Interessante Zeiten – Reportagen aus der Innenwelt des Rechts

Diese eindrucksvollen und anschaulichen Reportagen bieten vielfältige Einblicke in die Innenwelt des Rechts im Allgemeinen und die anwaltliche Arbeit im Besonderen. Die Aufzeichnung meiner beruflichen Stationen und Lebenserinnerungen illustriert, wie sehr sich das Berufsbild des Anwalts in den vergangenen Jahrzehnten verändert hat. Dieses Buch kann auch als E-Book runtergeladen werden.

Inhaltsverzeichnis 

1. Vorwort

»Ich wünsche euch interessante Zeiten.«
Chinesischer Fluch

»Über die wirklich wichtigen Dinge wird nie gesprochen.«
Japanisches Sprichwort

»Es gibt kein Geheimnis, dass die Zeit nicht enthüllt.«
Jean Racine (1669)

Als Christo 1995 den Reichstag in Berlin verhüllte, erinnerte ich mich daran, Jahre zuvor den Münchner Justizpalast ähnlich verhüllt gesehen zu haben, als man die Fassade renovierte. Auf einmal sah ich einen tiefen Bezug zwischen dem Kunstwerk und dem Handwerk: Hinter diesen Stoffbahnen liegen Gebäude, in denen Alltägliches geschieht, das sich aber nicht in der Oberfläche erschöpft. Orte, an denen Demokratie und Recht sich jeden Tag bewähren müssen, enthüllen ihre Geheimnisse nicht einmal im Inneren: Der Berliner Justizpalast an der Littenstraße sieht aus wie eines der Gemälde von Escher, in denen der Betrachter sich immer verirrt, wenn er versucht, den angedeuteten Perspektiven zu folgen. Dieses Buch versucht, einen Einblick hinter die Fassaden zu geben.

Justizpalast München 1986
Justizpalast München, 1986

LG Littenstraße
Landgericht Berlin, Littenstraße

2. 1965 – 1972, Berlin - Freiburg - München

2.1. Studenten und Proletarier

Ludwig-Maximilians-Universität München, Lichthof
Ludwig-Maximilians-Universität München, Lichthof

»Vor allem: Junge Leute sind erotisch, wenn sie nicht doof sind.«
Karl Heinz Bohrer

2.1.1. Die Grenzen der Bourgeoisie

Irgendwann Mitte der Sechziger tauchte in den Kiosken eine Postkarte auf. Sie zeigt einen ängstlichen kleinen Jungen mit dicker Wollmütze – gelegentlich neben einer sackartigen Matrone –, der in die Sonne blinzelt und sich fragt, was er im Leben tun solle. Solche Fragen wurden bei Familienfeiern von alten Tanten gestellt und endeten immer mit der Empfehlung, Referatsleiter beim Wasserwirtschaftsamt zu werden. Hier aber lautete die Antwort: »Lebe wild und gefährlich, Arthur!«. Dieser Volltreffer soll entweder von Arthur Schnitzler, Arthur Rimbaud oder Oscar Wilde stammen (auch Arthur Schopenhauer hätte gepasst), alle längst verstorben und doch so viel lebendiger, als wir die Menschen empfanden, die uns umgaben! Auch wir – das waren die liberal gesinnten Söhne aus bürgerlichen Familien, die Jura studierten – wollten solche Fragen nicht mehr hören und auf keine Antworten mehr warten. Zählten auch die Töchter dazu? Mitte der Sechziger gab es wenige Jurastudentinnen, und es gab nicht eine, die politisch interessiert gewesen wäre. Aber wie das wilde Leben im Detail aussehen sollte – das wusste niemand. Wenn sich jemand überhaupt Gedanken machte, meinte er, man solle das Ganze einfach ins Rollen bringen und dann werde man schon sehen.

2.1.2. Berlin 1965

Berlin ist für die meisten Leute ein Schock, wenn sie die Stadt zum ersten Mal betreten: die breiten Boulevards, riesige Entfernungen und ein Sprachgewirr auf den Straßen, das man keinem Land zuordnen kann. 1965 kam ich für mein erstes Studienjahr hierher, und zwar nicht vom Lande, wie die meisten anderen Studenten, sondern aus Düsseldorf, dem Schreibtisch des Ruhrgebiets, einer eleganten Stadt, deren Königsallee dem Kurfürstendamm in nichts nachstand – bis auf seine Länge: Nach zwei Kilometern stieß man in Düsseldorf auf den großen Triton mit seinen Nymphen, und da war die Straße zu Ende. Der Ku’damm hingegen lief noch vier Kilometer weiter bis in den Grunewald und solche Magistrale – immer wieder brutal durchtrennt von der Mauer – gab es eine Menge: Sie waren so breit, weil die Aristokratie sich seit 1700 in ihrer Mitte Reitwege – vor allem in Richtung Potsdam – anlegen ließ.

Der Krieg hatte die Stadt, aus der meine Eltern vertrieben worden waren, wirklich plattgemacht, und kaum hatte sie sich ein bisschen erholt, zerschnitt die Mauer ihren Körper erneut. Überall gab es noch riesige Trümmergrundstücke, und über den Ku’damm liefen Leute, denen man auf der Königsallee verschämt einen Groschen gegeben hätte. Als ich in Düsseldorf bei Selbach den ersten Anzug gekauft hatte, dessen Hosenboden mir nicht in der Kniekehle saß, fühlte ich mich wie ein neuer Mensch. Solche Gefühle waren den Berlinern fremd. Sie waren in den Augen der Westdeutschen mindestens falsch angezogen – von ihren anderen Eigenschaften mal ganz abgesehen.

Seit jeher irritiert der Berliner die wortkargen Norddeutschen mit seiner Direktheit, die Süddeutschen, weil er Verbindlichkeit für Schwäche hält, und den Rest der Welt aus allen erdenklichen Gründen; denn »das Berlinische ist ein Jargon aus dem verdorbenen Plattdeutsch und allem Kehricht und Abwurf der höheren Gesellschaftssprache auf eine so widerwärtige Weise komponiert, dass es nur im ersten Moment Lächeln erregt, auf die Dauer aber das Ohr beleidigt«1. »Semmel jibts nich«, hört man noch heute von den heftig angemalten Mädels in den Bäckereien, auch wenn die »Semmeln« zu Hunderten da herumliegen, aber sie greifen nur in den Haufen (Fingernägel im Glitzerlook!), wenn man »Schrippe« zu sagen weiß. Aus »Westdeutschland«, wie die Bundesrepublik hieß, zogen im Wesentlichen nur Flüchtlingshorden junger Leute hierher: Wehrdienstverweigerer (echte und falsche), Leute, die die großzügige Sozialpolitik des Senats für sich nutzen wollten, andere, die sich für billige Mieten interessierten.

Der Kalte Krieg bestimmte die politische Szene, auch wenn die wenigsten sich darüber im Klaren waren, dass die Polizeigewalt in der Stadt von der Zustimmung der drei westlichen Besatzungsmächte abhing. 1965 war die Mauer gerade vier Jahre alt und durchzog wie ein frischer chirurgischer Schnitt – schlecht vernäht – die ganze Stadt. Von Norden nach Süden allerdings konnte man ganze Stadtteile durchqueren, ohne die Mauer zu bemerken. In den folgenden Jahrzehnten gewöhnten sich viele im Westen lebende Menschen an ihre Stadtviertel so, als gehörten sie nicht zusammen. Wer in Dahlem wohnte, hatte in Spandau, Moabit oder Wedding nichts zu suchen. In manchen Hinterhöfen sah es dort nicht anders aus, als Zille es gezeichnet hat. Allein in Wedding lebten noch 1960 mittendrin vierhundert Kühe und anderes Kleinvieh und die meisten Wohnungen hatten ein Außenklo auf der »halben Treppe«. Der Smog hing über der Stadt. Im Winter 1965 lieferte ich in Dreck und Schnee für das Sozialamt Weihnachtspakete in die entlegensten Winkel. Das waren Kellerwohnungen im dritten oder vierten Hinterhof oder Verschläge unterm Dach. Überall husteten die Kinder wie die Teufel: Pseudokrupp! Ich fühlte mich wie in einer Theaterkulisse, gemalt von Orson Welles.

Die Freie Universität, 1948 von den Amerikanern initiiert und finanziert, lag nahe dem US-Hauptquartier im eleganten Dahlem weit weg von der Mauer. Sie verfügte über neue Gebäude und ein modernes Konzept. Ihre Bibliothek wurde gerühmt. Die Beck’sche Leitsatzkartei, der erste systematische Versuch einer juristischen Datenbank in Papierform, war z. B. sorgfältig auf Karteikarten gezogen – ein ziemlicher Aufwand. Aber das war sozusagen Hardware, an der Software fehlte es: In den Köpfen der Professoren war von modernen Ideen noch wenig angekommen. Denn auch die Freie Universität war – wie alle deutschen Universitäten in dieser Zeit – ein hermetisch abgeschlossener Kasten, in dem die Studenten behandelt wurden wie Dreck. Es gab einen Schalter, an dem man seine Studiengebühren bezahlen durfte und ein Studienbuch bekam, in dem irgendwelche Stempel landen sollten, aber was man da nun »hören« sollte, wurde nicht erklärt. Die Professoren hatten keine Sprechstunden (sofern sie Assistenten hatten, sah man die auch nicht), und so musste man sich die nötigen Informationen irgendwo in der Kantine zusammenraffen, wo der Blinde versuchte, dem Tauben die Welt zu erklären. Ich hatte beim Abitur einen Notendurchschnitt von 1,2, und später hat irgendjemand mal behauptet, dass ich damit auch ein Stipendium hätte beantragen können. Aber wo? Und bei wem?

Immerhin begriff ich so viel, dass man in Vorlesungen gehen sollte. Bei dem uralten (damals 65!) Professor Ulrich von Lübtow (Mittelalterliche Rechtsgeschichte) erschienen nur wenige Figuren, und um das in seiner eigenen Vorlesung zu verhindern, tauchte Arwed Blomeyer immer mit einem Schwarm seiner Assistenten auf. Sie kannten den ganzen Stoff natürlich längst auswendig, saßen aber gehorsam in der ersten Reihe, um bei den richtigen Stellen als Claqeure zu wirken. Einige wollten wissen, dass der stets in englisches Tuch gewandete ältere Herr (vermutlich 55) sich heimlich gepudert haben soll, um auf die vereinzelt anwesenden Damen etwas jünger zu wirken. Das wollte auch der unterhaltsame junge (und gelegentlich betrunkene) Professor Blei, versuchte es aber mit anderen Mitteln: Für seine kabarettreifen Einlagen erntete er oft stürmischen Beifall, aber gerade das machte es nicht einfach, dahinter die Umrisse des Strafrechtssystems zu erkennen. Die gefährliche Körperverletzung demonstrierte er am Beispiel der mit dem nackten Hintern auf die Herdplatte gesetzten Ehefrau, um damit zu erläutern, dass auch ein sonst nützlicher Gegenstand zu einer gefährlichen Waffe werden kann. Überhaupt machten ihm sexuell konnotierte Straftaten besondere Freude. An meine erste Klausur schrieb er den unvergessenen Kommentar: »Verfasser hat die Probleme des Falles nicht einmal erahnt!«. Heute müsste er sich wegen einer solchen Bemerkung vor der Ethikkommission rechtfertigen.

Auch der nette alte (63!) Ernst Heinitz (auch Strafrecht), der 1933 nach Italien geflüchtet war und dort überlebt hatte, prägte sich uns ein – seine Hinweise auf Lombroso und dessen Theorie von der Lebensführungsschuld sind heute in der Diskussion um die Willensfreiheit wieder aktuell. Überhaupt bleiben Strafrechtsprofessoren länger in der Erinnerung ihrer Studenten, weil sie sich mit Problemen beschäftigen, die täglich in der Zeitung stehen, und wenn sie dann noch als Onkel von Udo Jürgens bekannt waren wie Paul Bockelmann, wurden sie – jedenfalls in den Zeiten vor 1968 – ebenfalls wie Stars verehrt! Ich nahm all das als unabänderlich hin.

Aber nur wenige Monate nach dem Mord an Benno Ohnesorg wurde in Hamburg bei der feierlichen Rektoratsübergabe vom 9. November2 1967 endlich ausgesprochen, was alle schon wussten: »Unter den Talaren – der Muff von 1000 Jahren«). Die Wortführer, Detlev Albers und später auch Knut Nevermann, der Asta-Vorsitzende (Sohn des Bürgermeisters), wurden später selbst Professoren, woran man sehen kann, dass kluge Leute früher als andere merken, was Sache ist. Aber es gab auch andere, die der alten Universität nachtrauerten: »Wäre ich 1966 berufen worden, hätte ich wenigstens noch ein Jahr lang erleben können, was ein Ordinarius war. Schade.3«

Für mich war das entscheidende Problem: Ich sah in der juristischen Ausbildung keinerlei Struktur. Es gab keine Studienberatung (oder sie war nie besetzt), einen Assistenten oder gar Professor anzusprechen musste als Anmaßung erscheinen, und als ich mich in eine »Übung für Anfänger« einschrieb, wurde ich belehrt, dass man dafür kein Anfänger mehr sein dürfe, sondern erstmal einen »Schein« machen müsse. Was das war, erklärten einem andere Studenten, aber sonst niemand. Wenn diese Ausbildung irgendwo »wissenschaftlich« war, dann womöglich irgendwo in den höheren Semestern, und was hätten auch die ersten Semester mit so einem Anspruch anfangen sollen? Wir hätten pädagogisch aufgebaute Lehrangebote erhalten müssen, wie sie heute üblich sind, und also hat es seine Zeit gedauert, bis man erkennen konnte, dass es gar kein System gab, an dem man sich hätte orientieren können.

Erst sehr viel später habe ich begriffen, dass die Universität kein Prüfungsrecht hatte und daher an den inhaltlichen Erfolgen ihrer Studenten gar kein Interesse entwickeln konnte. Das Prüfungsrecht aber hatte sie im 19. Jahrhundert verloren, weil der Staat keine Juristen einstellen wollte, deren Qualifikation mit Rechtskenntnissen wenig zu tun hatte. Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) war stolz genug, den ehrenvollen Ruf von Landshut nach Berlin davon abhängig zu machen, dass er geltendes Recht (wie etwa das moderne Allgemeine Preußische Landrecht) nicht unterrichten musste. Mit Studenten, die die gültigen Gesetze nicht beherrschen, konnte der preußische Staat aber wenig anfangen. Das Jurastudium verbrachte man mit Saufen oder Dichten (oder wie Heinrich Heine: mit beidem), und wenn man ausgenüchtert zum Examen erschien, reichte das meistens. Und als es nicht mehr reichte, sprangen die Repetitoren in die entstandene Lücke – trotz erheblicher Verbesserung der Ausbildung tun sie das bis heute.

Nachmittags fuhr ich mit Horst Dengler (später General Counsel Europe bei Procter & Gamble), der im gleichen Studentenheim wohnte, von der Uni nach Hause, beide mit dem dicken roten Schönfelder unterm Arm, und gelegentlich landeten wir am Stuttgarter Platz in der Elefantenbar (»Striptease: Tag und Nacht geöffnet«). Nachmittags gab’s da Sonderpreise, und manchmal mussten wir gar nichts zahlen, wenn wir nebenbei die Mietrechtsprobleme der anwesenden Damen lösten.

Sie hatten kein Geld, und wir erzählten, dass wir auch keins hätten. Allein mit der Abfindung aus der Bundeswehr hätte es hinten und vorne nicht für fünf Jahre gereicht: Mein Großvater war ein ziemlich armer Weber aus Wuppertal (seine Werkstatt lag nahe bei den Engelsschen Tuchfabriken), mein Vater gelernter Schreiner, der sich über die Abendschule zum Architekten fortgebildet hatte und nun Innenarchitektur an der Werk-Kunstschule in Düsseldorf unterrichtete. Vermögen gab es also nicht und staatliche Förderung bekamen wir auch nicht (weil so ein Oberregierungsrat auch bei vier Kindern für das »Honnefer Modell« zu viel verdiente!). Damals gab es noch Studiengebühren und keinerlei sonstige Beihilfen: Die Aufnahmegebühr betrug 30 DM, die Semestergebühr 35,50 DM und die Vorlesungsgebühren 137,50 DM. Wer als wissenschaftliche Hilfskraft z. B. 1,20 DM pro Stunde verdiente, musste allein dafür pro Semester 169 Stunden arbeiten. Wer sich fragt, wie Rudi Dutschke und Bernd Rabehl ihr Studium finanziert haben, findet die Lösung in den Gesetzen über staatliche Stipendien für Flüchtlingen aus der Ostzone: Sie bekamen pro Monat 400 DM und mussten keine Gebühren bezahlen.4

Über eine Alternative zum Geldverdienen neben dem Studium habe ich (leider) nicht einmal eine Stunde lang nachgedacht. Keiner meiner Lehrer und schon gar kein Studentenbetreuer (solche Leute gab es nicht) hat mir geraten, mich bei der Studienstiftung oder notfalls (treu katholische Eltern!) bei der Konrad-Adenauer-Stiftung zu bewerben. Ich wäre wahrscheinlich sogar genommen worden. In Berlin wäre ich nie zur Bundeswehr eingezogen worden, das war die Insel der seligen Kriegsmüden. Meinen größten Traum – in Amerika zu studieren – habe ich nicht einmal geträumt, sondern wachen Sinnes sofort verworfen, sobald er mich im Sonnenlicht einmal anzublinzeln wagte. Ich wäre so wahnsinnig gerne ausgewandert aus dieser bleiernen Zeit. Stattdessen habe ich mich brav angepasst, sogar meinen Wehrsold gespart, und meine Mutter lobte mich für meine Disziplin, die für ein »hübsches Sümmchen auf dem Konto« (am Ende waren es 1800 DM) sorgte. Für sie als Tochter eines Kaufmanns gab es nichts Wichtigeres im Leben.

Die netten Mädels in der Elefantenbar dachten nicht ans Sparen, kannten aber andere Auswege: Bolle (Milch- und Lebensmittelhändler, bekannt seit Zille) sucht LKW-Fahrer für die Nachtschicht! Ich bekam in der Nachtschicht 2,03 DM pro Stunde in die Lohntüte – doppelt so viel wie eine wissenschaftliche Hilfskraft und außerdem »Deputat«: Milch, Käse, Sahne usw. Es gab bessere Jobs in der Stadt, z. B. im Flamingo, einer eleganten Nachtbar am Zoo, wo Studenten allabendlich hinter der Bühne in einer durchsichtigen Badewanne eine dicke Schaumschicht erzeugen mussten. Die schoben sie dann, als Negersklaven verkleidet, auf die Bühne, damit die Tänzerinnen schaumgeborene Venus spielen konnten. Stundenlohn: 3,50 DM und Sekt. Diese Jobs wurden aber nur unter Physikern weitervererbt, die wussten, wie man Schaum schlägt.

Unsereins musste anders ran. Die Tour zu den Lebensmittelmärkten startete um 22 Uhr in Moabit, führte dann durch Schöneberg und morgens um sechs über Charlottenburg wieder zurück. Ich fuhr den alten Büssing-NAG mit Hänger, ein Gerät aus den späten Dreißigerjahren (früher auch mal mit Holzgas betrieben), während der Cheffahrer an seinen Underberg-Pullen süffelte, die im grauen Hausmeisterkittel neben den Schlüsseln für die Milchgeschäfte klingelten. Auch die Krankenhäuser wurden nachts beliefert, und einige »Etablissements« brauchten ebenfalls Milch und Sahne, wie der Salon Kitty in der Giesebrecht Straße. Da hatte Jopi Heesters Anfang der Dreißigerjahre genächtigt – wie er später erzählt hat, ohne zu merken, was um ihn herum geschah. Die Abhörleitungen des Reichssicherheitshauptamtes waren immer noch installiert, und vermutlich hörten jetzt am anderen Ende Leute von der Staatssicherheit zu, wenn die Berliner Baureferenten beflügelt von Mariacron (Tröster der Krankenschwestern) den Damen unter die Wäsche gingen.

Die Mauer prägte unsere ganze Route. Manche Straßen waren in der Mitte geteilt, so dass der große LKW mit seinem Hänger sich fast über die Bürgersteige quälen musste, um zu den Milchgeschäften zu kommen. An großen Krankenhäusern verlegte man teilweise die Einfahrten, und es dauerte noch Jahre, bis alle Versorgungsleitungen, die früher direkt von Ost nach West geführt hatten, umgeleitet worden waren. Die Wiedervereinigung musste all diese Schnitte rückgängig machen.

Es war harte Arbeit (alles ohne hydraulische Ladeklappe!), aber wir lebten aus dem Vollen: In den Pausen bezahlten wir Bier und Buletten mit Joghurt und Sahne aus dem Deputat, zum Beispiel im Froben-Eck, wo sich im Winter die Nutten aufwärmten, denn schon damals war Berlin 24 Stunden offen. (Dort ehrenvolle Ausrufe der Damen in ihren Leopardenstiefeln: »Na – ihr Bolle-Athleten – Sahne jefällig?«, wobei der Busen mit beiden Händen bedeutungsvoll gehoben wurde).

Der Cheffahrer musste mir viel (allzu viel) erklären: Diesel vorglühen, Zwischengas beim Raufschalten usw., und jedes Mal, wenn wir an die Mauer stießen und ich Probleme mit dem Zurücksetzen hatte, sprang er auf den Bock und zeigte mir, was ich wieder mal falsch gemacht hatte. Je mehr Underberg er drin hatte, umso schneller ging das. Der Dritte im Bunde war ein illiterater und zahnloser Hilfsarbeiter, der zwei Milchkisten mit einer Hand heben konnte und dir den Kautabak auf die Stiefel spuckte. Aber weil man dem bei jeder Kiste Joghurt erklären musste, wo sie hin soll, schleppten auch die Fahrer die schweren Kolli treppauf treppab – bis der Chef sich ab der Hälfte der Schicht darauf beschränkte, wichtig mit dem Schlüssel zu fuchteln.

Freitags klingelte das Geld in der Lohntüte (EDV war noch nicht erfunden), und das trugen wir am Ende der Schicht in die Turmquelle. Da ging es früh um sechs heiß her: An die 60 Fahrer tranken nach der Nachtschicht zwischen fünf und neun Uhr Bier und Bärenfang, dann heim (Mutti das Geld abgeben) und dem Wochenende entgegenschlafen.

Von Vorlesungen habe ich nicht viel mitbekommen, hatte aber auch nicht den Eindruck, allzu viel zu versäumen. Morgens nach der Schicht fuhr ich ins Studentenheim, um mich zu waschen. Milch stinkt nach ein paar Tagen sauer in den Klamotten, und also machten die Leute an der U-Bahn Turmstraße, in die ich um 6 Uhr stieg, einen großen Bogen um mich.

Dann fuhr ich zur Uni. Von 16 bis 21.30 Uhr schlafen. Das war Stress. Außerhalb der Semesterferien ging es auch nur ein paar Tage, dann brach ich ab. Es war nur ein einziges Jahr, aber es gab meinem Leben eine vollkommen andere Wendung. Schichtarbeit im Pütt war irgendwas Ähnliches, und hier begegnete ich jeden Tag oder besser gesagt jede Nacht den Proleten, die man mir bis dahin nicht einmal bei der Bundeswehr gezeigt hatte; denn ich lernte Leute kennen, die nur den Gehorsam kannten und im besten Fall darauf fluchen durften.

Diese Erfahrungen haben mir später viel geholfen, als es politisch unruhig wurde. Vorerst war es noch still in Berlin. Rechtsanwalt Horst Mahler (29) beriet im Wirtschaftsrecht, und sein Kollege Otto Schily (33), seit zwei Jahren zugelassen, hatte abends nichts Aufregendes zu tun, als im Exil mit Oswald Wiener, dem Inhaber und früheren Mathematikgenie, über die Verbesserung Mitteleuropas zu plaudern. Darüber hatte Wiener ein Buch geschrieben. Tochter Sarah (3) sprang in der Küche umher.

