamilton William G.: „Die Logik der Debatte – Bemerkungen über den Glanz der Rede und die Schäbigkeit der Beweise“ – erschienen erstmals 1808, übersetzt und herausgegeben von Gerd Roellecke, Sauer Verlag Heidelberg, 1978.
  • 2. Heraklit: Fragmente Griechisch/Deutsch, Herausgegeben von Bruno Snell B. 80, Artemis Verlag, 10. Auflage 1989, Seite 27.
  • 3. Heraklit: Fragmente a. a. O. (FN 1) B. 53 Seite 18.
  • 4. Heraklits Fragmente stammen etwa aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Von da ab entwickelten sich erste Verfahrensregeln über die Auswahl der Richter, die Art der Abstimmung, die Beweisaufnahme, das Plädoyer. Gerhard Thür: „Das Gerichtswesen Athens im 4. Jahrhundert vor Christus“, in:Burkhardt/von Ungern-Sternberg (Hrsg.): „Große Prozesse im antiken Athen“, C. H. Beck 2000, Seite 34 ff.
  • 5. „Inter arma silent leges“ – Unter dem Lärm der Waffen schweigen die Gesetze: Römisches Sprichwort.
  • 6. Die sprachliche Unterscheidung zwischen Krieg und Streit ist bereits in den Fragmenten Heraklits voll ausgebildet: Krieg heißt „polemos“, Streit hingegen „eris“. Hin und wieder trifft man Übersetzungen die lauten: „Der Streit ist der Vater aller Dinge“. Damit wird der schon früh gesehene Unterschied zwischen diesen Konfliktregelungsinstrumenten verkannt.
  • 7. Uwe Wesel („Geschichte des Rechts“, C. H. Beck, 2. Auflage 2000, S. 29). Auch eine Hochkultur wie die ägyptische kennt letztlich keine andere inhaltliche Aussage: In ma’at, Tochter des Ra, einer geflügelten Frauenfigur mit Straußenfedern auf dem Kopf, symbolisieren sich Gerechtigkeit und Wahrheit, die in diesen Frühformen symbiotisch gesehen werden; Realität und Bewertung fallen noch nicht auseinander (Jan Assmann: ma’at: „Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten“ (C. H. Beck, 2. Auflage 1992)).
  • 8. Dieses Verfahren des Palavers ist vor allem in Afrika seit Urzeiten so, findet sich aber bei allen Naturvölkern in ähnlicher Form (Uwe Wesel: „Geschichte des Rechts“, a. a. O. Seite 40, beschrieben am Beispiel Brautpreisschulden bei den Arusha (Tansania)).
  • 9. Die Gemeinsamkeit dieser Kommunikationstechniken mit Habermas’ Modellen idealer Kommunikation springt ins Auge (Habermas, Jürgen: „Theorie des kommunikativen Handelns“, Suhrkamp Verlag 1981, 2 Bände). Habermas ist häufig dafür kritisiert worden, dass die Bedingungen des idealen Dialogs nirgendwo erreichbar seien. Man sollte einschränkend sagen, dass sie in der modernen Gesellschaft nicht mehr erreichbar sind, denn segmentäre Gesellschaften haben offenbar darüber verfügt.
  • 10. Auch für Heraklit entsteht „ … aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie“ (Fragmente a. a. O. FN 1 B. 8, Seite 9). Er findet also das gleiche Ergebnis wie die asiatischen Kulturen, in denen Harmonie und Ausgleich die maßgebende Rolle spielen (chinesisch: Li, japanisch: giri).
  • 11. Guanxi ist der Zentralbegriff für diese Netzwerke in China und in Japan wird immer wieder der Unterschied zwischen uchi (wir unter uns) und soto (das sind die anderen) unterschieden. Wahrscheinlich steht Indien genau in der Mitte zwischen der westlichen und der östlichen Auffassung: Die Göttin Kali verkörpert gleichzeitig Streit und Zerstörung, aber auch Erneuerung und mütterlichen Schutz.
  • 12. Ruth Benedict (1887 – 1948) „The Chrysanthemum and the Sword“ (1946): Die christlich/islamisch geprägte Auffassung, der Einzelne begründe durch sein Verhalten Schuld gegenüber einem einzelnen, strafenden Gott unterscheidet sich wesentlich von der in Asien verbreiteten Vorstellung, wer gegenüber den Regeln der Gemeinschaft verstoße, müsse sich den anderen gegenüber schämen, aber nicht unbedingt höheren Orts rechtfertigen.
  • 13. Die hohe Selbstmordrate bei Jugendlichen in Japan erklärt sich unter anderem aus miteinander konkurrierenden Konflikten, so z. B. wenn Liebesbeziehungen entstehen, die von den Verwandten nicht gebilligt werden, weil sie nicht standesgemäß sind oder die Horoskope nicht zueinander passen. Solche Lagen können den Einzelnen in den vielfältig miteinander verwobenen Netzen ersticken. (Die Selbstmordrate von Jugendlichen in Japan ist etwa doppelt so hoch wie in den Vereinigten Staaten (im Jahr 2003: 34.427) und wächst vor allem mehr in ländlichen Gegenden, weil dort die Anonymität fehlt, die es in der Großstadt gibt (Sean Curtin in „Asia Times online“ vom 28.07.2004: “Suicide also rises in land of rising sun”, www.atimes.com).
  • 14. Statistik der American Bar Association „National Lawyer by State“.
  • 15. Statistik aus dem CIA-World-Fact-Book, (www.cia.gov).
  • 16. Statistik aus dem CIA-World-Fact-Book; (www.cia.gov).
  • 17. Statistik der Bundesrechtsanwaltskammer, (www.brak.de).
  • 18. www.cia.gov, (bezogen auf das Jahr 2003).
  • 19. Die Zahl der Anwälte wird aber durch sehr harte Examensbedingungen bewusst klein gehalten: von 41.459 Teilnehmern bestanden im Jahr 2002 nur 1.183 das Anwaltsexamen (www.japanlaw.info).
  • 20. www.lexikon.donx.de
  • 21. www.de.wikepedia.org – Artikel: „Deutsche Demokratische Republik“.
  • 22. Plato: Der Sophist 231 D = 73 b 2 cit. n. Wilhelm Capelle: „Die Vorsokratiker“, Kröner Verlag 1968, Seite 322.
  • 23. Aristoteles: „Politea“ 1. Buch, 1253 a 9 ff., cit. n. Werke, Deutscher Taschenbuchverlag, 1973 S. 49).
  • 24. Seneca: “Briefe 88”, 43 cit. n. Capelle (SN 12) Seite 326. Über die Einkünfte von Protagoras berichtet Platon im Dialog Menon 91 DE=74 A 8 siehe Wilhelm Capelle (FN 21) Seite 335 und Diogenus Laertius IX 52 ff. = 74 A 1, siehe Capelle a. a. O. Seite 326: Danach soll Protagoras ein Honorar von 100 Minen = 80 Goldmark der Vorkriegszeit (vor 1914) erhalten haben. Das sind umgerechnet 28.800,00 € (siehe www.dr‑timmermann.de/geld/1.htm).
  • 25. Aristoteles: „Rhetorik II“ 24.1402 a 23 ff. cit. n. Capelle (FN 21) Seite 325.
  • 26. Sprache, Schrift und das Herstellen, Aufbewahren und Transportieren der Dokumente sind die zentralen Fähigkeiten, die man braucht, um Recht allgemeingültig zu machen. Dieses Motiv steckt schon hinter den ältesten Texten, die erhalten geblieben sind (Codex Urnammu ca. 2.100 v. Chr. mit Regelungen über Mord, Raub, Heirat, Scheidung etc.; Codex Hammurabi ca. 1760 v. Chr. Beide stammen aus Mesopotamien, siehe Uwe Wesel „Geschichte des Rechts“ Seite 57 ff.; „Texte in Keilschrift und Übersetzungen“ von Joseph Kohler und F. E. Peiser: „Hammurabis Gesetz“ Band I Leipzig 1904. Zu modernen Problemen siehe Haft/Hof/Wesche (Hrsg.): „Recht ist Text – Bausteine zu einer Verhaltenstheorie des Rechts“ Nomos Verlag 2001
  • 27. Jonathan Swift (geb. 1667, gest. 1745 schrieb „Reisen in verschiedene Länder der Welt von Lemuel Gulliver“ 1726).