2.1.3. Freiburg 1966

Ich wusste schon im zweiten Semester, dass ich zum Repetitor musste, und ein Schulfreund erzählte mir, in Freiburg säßen die besten. Das war zwar Unfug, aber Freiburg ein schöner Ort, an dem unter anderem Erik Wolf unterrichtete. Er war ein beeindruckender Kopf und wir haben seine Erläuterungen der rechtlichen Inhalte in Platons Frühdialogen genossen. Keiner wusste, dass er seit 1933 Mitglied der NSDAP gewesen, 1934 unter Heidegger Dekan geworden war und sich erst 1936 als Mitglied der Bekennenden Kirche von den Nazis distanziert hatte. Horst Ehmke war gerade nach Bonn gegangen, statt seiner wurde nun Joseph H. Kaiser (1921–1998) bewundert, der Verbindungen zu Nicolaus Sombart5 (1923–2008) hielt und gute Kontakte nach Straßburg hatte. Er predigte den Deutschen die Vorzüge der planification, eine Idee, die er von den Franzosen übernommen hatte: Da steckte schon ein Stück Systemtheorie drin, eine Methode, die aber nur innerhalb der Eliten funktionieren kann, die in den Ecoles Normales Superieure trainiert werden. Eine weitere Verbindung bestand zum »Konkreten Ordnungsdenken« von Carl Schmitt, nach dessen Tod (1985) er Testamentsvollstrecker wurde. Edle Jünglinge umgaben ihn – vermutlich das Stefan-George-Modell. Das war der Beginn meiner Beschäftigung mit Carl Schmitt. Seine These, dass Politik der Kampf um die Macht ist und Verfassungen im Ausnahmezustand zerbrechen können, erschien mir völlig selbstverständlich und alles, was dagegen gesagt wurde, weit entfernt von der Realität. Böckenförde hat ihn genau so verstanden und es auf eine moderne Formel gebracht: Der Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er selbst (mit rechtsstaatlichen Mitteln) nicht garantieren kann. Der einfachste Beweis ist die Bundesrepublik: So, wie sie entstand, geschah das auf Befehl der Besatzungsmächte und auch die Wiedervereinigung Deutschlands wäre ohne die völkerrechtliche Zustimmung der Sieger des Zweiten Weltkriegs – also einen Akt von außen – nicht möglich gewesen. Genau solche Einflüsse können sie aber auch wieder zerstören. Carl Schmitts bemerkenswerte Persönlichkeit zeigt uns eine erstaunliche Spaltung zwischen der Fähigkeit, die Anstrengungen des Begriffs auszuhalten, und der Unfähigkeit, moralisch richtig zu urteilen.6 Das hat seine Wirkung sehr eingeschränkt.

Das raue Berliner Klima war nach wenigen Wochen in der süddeutschen Idylle vergessen. Aber die Eskalation des Vietnamkriegs wurde auch dort diskutiert – die USA hatten fast 400.000 Soldaten dort stehen und wurden am Anfang vorsichtig mit Slogans wie Make Love Not War kritisiert7. Ich näherte mich diesem Thema – wie immer – von der theoretischen Seite her. Das Max-Planck-Institut für Internationales Strafrecht in Freiburg hatte Spezialliteratur zu Cesare Lombroso, nach der ich suchte – und was finde ich dort? Ganze Bibliotheken über sexuelle Aberrationen: Neben dem drögen Dreher (Strafprozessordnung) stand Sacher-Masochs »Venus im Pelz« als wissenschaftliche Literatur im Regal. Das war eine unerwartete Entdeckung. Von Sigmund Freud und seinen Schülern, deren Werke vollständig vorhanden waren, erfuhr ich, dass wir alle polymorph pervers sind, wenn wir aus den Kinderschuhen nicht herauskommen. Es hat Jahre gebraucht, bis ich schrittweise den Zusammenhang zwischen diesen Ozeanen des Wissens und den alltäglichen Ereignissen herstellen konnte, die bei der Begegnung zwischen Menschen auf einen warten. Woody Allen dürfte es gewesen sein, der die Brücke zwischen der so ungeheuer dämonisierten Sexualität und dem trivialen Alltag geschlagen hat.8 Endlich gab es in diesem Zusammenhang auch etwas zu lachen!

In den Semesterferien wurde ich wieder LKW-Fahrer, diesmal aber im Fernverkehr. Bei Dietsche fuhr ich einen uralten Möbeltransporter zwischen Freiburg und Hamburg herum. Auch Conrad Ahlers habe ich von Hamburg nach Bonn umgezogen, als er 1966 nach der Bildung der Großen Koalition Stellvertretender Leiter des Bundespresseamtes wurde (Es gibt nichts Traurigeres als ausgeräumte Kinderzimmer!).

Mein Cheffahrer war ein ehemaliger Fremdenlegionär. Er hatte sich, ganz ähnlich wie Günter Grass, von der Schulbank weg zur Waffen-SS gemeldet und war nach der Kapitulation zu den Franzosen übergelaufen, die ihn vor die Wahl stellten: Gefangenschaft oder Fremdenlegion. In Dien-Bien-Phu – der Wiege des Vietnamkrieges – wäre er 1954 im Grabenkrieg an einer Bambuslanze fast gestorben. Ihm konnte man nichts vormachen! Sein Lebenstraum war es, sich selbst einmal einen der zentnerschweren 4 m langen Eichenschränke aus Vollholz (mit Intarsien und Löwenfüßen!) zu kaufen – bewundernswerte Zeugnisse der Handwerkskunst –, ich wohnte während dieser Zeit auf Apfelsinenkisten und habe sie nicht vermisst. Häufig holten wir sie aus Löhne ab, dem Zentrum der westfälischen Wüste. Diesen Ort kannte ich aus der Höhe eines Kleiderschrankes der Kaserne schon – jedenfalls dem Namen nach: Wenn die Unteroffiziere besoffen waren, traten sie nachts die Türen ein, brüllten »Löhne, alles umsteigen!!« – und dann mussten die Rekruten auf die Schränke springen und so lange warten, bis der Umsteigebefehl kam. Dieser Witz stammte aus der Kaiserzeit, als Löhne der größte Militärbahnhof des Reichs war, und stand immer noch unter Denkmalschutz – gegen alle Regeln der inneren Führung. In unseren langen Stunden auf der Autobahn erklärte ich meinem Chef anhand dieses Beispiels aus lauter Langeweile die Grundrechte in besonderen Gewaltverhältnissen (wie man das damals noch nannte) und – wenn wir wieder mal die Schichtzeiten überschritten hatten und zu lange auf Achse waren – die Grundzüge des Arbeitsrechts. Er unterrichtete mich über die politischen Ansichten der Arbeiterklasse. Diese Klasse gab es damals noch. Nach Revolution war ihr aber erkennbar nicht zu Mute.

2.1.4. München 1967

Das Leben in Freiburg war so angenehm, dass ich das Gefühl hatte: Da wirst du mal hängen bleiben, wenn du jetzt nicht wegkommst. So ist es vielen Juristen gegangen – Freiburg hat, bezogen auf die Bevölkerungszahl, heute die meisten Anwälte in Deutschland9. Also überlegte ich, wohin ich jetzt gehen sollte. Damals, als niemand einem Studenten etwas praktisch Verwertbares beigebracht hat, geisterten noch mittelalterliche Thesen in der Gegend umher, man müsse mehrere berühmte Professoren und Universitäten kennen gelernt haben (die fahrenden Scholaren etc.). Ich hatte in Freiburg von Peter Lerche gehört, der in München lehrte. Ein Freund, der ihn an seinem ersten Lehrstuhl in Berlin gehört hatte, sprach begeistert von seinen Vorlesungen und Büchern und daran erinnerte ich mich. Auch Eugen Roth klang mir im Ohr: »Vom Ernst des Lebens halb verschont/ist der schon, der in München wohnt.«10.

Am Anfang war davon leider nichts zu bemerken. Mein erstes Zimmer teilte ich mir mit meinem Freund Georg Kilian, den ich schon in Berlin kennen gelernt hatte. Gemeinsam konnten wir uns das nach Blut und Rauch stinkende Hinterzimmer einer Metzgerei gerade noch leisten. Nachts wurde es ab drei Uhr durch die riesigen Maschinen von Francis-Druck erschüttert, die im Nachbargebäude um diese Zeit anfingen, die Zeitungen zu drucken. Auch die nächsten drei möblierten Zimmer waren furchtbar: in der Agnesstraße ein trüber Hinterhof über einer Kneipe, in der Amalienstraße eine Abstellkammer bei einer Kriegerwitwe: Da durfte man die Küche nicht benutzen, wohl aber den Kühlschrank, der so schlimm stank, dass ich gern darauf verzichtet habe. In allen Fällen natürlich: »keinen Damenbesuch«, denn manche tolerantere Witwe bekam damals immer noch eine Strafe wegen Zuhälterei übergebraten, wenn die Nachbarn sie verpfiffen. Für mich kein Problem, denn Damen waren nicht da. Ich habe nie verstanden, warum sich bis heute niemand dafür interessiert, unter welch erbärmlichen Bedingungen viele Studenten wohnen müssen.

Der ständige Geldmangel war enervierend. Mit Nachtschicht und Fernfahren war’s vorbei, weil ich nun beim Repetitor wirklich systematisch lernen musste. Der Taxi-Führerschein war die Lösung. Ich konnte fahren, wann ich Zeit hatte, und lernte dabei auch gleich was fürs Leben, denn als Taxifahrer bekommt man besonders »zur Nachtzeit« (wie das in der Sprache der Juristen heißt) innerhalb weniger Stunden in unkonventioneller Form tiefe Einblicke in die menschliche Natur. Es ist verblüffend, dass auch heute noch von vielen Wissenschaftlern über die Frage debattiert wird, ob es irgendetwas wie die condition humaine gebe. Nach einem Jahr am Steuer eines Taxis (und nicht im Fond!) werden Sie sich mit niemandem mehr darüber streiten. Also fuhr ich nicht ungern mit meinem schwarzen Opel Kapitän (Baujahr 1958 mit Lenkradschaltung), einem riesigen Sofa auf Rädern, durch die nächtliche Stadt. Mein Chef hatte nur zwei Autos und musste sehr scharf kalkulieren, um durchzukommen, denn diese Kiste war ein großer Benzinfresser. Meine kleine zwei 2CV-Ente, mit der ich nach der Schicht in die Universität fuhr, ernährte sich dagegen sehr bescheiden.

Auch in München gab es fragwürdige Juristen, die im Dritten Reich Karriere gemacht hatten. Dazu gehörte vor allem Karl Larenz. Niemand sprach darüber, dass Larenz in Kiel den Lehrstuhl eines weggejagten jüdischen Wissenschaftlers eingenommen und danach einige Veröffentlichungen geschrieben hatte, die die Diktatur verherrlichten. Der groß gewachsene und stets elegant gekleidete Mann lief mit seinen Assistenten wohlwollend grüßend durch die Gänge – niemand hätte gewagt, ihn außerhalb seiner Sprechstunde (die fast nie stattfand) auch nur anzusprechen.

Der zweite Problemfall, der sich erst in den Achtzigerjahren seiner ganzen Tiefe zeigte, war Theodor Maunz. Peter Lerche war wie Roman Herzog einer seiner wichtigen Schüler. Lerche hatte in seiner Habilitation schon mit 32 Jahren mit dem Begriff des »Übermaßverbots« einen der wichtigsten Grundsteine der Verfassung definiert. Bald lernte ich ihn in einem seiner Seminare persönlich kennen. Selten habe ich einen Wissenschaftler gehört, dessen klares Denken und präzise Sprache einen so unmittelbaren Eindruck machen konnten. Er war 1928 in Leitmeritz an der Elbe geboren – damals tschechisch, später deutsch –, sein ganzer Stil war von österreichischer Gelassenheit und Intelligenz geprägt, die aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu stammen schien. Seine Vorlesungen bedeuteten tatsächlich eine wesentliche Zäsur für mich: Bisher stellten Autorität und Gehorsam einen Teil der Lebenserfahrung dar, jetzt lernte ich bei ihm, wie man sie mithilfe der Verfassung in ihre Grenzen weisen kann. Das hat mich gegen alle immer wieder auftauchenden Schwierigkeiten am Studium festhalten lassen! Ich freute mich später, auch bei ihm promovieren zu können.

Seltsam, dass Maunz ihn schätzte, denn Lerches Denken war von Liberalität und unbedingter Rechtsstaatlichkeit bestimmt, Begriffen, die Maunz nach 1945 zwar aussprechen, aber nicht beherzigen lernte. Maunz wurde uns als früherer bayerischer Kultusminister vorgestellt. Keiner ahnte, dass er in den Dreißigerjahren Mitglied der Thule-Gesellschaft, der NSDAP und der SA gewesen war, und neben Heidegger in Freiburg regimetreue »Wissenschaft« betrieben hatte. Nach 1945 hatte er eine christliche Fassade hochgezogen, hinter der er die NPD beriet und unter Pseudonym rechtslastige Artikel schrieb. Maunz machte sich nach 1949 sofort daran, das neue Grundgesetz zu kommentieren. Das war eine strategische Tat, die gewiss auch den Zweck hatte, zu verhindern, dass ihm ein anderer liberaler Rechtslehrer zuvorkam. Bis heute trägt das führende Standardwerk zu unserer Verfassung seinen Namen und verbindet ihn mit seinem Mitherausgeber Roman Herzog, dem späteren Bundespräsidenten.

In früheren Auflagen finden sich darin grob verfassungswidrige Ansichten, so etwa die Behauptung, Verwaltungsanordnungen unterlägen nicht dem Rechtsstaatsprinzip.11 Hätte man damals vor den Zeiten der Revolution über die Vergangenheit so manches Hochschullehrers offen diskutieren können, hätte man ihm solche Sätze wohl nicht durchgehen lassen. Aber auch hier wurde geschwiegen.

Dieses Schweigen führte auch dazu, dass andere wie Werner Flume nicht gerühmt wurden, die wegen ihrer kritischen Haltung von der Hochschule vertrieben worden waren. Ohne die Studentenrevolte hätte Bernd Rüthers zwanzig Jahre später sein Buch »Entartetes Recht – Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich« ebenso wenig schreiben können wie Ingo Müller über die »furchtbaren Juristen«. Die 68er Generation hat die Diskussion aber nur angestoßen, kaum einer der fragwürdigen Professoren hat bemerkenswerte Nachteile erfahren. Zu ihnen gehört auch Ernst Forsthoff, der 1933 das Buch »Der totale Staat« schrieb, in dem er die Naziherrschaft bejubelte, um nach dem totalen Krieg dann mit dem Grundlagenwerk »Der Staat der Industriegesellschaft« hervorzutreten. Ich habe ihn ohne jede Kenntnis der Zusammenhänge ziemlich unkritisch gelesen.

Dabei hätte man sehr wohl zwischen jenen (wie zum Beispiel Erik Wolf) und anderen unterscheiden können, die in einer relativ kurzen Phase zwischen 1933 und 1937 den Nazis positiv gegenüberstanden, sich aber noch vor dem Ausbruch des Krieges und der Judenmorde von diesen Ideen distanzierten und anderen, die bis weit in die Nachkriegszeit hinein und im nachträglichen Wissen um alle Geschehnisse keine Korrekturen an ihren früheren Gedanken anbringen wollten. Das hätte man fairerweise auch von Carl Schmitt, Maunz und anderen verlangen können.

Juristen lernen auf der Universität nämlich als Erstes, dass es gegen jedes Argument auch ein Gegenargument gibt. Was hätte ich zum Beispiel an der Stelle von Erik Wolf getan, wenn ich der Meinung gewesen wäre, wirklich etwas zu können und auf einmal wird ein Lehrstuhl frei, den ich dem Führer verdanke, dann schreibe ich lobende Aufsätze über das neue System und 1936, drei Jahre später merke ich, was für ein Humbug das alles ist – ungefähr zur gleichen Zeit, in der die ganze Welt den Nazis bei der Olympiade in Berlin zu Füßen liegt. Also wäre ich auch ins Loch gekrochen, hätte griechische Rechtsgeschichte unterrichtet und meinen Kopf in den Sand gesteckt.

Dann kommt der Krieg, und ich erfahre: Die Juden sind nicht nur vertrieben, sondern auch ermordet worden! Ob ich aus einer solchen Haltung vielleicht in den Widerstand gefunden hätte? Man weiß es nicht! Dann kommen 30 Jahre später junge Leute, die mir erzählen, was ich hätte richtig machen müssen, und werfen mir vor, ich würde sie kaputtmachen und jetzt müssten sie mich kaputtmachen. Ich hätte ziemlich sicher die Welt auch nicht verstanden.

In den Jahren vorher mussten viele Wissenschaftler, die ins Exil gegangen waren, erleben, dass sie in Deutschland keinesfalls willkommen waren. In München gehörte dazu Eric Voegelin. Vermutlich wusste man wenig von ihm, als man ihm 1958 den Ruf gab, das Geschwister-Scholl-Institut zu gründen, um so ein konservatives Gegengewicht zur Frankfurter Schule zu etablieren. Er stammte aus Köln, war in Wien ein Schüler Kelsens gewesen, emigrierte zeitgleich mit ihm nach USA, wo er früher schon studiert hatte (Südstaaten-Universität Notre-Dame), und war seit 1944 US-Staatsbürger. Ich ging im Sommersemester 1969 in seine Vorlesungen, weil ich an der politischen Wissenschaft außerhalb der juristischen Schemata interessiert war. Gelegentlich benutzte er noch österreichische Begriffe wie »wegeskamotiert«, deren Bedeutung ich nur deshalb kannte, weil ich jahrelang Griechisch und Latein gelernt hatte: Im Lateinischen hat commutare die Bedeutung, etwas verschwinden zu lassen, sodass der Taschenspielertrick im Französischen escamotage heißt, und da die Österreicher auf Nummer sicher gehen wollten, sagten sie dasselbe zweimal (wegeskamotieren), ganz ähnlich wie Herr Witzigmann (und schlimmer noch: Herr Schuhbeck) die Saucen ständig einreduzieren, statt sie nur zu reduzieren.

Diese Zusammenhänge hätte ich mir nicht rekonstruieren können, wäre mir nicht durch Zufall einige Tage zuvor der Briefwechsel zwischen Paul Ehrenfest, einem österreichischen Physiker, der sich in seinen Briefen gelegentlich als Geißel Gottes bezeichnete, und seinem ebenso genialen Kollegen Wolfgang Pauli in die Hände gefallen: »Nun also, sie haben das Spektrum nullter Ordnung wegeskamotiert und DADURCH (!) zunächst einmal gerade dort ein tödliches Minimum bekommen, wo die Deutung des EINZELNEN Moleküls gerade sein jubelndes Maximum nullter Ordnung zeigen würde.« (Die beiden Brieffreunde brachten sich später aus unterschiedlichen Gründen um.)

Voegelin – diesen Wissenschaftlern geistesverwandt – war ein kämpferischer Typ, der Karl Marx als »intellektuellen Schwindler« bezeichnete und Kollegen in Fakultätsdebatten ironisch fragte: »Darf ich etwas Wissenschaft in die Debatte träufeln?«12 Er empfahl uns: »Schauen sie über Deutschland hinaus und lesen Sie die Neue Zürcher Zeitung. Besser informiert ist auch das Außenministerium nicht.« Botho Strauß nannte das eine »gediegene Autorität und snobistischen Apart13«.

Außerdem hatte er irgendwoher die Vorstellung, er habe den Auftrag, die deutsche Universität von Grund auf zu erneuern. Über Wilhelm von Humboldt, Richard Wagner, Martin Heidegger und Martin Niemöller sprach er mit Verachtung, Nietzsche, Thomas Mann und Adorno waren ihm recht. Er hatte keine Chance, sich durchzusetzen, da die modernen politischen Strömungen gegen ihn liefen und er als Emigrant von jenen, die in Deutschland geblieben waren, auch nicht geschätzt wurde – gelegentlich trank er zu viel und ging einsam wankend durch Schwabinger Gassen.

Kein Student hätte eine Chance gehabt, auch nur zu ahnen, was in seinem Kopf vorging. Ich ging zu ihm, um mir ein Bild zu machen, wie man gleichzeitig modern und konservativ sein kann, weil mir – obwohl ich vollkommen linksliberal dachte – die Ideologien der Frankfurter Schule von Anfang an zuwider waren und ich vermutete, dass man bei Eric Voegelin jedenfalls nicht dümmer wird: Das »Gespräch des Selbstmörders mit seiner Seele«, einen Text, der knapp 3000 Jahre alt war und aus Ägypten stammte, pflegte er zu benutzen, um das Wesen der Politik zu erklären.

Sonst saß ich bei Vorlesungen immer vorn, damit ich nicht einschlief, bei Voegelin aber ausnahmsweise in der letzten Reihe, weil ich meist von der Nachtschicht als Taxifahrer kam. Vorn saßen die klugen Teilnehmer an seinen Seminaren, aber gelegentlich, wenn er einen griechischen Spezialbegriff benutzte, bat er mich um Übersetzung, denn von den zehn Leuten, die in diesem Hörsaal anwesend waren, konnte das sonst keiner. Und so erklärte ich hin und wieder, dass »nous« sowohl Geist wie Seele bedeuten könne – oder auch etwas ganz anderes.

Ein halbes Jahr später – nach seiner Emeritierung – ging Eric Voegelin wieder zurück nach USA, denn seine Resonanz in München war damals gering. Man hat ihm nichts angeboten, was ihn interessiert hätte. Ich lese ihn heute mit immer tieferem Verständnis (jüngst: Realitätsfinsternis, 2010, Nachdruck von 1971) und sehe, dass meine Ahnung mich nicht betrogen hat: Er ist einer der wenigen, die einem erklären können, wo die Schwachstellen bei Hegel, Nietzsche, Marx und anderen liegen. Auf seiner schwarzen Liste steht aber natürlich auch Freud und vielleicht auch Luhmann, und er ist an mancher Stelle selbst nicht so frei von starren Haltungen, wie er das gern gewollt hätte.

Er hatte bestimmt kein leichtes Leben, denn natürlich verhielt er sich gegenüber Kollegen, deren Nazivergangenheit offenkundig war, oder anderen, die ihm intellektuell nicht folgen wollten, schroff und abweisend.

2.1.5. ROTZJUR

In Berlin war die Revolution geboren worden, nach München wurde sie 1968 importiert. Allerdings hatte es hier schon 1962 die Schwabinger Krawalle gegeben. Damals reichte es aus, gegen den Widerspruch eines in seiner Nachtruhe gestörten Stadtrats weiter Gitarre zu spielen, um von der Straße geprügelt zu werden. Mein Bruder Burkhard, damals bei der Bundeswehr in der Schweren-Reiter-Kaserne stationiert, war völlig geschockt, als sich aus der unscheinbaren Szene für vier oder fünf Tage lang eine Reiterschlacht mit Polizisten entwickelte. Andreas Baader soll dabei die Initiationsriten der Politisierung durchlaufen haben. Danach war wieder Ruhe, aber es war die Ruhe vor dem Sturm.

In wenigen Monaten änderte sich die Lage. Henry Heppel & Wolfgang Ettlich, Theaterleute und Kneipenbetreiber, wanderten 1968 von Berlin nach Schwabing ein, der Stil der Kommune K1 wurde übernommen und in ihrem Gefolge fanden sich andere mit gigantischen Ideen: Das »Politische Forum Franz Gans« beantragte im Juli 1969, die Disney-Figur zum neuen Vizepräsidenten zu ernennen, denn er »ist für die bayerischen Studenten repräsentativer als Rosa Luxemburg oder Karl Marx, weil Oma Duck ihn als Knecht hält« – der Rückgriff auf Dada in den Zwanzigerjahren war unverkennbar. Die biedere Max-Emmanuel-Brauerei wurde in »Marx-Engels-Brauerei« umgetauft.