  • 28. cit. n. Hattenhauer: „Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794“, Textausgabe, Seite 46 l. Sp., Schon im 30 Jahre früheren Redaktionsauftrag an Samuel Coceji war angeordnet: „Alle zweifelhafte Jura, welche in denen römische Gesetzen vorkommen oder von denen Doctoribus gemacht worden, dicidiert und solcher Gestalt ein Jus certum universale in allen Dero Provinzen statuirt wird“ cit. n. Hattenhauer aaO Seite 2.
  • 29. Man kann diese Thematik nur interdisziplinär angehen, wie dies eine Forschungsgruppe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften in den letzten Jahren getan hat. Die Ergebnisse sind nachzulesen in: Kent B. Lerch (Hrsg.): „Die Sprache des Rechts“ 1 - 3, D. Gruyter Verlag 2004 (3 Bände).
  • 30. Konfuzius (Kong Fuzi (551 v. Chr. – 479 v. Chr.)), Philosoph, Justizminister des chinesischen Staates Lu, seit 498 v. Chr. Stellvertretender Kanzler, abgesetzt 497 v. Chr. cit. n. Heller: Karl Kraus, in: Heller, Studien zur modernen Literatur, 1963, Seite 53 (Authentizität umstritten). Den Hinweis auf dieses Zitat verdanke ich Egon Müller, Plädoyer für eine Verfahrenssprache in: „Festschrift für Müller-Dietz“ (2001), Seite 567.
  • 31. Das ist der Titel einer berühmten Schrift von William G. Hamilton (1754 – 1796), einem berühmten englischen Parlamentarier, der nur eine einzige Rede gehalten, aber viele für andere entworfen hat (Hamilton William G.: „Die Logik der Debatte – Bemerkungen über den Glanz der Rede und die Schäbigkeit der Beweise“ – erschienen erstmals 1808, übersetzt und herausgegeben von Gerd Roellecke, Sauer Verlag Heidelberg, 1978.
  • 32. Neumann, Ulrich: „Juristische Argumentationslehre“ (1986) Klug, Ulrich: „Juristische Logik“, 4. Auflage, 1982; Arthur Kaufmann: „Das Verfahren der Rechtsgewinnung – Eine rationale Analyse“ C. H. Beck Verlag 1999 Alexy, Robert: „Theorie der juristischen Argumentation“; „Die Theorie des rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begründung“, 3. Auflage 1996.
  • 33. Egon Schneider: „Logik für Juristen – Die Grundlagen der Denklehre und der Rechtsanwendung“, neu aufgelegt bei: Vahlen Verlag 2005.
  • 34. BGH, 18.07.1980 - 2 StR 348/80, NStZ 1981, 308 mit Anmerkung Schöck.
  • 35. BGH, 05.12.1984 - 2 StR 526/84, NStZ 1985, 278 mit Anmerkung Arlot, beide Urteile näher kommentiert bei Arthur Kaufmann: „Das Verfahren der Rechtsgewinnung“ (FN 31), Seite 48 der auch über einen besonders schönen Zirkelschluss des BGH bei der Frage berichtet, ob man juristische Personen beleidigen könne (BGHSt 6, 186, NJW 1954, 1412). Natürlich, sagt der BGH, denn die juristische Person heißt ja Person, weil sie eine Person ist! Quod erat demonstrandum, wie Euklid bemerkt hätte.