Weniger lustig war die Großrazzia beim linken Trikont-Verlag im September 1969. Um 4.10 Uhr wird der Lehrbeauftragte Dr. Paul Gerhard Völker von drei Kriminalbeamten aus dem Bett geholt, der Verlag von fünfundsechzig Polizisten mit Hunden umstellt und vier Wohngemeinschaften durchsucht. Man sucht staatliche Fürsorgezöglinge, die in den Kommunen leben, und nimmt das zum Anlass, auch nach anderen Dingen zu suchen, für die es keine gerichtlichen Erlaubnisse gibt.14 Rechtsanwalt Eggert »Rüb« Langmann war da ziemlich hilflos. Er und seine Frau Lo waren die Schutzgötter der Roten Zelle Jura (ROTZJUR), die sich an der Universität gebildet hatte. Mit den Roten Zellen, denen ich zurückhaltend gegenüberstand, griff man auf die Idee der »Roten Hilfe« aus den Zwanzigerjahren zurück, als es darum ging, strafrechtlich verfolgten mittellosen Arbeitern gegen die Klassenjustiz zu helfen. Aber es war nur ein Zitat. Jetzt veranstaltete man z. B. eine »Rote Knastwoche« in Jugendstrafanstalten, sprengte Senatssitzungen und machte sich sonst bemerkbar. In Langmanns Wohnung gab es hin und wieder Diskussionsrunden, in denen anhand von Marx’ Originaltexten seine juristischen Theorien abgeklopft wurden, da las man Kropotkin und andere rote Autoren, die irgendetwas über die Rechtssysteme zu sagen hatten. Auch in Filmen von Norbert Kückelmann (ebenfalls Anwalt) war er zu sehen. Ich fand das spannend. Mein Blick wurde kritischer.

2.1.6. Repetitoren

1968 gab es an der Universität außer den Klausurenkursen nichts, womit man sich auf das Examen hätte vorbereiten können. Nichts heißt: keine Lehrveranstaltungen, keine Bücher, keine Skripten, keine Verlage, die sich nachhaltig für Studenten interessiert hätten. Die klassischen Darstellungen – vor allem Larenz’ Zivilrechtsbücher – lasen sich süffig wie alter Portwein, aber sie waren auch ohne jede Struktur, die einem beim Lösen der Fälle hätte helfen können. Dieter Medicus’ Buch zum BGB, organisiert nach Anspruchsgrundlagen, stieß 1968 als Erstes in diese riesige Lücke und ist bis heute (2012: 23. Auflage!) ein Vorbild für gute Ausbildungsliteratur. Wir hatten davon leider nichts mehr.

C. H. Beck hatte allerdings 1960 einen Testballon gestartet: die erste Ausbildungszeitschrift, die Juristische Schulung, war auf den Markt gekommen, misstrauisch betrachtet von der Universität, aber immerhin ein erster Schritt in die richtige Richtung. Da standen gelegentlich Probeklausuren drin, die man verwenden konnte.

Das juristische Examen besteht (in Bayern) aus fünfstündigen Klausuren, und die Ergebnisse hängen nicht nur vom Wissen, sondern weit mehr von der Stressstabilität, der Organisationsfähigkeit und dem taktischen Gespür ab. Das lernte man beim Repetitor Rottmann, einem alten Knaben, der dem Klischee der Repetitoren in jeder Hinsicht entsprach: ein Pauker mit immer wieder denselben Sprüchen: »In sich bringen ist die stärkste Form des Ansichbringens«, um den Mundraub zu erklären (den es damals noch gab) usw. Fürs öffentliche Recht besuchte man Dr. jur. Dr. oec. Scholz, einen Kettenraucher mit gleichwohl weit tragender Stimme, der einem in einer Woche mehr beibrachte, als man bei Mang Maunz Mayer Obermayer auf 500 Seiten nachschlagen konnte. Als er zwanzig Jahre später keine Lust mehr hatte, Repetitor zu sein, machte er neben seinem Anwaltsjob gleich gegenüber der Universität ein Fischrestaurant auf und ging nahezu sofort damit pleite. Ein begnadeter Mann!

Einige Universitäten wie Freiburg oder Hannover sind heute stolz darauf, bessere Angebote als Repetitoren zu haben und vielleicht ändert sich die Situation in absehbarer Zeit. Wir hatten diese Wahl nicht. Beim Repetitor begegneten sich mehr oder weniger alle Leute, die ins Examen wollten, und so traf ich meine späteren Partner Gunther Braun, Justin von Kessel und Eberhard Gloning, die die gleichen Kurse besuchten. Keiner von uns stammt aus München. Gunthers Leute waren aus Böhmen vertrieben worden, die Familie von Kessel aus Breslau, wir waren von Berlin nach Süddeutschland geflüchtet und dann nach Düsseldorf gezogen und nur Eberhard war ein ganz normaler Schwabe aus der Gegend von Stuttgart. Aus der Sicht der Münchner hatten wir alle einen eindeutigen Migrationshintergrund, was an der Sprache zu hören war. Schmerzlich machte sich das z. B. im Bratwurstglöckl am Dom bemerkbar, wenn man mit der Dicken Rosa darum feilschte, einen Tisch zu bekommen. Michael Brucks, ein hannoverscher Freund aus Schulzeiten, der auch in München gestrandet war, hing sich zu diesem Zweck eine weißblaue Rautenkrawatte um, dazu einen Trachtenjanker und versuchte sich mit angedeuteten bayerischen Sprachfetzen »geh’ weida …« durchzuschummeln. Rosa blieb unbeeindruckt. Noch Jahre später habe ich mich geärgert, dass Karl-Heinz Rummenigge 1974 schon nach sechs Monaten beim Stammtisch zugelassen wurde – trotz der Schmähkritik von Franz Beckenbauer (»Das wird nie einer«).

Oft blieben wir nach den Kursen des Repetitors noch zusammen, um »Kottelet Rost mit Pommes frites« beim Jugoslawen zu essen, und bildeten nach und nach eine Lerngruppe mit verteilten Rollen. Gunther war Korrekturassistent bei Rottmann und gab mir spaßeshalber die schlechtesten Noten. Am Ende war’s nicht so übel, denn ich hatte den festen Eindruck, keine Ahnung zu haben, und lernte deshalb ziemlich intensiv.

Im Dezember 1969 haben wir alle das Examen mit guten Promotionsnoten bestanden und verabredeten, uns als Referendare im Klausurenkurs von Heinz Thomas wieder zu treffen, um dort für das zweite Staatsexamen zu lernen.

2.2. Die Welt als Vorstellung – Die 68er

Karl Marx 11. Feuerbachthese
Karl Marx’ 11. Feuerbachthese, Foyer Humboldt-Universität Berlin

»Die unaufhörlichen Bemühungen, das Leiden zu verbannen, leisten nichts weiter, als dass es seine Gestalt ändert.«
Arthur Schopenhauer

»Was ist für sie das Ergebnis der 68er, Herr Habermas?« »Rita Süssmuth.«
Jürgen Habermas

2.2.1. Im Kleinen Bungalow

»Mein Name ist Mensch, ich habe viele Väter, ich habe viele Mütter, ich habe viele Brüder, ich habe viele Schwestern. Ich bin über zehntausend Jahre alt und heiße Mensch. Ich weiß, wir werden siegen und der Planet Erde wird uns allen gehören.«15 Das war das erste Statement des Rechtsreferendars Rolf Pohle (26), des ASTA-Vorsitzenden des Jahres 1967, als er sich im Mai 1969 vor dem Landgericht München wegen »Unterstützung einer kriminellen Vereinigung« verteidigen musste. Es ging um die Teilnahme an der Karfreitags-Demonstration gegen Axel Springer von 1968. Sein Vater war früher Rektor der Münchner Universität und der führende Autor des traditionsreichen Kommentars zur Zivilprozessordnung Stein / Jonas / Schönke / Pohle gewesen. Jeder Jurist kannte ihn. Rolf Pohle hatte ein Vaterproblem – aber wer hatte das nicht. Als Staatsanwalt Trutz Lancelle – ein schöner Name für diesen Job – ihn an diesen ruhmreichen Vater erinnerte, drehte er endgültig durch: »Ich will von euch wissen, wie viel Hunderte und Tausende Verknackte ihr auf dem Gewissen habt« wütete er gegen Staatsanwaltschaft und Gericht und war auch später durch niemand zu beruhigen.

Das Münchner Schöffengericht verurteilte ihn zu 15 Monaten Freiheitsstrafe ohne Bewährung. Das war das härteste Demonstrationsurteil, das es bis dahin gegeben hatte.16 Die Beweislage war umstritten, aber selbst wenn man unterstellt, dass er »Pflastersteine weiterreichte« und »ein Fass zur Barrikade geschoben« hatte, war das Strafmaß unangemessen. Wenn dieses Urteil bestehen blieb, hatte Pohle keine Chance, in den Referendardienst übernommen zu werden und seine Berufsausbildung abzuschließen. Es wurde aber aufgehoben. Ich lernte ihn in der Referendarzeit kennen, als wir gelegentlich im Kleinen Bungalow in der Türkenstraße am Flipper standen und ein paar Erfahrungen austauschten, die wir in den sich anbahnenden Demonstrationsprozessen gesammelt hatten. Um uns herum Studenten und Referendare, die Flipper schepperten, die Tilt-Sirene jaulte, wenn Bernd Eichinger oder Wim Wenders (unbekannte Filmstudenten) ihr Glück erzwingen wollten. Gegenüber ihre Konkurrenz: Faßbinder und seine Entourage im Stopp-in, die »Altbranche« (Bavaria-Produzenten et cetera) hing ab 22 Uhr im Alten Simpel rum. Peter »Bärchen« Sloterdijk, der mit Eichinger in einer Kommune hauste,17 machte seine ersten Schreibversuche.

Rolf Pohle war tatsächlich ein »sensibler Gerechtigkeitsfanatiker«, wie sein Verteidiger Eggert Langmann ihn genannt hat. Die dazu gehörende leichte autistische Neigung, die Wahrnehmungen anderer zu ignorieren, gehörte dazu. Das Assessorexamen konnte er aus unterschiedlichen Gründen nicht bewältigen. Danach ging er in den Untergrund und wurde 1974 wohl zu Recht zu einer langjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Die Entwicklung bis zu diesem Prozess stand mir klar vor Augen. Sie hatte vor sieben Jahren begonnen.

2.2.2. Die Monarchie kommt zu Besuch nach Deutschland

Der Besuch des persischen Kaisers vom 2. Juni 1967 in Berlin war ganz im Stil großer Staatsbesuche inszeniert worden, bei denen sich die herrschenden Autoritäten huldvoll dem Volke zeigen sollen. In Deutschland konnte da eigentlich nichts schiefgehen, denn für den Schahinschah und seine frühere Frau Soraya wurde in der gesamten deutschen Klatschpresse fast jede Woche der rote Teppich ausgerollt. Den Studenten von Berlin hatte man wie auch der übrigen Bevölkerung offenbar die Rolle zugedacht, dem Herrscher auf dem Pfauenthron und seiner jetzigen Frau Fahra Diba mit fröhlichen Fahnen zuzuwinken und bei den Nationalhymnen strammzustehen.

Hätte man die paar harmlosen Demonstranten, die sich an diese Regeln nicht halten wollten, einfach ignoriert, so wie Roman Herzog das Jahre später beim Stuttgarter Modell gezeigt hat, wäre vielleicht nicht viel passiert. Aber der Schah kam im Gefolge seiner in Zivilkleidung auftretenden Leibwachen, die versuchten, die Sprechchöre vor dem Schöneberger Rathaus mit Dachlatten niederzuknüppeln. Dabei trafen sie natürlich auch einige gerührt vor sich hinweinende Leser der yellow press, die harmlos mit ihren Pelzmützen da herumstanden. Jetzt musste die Polizei einschreiten.

Warum hat gerade der Besuch eines persischen Kaisers diese jungen Deutschen so aufgeregt? Die politische Unterdrückung in seinem eigenen Land kollidierte mit den demokratischen Werten, aber solche Widersprüche kennzeichnen unzählige Staatsbesuche. In der aufgeheizten Stimmung wurde beim abendlichen Besuch in der Oper eine aggressive Polizeiaktion gestartet. Die besondere Ironie daran: Es war die Polizei, die ohne erkennbaren Anlass auf Demonstranten herunterprügelte und sich auf diese Weise selbst mit dem persischen Geheimdienst solidarisch erklärte. Unter den Polizisten befand sich Heinz Kurras, von dem damals keiner wusste, dass er Stasi-Spion war, und dieser Mann erschoss ohne erkennbaren Grund den Studenten Benno Ohnesorg, der vor ihm floh.

Den Innenhof der Krumme-Straße 66/67 gegenüber der Oper, in dem das geschah, kannte ich gut, denn ich hatte zwei Jahre zuvor dort in der Nähe gewohnt. Für die Behauptung, es sei ein Mord gewesen, wurde Klaus Wagenbach 1975 zu Unrecht rechtskräftig verurteilt. Heute wissen wir, dass der Täter mit Sicherheit nicht in Notwehr gehandelt hat. Kurras wurde gegen wichtige Argumente freigesprochen.

Die tieferen Probleme der Gesellschaft werden immer »von den hereinbrechenden Rändern« (Ludwig Hohl) ans Licht gebracht, also von unerwarteten, unscheinbar wirkenden Situationen, mit denen bei einem völlig unpolitisch geplanten Staatsbesuch niemand gerechnet hatte. Entsprechend war die Reaktion der Presse – vor allem der Bild-Zeitung –, die auf die demonstrierenden Studenten ungeachtet des – schon damals fragwürdigen – Todes von Benno Ohnesorg herunterprügelten.

Die Studenten haben das meiste richtig analysiert, aber keine Lösung gefunden, die andere Schichten der Gesellschaft interessiert hätte. Die damals verbreitete Idee, sie könnten die Fackel der Revolution in die Arbeiterschaft tragen, erschien mir unsinnig. Schon mit sechzehn Jahren verdiente ich mein Taschengeld als Schüler und lag während meiner Jahre bei der Bundeswehr mit Leuten aus allen Gesellschaftsschichten gemeinsam im Dreck. Gut zwei Drittel meines Studiums habe ich als Fernfahrer, Taxifahrer, Bademeister im Dante Bad oder in vergleichbaren Jobs gearbeitet. Arbeiter haben mir das Saufen beigebracht, nicht Schlagende Verbindungen. Deshalb wusste ich, dass die meisten Arbeiter konservativ denkende Leute sind, vor allem die Gewerkschaftler.

Ich hatte meine Zweifel, ob das, was die Studenten wollten, von den Proletariern überhaupt verstanden, geschweige denn gebilligt wurde. Was der Arbeiter wollte, war ein stabiler Job und möglichst mehr Urlaub als Arbeit. In den Köpfen der Studenten schwebte das Bild des Bergmannes von 1925, der für die einfachsten sozialen Absicherungen kämpfen musste. Nach dem Krieg hatte er sie bald erreicht und die Kämpfe an die Gewerkschaften delegiert. Die Vergangenheit oder der Generationenkonflikt hat ihn nie interessiert.

Das waren klassische Probleme des mittleren und gebildeten Bürgertums. Die meisten der Leute, die Spaß am Barrikadenbauen hatten, waren vorher nicht als Maurer tätig gewesen. In der Frankfurter Szene wurden Studenten wie Matthias Beltz, die nach dem Studium jahrelang (1971–1977) als Schichtarbeiter bei Opel am Band standen, bestaunt wie exotische Tiere, zum Beispiel von Joschka Fischer, der es da gerade einmal sechs Monate ausgehalten hat, bevor man ihn wegen laufender Agitation mit Zustimmung des Betriebsrates feuerte. Danach dealte er lieber mit Raubdrucken, ein Geschäftsmodell mit hohen Deckungsbeiträgen, wie sie im normalen Kapitalismus schwer erzielbar sind. Es war 1967 von der Kommune I in Berlin am Stuttgarter Platz erfunden worden. Neben Maos »Rotem Buch« wurden u. a. Wilhelm Reich und Max Horkheimer als Raubdrucke veröffentlicht, daneben eigene Texte (häufig von Ulrich Enzensberger). Karl-Heinz Pawla bediente die Druckmaschine, und wer nicht zahlte, bekam einen von Dieter Kunzelmann entworfenen Mahnbrief18:

»Konterrevolutionärer Sausack!
Wer bei der Kommune I Schulden macht, unterstützt die etablierten Mächte.
Du übles Subjekt/Sie stinkender Geizkragen/Ihr undankbaren Widerlinge
stehst/stehen/steht bei uns schon seit
Wochen/Monaten/Jahren
mit dem
in der Kreide …
Wenn die Mäuse nicht binnen einer Woche auf unserem Konto … sind, passiert was!«

Dieter Kunzelmann entwirft einen Formbrief! Er, der Formen in allen Formen und Farben bekämpft hatte! In dem Sammelband »Klau mich« hatten die Mitglieder der Kommune I genau beschrieben, wie man das Grundgesetz des sozialen Lebens (Man muss immer etwas geben, wenn man etwas nehmen will), außer Kraft setzen kann. Wie dieser Mahnbrief zeigt, wollten sie aber selbst nicht beklaut werden. Ein seltsamer Widerspruch, an dem bisher alle Gesellschaftsmodelle gescheitert sind, die diesen Versuch unternommen haben.

2.2.3. Demonstrationen gegen die bleierne Zeit

Ich hörte in München von dem Vorfall bei der Demonstration gegen den Schah in Berlin. Die unglaubliche Hetze – vor allem der der Bild-Zeitung – stieß mich ab, das Vorgehen der Polizei war für einen Jurastudenten im fünften Semester erkennbar rechtswidrig, aber ich entwickelte daraus noch kein politisches Bewusstsein. Mit dem bekannten Satz »Trau keinem über 30« war ich völlig einverstanden, denn ich konnte mich nicht erinnern, bis dahin jemals einem älteren Menschen wirklich vertraut zu haben.

Was tun? Rio Reiser und Band (Ton, Steine, Scherben) haben es 1971 herausgeschrien: »Macht kaputt, was euch kaputt macht«! Was macht uns kaputt? Rainer Langhans z. B. hielt es für sinnlos, die Verhältnisse zu ändern, ohne dass sich vorher die Personen geändert hätten: »Wenn wir anders sind, kann auch alles andere ganz anders werden.« Anders als die Nazis, die Politiker des Kalten Krieges, das Wirtschaftswunder? Es ist ihm in Jahrzehnten offenbar nicht gelungen, darauf eine Antwort zu finden. Nach der Revolution hat er viele Jahre damit verbracht, Telefongespräche wildfremder Menschen aufzuzeichnen, um so das Leben einzufangen, wie andere Leute es mit Vogelstimmen tun. Heute sieht man ihn in Trash-Sendungen wie dem Promi-Dinner bei Vox, auch im Dschungelcamp treffen wir ihn, aber richtig angepasst hat er sich auch da nicht: An dem Privileg, als Vegetarier keine Würmer essen zu müssen, hält er fest.

Aber seine Frage war die richtige: Wer macht uns kaputt? Wer ist es, der »die Verhältnisse« beeinflusst, die uns kaputt machen? Und was nützt es, wenn wir ihn/oder sie kaputt machen? Fragen über Fragen.

Viele der 68er haben diese Frage früher gestellt als ich. Sie hatten die entscheidende Frage gefunden, die ins Zentrum des Problems der Autorität und der Machtverteilung zwischen den Generationen führt. Kaputte Verhältnisse beruhen immer auf kaputten Personen, denn alle Verhältnisse werden von Menschen gemacht und von Menschen belebt. Und so habe ich einen genaueren Blick auf die Menschen geworfen, die uns damals umgaben, unsere Eltern und Lehrer, die Großeltern und Verwandten, die Professoren, die Geistlichen. Alle diese Erwachsenen waren, wie man auf den ersten Blick sehen konnte, ziemlich beschädigt. Und sie hatten uns beschädigt. Alle älteren Leute fühlten sich als Vorgesetzte. Als Untergebene hatten sie zwar oft nur Kinder, aber das schien ihnen zu reichen. Wenn man sie kritisch ansah, war »kaputt« nicht das falsche Wort.

Und niemand aus der älteren Generation konnte sich gegen diese Einschätzung wehren: Die Auschwitz-Prozesse (ab 1963) und die daran anschließende öffentliche Diskussion und wissenschaftliche Forschung hatten Verbrechen offengelegt, die unvorstellbar waren. Auch wer völlig ohne persönliche Schuld durch diese Zeit gegangen war, konnte den negativen Beweis, kein Mitläufer gewesen zu sein, nicht führen. Schon deshalb schwiegen alle und hofften, dieses Schweigen nie brechen zu müssen. Die Aufklärung über den Judenmord war unmittelbar nach 1945 durch die Amerikaner erfolgt, dann aber wieder mit dem Mantel des Schweigens zugedeckt worden. Dieses Schweigen machte die Nachkriegsjahre trotz ihrer wirtschaftlichen Erfolge für uns alle zur »bleiernen Zeit«. Friedrich Hölderlin hatte diesen Begriff mitten in der Revolutionszeit seiner Generation geprägt:

»Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.
Weder die Berge sind noch aufgegangen des Waldes
Gipfel nach Wunsch und leer ruhet von Gesange die Luft.
Trüb ists heut, es schlummern die Gäng und die Gassen und fast will
Mir es scheinen, es sei, als in der bleiernen Zeit.«

Margarethe von Trotta zitiert ihn in ihrem gleichnamigen Film, der die Stimmung der Jahre zwischen 1945 und 1965 widerspiegelt. Adenauers Staatssekretär Hans Globke stand symbolisch für alles, was man den Deutschen, die keine offensichtlichen Verbrecher waren, in der Nazizeit vorwerfen konnte. Von ihm wurde gesagt, er habe als damaliger Oberregierungsrat und Kommentator der Rassengesetze von Nürnberg beim Eid auf Adolf Hitler hinter einer Säule gestanden, um so die Wirkung seines Schwurs zu vernichten – gleichzeitig behauptete er, oppositionelle Bewegungen unterstützt zu haben. Zu widerlegen war das nicht. Adenauer hielt an ihm fest, dass war jahrelang ein großer Skandal, heute aber im Grunde keinen Angriff mehr wert. Ich habe viele Vorwürfe, die sich damals gegen die Politiker richteten, gar nicht mehr ernst genommen, sondern eher für Leichenschändung gehalten: So offensichtlich gehörten Konrad Adenauer, Ludwig Erhard oder gar die aalglatten Minister und Berater wie Außenminister Schröder oder Staatssekretär Globke in eine ferne Vergangenheit – die unserer Eltern und Großeltern. Ich spürte schon damals (wenn auch sehr unklar), dass das eher ein allgemeines Autoritätsproblem dieser vergangenen Generation war. Sie alle würden bald keine Rolle mehr spielen.

Aber anders als bei vielen anderen Studenten steckten mir damals noch die Furcht und Zurückhaltung in den Knochen, die unsere Eltern gegenüber jeder Art Obrigkeit gezeigt hatten. Ich fand »die Verhältnisse« nicht ideal, kannte aber auch nichts anderes und konnte mit solchen Leerformeln nichts anfangen. »Gehe nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst«, sagte meine Mutter nicht allzu selten, wenn sie bei den Ämtern etwas zu erledigen hatte und sich auf deren Übermut einstellte. Als ich erstmals in der ersten oder zweiten Klasse der Volksschule adelige Namen hörte wie Otto von Bismarck, dachte ich mir, der gehört wohl zum selben Stall wie Jesus von Nazareth – also zu einem Kreis verehrungswürdiger Personen, die man an ihren Titeln erkennen konnte. Sehr viele sahen das völlig anders: Nur laute und auffällige Demonstrationen würden dafür sorgen, endlich den Sargdeckel von der bleiernen Zeit zu lüften.

Aber die Vorstellung, mit anderen Leuten, die ich nicht kannte, singend und johlend über die Straßen zu ziehen, war mir zutiefst verhasst. Da hätte ich allen unter dreißig vertrauen müssen! Das tat ich nicht, weil viele Studenten, mit denen ich über politische Themen sprach, ganz offensichtlich keine Ahnung hatten: Inga Buhmann (kein Pseudonym!) schreibt über einen Protestmarsch über den Kurfürstendamm, sie habe in den Augen der Bürger das blanke Entsetzen gesehen und daraus geschlossen, der Sieg der Studentenbewegung stehe unmittelbar bevor. Das war schon sehr naiv. Meine Erfahrung hatte mir etwas ganz anderes gezeigt: Wenn der Bürger wirklich Angst bekommt, dann gibt es kurz danach richtig Ärger! Und so ist es dann auch gekommen. Deutsche, die Angst haben, machen mir Angst. Ich habe den Vorschlag, mit Unterwanderstiefeln durch die Institutionen zu laufen, besser gefunden: Unter dem Pflaster liegt der Strand! Bei Otto Schily, der das wohl ähnlich sah, sieht man aber die Gefahren dieser Strategie: Die Eigendynamik der Institutionen verändert jeden, der versucht, von innen heraus zu wirken.

2.2.4. Die Medien bestimmen die Botschaft

Diese ersten Demonstrationen, die sich in den nächsten zehn Jahren lawinenartig vergrößerten, sind heute so selbstverständlich, dass keine Gewerkschaft mehr auf ihre Trillerpfeifen verzichten möchte. Tatsächlich haben sich schon damals – als das Internet noch nicht erfunden war – viele Ideen wie ein Lauffeuer verbreitet, ohne dass irgendjemand das zentral gesteuert hätte. Aber schon die Kommune I in Berlin bestellte sich zu ihren Happenings die Leute von der Presse, ließ sich von ihnen bezahlen und sorgte in sehr professioneller Weise für die Sogwirkung der Marke.

Demonstrationen waren seit jeher ein wirksames Mittel der Kritik, weil die dabei entstehende Gruppendynamik viele Leute in ihren Bann zieht. Aber es würde sich nichts verändert haben, hätten nicht Fernsehen und Presse ihre Wirksamkeit unermesslich verstärkt. Nur Fernsehbilder zeigen die Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Polizisten unmittelbar an der Schnittstelle. Schon ein paar Meter weiter hinten kann die Situation sehr viel gemütlicher aussehen. Die Akteure selbst haben keinen Einfluss darauf, wie sie gezeigt werden, wenn sie die Medien selbst nicht kontrollieren können. Da das Verhalten von Presse- und Medienleuten von einer erstaunlich geringen Zahl von Menschen bestimmt wird (bei Springer und Murdoch sieht man das auf den ersten Blick), polarisiert sich auch die öffentliche Meinung so, wie die Medieninhalte polarisiert werden. Nur wenige unabhängige Medien – vor allem solche, die als Stiftungsmodelle konzipiert sind wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung oder die ZEIT – können diese Zusammenhänge durchbrechen. Marshall McLuhan hat das als Erster gesehen und analysiert.19 So kam es, dass in der Öffentlichkeit nur der entfesselte Dutschke wüste Verse skandierend zwischen Reihen schlecht angezogener Menschen wahrgenommen wurde, nicht aber das, was er in ruhigen Momenten zu sagen hatte. Das wäre keine Botschaft gewesen. Und dagegen wurden immer die entsetzten Gesichter der Zuschauer kontrastiert. Die Leute, die sich aus solchen Demonstrationen wegschlichen, weil ihnen die Entwicklung Sorgen machte, zeigte man nicht.

Auf eine Demonstration bin ich nie gegangen. Ich habe schon damals immer die ironische Variante bevorzugt, denn ich war und bin fest davon überzeugt, dass unsere Verfassung genügend Spielraum für alle politischen Motive bietet. Es war nicht fair, der Bonner Republik vorzuwerfen, sie sei immer noch von Nazis verseucht – im Grunde das einzig tragfähige Argument, wenn man nicht der Auffassung ist, die Deutschen müssten immer ihre eigene Regierung angreifen, wenn es sonst auf der Welt brennt. Jedenfalls waren das romantische Theorien, die ich nur vertragen konnte, wenn man sie mit Ironie kontrastiert. Das wissen wir seit Heine und Tucholsky und in ihrer Tradition standen Robert Gernhardt, F.K. Waechter, Chlodwig Poth und andere. Die Leute von der Titanic brachten mich immer zum Lachen, auch wenn sie manchmal gegen alles waren – das ist das gute Recht der jungen Leute, denen man allzu lange zu erzählen versucht, wie sie und ihre Welt sein sollte.

2.2.5. Außerparlamentarische Opposition

1967 hatten wir nur Parteien und Parlamente, und dort wurde niemand geduldet, der es auch nur wagte, die Parteilinien infrage zu stellen. Schon bei den ersten Versuchen, in den verschiedenen Parteien Verständnis für die neue Sicht auf die Dinge zu wecken, zeigte sich klar: Es würde Jahre dauern, bis solche Entwicklungen von den politischen Parteien oder gar den Parlamenten wahrgenommen und umgesetzt würden. Zudem lag die Gefahr auf der Hand, dass solche Initiativen im bürokratischen Gefüge zermahlen und unkenntlich gemacht werden würden. Jungsozialisten, Jungdemokraten und die Junge Union konnte man mit der Aussicht auf ihre künftigen Karrieren stillhalten. In der linken und teilweise liberalen Parteienlandschaft hingegen war klar: Man wollte Politikern wie Erhard, Kiesinger und Strauß zeigen, dass ihre Zeit vorbei war. Dass sie mit ihrer Bürokratie einpacken konnten. Dass man »mehr Demokratie wagen« sollte, wie Willy Brandt gesagt hatte.

Wer darauf nicht warten wollte, beteiligte sich an der außerparlamentarischen Opposition. Sie war schon deshalb nötig, weil innerhalb des Parlaments nicht einmal die SPD verstanden hatte, worum es den jungen Leuten ging. Beim »Radikalenerlass« hat sie sich von der CDU einschüchtern lassen und dadurch ihren politischen Kredit schwer beschädigt. Interessante Denker wie Uwe Wesel (SPD) oder Herbert Gruhl, ein Umweltschützer aus der CDU, wurden aus ihren Parteien ausgeschlossen. So kam die romantische Idee auf, die Opposition nach außen zu verlegen. Ich nenne sie deshalb romantisch, weil sie gleichzeitig von dem Gefühl gelenkt war, Politik könne auf Führung, Rituale und alle anderen Formen der Macht verzichten, eine irrige Vorstellung, die derzeit die Partei der Piraten wiederholt.

Es ist das Privileg eines Einzelnen, auf Macht zu verzichten, sobald aber eine Gruppe entstanden ist, entsteht auch Führung, mit ihr die Macht und mit ihr die Gewalt. Man muss eine Ahnung davon haben, was Macht ist und was sie bedeutet, wie sie entsteht und wie man sie verlieren kann. Sie hat eine dunkle, aber auch eine helle Seite.

Man sieht es deutlich an den Spuren, den der Kampf gegen ihre Ordinarienuniversität hinterlassen hat. Vor allem bei den Soziologen und anderen geisteswissenschaftlichen Fächern lohnte sich der Angriff: Sie haben sich über die Ausweitung der Planstellen, die Vereinfachung der Berufungen, die Mitbestimmung usw. schnell etabliert. Bei den Juristen entwickelte sich das anders: Uwe Wesel, den ich bereits aus München kannte, als er noch im dreiteiligen Nadelstreifenanzug neben seinem Doktorvater Wolfgang Kunkel wandelte, hat für sein politisches Engagement bezahlen müssen: Als er 1969 aus Solidarität Vizepräsident der Freien Universität Berlin wurde, um den Reformkurs zu verteidigen, hat er danach – wie er schon ahnte – keinen Ruf an eine andere Universität mehr erhalten.

Rudi Dutschke legte ein Planungspapier über eine autonome Stadt Berlin vor, die sich selbst als freie revolutionäre und anarchistische Einheitsinsel definieren sollte, eine große Kommune (vielleicht auch nach dem Vorbild des Monte Verita), in der die reine Lehre des Sozialismus wie in einem Reagenzglas unter Forschungsbedingungen zum Blühen gebracht werden sollte.

Wie sich dieses Fettauge auf der kargen Suppe des Sozialismus hätte einrichten können, wie man die notwendigen Änderungen des Vier-Mächte-Status hätte durchsetzen können und tausend andere Fragen, hat er gewiss nicht durchdacht. Und noch weniger, dass diese Republik sich nur mithilfe künstlicher Ernährung durch den Westen überhaupt hätte halten können. Wenn man die Ernsthaftigkeit und die Energie betrachtet, mit der solche Ideen durchgearbeitet wurden, fragt man sich manchmal, warum man sie nicht früher eingestampft hat. Aber es ist nicht einfach, in einer unübersichtlichen Situation zu wissen, wohin ein richtiger Weg führen kann. Viele 68er haben die Fehler gemacht, die die anderen dann nicht mehr machen mussten. Wir waren hin und her gerissen zwischen Sympathie und Kritik: »Meine Liebe zu solchen schwer einzuordnenden Querköpfen und dann wieder meine kaum erklärlichen Ideosynkrasien gegenüber dem generationsübergreifenden Devotionalienbildern unserer herrschenden Rev-Popkultur. Che Guevara – Frantz Fanon – Marighela – Malcolm X – Rudi Dutschke – RAF Fahndungsfotos – ein nicht endenwollender Heiligenfries als Überbaudekoration unserer Untergrundaktivisten. Eine Art politischer Jesusminne, bzw. anarcho-utopistischer Marienkult.«20

Es gab einen Angriffspunkt, bei dem ich der außerparlamentarischen Opposition zugestimmt habe: Das war die Verteidigung gegen die ständigen Angriffe der Springer-Presse. Der Ton, den nicht nur Axel Springer, sondern vor allem Peter Boenisch persönlich zu verantworten haben, entstammte den ideologischen Kämpfen der älteren Generation. Es ging zu weit, Rudi Dutschke als »Staatsfeind Nr. eins« zu bezeichnen, und die Art und Weise, wie die Redaktionen angeleitet und geführt wurden, hat Günter Wallraff ein für alle Mal enttarnt. Die offiziellen Parteien hatten die Bild-Zeitung nötig, um Breitenwirkung zu erzielen, und haben es zugelassen, dass die Meinung erheblicher Minderheiten unter dem Deckmantel der Pressefreiheit abgewürgt wurde. Auch aus diesem Verhalten entstand eine breite Verachtung und Ablehnung der parlamentarischen Arbeit. Erst als die Grünen in die Parlamente kamen, konnten sie die geflohenen Politikverweigerer wieder einfangen. Das gelang hauptsächlich, weil sie glaubten, Politik könne nach Horst-Eberhard Richters Idee »Lernziel Solidarität« praktiziert werden. Aus solchen Ansätzen entstanden naive Versuche wie das Rotationsprinzip. Sie sind gescheitert, weil die »Sogwirkung der Marke« eines bestimmten Politikers nicht beliebig ersetzbar ist. Sie hängt nämlich von seiner Fähigkeit zur Führung ab, und das bedeutet: Man muss erkennen, dass politische Systeme nur geführt werden können, wenn einer sich ans Steuer begibt und die anderen ihm zuarbeiten. Das kleinste gemeinschaftliche Vielfache aller politischen Ideen ist es seit unvordenklichen Zeiten, dass das Gemeinwesen funktioniert, dass stabile und gute Verwaltung herrscht, dass die Willkür abgeschafft wird und dass Fehlentwicklungen korrigiert werden können. Zusammengenommen sind das aber keine Kleinigkeiten. Deshalb haben die radikalen Friedensbewegungen weder zur Zeit der 68er noch bei der Wiedervereinigung eine nachhaltige Rolle spielen können. Die Piraten müssen es noch lernen.

2.2.6. Der bewaffnete Kampf

Neben diesen überwiegend friedlichen Entwicklungen, die weltweit nahezu parallel in vielen Ländern stattfanden, gab es besonders in Deutschland und Italien Ideen der Gewalt, aus denen bald Taten wurden.

Die RAF21 beginnt 1970 in Berlin mit der Befreiung Andreas Baaders aus der Untersuchungshaft, erlebt ihren Höhepunkt im Deutschen Herbst 1977 und endet spätestens am 20. April 1998, als ihre »Dritte Generation« über die Nachrichtenagentur Reuters mitteilt: »Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nur noch Geschichte.« Zu diesem Zeitpunkt war sie es aber schon lange.

Im Grunde hat die RAF sich auf einer großen Bühne selbst inszeniert, um wieder einmal den Vatermord zu geben. Wie im Theater waren dafür nur wenige Schauspieler nötig. Der harte Kern der Leute, die für Taten im Zusammenhang mit der RAF in den zehn Jahren ab 1967 verurteilt worden sind, beträgt gerade einmal 70–80 Personen und in den Akten werden sich vielleicht noch weitere hundert finden, gegen die ein enger Tatverdacht bestand. Einige Taten sind verjährt. Die engere Szene der Unterstützer hat nur etwa 2000–3000 Personen umfasst. Für Kriegshandlungen mussten nicht Tausende von Soldaten vorhanden sein, es genügte ein Einzelner, der den Medien im Wege der Teichoskopie die richtigen Berichte gab, während ein paar Sympathisanten schreckerregend Theaterdonner erzeugten und die Windmaschine bedienten, die die Sofitten flattern ließen. Wieder einmal wurde Hamlet gespielt, wieder wurden den Eltern ihre Verbrechen von den Söhnen vorgehalten, aber sie haben die Szene nicht recht verstanden, sonst hätten sie diesen Bühnenaufstand auf andere Art, heimlich und vielleicht viel wirksamer, unterdrückt.

Für das Revolutionsstück nutzte man die Drehbücher und Begriffswelten der Anarchie, wie sie sich am Vorabend der Revolutionen etwa ab 1880 entwickelt haben. Anarchie bedeutet aber nicht die Abwesenheit von Macht. Wer die Macht hätte, die Macht abzuschaffen, würde gerade dadurch beweisen, dass man sie nicht beseitigen kann. Anarchie zerstört nur die Fassade der bisherigen Macht und ersetzt sie durch die Macht der Revolutionäre. An der Befehlsstruktur der Rote Armee Fraktion kann man das auf einfachste Weise erkennen: Bevor Andreas Baader im Gefängnis nicht eine bestimmte Aktion abgenickt hatte, handelte draußen in der Freiheit niemand! Die RAF ist vor allem deshalb eine typisch deutsche Erscheinung, weil sie das Führerprinzip wiederentdeckt hat, ohne das wir in der Welt offenbar nur schwer zurechtkommen. Nach der tragischen Variante konnte man hier eine Oper bewundern, deren komische Züge erst sichtbar wurden, nachdem man die Leichen zählen konnte.

Die Mauer des Schweigens, die unsere Eltern und Großeltern um ihr Versagen errichtet hatten, sollte mit Gewalt durchbrochen und zerstört werden. Aber schon in den Siebzigerjahren war völlig klar, dass Andreas Baader und Gudrun Enßlin unter ihren Anhängern eine Schreckensherrschaft errichtet hatten, wie man sie schon aus den Zeiten von Robespierre und St. Just kannte. Das war nichts anderes war als der autoritäre Terror, an dem die Generationen ihrer Eltern und Großeltern als Opfer oder Täter teilgenommen hatten. Es war ein Zerrspiegel der gerade überwundenen Vergangenheit. An diesem Beispiel zeigt sich das »Paradox der Freiheit« (Wolfgang Fikentscher): Es gibt immer wieder geschichtliche Situationen, in denen große Freiräume entstehen, die aus den beherrschbaren Machtbezirken der Politik oder anderer Kräfte herausfallen. Sie werden unverzüglich von anderen erobert, und die Macht fällt dem in die Hände, der sich am wirksamsten durchsetzen kann. So kommt es, dass auf jede Phase relativer Freiheit eine längere Zeit der Zerstörung dieser Freiheit folgt, weil diejenigen, die in den Umbruchzeiten die Macht an sich gerissen haben, jetzt wieder durch Regeln (oder Gewalt) gebeugt werden müssen. Revolution und Restauration sind untrennbar miteinander verbunden.

Es gab zwei große Schocks, die mir jede Sympathie für die RAF und das internationale Umfeld, in dem sie sich aufhielt, genommen haben: das Attentat bei der Olympiade 1972 und fünf Jahre später, 1977, die Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut. In beiden Fällen war vor allem das Verhalten der Palästinenser unverzeihlich, und genau das waren die Leute, die mit der RAF gemeinsame Sache machten.

In der RAF und ihren vergleichbaren Organisationen ist es nie zu etwas anderem gekommen als einer hektischen Flucht vor der staatlichen Gewalt. In Italien war das anders: Die Brigade Rosse waren erheblich gewalttätiger, wie Peter Schneider22 berichtet. Es ist müßig darüber nachzudenken, ob man die Gewalt der Terroristen mit irgendwelchen Mitteln hätte verhindern können. Sie haben durch diese Gewalt zwar nirgendwo das erreicht, was sie wollten, aber die Dinge sind doch schrittweise in Bewegung gekommen und vor allem ins Bewusstsein der Beteiligten gerückt.

Und auch sonst änderte sich manches: In München konnte man auf einmal mitten im Englischen Garten nackt umherlaufen, auch die Haschpfeife wurde nur milde beanstandet (Wolfgang Neuss: »Auf deutschem Boden darf kein Joint mehr ausgehen«) und an allen Ecken und Enden wuchsen Mitbestimmungsmodelle wie die Pilze aus dem Boden. Autorität musste sich sachlich rechtfertigen und überall wurde mehr Demokratie gewagt.

2.2.7. Die Revolution und ihre Anwälte

Für Juristen ist die Vorstellung und mehr noch die Erfahrung, dass sie und ihre Arbeit grundsätzlich infrage gestellt werden, etwas völlig Überraschendes. Das Recht ist das Rückgrat der Politik, weil es ihr Macht verleiht und es setzt dieser Macht gleichzeitig ihre Grenzen. Die Juristen sind im Rechtsstaat nicht mehr die Büttel der Restauration, wie noch Tucholsky sie in der Weimarer Republik erlebt hat – die Anwälte am wenigsten. Der Kampf um das Recht (Jehring), vor allem um die Werte der Verfassung muss ausgestritten werden und dieser Kampf wird in erster Linie mit und gegen Juristen geführt. Ende der Sechzigerjahre wurden in München reihenweise Demonstranten verurteilt, weil sie sich an den Bayerischen Landtag angekettet hatten (Münchner »Kettenprozesse«). Das war nach damaliger Auffassung Landfriedensbruch. Die Taktik war von Anfang an offensichtlich: Mit kleineren rechtlichen Verstößen bei Demonstrationen wurden Polizisten, Staatsanwälte und Richter so gereizt, dass sie unverhältnismäßig zurückschlugen. So sollte offen demonstriert werden, wie gewaltbereit sie sind.

Erst in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu den Mutlangen-Demonstrationen23 ist man dreißig Jahre später zu der Erkenntnis gekommen, dass passiver Widerstand mit Gewalt nichts zu tun hat. Auf solche Abgrenzungsfragen kommt es an, wenn man entscheiden will, wie die Freiheitsrechte des Einzelnen und die öffentliche Sicherheit zueinander in ein ausgewogenes Verhältnis gesetzt werden können. Ich habe sowohl den weit ausgedehnten Gewaltbegriff, den die Rechtsprechung damals verwendete, als auch die Taktik der außerparlamentarischen Opposition abgelehnt.

Oft brauchen Juristen einen Anstoß von außen, um zu verstehen, was sie da treiben. Als Fritz Teufel in der berühmten Szene vor dem Landgericht Berlin auf die Aufforderung des Richters, sich zu erheben, sagte: »Wenn es der Wahrheitsfindung dient!«, war ich wie so viele andere richtig begeistert: Das war nicht nur eine gelungene Provokation, wir spürten, dass unter diesem Satz eine viel tiefere Erkenntnis lag. Er hat auch das Gericht beeindruckt: Obwohl er den Vorsitzenden Richter Schwerdtner nicht nur in diesem Verfahren laufend provozierte, wurde er freigesprochen, wie auch in einem anderen Verfahren, in dem es um Flugblätter ging, die sich in ironischen Texten mit dem Anzünden von Kaufhäusern beschäftigten. Namhafte Gutachter (Alexander Kluge, Jacob Taubes24 und einige Germanisten) vermochten Schwerdtner und den anderen Richtern zu vermitteln, dass Ironie keine Aufforderung zum Handeln ist.25 Aber weil er in anderen Verfahren verurteilt wurde und weil die Bundesrepublik sich tatsächlich mit den »fürchterlichen Juristen« der NS-Zeit nie auseinandergesetzt hat, wurde die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates weiterhin infrage gestellt.

Bei Soziologen, Philosophen, mehr noch bei den Psychologen und im Feuilleton fanden die 68er viel Zuspruch. Die Juristen hingegen – und zwar auch die linksorientierten – waren sehr viel vorsichtiger. Die Grenze zeigte sich klar nach dem Mord an Generalbundesanwalt Buback (1977). Da gab es einen ironischen Nachruf – die Göttinger Mescalero-Affäre –, der zu Strafanzeigen gegen eine Vielzahl von Studenten und Professoren führten, von denen einige Sympathie für den Artikel zeigten. Nur wenige Juristen haben diese Sicht der Dinge geteilt.

2.2.8. Der Streit um die Robe

Es war ein Berliner Strafverteidiger, der sich als Erster 1969 weigerte, in einem ganz normalen Prozess, der keinen politischen Hintergrund hatte, eine Robe zu tragen, obwohl das standesrechtlich vorgeschrieben war, denn »es könne nicht so sein, daß die Wahrheitsfindung am schwarzen Stoff hänge«. Das Kammergericht26 schloss ihn vom Verfahren aus und der BGH bestätigte kurz danach diese Linie in einem Parallelfall. Damit übernahm er (vermutlich unbewusst) die über zweihundert Jahre alten Positionen der preußischen Könige. 1713 legte Friedrich I. von Preußen fest, dass Anwälte nur noch vor Gericht auftreten dürften, die »Pattent von mir haben«, die anderen jedoch »sollen gebrant-Marg und ewig in die Karre gespannt werden«. Die zugelassenen »atvocatten sollen schwarz gehen mit ein mentelchen bis an die Knie«, und zwar auch außerhalb der Gerichte!27 Damit waren sie mit Abdeckern, Henkern und Totengräbern auf die gleiche Stufe gestellt und hatten Probleme auf dem Heiratsmarkt, denn, wie eine Berliner Zeitung am 2. Juni 1714 schreibt: »Das hiesige frauenzimer scheinet sich zum Theil einen Ekel vor diese Mentel zu haben.«

Friedrich der Große verschärfte 1739 diese Regel noch mit seiner bekannten Bemerkung, die Anwälte müssten die Roben tragen »damit man diese Spitzbuben schon von weitem erkennt«. Schon dass sie sich mit Urteilen nicht sofort abfinden wollten, hat ihn gestört und er drohte, Anwälte »mit einem Hunde an der Seiten« aufzuhängen, wenn sie es wagen sollten, ihm »in abgetanen und abgedroschenen Sachen immediate memoralien übergeben zu lassen …«

Während in Rom, Paris und London, deren Anwaltstradition seit dem 12. Jahrhundert nachweisbar ist, der Beitrag der Anwälte zum Rechtssystem immer anerkannt wurde, war es in Deutschland völlig anders. Hier nahmen nicht nur die Gerichte die Position der Monarchen ein, die Anwälte selbst waren es, die sich auch nach Einrichtung einer Freien Anwaltschaft nach 1871 entsprechend kleiden wollten. Aber der Hintergrund war ein ganz anderer als vor zweihundert Jahren: Die Anwälte wollten nach außen zeigen, dass sie ein »Organ der Rechtspflege« waren, und das konnten sie nur, wenn sie Roben hatten, die der Amtstracht der Richter und Staatsanwälte ähnlich sahen. Ich hatte wie viele Anwälte mit dem Begriff »Organ der Rechtspflege« meine Schwierigkeiten, denn in ihm steckt der Versuch, die Freiheit der Anwälte durch unangemessen enge Einbindung in die Interessen der Justiz zu beschneiden, wie es vor 1871 z. B. bei den Amtsanwälten üblich gewesen war. Erst die Neuregelung des Berufsrechts hat uns 1999 die richtige Formulierung gebracht: Die Tätigkeit der Rechtsanwälte »dient der Verwirklichung des Rechtsstaats« (§ 1 Abs. 2 BORA). So verstanden dient es tatsächlich der Wahrheitsfindung, sich auf die gleiche Stufe zu stellen wie Richter und Staatsanwälte – Fritz Teufel hatte das gespürt, als er sich den von ihm kritisierten Regeln beugte.