  • 36. Haft, Fritjof – „Nutzanwendungen kybernetischer Systeme im Recht (Diss)“ Gießen 1968; Haft, Fritjof – „Einführung in die Rechtsinformatik“, Freiburg, München 1977; Haft, Fritjof – „Das Lex-Projekt: Entwicklung eines juristischen Expertensystems“, 1989; Koch, H. J./Rüßmann, H.: „Juristische Begründungslehre“; „Eine Einführung in Grundprobleme der Rechtswissenschaft“, 1982 Kilian, Wolfgang: „Juristische Entscheidung und Elektronische Datenverarbeitung – Methoden-orientierte Vorstudie“, Frankfurt/M 1974.
  • 37. www. normfall.de, Lernsoftware für Jurastudenten und Dokumentenmanagement für Anwälte.
  • 38. Morlok/Kölbel/Lammhardt: „Recht als soziale Praxis“, in: Rechtstheorie 31 (2000) Seite 15 - 46 (41).
  • 39. Wolf Singer: „Der Beobachter im Gehirn - Essays zur Hirnforschung“ (Suhrkamp TB Frankfurt/Main 2002); Gerhard Roht: „Fühlen, Denken, Handeln“ (Suhrkamp TB Frankfurt/Mein 2003, besonders S. 536 ff.). Den Neurobiologen antworten die Philosophen, so etwa z. B. Michael Pauen „Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung“ (Fischer Verlag Frankfurt/Main 2004): Peter Bieri: „Das Handwerk der Freiheit“ (Hanser Verlag 2001): Detlef B. Linke: „Die Freiheit und das Gehirn - eine neurophilosophische Ethik“ (Verlag C. H. Beck, München 2005).
  • 40. Problemübersicht bei Björn Burkhardt: „Freiheitsbewusstsein und strafrechtliche Schuld“ in „Festschrift für Theodor Lenckner zum 70. Geburtstag“ (C. H. Beck Verlag, 1998, S. 3 - 24)
  • 41. „Ich erbiete mich, in den Werken unserer Historiker den Nachweis zu führen, dass, wo immer der Mann der Wissenschaft mit seinem eigenen Werturteil kommt, das volle Verstehen der Tatsachen aufhört.“ (Max Weber, „Wissenschaft als Beruf“, 1919, Mohr Siebeck Verlag, 9. Auflage 1992).
  • 42. „Quot capita, tot sensus“ – Wie viele Köpfe, so viele Meinungen: Römisches Sprichwort.
  • 43. Schon Protagoras hat klar gesehen, dass jeder Einzelne die ihn umgebende Wirklichkeit aus seiner Sicht interpretiert, so dass es keine für alle gültige, objektive Definition der Wirklichkeit geben kann („Der Mensch ist das Maß aller Dinge, derer die sind, dass sie sind, und derer die nicht sind, dass sie nicht sind“ (zitiert bei Plato im Dialog „Theaitetos“ (151 E); Kant hat den Gedanken logisch-systematisch begründet (Kritik der Urteilskraft § 68 B 307 Man kann „nicht den Anspruch erheben, die Wirklichkeit … objektiv-theoretisch zu bestimmen.“ oder auch in den „Prolegomgena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können“ § 36 cit. n. Wilhelm Weischedel (Hrsg.) Werkausgabe in 12 Bänden, Frankfurt/Main 1991 Band 5 S. 191): „Der Verstand schöpft seine Gesetze (apriori) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor“. Dem folgte Poppers „Denken in Arbeitshypothesen“ und die neueren Konstruktivisten wie Maturana, von Foerster u. a. begründen naturwissenschaftlich, warum jeder von uns stets nur einen Teilaspekt der Realität erfassen kann.
  • 44. Die Diskussion um die Zulassung beim BGH in Zivilsachen wird nur selten unter Hinweis auf die Streitkultur geführt, die aber eines der wesentlichen Motive für die Beschränkung der Zahl der Revisionsanwälte ist (Raeschke - Kessler, JUVE 9/2005, Seite 42; Braun/Köhler: „Zulassung zur Rechtsanwaltschaft beim BGH“, NJW 2005, 2592.
  • 45. www.kopfsplitter.de/Fund_6.htm und „Kraftausdrücke im Deutschen Bundestag von 1949 bis heute“ unter www.ta7.de/txt/listen/list0007.htm – Stand 28.08.2005.
  • 46. OLG Hamm, 28.11.2000 - 2 Ws 292/2000, 2 Ws 296/2000, 2 Ws 292/00, 2 Ws 296/00; NStZ-RR 2001, 116.
  • 47. BVerfG, 10.07.1996 - 1 BvR 873/94; NStZ 1997, 35.
  • 48. Diesen Hinweis verdanke ich Hartmut Kilger, dem Präsidenten des DAV, der diese Idee in einem Vortrag auf dem Anwaltstag 2005 in Dresden näher entwickelt hat.
  • 49. Dieser Zusammenhang wird überdeutlich bei allen Massendelikten wie dem Völkermord, Delikten am Rande von Kriegsgeschehen, Verbrechen von Jugendbanden, aber auch bei Wirtschaftsdelikten, an denen sich mehrere Manager bewusst beteiligen. In all diesen Fällen entstehen Situationen, die wir vom Cäsarmord her kennen: Alle Täter müssen zustechen, um sich so stellvertretend gegenseitig zu entlasten.
  • 50. Näher geschildert im Dritten Buch Moses, Kapitel 16.
  • 51. Am 21.10.2005 wurde der irakische Anwalt Saadun Dschanabi entführt und erschossen: Er hatte einen der Mitangeklagten von Saddam Hussein verteidigt (www.stern.de).Harold Rafael Peres Gallardo, Anwalt der Kindernothilfe wurde am 06.09.2005 in Guatemala ermordet, weil er dem Handel mit Adoptionen entgegentrat. Im Oktober 2003 wurde ein Anwalt aus Overrath bei Köln samt seiner Familie von seinem Prozessgegner erschossen und viele Anwälte berichten immer wieder von Drohungen, Erpressungen, Telefonterror und anderen Druckmitteln, denen sie ausgesetzt sind.
  • 52. Zur Geschichte der französischen Anwaltskammern (gegründet 1340) www.avocatsparis.org; Unter den französischen Anwälten gehört es zur Berufspflicht, dem Mandanten keine Information über die interne Korrespondenz zwischen den beteiligten Anwälten zu geben, um sicher zu stellen, dass die Anwälte unter sich eine offene Sprache pflegen können. In Deutschland hingegen ist es Berufspflicht, die Korrespondenz vollständig mitzuteilen. Beide Regelungen haben ihre Vor- und Nachteile.
  • 53. Udo Steiner, Mitglied des I. Senats des BVerfG, bezeichnet sie als „publizierte Innenrevision“ (siehe: „Der Richter als Ersatzgesetzgeber – Richterliche Normenkontrolle – Erfahrungen und Erkenntnisse“, NJW 2001, 2919.
  • 54. Sie stützt diese Auffassung auf § 160 II StPO, weil sie sowohl belastende als auch entlastende Umstände ermittelt.
  • 55. Bericht zum Prozess von Martha Stewart, FN 63.
  • 56. Kleine-Cosack: „Zur Reformbedürftigkeit des Standesrechts der rechtsberatenden Berufe“, AnwBl 1986, 505.
  • 57. BVerfG, 14.07.1987 - 1 BvR 537/81, 1 BvR 195/87; NJW 1988, 191 m. Anm. Kleine-Cosack Seite 164 und Zuck a. a. O.
  • 58. Gerhard Thür a. a. O. FN 3, Seite 34 ff.
  • 59. Roland Hoffmann: „Verfahrensgerechtigkeit: Studien zu einer Theorie prozeduraler Gerechtigkeit“, Schöningh Verlag (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Göresgesellschaft Band 65), 1992.
  • 60. Butz Peters: „Tödlicher Irrtum – die Geschichte der RAF“, Argon Verlag 2004, Seite 97.