Bei der Neuordnung des Berufsrechts ist auch vereinbart worden, die Robe zu tragen, wenn es üblich ist (§ 20 BORA). Ich habe immer dafür plädiert, sie zu verwenden, wenn Richter und Staatsanwälte sie tragen, denn sie ist auch ein Zeichen gegenüber dem Mandanten, dass er mir nicht alles zumuten kann, was er vielleicht möchte; denn in einem Punkt hat Friedrich II. wohl recht: Ohne Robe werden wir leichter mit unseren Mandanten verwechselt, als uns lieb und für unsere Arbeit gut sein kann.

2.2.9. Verteidigerüberwachung

Der Streit um die Robe war nur ein winziges Detail der wichtigen Grundsatzfrage, welche Rolle Rechtsanwälte im Rechtssystem spielen. Sie musste in den Jahren zwischen 1970 bis zur völligen Neugestaltung des Berufsrechts neu definiert werden, denn die Strafverfahren, die aus der Politisierung des gesellschaftlichen Lebens beginnend von den Demonstrationen bis hin zum bewaffneten Kampf der RAF und anderer Terrororganisationen entstanden, haben die bis dahin bestehende Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Institutionen und den Anwälten völlig zerstört.

Wer bis 1970 seine Mandanten im Münchener Justizgefängnis Stadelheim (St. Adelheim) besuchte, und als Strafverteidiger da seine Stammgäste hatte, baute sich im Lauf der Jahre ganz selbstverständlich freundschaftliche Beziehungen zum Wachpersonal auf. Seine Mandanten wurden ihm geradezu auf dem Tablett serviert, mancher Kollege schickte Akquisitionsreferendare ins Gefängnis, denen die Wärter mit heißen Empfehlungen Untersuchungsgefangene schickten, die noch keinen Anwalt hatten. Teilweise wurden Stapelvollmachten verwendet. Niemand sah ein Problem darin, sich bei den Wärtern zu Weihnachten und anderen Gelegenheiten durch angemessene Präsente zu bedanken. Natürlich wurden dabei auch rechtliche Grenzen überschritten. Ein berühmter Münchner Strafverteidiger brachte eines Tages seinem Mandanten nicht nur eine Packung Zigaretten zur Vernehmung mit, sondern gleich ein meterlanges Seil. Peter Baldau (38), der da einsaß, war auf die originelle Idee gekommen, Backsteine mit Farbe anzustreichen und als Goldbarren zu verhökern. Der Umsatz lag zwischen zwölf und 30 Millionen DM.28 Kaum war sein Anwalt wieder verschwunden, seilte er sich nach Südfrankreich ab, und als man ihn dort einige Zeit später verhaftete, wurde die Fluchthilfe offenkundig. So etwas waren Einzelfälle. Jetzt aber ging es um die Grundsatzfragen, um den Konflikt zwischen dem Gewaltmonopol des Staates, den Freiheitsrechten der Einzelnen und der Art und Weise, wie sie miteinander in Beziehung standen.

Das Justizsystem war am leichtesten dadurch anzugreifen, dass man seine Unzulänglichkeiten offensichtlich machte. Mit Tätern wie Peter Baldau, die nur mehr oder weniger geschickt versuchten, mit geringen Strafen davon zukommen, brachte man jeden Prozess ohne große Probleme auf die richtige Schiene. Aber für politisch motivierte Täter, die bewusst ihre individuellen Rechte missachteten und den Prozess nur als Bühne benutzen wollten, um der Justiz ihre Unfähigkeit vor Augen zu führen, war das Justizsystem (damals noch) nicht geschaffen. Dieses Motiv haben die Verteidiger ganz gewiss verstanden. Aber es war nicht ihre Sache festzulegen, wo die Grenzen lagen. Rechtsanwälte tragen zur Verwirklichung des Rechtsstaates dadurch bei, dass sie in jedem Einzelfall testen, wie belastbar er ist und so seine Lücken und Schwächen sichtbar machen. Es ist Sache des Gesetzgebers und der Gerichte, daraus ihre Schlüsse zu ziehen.

Am Anfang standen Richter und Politiker der Entwicklung hilflos gegenüber. 1970 wurde in Westberlin die körperliche Untersuchung aller Personen einschließlich der Anwälte angeordnet, die Inhaftierte besuchen wollten. Otto Schily, der damals Horst Mahler verteidigte, verweigerte die Untersuchung, gegen die alle Westberliner Anwälte unverzüglich protestiert hatten. Hans Dahs, der führende Revisionsspezialist, nannte sie als »generelle Maßnahme ganz unmöglich und ungeheuerlich.«29

Aber die gesetzlichen Grundlagen waren schnell geschaffen: Die Hosenladenerlasse folgten. Am 17. Juni 1972 schloss der Bundesgerichtshof Otto Schily als Verteidiger von Gudrun Enßlin aus, weil er verdächtig sei, Kassiber verschoben zu haben. Ob der Vorwurf berechtigt war, wurde nie geklärt, denn das Bundesverfassungsgericht hob diese Entscheidung auf, weil sie keine gesetzliche Grundlage hatte30. Nach dem Mord an dem Berliner Kammergerichtspräsidenten Günther von Drenckmann Ende 1974 wurden alle Gerichtsgebäude in Deutschland mit Sicherheitsschleusen versehen und die Anwälte davon nicht ausgenommen. Ein Anwaltsausweis wurde eingeführt, um wenigstens den Umfang der Untersuchungen zu beschränken. Ein Jahr später wurde Christian Ströbele von der Verteidigung ausgeschlossen und erhielt zehn Monate Haft auf Bewährung, weil er ein Informationssystem der Verteidiger im Stammheimprozess aufgebaut hatte. Er selbst hielt es damals für zulässig, räumt aber heute ein, man könne auch anderer Meinung sein. Andere Anwälte (Klaus Croissant, Jörg Lang oder Siegfried Haag) haben sich zweifellos strafbar gemacht.

Kurz darauf folgte der Radikalenerlass, gewiss der schwerste strategische Fehler Willy Brandts und seiner Partei in dieser Zeit. In allen Ausbildungsberufen, in denen man zwangsweise Referendar werden musste (Juristen, Lehrer usw.), genügte ein Foto von einer Demonstration, um seine Berufsaussichten zu vergessen. Gerd Tersteegen und andere Spezialisten im öffentlichen Recht und im Arbeitsrecht konnten wenig bewirken, erst 1985 entspannte sich die Situation.

Parallel dazu folgten gesetzliche und administrative Maßnahmen, die die Berufsausübung der Anwälte stark beeinträchtigten (z. B. durch die erleichterte Telefonüberwachung). Zwischen 1970 und 1978 gab es wegen der laufenden Verbrechen der RAF und anderer Terrorgruppen überhaupt keine Chance, Verständnis für die Position der Anwälte zu wecken. Deshalb haben sich auch eher konservativ eingestellte Kollegen die Positionen der »Linken und Liberalen« zu eigen gemacht.

Aufgrund des großen Maßnahmenpaketes von 1974, mit dem viele Anwaltsrechte eingeschränkt wurden, darunter vor allem die Möglichkeit, mehrere Angeklagte zu verteidigen, vergrößerte sich die Zahl der kritischen Anwälte – eine ungeplante Nebenwirkung. Trotz des spektakulären Falles von Rolf Pohle ging es in München bei den Diskussionen um diese Fragen zwischen dem Münchner Anwaltverein, der Anwaltskammer, dem Republikanischen Club oder anderen Diskussionsrunden ruhiger zu. Beteiligt waren nicht nur ältere Kollegen wie Sieghart Ott, Frank Niepelt und Eggert Langmann, sondern auch Jürgen Arnold, Hartmut Wächtler, Helmut Bendler, Friedrich Schikora und andere.

Bis das Bundesverfassungsgericht einige überzogene gesetzliche Maßnahmen wieder korrigierte, hatten wir Anwälte allen Grund, wegen dieser Beschränkungen unserer Rechte auf die Barrikaden zu gehen. Ein Verteidiger wie Philipp Heinisch, der sich über zehn Jahre lang als Verteidiger in dem Fememordprozess gegen Günter Sonnenberg engagiert hatte, war über die Untersuchungen in Stammheim so wütend, dass er sich im Sitzungssaal die Stiefel auszog und den Hosenladen öffnete, um zu demonstrieren, wie er zuvor behandelt worden war – ein Happening. Nach Abschluss des Verfahrens hat er die Zulassung zurückgegeben und ist nur noch als Künstler tätig.

Ich fand es beschämend, dass Politik und Justiz in wenigen Monaten vergessen hatten, dass ein Rechtssystemen nur dann funktionieren kann, wenn man die Anwälte als ihren Teil und nicht als ihren Feind betrachtet. Auch wenn ein einzelner Anwalt sich verirrt, darf man nicht allen anderen gleichzeitig den Kampf ansagen. Im August 1973 schrieb ich ein satirisches Interview zwischen verschiedenen »Fachleuten« über die Frage »Verteidigerüberwachung Ja oder Nein?«. Gleichzeitig aber ist es mir immer sehr seltsam vorgekommen, dass einige Anwälte gemeinsam mit den inhaftierten RAF-Leuten von »Isolationsfolter« sprachen und immer wieder unangemessene Parallelen zur Verfolgung politischer Häftlinge unter Hitler oder Stalin zogen.

Klaus Croissant brachte 1974 Jean-Paul Sartre sogar dazu, Baader und Meinhof in Stammheim aufzusuchen und die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, in der Bundesregierung die neuen Faschisten zu sehen (Daniel Cohn-Bendit, Sohn eines Berliner Anwalts, übersetzte). Wenn man dann die Bilder ihrer Zellen angesehen hat, die von Büchern (und wie sich bei ihrem Ende gezeigt hat, auch von Waffen) überquollen, war einem klar, dass diese Leute die Realität gar nicht wahrgenommen haben. Sie spürten, dass sie sich auf der Bühne der Medien befanden, auf der ihnen die Rolle der nur wegen ihrer Jugend angeklagten zugefallen war. Sie wollten genauso wild und gefährlich leben wie ihre Eltern und Großeltern, aber die Gesellschaft sollte den Preis dafür bezahlen. So entstand eine für sie faszinierende Gruppendynamik, wie Christian Klar und Volker Speitel es in späteren Interviews näher geschildert haben:31 »Ulrike Meinhof hatte eine protoreligiöse Kraft.«32

Kein Verteidiger kann sich emotional völlig von seinem Mandanten distanzieren, auch wenn er dessen Meinungen in keiner Weise teilt. Da entsteht eine Gruppendynamik, die man sorgfältig kontrollieren muss. Diese Grenze haben manche Strafverteidiger überschritten, und umso tragischer ist es, wenn man aus der internen Korrespondenz zwischen den Baader-Meinhof-Leuten lesen muss, wie verächtlich ihre Mandanten sie behandelt haben.

2.2.10. Das sozialistische Anwaltskollektiv

Wie unglaublich verquer die gesamte Situation war, zeigte sich im Streit über den Begriff »Sozialistisches Anwaltskollektiv«. Horst Mahler, Klaus Eschen und Christian Ströbele verwendeten diese Bezeichnung für ihre Berliner Sozietät und wurden gleich von der Anwaltskammer aufgefordert, diesen Unsinn zu lassen. Der Ehrengerichtshof suchte verzweifelt nach unpolitischen Argumenten und kam auf die seltsame Idee, das Ganze als »unlautere Werbung« anzuprangern: Eine solche Bezeichnung lege es nahe anzunehmen, hier gebe es Rechtsrat – wie eben alles im Sozialismus – umsonst.33 Der Bundesgerichtshof ging darauf nicht näher ein, meinte aber, »keinesfalls (dürfe) der Anwalt in einer Anzeige oder auf einem Praxisschild hervorheben, dass er eine bestimmte politische oder religiöse Überzeugung habe« (warum eigentlich nicht?). Ein unbefangener Dritter müsse glauben, dass die Anwaltschaft nicht unabhängig sei. Besonders in Berlin werde der Eindruck entstehen, hier werde ein Anwaltskollegium ähnlich jenem in der DDR eingerichtet – und das seien nun wahrhaftig keine unabhängigen Anwälte. Schon damals hätte man vielleicht auf den Gedanken kommen können, dass das »Anwaltliche Standesrecht« keine gesetzliche Grundlage hatte und dass über die Frage, was den Kern der Unabhängigkeit eines Anwalts ausmacht, ganz unterschiedliche Ansichten bestehen können. Aber das wurde erst 1987 entdeckt. Und über die Unabhängigkeit der DDR-Anwälte machte man sich zwei Jahre später nach dem Fall der Mauer noch ganz andere Gedanken.

2.2.11. Nebenwirkungen

Ab 1970 als Rechtsreferendar und während meiner ersten Anwaltsjahre waren die 68er in politischer Hinsicht wie gelegentlich in einigen Mandaten für mich ein wichtiges und beherrschendes Thema. Ich musste mich häufig fragen, ob die Ziele der 68er auch meine waren und bin meist zu einem negativen Ergebnis gekommen. Aber ich hatte Verständnis für viele dieser Ziele und habe eine Reihe von politischen Maßnahmen, die sich gegen die 68er richteten, nicht nur für falsch, sondern auch oft für verfassungswidrig gehalten. Auf ihrem Höhepunkt (1977 im Deutschen Herbst) war ich über den unsinnigen Guerillakampf der RAF entsetzt und habe die Haltung der Regierung in jedem Punkt geteilt.

Diese zerrissenen Perspektiven zeigen, dass die Revolution nicht spurlos an mir vorübergegangen ist. In meiner Dissertation beschäftige ich mich nämlich mit den Personalräten, dem öffentlich-rechtlichen Gegenstück zu den Betriebsräten, deren Einrichtung weit in die Kaiserzeit zurückreicht und nach 1918 den Räte-Gedanken ausdrücklich aufgreift. Der vor allem in der soziologischen Literatur verbreitete Gedanke, »Hierarchie im Sinne des Befehlsmodells (sei) dysfunktional für … Effektivität in Form miteinander verbundener Subsysteme« (Naschold34), war mir nicht unsympathisch, denn unter dysfunktionalen und willkürlichen Hierarchien hatte ich – wie vermutlich Naschold ebenfalls – mein Leben lang gelitten. Auch die Gallionsfigur der Anarchisten, Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, hatte zu dem Thema vernünftige Gedanken beizutragen, die aufgrund seiner persönlichen biografischen Wirrnisse aber von kaum jemand ernst genommen wurden. Das waren alles genauso schöne Ideen wie die des christlichen Rechtsphilosophen René Marcic (1919–1971). Als ich seinen vollkommen sinnleeren Satz »Als Atmosphäre ist der soziale Rechtsstaat jener Staat, in dem die Menschen, wenn sie sich begegnen, lächeln« ironisch zitierte, nahm Peter Lerche das genau so wie meine syndikalistischen Ideen mit altösterreichischer Gelassenheit hin. Am Ende war mir klar, dass die deutschen Personalräte sich keinesfalls lächelnd begegnen, sondern genauso wie die Betriebsräte klare Kampfpositionen hatten. So kam ich zu dem Ergebnis, dass für Beamte eine solche Möglichkeit nicht verfassungsmäßig sein kann. Kropotkin und die meisten klassischen 68er wären sicher anderer Ansicht gewesen.

Es gab noch eine weitere Auswirkung, deren Zusammenhang mit der Studentenbewegung und dem wachsenden kritischen Blick gegenüber der Regierung zusammenhing. Seit Anfang 1978 hatte sich in Afghanistan eine sowjetfreundliche Regierung etabliert, und Mitte 1979 rief mein Bruder Burkhard (Stabsarzt der Reserve) mich an und sagte mir, er habe einen Bereitstellungsbefehl erhalten – Ersatzreserve I. Was steckte dahinter? Offenbar machte die NATO sich Sorgen, ob sie einen etwaigen Einmarsch der Russen einfach hinnehmen sollten oder nicht und die Bundesrepublik als Mitglied der NATO richtete sich auf irgendetwas ein.

Ich machte mir meine Gedanken. Nach zwei freiwilligen Jahren bei der Bundeswehr hatte ich in den Semesterferien zwischen 1965 und 1967 in der Rechtsabteilung einer Panzergrenadier-Division gearbeitet, um Verwaltungsrecht zu lernen und dabei Geld zu verdienen. Freundlicherweise machte man mich deshalb zum Oberleutnant der Reserve. Was bedeutete: im Kriegsfall Kompaniechef. Ich sah mich nun vor meinen Männern auf der Festung Ehrenbreitstein auf dem Sprung zum Militärflughafen stehen, neben mir wahrscheinlich Amerikaner und Franzosen, die alle Deutschland am Hindukusch verteidigen wollten. Da wurde mir sehr seltsam zu Mute. Nichts in diesem Bild passte zu meinem täglichen Leben, nichts zu meinen politischen Ansichten. Ich stieg in die Kommentare ein und stellte einen Antrag als Kriegsdienstverweigerer. Ich wusste, dass dieser Antrag keinen Erfolg haben konnte, wenn der Auslöser wirklich nur eine fehlerhafte politische Entscheidung war. Aber mir schien dieser Fehler lediglich Anlass, einmal vertiefter darüber nachzudenken, was im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung mein persönlicher Beitrag sein sollte. Und da war mir ziemlich klar: Eine Waffe würde ich nicht mehr in die Hand nehmen.

Die Prüfungskommission nahm den Antrag am 21.01.1980 an, vermutlich aus pragmatischen Gründen, weil ich länger in der Armee gewesen war, als es hätte sein müssen. Heute würde ich ihn aus verschiedenen Gründen nicht mehr stellen, weil ich über Macht und Gewalt anders nachdenke, als damals: Jeder, der nicht bereit ist, zu einer Waffe zu greifen, wenn er angegriffen wird, muss bereit sein, sich in jeder Hinsicht zu unterwerfen. Entweder – oder. Man muss also eigentlich die Gegenprobe machen, wie weit der eigene Charakter es zulässt, alles widerstandslos hinzunehmen, was geschieht. Das Risiko, dass die Regierung eine politisch falsche Entscheidung trifft, muss auf politischer Ebene gelöst werden. Gegebenenfalls durch Demonstrationen usw. Vielleicht muss man auch als Fahnenflüchtiger persönliche Strafen riskieren, wenn man in einer konkreten Situation gegen die politisch falsche Entscheidung auftreten will. All diese Fragen haben mit der Anerkennung eines Kriegsdienstverweigerers nichts zu tun. Bei genauer Überlegung wäre ich schon damals zu der Überzeugung gekommen, dass ich mich ab einem bestimmten Punkt wehren würde – unabhängig davon, was dann geschieht. Und diese Einstellung ist im Grundgesetz nicht privilegiert.

Kurz: Ich war gerade in diesen Jahren immer hin und her gerissen zwischen Zustimmung und Ablehnung und hatte selten Boden unter den Füßen. Ganz am Anfang habe ich ignoriert, was mich kaputt macht. Ich hielt es für so abgestanden und alt, dass es in absehbarer Zeit ganz von alleine zusammenfallen würde. Auch Stalin war gestorben. Und außerdem wusste ich nicht, was ich hätte kaputt machen können, ohne mir selbst den größten Schaden zuzufügen. Viele andere haben das anders gesehen.

2.2.12. Kampfhunde und Oberlehrer

Am Anfang konnte man den Eindruck haben, dass die 68er wirklich alles kaputtmachen wollten und nur Verachtung für andere hatten, die sich in den Institutionen abmühten. Nur neun Jahre, nachdem er zuletzt an einer großen Demonstration teilgenommen hatte, sahen wir 1985 Joschka Fischer in Tennisschuhen seinen Ministereid leisten, und noch weniger Zeit hat er danach gebraucht, um sich ebenso wie Gerhard Schröder italienische Schuhe und Maßanzüge zuzulegen – cosi fan tutte! Dazu musste er sich allerdings zurufen: »Du musst dein Leben ändern!«. Nach wenigen Monaten waren dreißig Kilo runter. Herlinde Koelbl hat die Vorgänge in langen Fotostrecken festgehalten,35 und Joschka Fischer hat Bücher über diese Ereignisse geschrieben, die ihn im rechten Licht zeigen, damit wir von ihm etwas lernen können. Heute beraten die beiden Herren die gleichen Industrien, die sie vorher in den Hintern getreten haben. Und Joschka Fischer ist wieder bei seinem Kampfgewicht angekommen.

In Deutschland laufen solche Entwicklungen immer über die romantische Vorbande. Niemand erhebt einfach und pragmatisch Machtansprüche und versucht sie durchzusetzen. Zwar hatte Gerhard Schröder als Anfänger vor dem Kanzleramt »Ich will hier rein!« gerufen und an den Gittern gerüttelt, aber vorher musste er erst noch einmal als Chef der Jusos alle möglichen Abarten des Sozialismus fordern, damit man ihm gestattete, ein demokratisches Amt zu übernehmen. Auch die Grünen (und nach 1989: die runden Tische) haben viele Jahre lang die offenkundigsten Regeln der Macht missachtet, bis sie endlich entdeckten, dass es nichts hilft, die Macht zu leugnen, die nötig ist, um die politischen Ziele durchzusetzen, und alles andere die Intrigen nur noch größer macht.

Auch in der Welt der Kultur sehen wir Günter Grass und Martin Walser langsam, aber stetig von links nach rechts driften. Wenn man Hans Magnus Enzensbergers frühere Oden auf die kubanische Regierung und seine Angriffe gegen den Kapitalismus mit seiner heutigen Stellung in der Kulturindustrie vergleicht, sieht man ähnliche Metamorphosen. Es ist ein geradezu selbstverständliches Phänomen, dass die Leute im Alter nicht mehr auf die Barrikaden gehen. Aber vom Kampfhund zum Oberlehrer: Das nennt man eine deutsche Karriere.

Nur einer ist sich treu geblieben: Horst Mahler! Viele begreifen nicht, wie jemand jenseits der dreißig von der extremen Linken zur extremen Rechten wechseln kann. Dieser Wechsel war aber nichts anderes als die logische Folge des Versuchs, er selbst zu bleiben. Er konnte und kann keine Autoritäten vertragen. Horst Mahler (1936) – wie so viele 68er ein Vater- und Heimatloser36 – wurde in Niederschlesien geboren und verlor seinen Vater, als dieser sich 1949 als überzeugter Nationalsozialist erschoss, weil er mit der SED nicht zurechtkam. Die Familie floh in den Westen.

Er muss gespürt haben, dass die Arbeit als Anwalt immer die Möglichkeit bietet, Autoritäten anzugreifen. Es war für ihn kein Widerspruch, selbst Autorität zu haben: Sein früher Sozius Christian Ströbele rühmt ihn als begabten Lehrer,37 der den jüngeren Kollegen die Klaviatur des Prozessrechts eindringlich vermitteln konnte. Im Verhältnis zu heute waren die damaligen Strafrichter relativ naiv. Noch nie hatte ihnen jemand offen im Gerichtssaal widersprochen, seine Redezeit unendlich verteidigt oder gar einen Richter oder Staatsanwalt angeschrien. Wie begrenzt gleichwohl die rechtsstaatlichen Möglichkeiten dazu waren, hat er nach wenigen Jahren verstanden und griff zur Waffe.

1970 wurde er verhaftet und verurteilt, lehnte es ab, freigelassen zu werden, als einige Genossen mit der Entführung von Peter Lorenz die Regierung erpressten, und kam 1980 auf Antrag seines Strafverteidigers Gerhard Schröder vorzeitig frei. Die Väter wollten dem verlorenen Sohn noch eine Chance geben – der Theologe Helmut Gollwitzer wurde sein Bewährungshelfer. 1987 erhielt er wieder die Zulassung als Anwalt. Er dankte es den Menschen, die ihn ernst genommen haben, indem er nicht von Links auf Normalnull, sondern sofort auf die rechte Seite wechselte: Dort nämlich, wo er früher gestanden hatte, war der Kampf zu Ende. Die Autorität besaßen jetzt linke und liberale Väter. Aus der Position eines neuen Germanen, Neonazis und Leugners des Judenmordes war er – vermutlich ohne es zu merken – genau da angekommen, wo schon sein Vater gestanden hatte. Auch im Kampf gegen die linken Autoritäten ließen ihm die rechtsstaatlichen Mittel nur wenig Spielraum. Erneute Verurteilung (2009) zu zwölf Jahren: Wenn er die Strafe verbüßt hat, wird er ein ganzes Lebensalter im Gefängnis gesessen haben – offenbar sein Lebensziel: »Ich sitze hier, weil ich hier sitzen will«38. Im Grunde eine öffentlich demonstrierte Selbsttherapie.

2.2.13. Das Ende der Ideologien

Die wesentliche Leistung der 68er besteht darin, den Kampf der Ideologien, der Deutschland in den Europäischen Bürgerkrieg (1914–1945) gejagt hat, noch einmal – wenn auch als Farce – auf die Bühne zu stellen und danach den Vorhang – wie wir hoffen für immer – zuzuziehen.

Im ersten Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) hatte man um die richtige Religion gekämpft, im zweiten um die richtige »Weltanschauung«. Jeder war der festen Meinung, sein Weltbild sei das Richtige. Genau so wurden auch die Gefechte der 68er begonnen – aber nicht vollendet.

Wenn man die Dumpfheit der Fünfzigerjahre beklagt, darf man nicht vergessen, dass der Schock des Krieges Schweigen und Anpassung geradezu gebot. Im Westen musste geübt werden, die neue Verfassung anzuwenden, und das mit einem Personal, das ziemlich kaputt war. Im Osten war nicht einmal das möglich. Von den törichten Bemerkungen Ludwig Erhards über die Intellektuellen bis zu dem Punkt, an dem ihn die Jüngeren der Lächerlichkeit preisgaben, dauerte es nur noch wenige Jahre. In dieser Zeit wurde Theorie geübt, die später helfen sollte:

Die Systemtheorie, der Konstruktivismus, die Kommunikationstheorien legten alle den Finger auf die gleiche Wunde: Einfache Wahrheiten sind in einer hochkomplexen Welt nicht zu haben, man kann sie sich nicht zurechtschnitzen, die Wortgebäude brechen an der Wirklichkeit immer wieder zusammen. All das kann man aber erst lernen, wenn sich ein Teil der Leute noch einmal konsequent auf die falsche Seite begibt mit der notwendigen Folge, dass die anderen sich auf der anderen Seite versammeln. Unverkennbar wiederholten die 68er weite Teile der ideologischen Auseinandersetzungen, die in den Jahren 1920 bis 1933 zwischen Links und Rechts stattgefunden hatten. An diesem da capo war ich nicht interessiert, ich wollte den ganzen ideologischen Müll des Kalten Krieges endlich loswerden.

Als 1978 die Revolution im Wesentlichen zu Ende war, bekam ich gerade meine Zulassung zum Oberlandesgericht und gehörte, ob ich nun wollte oder nicht, in den Augen aller zum Establishment. Jetzt gab ich meinen Taxischein zurück, denn ich war sicher, ich würde ihn nicht mehr brauchen.

In diesen ersten fünf Jahren war der Aufbau unserer beruflichen Existenz wichtiger als die Teilnahme an politischen Auseinandersetzungen, die ich zwar für notwendig hielt, in denen aber zu wenig über die Freiheit und ihr Paradox39 gesprochen wurde: Freiheit und Toleranz gehen zu Grunde, wenn niemand sie verteidigt, weil er auch den Angreifern gegenüber tolerant bleiben will.

2.3. Lehrjahre

Militärgefängnis Koblenz-Ehrenbreitstein 1914
Militärgefängnis Koblenz-Ehrenbreitstein 1914

»Jede Aktenbewegung muss auch den Fall bewegen.«
Sieghart Ott

2.3.1. Recht ist selbstverständlich oder unverständlich

Auf der Universität stand ich oft genug vor unlösbaren Rätseln: Um zu wissen, dass der Käufer den Kaufpreis zahlen muss, braucht man wohl kaum Jura zu studieren, das Bereicherungsrecht aber wird in allen seinen Verästelungen nicht einmal mehr vom Bundesgerichtshof verstanden wie Werner Flume40, ein berühmter Zivilrechtler aus Bonn, der es wohl wissen musste, in einem Urteilskommentar einmal bemerkt hat:

»Die Anweisung des furiosus ist unwirksam. Wenn der Klage für den furiosus gegen den – unwirksam – angewiesenen Schuldner die exceptio doli entgegensteht, so deshalb, weil der furiosus trotz der Unwirksamkeit der Anweisung durch die Zahlung des Angewiesenen befreit worden ist. (s. auch D 76, 3, 66 Pomponius, libro sexto ex Plautio betreffs der Zahlung auf Anweisung des pupillus.) Das iussum des pupillus ist jedoch mit dem des furiosus nicht gleich zu setzen; da das iussum den pupillus abgesehen von der locupletior-Haftung nicht belastet, ist das iussum des pupillus anders als das des furiosus nicht nichtig.«

Ich kann gut verstehen, wenn Sie schon bis dahin nicht weiterlesen wollten, denn mir ist es genauso gegangen. Dabei befinden wir uns mit dem BGH zusammen in bester Gesellschaft, der sechs Jahre später zusammenfasste, was er bis dahin verstanden hatte:

»Eine Bank, welche eine wegen Geschäftsunfähigkeit des Anweisenden nichtige Anweisung ausführt, erwirbt damit keinen Bereicherungsanspruch gegen den Anweisenden.«41

Eine solche Trivialität auch noch zu wiederholen – so meinte Flume wenig später – sei umso überflüssiger, als schon Celsus, Hermogenian, Pomponius und Ulpian das vor 2000 Jahren besser verstanden hätten als der Bundesgerichtshof.42

Solche Diskussionen trugen dazu bei, dass Jura für mich entweder selbstverständlich oder unverständlich war: Man drehte sich ständig in einem Kreis, dessen Grenzen man schlecht verstand. Das geht vielen Leuten so: Eine Arbeitsgruppe um Ulrich Karpen, Staatsrechtler aus Hamburg, hat Gesetze aus dem Zeitraum von 2005 bis 2007 untersucht und festgestellt, dass 50 % von ihnen sprachlich unverständlich bleiben, 24 % aller Verweisungen auf andere Gesetze unüberschaubar sind, 58 % nach kürzester Zeit wieder geändert werden müssen und 76 % die Bürokratiekosten erhöhen.43 Auch in meiner Familie konnte mir keiner helfen, denn dort gab es keine Juristen, und besonders meine Mutter hatte Angst vor Anwälten, die ihrer Meinung nichts Besseres zu tun hatten, als andere Leute zu ärgern. Als sie mir irgendwann in den Achtzigern erzählte, dass man meinem Vater die Pension gekürzt habe, und ich sie fragte, warum sie sich nicht von mir hatte beraten lassen, meinte sie trocken: »Davon verstehst du ja doch nichts!«. Dass ich über verfassungsrechtliche Fragen des Beamtenrechts promoviert hatte, war ihr völlig entgangen. Wozu also waren Anwälte gut? Auf der Universität gab es darauf keine Antworten.

2.3.2. Referendarausbildung

Das Referendariat war Anfang der Siebzigerjahre noch sehr locker organisiert. Die Referendare wurden über ganz Bayern verteilt, wer verheiratet war (wie ich), durfte in München und Umgebung bleiben. Manche Ausbildungsrichter begnügten sich mit dem Antrittsbesuch, drückten einem alle paar Wochen wieder eine Akte in die Hand und bewerteten die Arbeitsergebnisse. Andere wollten mehr Präsenz sehen und hier und da gab jemand sich richtig pädagogische Mühe. Zentrale Ausbildungsveranstaltungen gab es nur als Klausurenkurse.

So machte jeder von uns andere Erfahrungen. Unsere alte Lerngruppe traf bei den Klausurenkursen regelmäßig wieder zusammen. Parallel dazu gingen wir zu Heinz Thomas’ Klausurenkurs. Diesmal war ich Korrekturassistent und hatte Gelegenheit, kritische Bemerkungen zu den Leistungen meiner Freunde Gunther, Justin und Eberhard loszuwerden.

In der praktischen Ausbildung war ich einem Amtsrichter in Dachau zugewiesen, bei dem ich nicht nur Scheidungen, sondern auch Erbfälle und Hofübergabeverträge kennen lernte. Die waren in ihrer Grundstruktur weit älter als das BGB, und da stand tatsächlich drin, dass der alte Großvater fette Vollmilch bekommt (die Magermilch ist für die Säue). Dass man so etwas regeln musste, erlaubt den Rückschluss, dass mancher Großvater eben keine bekam. Da wurden noch 1970 Prozesse um drei (oder vier?) Eier in der Woche geführt, und eine Beweisaufnahme war fällig, ob die Hühner nicht gelegt hatten usw. – lehrreiches Gedankengut aus dem 15. Jahrhundert.

Im öffentlichen Recht ging es zur Regierung von Oberbayern, einem prächtigen Gebäude an der Maximilianstraße, das (vielleicht absichtlich) jeden Besucher durch den Geruch seiner Kantine abschreckt. Ich konnte mir schwer vorstellen, mich da nach 35 Jahren in pensionsreifem Zustand heraustragen zu lassen. Eher würde ich – wie mein Vater mir bei schlechten Schulnoten angedroht hatte – Steine klopfen oder Straßenbahnschienen reinigen, als mein ganzes Leben in diesem Mief zuzubringen.

Ich sah mich nicht als Richter, schon gar nicht als Staatsanwalt, nicht als Verwaltungsbeamter oder Ministerialjurist – keines der klassischen juristischen Berufsbilder hat mich wirklich interessiert. In der Geschäftsstelle für Referendare gab es einen Aushang: Sieghart Ottfn, Rechtsanwalt in München. suchte einen Mitarbeiter. Ich kannte seine Veröffentlichungen zur Meinungsfreiheit und zum Versammlungsrecht, weil das Verfassungsrecht mich auch im Studium immer interessiert hatte. Könnte ich da lernen, wofür Anwälte gut sind?

2.3.3. Sieghard Ott – der enzyklopädisch gebildete Anwalt

Die Antwort gab mir Maximiliane Ott, die Mutter meines Chefs, der sie an einem Freitag unverhofft in mein Zimmer drängte, aber nichts erklärte, sondern sich mit unverständlichen Gesten sofort wieder zurückzog. »Er will das nicht machen!«, erläuterte Frau Ott, die noch etwas kleiner war als ihr Sohn, und schwenkte einen Gebührenbescheid der Stadtwerke München in der Luft: »Aber Sie, Herr Doktor, sind ja Spezialist für diese Sachen.« Nun war ich weder Doktor noch Spezialist für irgendwas und schon gar nichts verstand ich von Heizkostenabrechnungen, die damals noch in Form von Verwaltungsakten erlassen wurden. Die Rechnung war 20 % höher als alle anderen, und Frau Ott schwor, keinesfalls mehr geheizt zu haben als sonst und schon gar nicht hätte sie zu heiß gebadet etc. Der Fehler musste also im System liegen. Sprach’s und ging.

Mein erster Lösungsweg war ein typisch juristischer – also so, wie ich es auf der Universität gelernt hatte. Ich holte mir die Satzung der Stadtwerke, die jeweiligen Gebührenfestsetzungsbeschlüsse etc. und versuchte, daraus das Zahlenwerk zu rekonstruieren. Das dauerte drei Tage und brachte kein verständliches Resultat. In meiner Verzweiflung rief ich dann den Sachbearbeiter an und bat ihn, mit mir gemeinsam nach dem Fehler zu suchen. Das tat er dann bereitwillig, fand aber auch nichts. Ich drohte Widerspruch an. Nun ahnte er, dass Arbeit auf ihn zukommen könnte und schlug einen Nachlass vor. Das waren 15,27 DM. Ich nahm sofort an und er schickte einen Scheck. Am nächsten Tag stand auf meinem Tisch ein Mandelkuchen (Frau Ott wohnte im gleichen Haus) mit einem Zettelchen: »Des hams guat g’macht.«

Da wusste ich, wozu Anwälte gut sind. Manchmal denke ich, wie groß der Kuchen heute ausfallen müsste, wenn einer meiner Mandanten nach gelungenen Vertragsabschlüssen oder Prozessen sich in vergleichbarer Form bedanken wollte – aber die Zeiten haben sich geändert. So unscheinbar der Fall war – ich hatte Blut geleckt und scherte mich auf einmal nicht mehr um den akademischen Hintergrund des Rechts, dessen Widersprüche ich nicht hatte auflösen können.

Ott hatte mir den kleinen Fall nicht anvertraut, weil er sich sonst um kleine Fälle drückte. »Es gibt keine einfachen Fälle und es gibt auch keine kleinen Fälle« – das war so ziemlich der erste Satz, den ich bei ihm hörte. Er hatte daneben einen zweiten – absolut gültigen – Grundsatz: »Nie sich selbst oder Verwandte vertreten – wenn du gewinnst, bekommst du kein Honorar, wenn du verlierst, hast du doppelten Ärger und bekommst erst recht kein Geld.«

Sieghard Ott (37) konnte bei den unscheinbarsten Fällen einen Ansatz entdecken, der ihn am Ende doch von dem typischen Standard unterschied. So nahm er Chancen war, die andere übersehen hätten. Von mir erwartete er ein vergleichbares Interesse und ein entsprechendes Engagement. Das war neben der damals noch recht freizügigen Referendarausbildung ohne weiteres möglich. Ich lief fast jeden Tag für mindestens 2–3 Stunden ins Büro, bearbeitete einen Stapel Akten, seine Sekretärin und in Notfällen Frau Ott, die sonst Lektorin war, schrieben meine Diktate und legten sie dann dem Chef vor. Am Anfang habe ich fast 80 % meiner Arbeit mit einem dicken roten Strich zurückbekommen und das Ganze ging von vorne los. Mir war klar, dass meine Ausbildung Geld kostete, so dass ich die bescheidene Vergütung anders einschätzte als manche meiner Freunde, die in anderen Büros tätig waren, mehr verdienten und nichts durchgestrichen bekamen. Aber sie lernten auch weniger. Zu Weihnachten schenkte er mir eine Sammlung von Alfred Döblins Essays: Ein Kerl muss eine Meinung haben! Das war das Lernprogramm. Ein paar Mal begleitete ich ihn zu Gericht, schrieb mir auf eine Checkliste, worauf ich immer (immer!) achten müsse, und dann ließ er mir ziemlich freie Hand.

Eine der tiefsten Freuden junger Anwälte ist es, Fälle gegen erfahrene Anwälte zu gewinnen. Je erfahrener sie sind, desto schlechter sind sie manchmal vorbereitet, gelegentlich auch uninteressiert, und manchmal gewinnt man einfach deshalb, weil man den besseren Fall hat. Man lernt auch, die Argumentation des Gegners zu zerlegen, obwohl man selbst nichts Besseres anzubieten hat. Das Selbstbewusstsein steigt, je mehr man gelernt hat, »sich das Sklavenblut aus den Adern zu pressen« (Tschechow). Das ärgert dann die Alten. Mit der Zeit kann man sich an diese Freuden des Alltags gewöhnen, auf die Ärzte und Ingenieure lange warten müssen.

Sieghart Ott beherrschte die gesamte Klaviatur des Rechts nicht nur praktisch, sondern auf vielen Gebieten auch wissenschaftlich. Er kannte alle Feinheiten des Kleinkreditgeschäfts (übrigens auf Seiten der Bank), er betreute neben anderen den Weismann Verlag und Antje Kunstmanns Frauenbuchverlag in urheberrechtlichen und gesellschaftsrechtlichen Fragen, auch im Presserecht bewegte er sich selbstverständlich, vor allem in jenen Verfahren, in denen Karikaturisten sich Franz Josef Strauß aufs Korn genommen hatten.

Das hatte einen politischen Hintergrund. Ott gehörte zum Republikanischen Club, einem liberalen Verein (Vorläufer: Club Voltaire), der nichts mit den heutigen Republikanern zu tun hat. Er packte diese Mandate nicht nur strafrechtlich, sondern vor allem von ihrer grundrechtlichen Absicherung her an. Franz Josef Strauß wurde von Ossman & Kreiner in allen Fällen vertreten, in denen er beleidigt wurde. Das geschah oft, denn nicht nur die linke Szene hat in Bayern anarchistische Züge, die Bayern lieben ihre Anarchie – und zu der gehört dort ein »starker Anarch«, wie der spätere bayerische Kultusminister Hans Mayer festgestellt hat!44 Franz Josef Strauß hatte alles, was dazugehört. Spektakulär war der Fall des Anachronistischen Zuges: Ein Straßentheater hatte aus Fußgängern und Fahrzeugen einschließlich einer verkleideten Militärkapelle Brechts gleichnamiges Gedicht auf die Straße gebracht und mit dem Gesicht Franz Josef Strauß’ aktualisiert. Ihm schrieen die Schauspieler Gedichtzeilen zu:

»Knochenhand am Peitschenknauf / fährt die Unterdrückung auf. In’nem Panzerkarr’n fährt sie / dem Geschenk der Industrie. Groß begrüßt, in rostigem Tank / fährt der Aussatz. Er scheint krank. Usw.«

Die Darsteller wurden wegen Beleidigung verurteilt, aber das Bundesverfassungsgericht erklärte das Ganze zu einer künstlerischen Veranstaltung und verwies die Sache zurück.45 Mit Ossman & Kreiner kam eine richtige Arbeitsbeziehung zu Stande, denn auch sonst standen sie häufig auf der konservativen Seite, während Ott stets die Liberalen vertrat. Völlig unabhängig davon kämpfte er um Zeugnisse für Beamte, schrieb Revisionen im Brühne / Ferbach-Prozess – einem spektakulären und bis heute umstrittenen Mordverfahren – und begleitete all das mit einer unendlichen Vielzahl von Publikationen. Viele seiner Veröffentlichungen sind heute noch gültig, so vor allem die Kommentare zum Versammlungsgesetz46 und zum Vereinsrecht.

Einen Einzelanwalt mit einer vergleichbaren Bibliothek (4000 Bände, 25 Zeitschriften) habe ich nie wieder getroffen. Die juristische Abteilung stand im Büro, Literatur, Soziologie, Psychologie und Kunstgeschichte in seiner Privatwohnung. Aber einen Kopierer hatte er nicht, und die Buchhaltung wurde in jeder Akte geführt, die in Bücherregalen mit schlaffen, aber schön beschrifteten Aktenschwänzen ihrer jeweiligen Verwendung harrten: Ott war kein Manager und schon gar kein Unternehmer. Sein Büro war so klassisch organisiert, wie man es vielleicht schon 30 – 40 Jahre früher gemacht hat. Ein Auto hatte er nicht und Urlaub am Strand hielt er für sittenwidrige Zeitverschwendung. Wenn schon, dann mit dem klassischen Dehio-Kunstführer durch Rom und jeden Altar kennen!

Heute würde man eine solche Bandbreite anwaltlicher Tätigkeit als überspannt betrachten, Sieghard Ott hat aber seinen ganzen Stolz dareingesetzt, der Universalanwalt alten Stils zu sein, den es heute nicht mehr geben kann. Ich war knapp zwei Jahre bei ihm, bis ich begann, die Dissertation bei Peter Lerche zu schreiben. Ich machte Druck, denn die Arbeit bei Ott hatte mir gezeigt, wie schwierig es ist, neben der täglichen Praxis wissenschaftlich zu arbeiten. Er selbst schrieb allerdings ein Buch nach dem anderen. Als ich ihn einmal fragte, warum er nie promoviert habe, meinte er trocken: »Wenn’s so viel g’schriebn hab’n wie ich, schaugt des am End’ noch blöd aus.«

Erst die Praxis in solchen Fällen hat mir gezeigt, wie die »Transmissionsriemen der Macht« (so nannte man das damals) wirklich laufen – das einzige Motiv, dass mich am Jurastudium festgehalten hatte. Der Maschinenraum, in dem die Regeln der Macht galten, war staubtrocken und nicht ölverschmiert wie die Räume der Politik. Aber dafür sah man besser, was sich abspielte, und lernte, eigene Maschinen zu bauen. Um das zu lernen, brauchte man schon einen Lehrmeister wie Sieghard Ott, der das Leben in seiner ganzen Bandbreite kannte, obwohl er nur zehn Jahre älter war. Als gelernter Rechtspfleger wusste er genau um die Mechanik der Justizbehörden, und er verstand seine Arbeit anders als Horst Mahler, Kurt Groenewold oder Klaus Croissant innerhalb des Systems. Rolf Pohle, der auch zu den Referendaren gehörte, die sich in solchen Mandaten engagierten, hat diese Spannungen schlecht ausgehalten. Er hatte sich keine guten Lehrer gesucht.

All das mag so klingen, als ob Anwälte von ihrem Beruf ein bestimmtes Verhalten aufgeprägt erhielten, dessen wesentliche Elemente einheitlich ausfielen. Man kann sich keinen unorganisierten, zerfahrenen, geistesabwesenden Anwalt vorstellen, den seine Mandanten akzeptieren. Und doch gibt es sie, und das hat einen einfachen Grund: Jeder Mandant sucht sich den Anwalt, der zu seinem eigenen Charakter passt, das Gegenmodell hält er nicht aus. Geistesabwesende Mandanten haben oft ganz ähnlich wirkende Anwälte, und das seltsame ist: Die gewinnen ihre Fälle gelegentlich auch noch!

2.3.4. Diverse Intermezzi

Während der Auslandsstationen, die man wählen konnte, verstreuten wir uns in alle Winde. Gunther Braun machte eine Weltreise, Justin von Kessel und Eberhard Gloning fuhren nach Amerika, um Autos von New York nach San Francisco zu fahren und dann in der dortigen Industrie- und Handelskammer zu arbeiten. Ich ließ mich für sechs Monate nach Österreich an das Amtsgericht Braunau versetzen, damit ich währenddessen meine Promotion abschließen konnte. Und außerdem war ich schon verheiratet.