  • 61. Später allerdings hagelte es Ordnungsstrafen für den immer widerspenstiger werdenden Teufel, der irgendwann einen Sachverständigen, der ihn auf seinen Geisteszustand untersucht hatte, fragte: „Gibt es auch eine Krankheit wie krankhaftes Verhängen von Ordnungsstrafen?“ Dafür kassierte er dann 2 Tage Ordnungshaft (Butz Peters a. a. O., S. 101).
  • 62. In anderen europäischen Ländern und auch in USA kann man das sehr einfach an der Tatsache erkennen, dass Anwälte zugelassen werden, die die Interessen ihrer Mandanten wahrnehmen, da ohne sie der Prozess nicht funktionieren kann. Stolleis (Hrsg.): „Juristen – ein biographisches Lexikon“ (1995): Joos de Damhouder (1507 - 1581), zugelassen 1532 in Brügge (a. a. O., S. 152) Francis Bacon (1561 - 1626), zugelassen in London 1583(a. a. O., S. 56); Lòpez de Tovar (1496 - 1560), zugelassen in Granada ca. 1536 (a. a. O., S. 390); Prospero Farianacci (1544 - 1618), zugelassen in Rom 1596 (a. a. O., S. 152); Pierre de Fermat (bekannter als Mathematiker), zugelassen in Toulouse 1642; Antoine de Lavoisier, der spätere Chemiker, zugelassen 1764 in Paris (Schwenk, „Sternstunden der frühen Chemie“, 1898, S 79; Thomas Jefferson, USA (1743 - 1826), zugelassen 1767; In Deutschland hingegen wurden die zaghaften Ansätze einer langsam entstehenden freien Anwaltschaft in Preußen noch 1713 durch Friedrich Wilhelm I. zunichte gemacht und noch sein Sohn Friedrich der Große drangsalierte mit seiner Kabinettsordre vom 15.12.1776 die Anwälte, indem er sie zwang, ihre Talare auch auf der Straße zu tragen, „damit man diese Spitzbuben schon von weitem erkennt“. (Hartstang: „Der deutsche Rechtsanwalt“, C. F. Müller, Heidelberg 1986, Seite 8 ff.)
  • 63. Aber das gilt nur dann, wenn auch das Gericht selbst sich fair verhält. Daran fehlte es in einem berühmten Fall der englischen Rechtsgeschichte, jenem von William Penn, dem Gründer der Glaubensgemeinschaft der Quäker in London. Angeklagt wegen verbotener Gottdienste, nahm er im Gerichtssaal seinen Hut ab, erhielt von dem Gerichtsbeamten aber die Weisung, ihn wieder aufzusetzen. Als der Richter ihn so sah, verurteilte er ihn wegen Respektlosigkeit nach Common law. „Wo steht dieses Common law?“ fragte Penn „Du bist ein impertinenter Geselle“, sagte der Richter „Und ausgerechnet Du willst dem Gericht beibringen was Recht ist? Das ist „ungeschriebenes Recht“, für das manche 30 - 40 Jahre Studium brauchen und Du willst mir zumuten Dir das in einer Sekunde auseinander zu legen?“ Penn: „Na, wenn das Common Law so schwierig zu verstehen ist, dann ist es von Common ziemlich weit entfernt!“ (www. chrononhotonthologos.com/lawnotes/penntrial.htm) Wir alle wissen, wie die Geschichte endete: Penn wurde verurteilt, floh mit seiner Familie nach Amerika und 1681 musste König Karl II. von England ihm den Bezirk „Penns Wald“ – heute Pennsylvania – schenken, in der Hoffnung, so die ausländischen Kolonien friedlich zu halten. Genützt hat es ihm nichts. Das ist ein weiteres Beispiel für die Richtigkeit der Chaostheorie, die besagt, dass aus kleinen Ursachen große Wirkungen entstehen können, wenn die Sache sich nur richtig aufschaukelt.