Ich brachte die Dissertation noch vor dem zweiten Examen durch, nicht zuletzt, weil Peter Lerche die Freundlichkeit hatte, ein griffiges und praxisnahes Thema zu akzeptieren und sie in zwei Monaten nach Abschluss Mitte 1972 durchzuwinken.

Gunther hatte eine geniale Idee, wie man in noch kürzerer Zeit promovieren kann: Beim Flippern im Bungalow kam ihm der Gedanke, welche Rechtsnatur wohl Automatenaufstellverträge haben könnten. Die Recherche ergab ein einziges Urteil des Bundesgerichtshofs (NJW 1967, 1414), der die Anwendung mietrechtlicher Vorschriften ablehnte: »Bei Automatenaufstellverträgen handelt es sich im allgemeinen um Verträge unter Gewerbetreibenden, die in ihrem Geschäftsbetriebe alltäglich und üblich sind. Derartige Verträge sind nach der Systematik des Gesetzes grundsätzlich formfrei. Es läßt sich deshalb nicht rechtfertigen, die Formvorschrift des § 566 BGB auf sie anzuwenden.« Literatur zum Thema: nicht vorhanden. Selten findet ein Jurist ein jungfräuliches Gebiet dieser Art, in dem er im Grunde alles schreiben kann. Das tat Gunter unverzüglich und war ein paar Monate später fertig. Seine Arbeit wurde bis in die führenden Kommentare hinein zitiert, weil die Rechtsfrage, wie der aktuelle Beck’sche Online-Kommentar schreibt, »immer noch umstritten ist«: Die Rechtsnatur hängt nämlich jeweils vom Sachverhalt ab!

Justin hatte den Ehrgeiz, im Steuerrecht zu promovieren, ein frühes Anzeichen dafür, dass ihn finanzielle Systeme immer fasziniert haben. Das war eine schwierige Arbeit und zog sich bis in unsere ersten Anwaltsjahre hin. Bei Eberhard ging es genauso: Er promovierte im Strafrecht, und weil er wie wir alle nebenbei arbeitete, dauerte das seine Zeit.

2.3.5. Das zweite Examen

Bei der Arbeit an der Dissertation hatte ich mir angewöhnt, Notizen für Fundstellen oder wörtliche Zitate auf einzelne Zettel (Größe DIN A6) zu schreiben und nicht wie üblich alle Notizen fortlaufend auf DIN A4 zu erfassen. Der Vorteil: Das Prinzip »Ein Zettel – Ein Gedanke« erlaubt es, den einzelnen Gedanken später wie bei einer Patience immer wieder neu zusammenzusetzen, in einzelnen Ordnern abzulegen usw. Wissenschaftler arbeiten seit Georg Wilhelm Leibniz, der ein ähnliches System entwickelt hat, seit Jahrhunderten so. Die Zettelkästen von Niklas Luhmann, Hans Blumenberg oder Arno Schmidt (Zettels Traum) sind weltberühmt. Die Idee ist so naheliegend, dass sie vermutlich in jedem Jahr mehrfach neu erfunden wird. Ich übertrug sie dann auf die Bearbeitung von Akten und schließlich auch auf Probeklausuren. Im Buch »Time Management« habe ich das Verfahren näher beschrieben.

Zur schriftlichen Prüfung des zweiten Examens im März 1973 brachte ich also eine große Papierschere mit und begann als Erstes, mir einen Stapel Zettel aus dem Prüfungspapier zu schneiden. Der Mensch von der Aufsicht war irritiert. Aber da in der Prüfungsordnung nichts über Scheren steht, konnte er es nicht untersagen.

Neben mir hatte Franz Waltermeier gesessen, ständig verschwitzt, ständig in Aufregung. »Ich muss bloß hier durchkommen, dann werd’ ich Partner«, sagte er mir nach der ersten Klausur, bei der er in der letzten Sekunde abgegeben hatte – ein verschmiertes Konvolut, wie ich an seinen Blättern erkennen konnte. Ich war über seine Nervosität überrascht, denn wir waren uns gelegentlich als Referendare beim Arbeitsgericht begegnet. Da hatte er immer tüchtig auf den Tisch gehauen und auch keine schlechten Schriftsätze gemacht. Er selbst wusste besser, dass ihm die Theorie nicht lag, besonders wenig im öffentlichen Recht. Da haute er tatsächlich beide Klausuren in den Sand, aber im Arbeitsrecht konnte er das ausgleichen und schaffte es so gerade. Damit hatte er ausgesorgt, nach drei Jahren war er wirklich Partner und hat das Büro nie gewechselt.

2.3.6. Strafverteidigung

Sofort nach dem Schriftlichen suchte ich einen Job. Bei Ott hätte ich weitermachen können, aber es drängte mich nach anderen Erfahrungen. Damals gab es vielleicht 3.000 Anwälte in München (heute sind es über 18.000), aber anders als heute stellte niemand irgend jemanden ein – auch keine Referendare. Die wenigen Stellen, die es in den größeren Büros wie etwa Ott Weiß Eschenlohr oder Oehl Nörr Stiefenhofer gab, wurden von dem einen Referendar unter der Hand an den anderen vergeben. Da half auch ein Frontspoiler nichts, wie man heute den Doktortitel nennt. Ich war auch nicht ganz sicher, ob ich da genug lernen könnte. Einer meiner Freunde war in seinem Büro fast ein Jahr lang nur mit Baumängeln beschäftigt gewesen, wusste jetzt zwar eine Menge über schwimmenden Estrich, aber sonst nicht viel mehr als beim ersten Examen. Wenn er einen Partner etwas fragen wollte, musste er über dessen Sekretärin einen Termin beantragen – und erhielt ihn bestenfalls in einer Woche. Erst jetzt wurde mir klar, dass ich vor zwei Jahren den interessanten Job bei Sieghart Ott nur durch Zufall gefunden hatte.

Vierzehn Mal habe ich mich vorgestellt, zunächst bei Strafverteidigern, denn dieses Thema hat mich seit der ersten Berührung mit dem Recht nicht mehr losgelassen. Das ist nicht besonders originell, denn vielen Jurastudenten geht es so: Alle grundlegenden Fragen des Rechts laufen in diesem Fach in spektakulärer Form zusammen, und deshalb werden an den Universitäten die Fächer Strafrecht und Rechtsphilosophie oft von einem Lehrstuhl gemeinsam vertreten (Arthur Kaufmann, Björn Burkhardt, Ulrich Schroth, Hans Kudlich, Michael Pawlik und andere). Noch entscheidender war jedoch die Begegnung mit den wirklichen Fällen bei der Staatsanwaltschaft. Ich suchte mir Kontakte zur Abteilung »Delikte am Menschen«. Da bekam ich in den Spurenakten Dinge zu sehen, die sich kein Sterblicher träumen lässt: Ein Erschlagener, dessen Tod erst nach vielen Wochen entdeckt wird, liegt da in seiner Wohnung übersät mit Fliegen wie ein zerbrochenes Glas Marmelade und bei dem Gestank allein möchtest du sterben. Ferdinand von Schirach hat all das eindrucksvoller beschrieben, als ich es je könnte.47 Seine Schilderungen analysieren die Szenen mit literarischem Blick und zeigen uns Perspektiven, die die Strafakten nicht erschließen können. Natürlich findet man neben den gerichtsmedizinischen Feststellungen auch die Erkenntnisse der Profiler oder der Psychologen, aber sie können nur so weit reichen, wie der Blick des Strafrechts dringen kann. Und sie zeigen nicht, wie viele Irrwege man hinter sich bringen muss, um der Wahrheit ein Stück näher zu kommen – sofern man es noch für möglich hält, dass die Wahrheit in einem Prozess wirklich gefunden werden kann. In dieser Hinsicht sind wir heute erheblich bescheidener als vor vierzig Jahren. Wir wissen, dass die Wahrheit, die uns der Strafprozess zeigt, keinen Anspruch auf Objektivität erheben kann. Schon die verschiedenen tatsächlichen Beweishindernisse (der entscheidende Zeuge ist tot) und rechtlichen Beweisverbote (Aussageverweigerungsrechte) sorgen dafür. Unter diesen Rahmenbedingungen kann sich nur eine prozessuale Wahrheit entwickeln, mit der wir aber zurechtkommen müssen.

Der Unterschied zur »tatsächlichen Wahrheit« ist auch für einen Anwalt auf Dauer nicht leicht zu ertragen. Ich bin viele Jahre häufig den Weg vom Münchner Strafjustizzentrum zu unserem Büro in der Briennerstraße gegangen. Dazwischen liegt das Lenbachhaus. Eines Tages hatte ich die Idee hineinzugehen, legte meine Robe und die Aktentasche an der Garderobe ab und ging ziellos durch die Räume. Vor einer halbdunklen Nische war quer ein Seil gespannt, dahinter zwei metallene Leichentragen, Mistgabeln mit roten Tuchfetzen, zwei seltsam aussehende »Lampen«, die mit Fett zugeschmiert waren, und ein paar Exemplare der »Lotta Continua«, einer italienischen KP-Zeitung. Das sah alles sehr traurig aus und ließ mich kalt. Erst als ich im Hintergrund auf zwei Schultafeln in verbleichender Schrift die Worte »Zeige deine Wunde«48 las, bekam ich einen Schock: Ich konnte es nur als Hinweis auf die Wunden lesen, die auch das Recht nicht heilen kann.

Das war mir schon in der Ausbildung bewusst, aber die Praxis hatte diese frühen Erfahrungen wieder zugeschüttet: Eines Tages schlug mir ein Staatsanwalt vor, ihn auf seiner Fahrt nach Landsberg zu begleiten, um einen lebenslang Verurteilten zu sprechen. Er hatte einen Wiederaufnahmeantrag gestellt – vermutlich aussichtslos. Vor zehn Jahren war er arbeitslos und besoffen mit einer Prostituierten, die ihn in einer heruntergekommenen Kneipe, dem Silbermond, angesprochen hatte, an den Stadtrand ins Dachauer Moos gefahren, hatte sie dort vergewaltigt und in hilflosem Zustand im Wald zurückgelassen. In der Nacht – es war Ende Oktober – war sie an Unterkühlung gestorben. Ihn hatte man kurz danach verhaftet, weil er in dem Lokal bekannt war. Damals war er fünfundzwanzig. Die Verurteilung wegen Mord betrachtete auch der Staatsanwalt als falsch. Über Körperverletzung mit Todesfolge oder Todschlag hätte man reden können. Der Richter wurde kurze Zeit danach wegen anderer auffälliger Urteile frühpensioniert. Aber an der fehlerhaften rechtlichen Beurteilung war nichts mehr zu ändern. Nur neue Beweise konnten ein neues Verfahren eröffnen. Aber so wie der Antrag formuliert war – kein Anwalt hatte geholfen –, sah das Ganze düster aus.

Als uns im Besucherraum ein grauhaariger Mann entgegentrat und begrüßte, hielt ich ihn Sekunden lang für einen Beamten, bis ich merkte, dass der Täter vor uns stand. Ich wusste, dass er nur die Grundschule absolviert hatte und danach immer wieder stellungslos oder mit unterschiedlichsten Hilfsarbeiten beschäftigt war. Hier stellte er sich als Leiter der Gefängnisbibliothek vor, hatte auf der Abendschule Abitur gemacht, zitierte Dostojewski, empfahl Dürrenmatt (Der Richter und sein Henker) und hatte sich mit dem Recht der Wiederaufnahme besser vertraut gemacht, als man es von den meisten Anwälten erwarten kann. Er schätzte seine Lage absolut realistisch ein. Am Ende versprach ihm der Staatsanwalt, sich für ein Gnadengesuch einzusetzen, aber das würde frühestens in weiteren zehn Jahren Erfolg haben. Wer solche Fälle gesehen hat, weiß, dass es sich lohnt, um jeden einzelnen Menschen zu kämpfen. Ich wollte Strafverteidiger werden.

Ein ziemlich berühmter Kollege, Lutz Libbertz, hatte sein Büro in der Nähe des Bahnhofs über einer Stripteasebar – vermutlich um die Akquisitionswege in die Rotlichtszene zu verkürzen. Er wollte sich zivilrechtlich verstärken, aber ich dachte mir, von da führt auch ein Weg ins Strafrecht. Er saß im holzgeschnitzten Gestühl eines Benediktinerabtes, was mir schon zu denken gab. Vermutlich saß er da nicht oft, denn die Ranken drücken einen ins Kreuz. Als ich ihn fragte, welches Diktiersystem er benutze, sah ich zwei Fragezeichen in seinen Augen und reagierte ironisch: »Das sind so Aufzeichnungsgeräte für Schriftsätze«, erklärte ich, und die Fragezeichen erloschen: »Mir diktier’n der Sekretärin, wenn mir diktier’n«, sagte er. Das war für mich das Ende des Gesprächs und ich suchte nach einem eleganten Abgang. An der Wand sah ich eine Vielzahl von Uhren hängen und bewunderte seine Sammlung: »Des iss keine Sammlung Herr Kolleg’, des san Vorschüsse!«, rief er aus. Damals kursierte noch allenthalben der fröhliche Satz: »Ohne Schuss kein Jus«, den heute keiner mehr kennt, weil wir vorleisten müssen – außer in Strafsachen, wo er auch heute noch unverzichtbar ist.

Ossman & Kreiner, die auch ein Inkassobüro betrieben, fragten mich, ob ich es leiten wolle, denn sie wussten, dass ich bei Ott auch auf diesem Gebiet etwas gelernt hatte. Ich lehnte ab, ohne zu ahnen, dass zwei Jahre später unser ganzes Büro von solchen Mandaten leben würde.

2.3.7. Rolf Bossi

Dann versuchte ich es bei Rolf Bossi (49), der der Sage nach wegen Arbeitsüberlastung einen Assistenten brauchte. Bossi war einer der berühmtesten Strafverteidiger in Deutschland, galt als exzentrisch, und weil er im Büro des Kollegen Adolf Miehr gelernt hatte, den man nicht zu Unrecht »Schmier« nannte, war er umstritten. Bei Miehr hatte er zigeunerische Klientel betreut und wegen seines italienischen Namens steckte man ihn in diese Ecke. Aber tatsächlich war sein Vater ein liberaler Beamte in Baden gewesen.

Rolf Bossi hat in mindestens zwei Fällen Rechtsgeschichte geschrieben. Am 13. März 1964 hatte der amerikanische Besatzungsoffizier (Second Lieutenant) Gerald Maurice Werner seine deutsche Freundin Ursula Schamel (18) erst ermordet, dann zerstückelt und die Körperteile an der Autobahn verteilt. Danach hatte er Sex mit einer anderen Frau in der gleichen Wohnung.

Bossi hatte zunächst erreicht, dass er nicht vor ein Militärgericht kam, wo die Verteidigung erheblich beschränkt worden wäre, sondern durchgesetzt, dass die Staatsanwaltschaft ihn vor dem Schwurgericht Bayreuth anklagte. Für die Staatsanwaltschaft und die Presse war die Tat ein Lustmord, denn der Täter hatte vorher eine ganz normale Militärkarriere absolviert. Bossi sah das als Fassade und brachte Gutachter in Stellung. Professor Walz stellte Epilepsie und verminderte Zurechnungsfähigkeit (§ 51 Abs. 2 StGB) fest, Professor Rauch diagnostizierte schwere Schizophrenie (§ 51 Abs. 1 StGB) und Professor Bürger Prinz schloss sich ihm an – wenn auch mit anderer Begründung. (Resultat: Freispruch und Zurückweisung der Revision der Staatsanwaltschaft.) Werner wurde in Deutschland und in den USA therapiert und am 6. Januar 1976 entlassen. Danach klagte er gegen den Staat eine restliche Pension ein.49

Die wissenschaftliche Diskussion um diesen Freispruch bildete die Basis nicht nur für weitere Urteile, sondern auch für die begriffliche Abgrenzung der Unzurechnungsfähigkeit, die man bis dahin nur bei »echten Geisteskrankheiten« akzeptierte. Nun ging es um die Frage, ob auch andere schwerwiegende Persönlichkeitsstörungen berücksichtigt werden müssten.50 Der endgültige Durchbruch kam 1970, als Bossi den Fall Jürgen Bartsch übernahm, der in einem ersten Verfahren als voll schuldfähiger Erwachsener wegen mehrerer Morde an Kindern (die er teilweise als Jugendlicher begangen hatte) zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt worden war. Die Revision hatte Erfolg und Bossi setzte im zweiten Verfahren am 6. April 1971 den Freispruch und die Unterbringung in einer Heil- und Pflegeanstalt durch. Wie schwer das Revisionsgericht sich mit der Aufhebung des ersten Urteils tat, sieht man an den Windungen des tragende Leitsatzes:

»Die Pflicht zur Wahrheitserforschung kann das Gericht ausnahmsweise nötigen, zur Begutachtung einer ganz ungewöhnlichen, nahezu einmaligen sexuellen Triebanomalie des Angeklagten einen weiteren Sachverständigen anzuhören, der über spezielle wissenschaftliche Kenntnisse und Erfahrungen auf dem Gebiet der Sexualforschung und insbesondere der krankhaften Verirrungen des Trieblebens (Psychopathologie der Sexualität) verfügt, auch wenn ein dahingehender Beweisantrag nach § 244 Abs. 4 Satz 2 StPO ohne Rechtsfehler abgelehnt werden könnte.«51

Mit Fragen dieser Art hatte ich mich 1966 im Max-Planck-Institut in Freiburg monatelang beschäftigt und wollte unbedingt bei dem Anwalt arbeiten, der in diesen Fällen verteidigt hatte. Mich interessierte vor allem, wie jemand, der rechtlich so herausfordernde Fälle bewältigte, es gleichzeitig fertig brachte, sich von den Illustrierten halb nackt in der Sauna ablichten zu lassen, und mit fast jedem seiner Fälle durch die yellow press geisterte. Vielleicht konnte ich auch in dieser Hinsicht etwas lernen?

Ich rief an und erhielt einen Termin »um Zehne«. »Ist Herr Bossi dann nicht bei Gericht?«, fragte ich. »22.15 Uhr«, sagte die Sekretärin jetzt in ziseliertem Hochdeutsch. An diese Arbeitszeiten würde ich mich gewöhnen müssen. Als ich ankam, saßen da Wallensteins Truppen am Lagerfeuer. Dicht um die Empfangssekretärin geschart starrten fragwürdige Gestalten auf zwei Fernseher, die unter der Decke hingen: Auf dem einen lief der »Tatort«, auf dem anderen der »Kommissar«, also eine Art Abendgymnasium für Straftäter, verdächtige Personen und ihre Angehörigen. Zwischen ihnen huschten zwei ältere Büroboten mit Waschkörben umher: Darin lagen die Akten, die in dem verschachtelten Büro zwischen drei Stockwerken erst gefunden und dann hin und her getragen werden mussten. »Ich habe um zehn einen Termin«, sagte ich zur Empfangssekretärin, »Des sogt hier ein jeder!«, antwortete sie. Also wartete ich gemeinsam mit den anderen auf die absehbaren Erfolge der Kriminalpolizei. Um Mitternacht wurde mir aber klar, dass dieser Holzfäller keine Zeit hatte, mit jemandem zu sprechen, der ihm helfen wollte, seine Säge zu schärfen.

2.3.8. Otto Gritschneder, ein Anwaltsunternehmer

Zweifellos eine richtige Entscheidung: Als ich eine Woche später im Februar 1972 eine Bewerbung zu Otto Gritschneder schickte, lud er mich gleich für den nächsten Tag zum Weißwurstessen ein. Das war ein Faschingsdienstag, und ich konnte mir schwer vorstellen, wie man an diesem Tag, bei dem das Weißbier bekanntlich schon ab 10 Uhr früh in Strömen fließt, Vorstellungsgespräche führen soll. Das hatte er aber gar nicht vor. Nicht nur hier setzte er sich über alle Regeln hinweg und stellte mich der versammelten Mannschaft, die mir fröhlich zuprostete, als den neuen Anwalt vor (der ich noch gar nicht war), ohne mir auch nur ein Wort über Gehalt, Bedingungen oder Verträge zu sagen. Das tat er auch später nie, denn wie die meisten Anwälte hasste er Verträge. Erst Jahre später habe ich erfahren, warum er mich schon hinter meinem Rücken eingestellt hatte. Otto Gritschneder (59) war ein kämpferischer Katholik – aber nicht nur er! Sein Bruder war Jesuit, der Finanzchef der Südprovinz.

Ich hatte ein recht ordentliches Abiturzeugnis einer Jesuitenschule in Bad Godesberg, und außerdem ist der Heilige Benno52, dessen Statue man am Rathaus findet, der Schutzpatron Bayerns und der Stadt München. Ohne es zu wissen, gehörte ich also zum Club. In München ist das für Anwälte nicht unbedeutend, und Gritschneder brachte es geschickt fertig, sein konservatives politisches Profil, das ihm im Dritten Reich sehr geschadet hatte, für seine Mandate zu nutzen. 1939 hatte man ihn nach dem Examen wegen politischer Unzuverlässigkeit nicht als Anwalt zugelassen und ein Jahr später eingezogen. Nach dem Krieg bekam er als einer der Ersten die Zulassung, die Besatzungsbehörden stellten ihm Büroräume und Telefon zur Verfügung und als Bürovorsteher holte er sich einen braven katholischen Mann, der wie manche seiner Generation zufällig unter die Leute der Waffen-SS geraten war.

Wer bei der Fronleichnamsprozession – einer der ersten Straßendemonstrationen der Gegenreformation – auf den ersten hundert Metern hinter dem Allerheiligsten gehen darf (wie vermutlich Herr Gauweiler), der ist auch heute noch von 20–30 Männern umgeben, denen wesentliche Teile des Immobilienbesitzes im Zentrum Münchens gehören – der Kardinal gehört auch dazu!

Nachdem sich die lockere Runde vom Faschingsdienstag aufgelöst hatte, erinnerte Gritschneder mich an die Frühmesse vom Aschermittwoch. Gleich danach sollte ich ins Büro kommen. Das tat ich (ohne Aschenkreuz) und hatte mich kaum eingerichtet, als ich zu ihm ins Zimmer gerufen wurde. Er signierte gerade seine dreißig Jahre alte Dissertation, überreichte sie mir huldvoll als Antrittsgeschenk und stellte mir die Mandanten vor. Da saßen zwei gleich alt wirkende Personen auf dem Sofa, die sich als Mutter und Sohn herausstellten, Beerdigungsunternehmer waren und wettbewerbsrechtliche Beschwerde über die Berliner Firma Grieneisen führten: Die hatten den Slogan »In Würde Abschied nehmen« zu »von Bürden Abschied nehmen« verändert. Das sei nicht nur eine wettbewerbsrechtlich unlautere Anlehnung, sondern schon wegen der Geschmacklosigkeit der Doppelbedeutung angreifbar. Nun sollte eine Einstweilige Verfügung her. Sowas hatte ich noch nie gemacht und geriet in Panik, als Gritschneder plötzlich aufstand: »Das hier ist der Herr Doktor Heussen, der absolute Spezialist für die kleinen und die hoffnungslosen Fälle«, sagte er, verschwieg damit gleichzeitig, dass ich noch gar nicht Anwalt war, und verließ in seinen Kamelhaarpantoffeln, die er im Büro zu tragen pflegte, grußlos den Raum. Er fühlte sich gelangweilt. Diesen schwarzen Humor, damals schon eine leichte Andeutung von Altersanarchismus, bewundere ich bis heute. Und erst jetzt habe ich herausgefunden, dass er mit seiner Bemerkung Thomas Mann aus seiner Novelle Tristan zitierte: »Übrigens ist, neben Herrn Doktor Leander, noch ein zweiter Arzt vorhanden, für die leichten Fälle und die hoffnungslosen. Aber er heißt Müller und ist überhaupt nicht der Rede wert.« Den zweiten Satz hat er mir erspart.