  • 64. So jedenfalls scheint es im Fall von Martha Stewart nach bestimmten Presseberichten zu sein. Stewart, eine in den USA sehr bekannte Unternehmerin, war angeklagt, Insiderwissen zum Aktienkauf benutzt zu haben. Das Verfahren entwickelte sich für sie so unglücklich, dass der Kern des Vorwurfs später darin bestand, der Ermittlungsbehörde nicht gleich von Anfang an die Wahrheit gesagt, sondern gelogen zu haben (www. money.cnn.com/2004/03/05/ news/companies/martha_verdict).
  • 65. Zu den wenigen Veröffentlichungen, die dieses Thema berühren, gehört Michael Bihler: „Rechtsgefühl, System und Wertung - Ein Beitrag zur Psychologie der Rechtsgewinnung“ (C. H. Beck, München 1979); Meir, Christoph: „Zur Diskussion über das Rechtsgefühl“, (Duncker und Humblot, 1986); Lampe, Ernst‑Joachim (Hrsg.): „Das so genannte Rechtsgefühl, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie“ Band 10 (Westdeutscher Verlag, 1985); Riezler, Erwin: „Das Rechtsgefühl - Rechtspsychologische Betrachtungen“ (C. H. Beck, 3. Auflage 1969); Rümelin, Gustav: „Rechtsgefühl und Gerechtigkeit“ (Vittorio Klostermann Verlag, 1948); Schweizer, Robert: „Die Entdeckung der pluralistischen Wirklichkeit - Durchschnittsleser, Presserecht, Wertvorstellungen“ (Vistas Verlag, 3. Auflage 2000).
  • 66. Diese Erkenntnis ist schon sehr alt. Plato schreibt: „Da geriet Zeus in Sorge, dass unser Geschlecht vollkommen ausgerottet werden könnte und entsandte den Hermes, der zu den Menschen die heilige Scheu und das Recht bringen sollte, damit es Städteordnungen gäbe und Freundschaft begründende Bande. Da fragt Hermes den Zeus, in welcher Weise er den Menschen Recht und Ehrfurcht beibringen solle. „Soll ich sie etwa so, wie die Künste und Gewerbe ausgeteilt sind, austeilen? Die aber sind folgendermaßen verteilt: ein einziger besitzt z. B. die Heilkunst und reicht für viele Nichtheilkundige aus, ebenso die anderen Kunstverständigen. Soll ich also Recht und Ehrfurcht ebenso unter die Menschen verteilen? Oder soll ich sie allen geben?“ „Allen“, erwiderte Zeus, „alle sollen daran Anteil haben. Denn sonst könnte kein Gemeinwesen entstehen, wenn nur wenige an ihnen Anteil hätten, wie das bei den andern Künsten der Fall ist. Und das gib ihnen als Gesetz von mir: wer nicht an Recht und Ehrfurcht teilzuhaben vermag, den soll man töten als eine Krankheit des Staates!“ (Protagoras 322 C ff. = 74 C 1 cit. n. Wilhelm Capelle S. 339 ff. (FN 21)).
  • 67. Arthur Kaufmann: „Das Verfahren der Rechtsgewinnung“ (FN 31) Seite 38.
  • 68. Jean de la Bruyére, Rechtsanwalt, später Erzieher und Berater des Duc du Bourbon und Mitglied der Academie Francaise (geb. Paris 1645 - gest. Chantilly 1696).
  • 69. Aussageverweigerungsrechte: §§ 52 ff. StPO, 383 ff. ZPO; Abhören von Selbstgesprächen und Analyse von Tagebüchern BGH, 1 StR 140/05; Verwertung der Ergebnisse des Zivilprozesses im Strafprozess BGH NJW 2003, 1123; Einsatz verdeckter Ermittler BVerfG NStZ 2000, 489.
  • 70. Inschrift am Apollotempel in Delphi, entstanden im 6. Jahrhundert v. Chr., wahrscheinlich aus dem Kreis der Sieben Weisen (Thales, Cheilon etc.): Gnothi seauton - Erkenne Dich selbst.
Literaturverzeichnis
Zitierte Literatur: 
  • Siehe Fußnoten.