Gritschneder nahm jeden Fall persönlich an und delegierte ihn an andere Kollegen, wenn er ihn nicht interessierte, aber er kontrollierte alles, was nach außen ging, wenigstens durch seine zweite Unterschrift.

Ich zog mich durch intensives Zuhören aus der Patsche, konnte schnell feststellen, dass die Fristen für eine Einstweilige Verfügung ohnehin verstrichen waren und konnte mir für die Hauptsacheklage genügend Zeit lassen, um Wettbewerbsrecht zu lernen.

Auch darin hatte Gritschneder einen Ruf. Er stand, was die Bandbreiten seiner Interessen anbetrifft, Sieghart Ott in nichts nach. Aber er war zwanzig Jahre älter, führte eines der angesehensten Büros in München (Gritschneder Weber Hahn) und hatte als promovierter Volkswirt eine instinktive Abneigung gegen die Anwaltstätigkeit als l’art pour l’art.

Das merkte man sofort, wenn man einen Blick für Management und Büroorganisation hat, den ich von Ott – wenn auch unter ganz anderen Rahmenbedingungen – mitbrachte. Zunächst fiel mir auf, dass die Hälfte des Büros von Gritschneders Pressedienst besetzt war. Schon 1953 war ihm aufgefallen, dass die meisten Presseberichte über Prozesse inhaltlich falsch waren: Ständig wurde Berufung und Revision verwechselt, keiner konnte Amtsgericht und BGH auseinanderhalten oder die juristischen Fachbegriffe in verständliches Deutsch übersetzen usw. Gritschneder sagte sich: Wenn ich die Fachzeitschriften ohnehin lesen muss, dann kann ich daraus auch kleine Zusammenfassungen schreiben – was ihm leicht fiel – und im Abonnement an Zeitschriften vertreiben. Das war eine ungewöhnliche und sehr erfolgreiche Geschäftsidee, die sich auch heute noch trägt. Er verdiente damit mindestens so viel wie als Anwalt, und jetzt sah man den Anwalt Dr. Klaus Boele, der selbst während seiner Ausbildung im Pressedienst gearbeitet hatte, mit 2–3 Referendaren in den Redaktionsräumen sitzen. Da schrieben sie die abstracts für den STERN, die BUNTE oder »Wild und Hund«. Daneben betrieb Boele andernorts sein eigenes Büro.

Als Herausgeber des Pressedienstes erhielt Gritschneder häufig Mandate aus der Pressewelt. Es gab IBM-Kugelkopfmaschinen und der riesige IBM-Kopierer der Presseagentur wurde auch von den Anwälten benutzt (Synergie-Effekte!) – so dass es dort schon 1972 kein Durchschlagpapier mehr gab. Andere Anwälte haben sich dazu erst zehn Jahre später durchgerungen. Gritschneder dachte – wie Alfred Gleiss in Stuttgart – darüber nach, ein »Haus des Rechts« zu gründen, in dem viele Anwälte und Steuerberater in Bürogemeinschaft gemeinsam auf große Kopierer und Computer zugreifen könnten, die sich jeder Einzelne nicht leisten konnte. Wie das aussehen könnte, war schon jetzt bei ihm zu bewundern: Über jedem Anwaltszimmer war eine rote und eine grüne Lampe angebracht, die man anschalten konnte, um ungestört zu sein – was allerdings nicht für Gritschneder selbst galt, der diese ganze Organisation nur deshalb so perfekt aufgezogen hatte, um sich selbst nicht daran halten zu müssen: Auch bei rotem Licht erschien er, um Arbeit oder Kritik zu verteilen (Lob gab’s wenig). Monika Rampeltshammer, die meine Schriftsätze schrieb, verdiente fast genauso viel wie ich, weil sie nach Anschlägen bezahlt wurde: In ihrer IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine war ein Zähler, so dass sie im Akkord arbeiten konnte. Privatsekretärinnen gab es keine. Die Akten ordnete jeder Anwalt sich selbst und selbstverständlich hat jeder unmittelbar telefoniert und ließ sich nicht gravitätisch von seiner Sekretärin durchstellen, wie es damals bei anderen Anwälten noch die Regel war. Irgendwann war Gritschneder die Idee gekommen, die Corporate Identity dadurch zu verstärken, dass er alle Schriftsätze, Gutachten usw. in einen verstärkten hellgrünen Umschlag mit Firmenlogo usw. steckte, so wie die Notare ihre Urkunden einbanden. Das erhöhte erst einmal die Portokosten und ärgerte vor allem die Gerichte, in deren Akten das nicht passte. Die Gegenanwälte ärgerten sich auch, weil sie diese auffälligen Schriftsätze nun in ihren eigenen Akten herumtragen und an ihre Mandanten weitergeben sollten, ohne etwas Gleichwertiges vorweisen zu können. Wenn Gritschneder solche Kritik hörte, freute er sich heftig, denn wenn über einen gesprochen wird, ist das nie schlecht. An seinen Mandaten konnte man es sehen: Fast alle großen Banken, die damals in München noch Rechtsabteilungen hatten, ließen bei ihm arbeiten, und einige Wochen nach meiner Ankunft war ich in dem Team von Dr. Hahn, der den Flughafen München im Auftrag mehrerer Gemeinden bekämpfte. Von da zog der Meister mich gelegentlich ab ins Baurecht, ins Gesellschaftsrecht oder auch, um ihm in einem Mordfall zu assistieren: Eine Gastwirtin hatte ihren Mann mit dem Küchenmesser abgestochen, nachdem der ihr eine Glastür über den Schädel gezogen hatte – »I hob’ des immer kreisförmig vor mei’m Bauch bewegt und do iss er halt nei’glaffa« –, beide im Vollrausch, sie seit Jahren Mitglied in einer militanten katholischen Frauenvereinigung – Täter wie Opfer alte Mandanten. Erfolg: Freispruch wegen Notwehr.

Er war einer der bekanntesten Anwälte in München, unglaublich vernetzt und enorm stur, wenn es sein musste. Das hat er in seinem Leben – vor allem in der Nazizeit – vielfältig bewiesen. Konsequent wie er war, lehnte er als Katholik Scheidungen grundsätzlich ab, aber verbot auch seinem Sozius Weber nicht, diese Fälle zu betreuen. Das Ergebnis teilte man brüderlich.

Mit etwa sechzig Jahren begann er, die jüngere Geschichte aufzuarbeiten. Wir verdanken ihm nicht nur »Anwaltsgeschichten«53, sondern auch die Darstellung des Hochverratsprozesses gegen Adolf Hitler, des Röhm-Putsches und viele zeitgeschichtliche und juristische Aufsätze54.

Manchmal ging mir durch den Kopf, der Zufall müsste Gritschneder und Ott doch einmal in einer Sache gegeneinanderführen, und ich hätte Gelegenheit zu sehen, wer gewinnt. Natürlich hätte ich auf beide gesetzt! Beide waren große Individualisten, große Kämpfer und große Schriftsteller.

2.3.9. Die anderen Referendare

Ich hatte Gunther Braun zu Gritschneder nachgezogen, wo wir beide im Baurecht, im Bankrecht und im Wettbewerbsrecht arbeiteten. »Partner könnt ihr bei mir nicht werden«, hatte Gritschneder uns beiden unmissverständlich erklärt, »das Büro hier übernehmen meine Söhne«. Er hatte sieben oder acht Kinder, von denen mindestens drei Jura studierten, da gab es also keine Chancen. Justin hatte es wegen seiner steuerrechtlichen Spezialisierung zunächst bei Strobl Killius Vorbrugg versucht, einer der führenden Sozietäten im internationalen Wirtschafts- und Steuerrecht, wo er aber trotz seiner amerikanischen Wahlstation eher misstrauisch betrachtet wurde: Referendare suchte man sich bei den fünf oder sechs ersten Adressen Münchens immer mit spitzen Fingern aus. Man hatte sie auch gar nicht nötig, denn das größte Büro (Oehl Nörr Stiefenhofer) hatte vielleicht zwölf Anwälte und alle 3–4 Jahre kam mal einer dazu. Die Mandate waren schon seit den Fünfzigerjahren verteilt, woher sollte Wachstum kommen? Auch bei den führenden Büros gab es mit Ausnahme des Steuerrechts (damals die einzige Fachanwaltschaft) keine besonderen Spezialisierungen. Jeder Anwalt war »auf das spezialisiert, was dem Mandanten gerade Sorgen machte«, wie manche Kollegen mit ironischer Selbsterkenntnis sagten, aber daran konnten sie auch nicht viel ändern: Jede Art von Werbung war verboten, Unternehmensmandate wurden nahezu nur auf persönliche Empfehlungen zwischen Managern oder Rechtsabteilungen erteilt, und man musste den langen dornenreichen Weg durch alle möglichen Industrieclubs, Tennisvereine (Golf gab’s noch nicht), kirchliche Kongregationen oder sonstige Netzwerke gehen, bevor man die Chance hatte, an die richtigen Adressen zu kommen. Im Grunde war es gleich, in welchem Büro man arbeitete, denn mit wenigen Ausnahmen machten alle alles, und die jungen Anwälte bekamen logischerweise den letzten Dreck auf den Tisch, wenn sich nicht ausnahmsweise einmal ein Chef für die Sache interessierte.

Justin von Kessel hatte nach seinen ersten Gesprächen einen interessanten Job bei Dr. Walter Offinger gefunden. Das war eines der wenigen Büros, die eine klare Ausrichtung auf das öffentliche Planungsrecht, das Baurecht und die damit verbundenen steuerlichen Fragen hatten. Neben dem Chef gab es noch drei angestellte Anwälte und offenbar keinerlei Neigung, einen von ihnen zum Partner zu machen. Die meisten würden sich nach sieben oder acht Jahren, wenn sie genügend Erfahrung gesammelt hatten, selbstständig machen. Da die Chefs das wussten, saßen sie breit auf allen Mandaten und versuchten, jeden direkten Kontakt der jüngeren Leute zu den Entscheidungsträgern zu verhindern.

Eberhard Gloning arbeitete bei Bossi. Er hatte die Nerven gehabt, es noch bis weit nach Mitternacht auszuhalten, und den Job bekommen, den ich verschmäht hatte. Ob er da hätte Partner werden können? Das stand in den Sternen.

3. 1973 – 1991, München

3.1. Anfänger

Benno Heussen Gunther Braun Justin von Kessel Reiner Ponschab
Benno Heussen, Gunther Braun, Justin von Kessel, Reiner Ponschab

»Alles kann ein geistvoller Mensch ersetzen, nur nicht die Erfahrung.«
Fürst Metternich (1773 – 1831)

3.1.1. In der Warteschleife

Der schriftliche Teil des Assessorexamens war für uns alle ein großer Erfolg: Wir hatten nicht nur die Ministerialnoten, sondern hätten auch Notare werden können. Mich hat es da nie hingezogen, denn ich war bei einem Onkel aufgewachsen, der im Rheinland ein Notariat führte. Heute kann man sich schwer vorstellen, dass es damals auch arme Notare gab. Wenn er in der Nachkriegszeit die Testamente der Bauern aufnahm, die es nicht mehr zu ihm ins Büro schafften, packte er sich seine Schreibmaschine in den Rucksack und fuhr mit dem Rad durch die Weinberge. Außer seinem »Bürovorsteher« hatte er sonst keine Mitarbeiter. Wenn mir langweilig war, kroch ich unter seinen Schreibtisch und kaute an den Oblaten, mit denen er seine Urkunden verklebte. Das alles wirkte ziemlich trübsinnig. Wir hatten anderes vor. Aber was?

Zum Brainstorming saßen wir häufig in der Rheinpfalz55, einer Schwabinger Kneipe unweit der Universität, die man hoffentlich bald unter Denkmalschutz stellt, denn wenn Hans Karp aufhört, wird renoviert und dann ist die Rheinpfalz nicht mehr zu retten. Der Wirt hatte vor Urzeiten mal Betriebswirtschaft studiert, sich dann aber mehr für Jazz interessiert. Auch heute hat er noch seine Trompete griffbereit, falls die Gäste Lust auf eine Jam Session haben, die Köchin Barbara kommt aus der Politologie und Klaus, der Kellner, spielt zwar nicht Gitarre, sieht aber aus wie Mick Jagger. An der Wand hängt auch heute noch ein Kunstwerk aus Underberg-Flaschen. So im Stil von Daniel Spoerris EAT-ART. Das, die Musik und die Wiener Schnitzel haben nicht nur uns, sondern auch viele Leute aus der Kunstakademie angezogen.

3.1.2. Eine alternativlose Entscheidung

Jeder von uns hatte sich bei den Rechtsabteilungen der großen Versicherungen, die es in München gibt, bei Siemens oder auch bei mittelgroßen Unternehmen umgesehen. Da gab es nichts, und man musste nur regelmäßig die Neue Juristische Wochenschrift aufschlagen, um zu sehen, dass auch dort keine Stellenanzeigen für Juristen zu finden waren. Die dicke Frankfurter Allgemeine oder die Süddeutsche boten eine Reihe Jobs für Betriebswirte, Mathematiker und Manager, aber die wenigen Planstellen für Juristen wurden unter der Hand vergeben. Blindbewerbungen waren vollkommen unüblich, Headhunter gab es keine und über die Möglichkeit wissenschaftlicher Arbeit hat keiner von uns ernsthaft nachgedacht.

Also: Was sollten wir tun? Aus Bayern auswandern? In anderen deutschen Städten waren wir genauso wenig zuhause. Hätte es in Hamburg, Düsseldorf oder Frankfurt bessere Aussichten gegeben, hätte man Anzeigen in der NJW finden müssen. Da war aber nichts. Von Berlin ganz zu schweigen – die Stadt hatte gerade 800 Anwälte, und wie ich von meinem Freund Michael Ruland, der dort geblieben war, wusste, waren die so unterbeschäftigt, dass die Notare nebenbei Kleinkriminelle verteidigten, weil sie sonst zu wenig zu tun gehabt hätten. Es gab in Deutschland damals etwa 28.000 Anwälte (heute sind es etwa 160.000), aber der Markt war geradezu versteinert. Raus aus Deutschland? Das erschien in jeder Hinsicht unmöglich.

Zwei Wochen später. Es war Sonntag. In den vergangenen drei Jahren hatten wir gelernt, dass der Markt zwar unbeweglich war, aber die Eintrittsschwelle sehr niedrig. Also fragte ich an einem dieser Abende die anderen: »Warum machen wir uns nicht selbstständig?«. Bedeutungsvolles Schweigen in der Rheinpfalz. Keiner von uns kam aus München oder auch nur aus Bayern, alles Einwanderer. »Fremd ist der Fremde nur in der Fremde«, tröstete Karl Valentin, aber es kam noch schlimmer: Keiner von uns stammte aus einer Anwaltsfamilie. »Anwalt wird man nicht, Anwalt hält man sich!«, hatte Justins Großvater bei Gelegenheiten gesagt, als die Frage auf die Berufswahl kam. Das war schon gefährlich nahe an dem bekannten amerikanischen Spruch, dass Anwälte »one degree below prostitutes«56 rangieren.

In der Rheinpfalz tobte der Jazz. Wir dachten an andere Bands, die Toten Hosen, die Ärzte, meistens vier Leute (!): Die hatten es ja auch in die Charts geschafft. Also: »Warum nicht – was haben wir zu verlieren?« So fingen wir noch als Referendare am 15. April 1973 mit einer Einlage von 1000 DM an, die jeder in die Barkasse einzahlte. Am 16. April wurden Briefmarken für 16 DM gekauft sowie ein Stempelkissen für 5,80 DM (Kaufhof). Die größte Investition erfolgte am 7. Mai: zwei Diktiergeräte für insgesamt DM 1112,22. Zehn Tage später setzten wir uns im Kloster Andechs zusammen und unterzeichneten – noch ohne Anwälte zu sein – einen Sozietätsvertrag, um uns gegenseitig zu versichern, dass wir es ernst meinen. Laufzeit vorerst bis 15. Mai 1976. Wenn wir bis dahin nicht das Gehalt eines Richters beim Landgericht erreicht hätten, wollten wir das Experiment beenden.

Charts oder Rankings für Anwälte, wie sie heute selbstverständlich geworden sind, gab es damals noch nicht. Sie hätten uns gezeigt, wie weit der Abstand zwischen einer Sozietät, die es schon seit mehreren Generationen gibt, und unserem Start-up tatsächlich war. Aber wir sahen nur unseren Briefkopf, auf dem fünf Anwälte waren, und sehr viel mehr fand man 1973 auf anderen Briefköpfen in München auch nicht. Der fünfte Anwalt war mein Schwiegervater, der als Anwalt zugelassen war, aber nicht praktizierte. Er stellte uns vorübergehend seine Büroadresse zur Verfügung, denn er fand es spannender, als Stahlhändler im Ruhrgebiet und im Ostblock tätig zu sein. Als sein oberlandesgerichtlich bestellter Vertreter war ich auch in seine Haftpflichtversicherung eingeschlossen, und das war ein Glück, denn kurz danach ist mir – noch bevor ich überhaupt Anwalt war – der erste (und einzige) Haftpflichtfall gelungen: Das Grundstück eines Architekten war enteignet worden, weil ihm die Höhe der Entschädigungssumme zu gering schien, und dagegen war er vorgegangen. Solche »Baulandsachen« wurden vor den Zivilgerichten geführt, aber damals nicht von Anwalt zu Anwalt, sondern nur von Amts wegen zugestellt. Das war mir im Eifer des Gefechts entgangen und ich hatte die Berufungsfrist verpasst. Den Schaden von 50.000 DM hat die Allianz klaglos übernommen und für mich war das ein Warnschuss vor den Bug. Er hat dazu geführt, dass wir vom ersten Tag an detaillierte Organisationsanweisungen verwendeten, die sich vor allem mit den Fristenproblemen beschäftigten.

3.1.3. Der Zauber des Anfangs

Dann endlich die ersehnte Zulassung: Ende September/Anfang Oktober bezahlten wir jeweils 40 DM dafür und schon am 12. Oktober wurde die erste Rechnung bezahlt: 144 DM. Mandat Nr. 1 im Register war eine Oktoberfestschlägerei: Karl-Heinz Rieble, ein entfernter Verwandter aus dem Schwäbischen, wurde von Max Hintermoser im Schottenhamelzelt ein Bierkrug über den Schädel geschlagen. Man hätte diesen Fall erfinden müssen, aber es ist wirklich so gewesen.

Nach wie vor arbeitete jeder von uns tagsüber in den Sozietäten, in denen wir schon als Referendare beschäftigt waren. Roben brauchten wir keine, denn die hatten wir in den Büros, in denen wir tagsüber arbeiteten. Die haben wir für unsere eigenen Fälle einfach ausgeliehen. Wir arbeiteten alle parallel dort weiter, wo wir angestellt waren, sonst hätten wir nichts zu essen gehabt und schon gar kein Geld, um das Büro zu finanzieren. Unsere Chefs interessierten sich für diese Konkurrenz nicht, die ihnen nicht gefährlich werden konnte. Gritschneder sagte mir ausdrücklich: »Sehen Sie sich nur fleißig um, denn bald macht mein Sohn Examen, dann geht’s hier nicht weiter.« Und als Starthilfe verkaufte er uns eine seiner alten IBM-Kugelkopf-Schreibmaschinen (mit Anschlagzähler) zum Buchwert von 600 DM.

Junge Anwälte brauchen als einziges Kapital Neugier und Furcht. Auch unser erstes Kind war neugierig auf die Welt. Anfang Mai brachte ich morgens um sechs meine Frau in die Entbindungsstation, um gleich danach in Richtung Amtsgericht zu verschwinden: drei Termine, die ich keinem anderen aufladen konnte! Rechtzeitig zur Geburt meiner ersten Tochter Mirjam kam ich um elf Uhr wieder in der Klinik an und verschwand um zwölf zur Verhandlung einer Einstweiligen Verfügung im Landgericht. Multitasking – darauf war ich noch stolz! Bei meiner zweiten Tochter Nina (1975) habe ich mir einen halben Tag frei genommen.

3.1.4. Mut zum Risiko

Wir lebten von der Hand in den Mund. Nur wenige Leute wissen, dass auch Anwälte, die sehr viel zu tun haben, nie mehr als zwei Monate Arbeit auf dem Schreibtisch haben. Dieses Bewusstsein verliert man sein ganzes Berufsleben lang nicht. Vielleicht werden Anwälte deshalb selten insolvent. So etwas geschieht nur, wenn sie sich im Privatvermögen verspekuliert haben, aber nicht, weil ihnen die Arbeit ausgeht. In einigen Büros gibt es laufende Beraterverträge, aber das ist keine Selbstverständlichkeit. Bei Wirtschaftsprüfern ist die Lage erheblich besser: Ihre Mandate laufen im 5-Jahres-Turnus und so können sie entsprechend langfristig planen. Die Steuerberater sind zwar nicht in ähnlicher Weise abgesichert, aber behalten die einmal akquirierten Mandate erheblich länger als Anwälte – deshalb sind ihre Büros auch doppelt so viel wert wie unsere.

Schon im ersten Jahr konnten wir immerhin fast die Kosten bezahlen: Ende 1973 betrug der Gesamtumsatz 13.000 DM. Ausgaben: 15.000 DM.

Darüber waren wir so begeistert, dass wir Ralph Reithmann, einen jungen Architekten, ins Rolandseck einluden. Er war bei Prof. Gollwitzer tätig und fuhr in der ganzen Welt umher (Flachglasfabrik in Brasilien usw.). Der könnte uns vielleicht zu größeren Mandaten verhelfen. Rechnung: 144,80 DM. Fürs Erste also ein Verlustgeschäft. Aber in den nächsten 20 Jahren zeigte sich der für manche Anwälte nicht leicht erkennbare Unterschied zwischen Investitionen und Kosten: Von Gollwitzer kam zwar nichts, aber da Ralph sich bald danach auch selbstständig machte und wir einen Schwerpunkt im Baurecht hatten, entwickelte sich eine ganze Reihe von Synergieeffekten, die uns sehr geholfen haben.

Bis zu solchen Mandaten sollten aber Jahre vergehen, denn vorher lagen ganz andere Sachen auf unserem Tisch. Einen dieser Fälle hatte Sieghart Ott mir überlassen. Er war im Armenrecht zu führen: Ein Schankkellner verdächtigte seine Mutter, dessen Testament zu ihren Gunsten gefälscht zu haben, um den Sohn zu enterben, dem der Vater das Geschäft versprochen hatte. Das Tragische war: Eigentlich wollte der Sohn viel lieber Zirkusartist werden, aber dann hat er sich in sein Schicksal gefügt. Am Stammtisch saß ein Kriminalbeamter, dem er eines Tages sein Leid klagte. Dem zeigte er das Testament, brachte andere Dokumente zum Vergleich, und ich stützte die Klage auf ein unbestrittenes Gutachten, dass das Testament nicht vom Vater stammen konnte. Im Gericht saß mir gegenüber Dr. Alfred Stiefenhofer. Er vertrat die Gastwirtin. Die hatte zwar das Geld aus der Erbschaft, aber so einen Fall würde die Sozietät Noerr Stiefenhofer heute nicht mehr mit der Feuerzange anfassen. Damals entwickelte sich bei mir der Gedanke: Wenn du solche Fälle auch beim Noerr bearbeiten musst, kannst du dich auch gleich selbstständig machen.

Der Fall zog sich, ich führte ihn in unserem eigenen Büro weiter und gewann in drei Jahren beide Instanzen. Stiefenhofer ging in die Revision. Der Bundesgerichtshof wies sie zurück. Mit meinem Antrag auf Haftbefehl für die Abgabe der Eidesstattlichen Versicherung bin ich gescheitert, weil die Schuldnerin ständig Arztatteste vorlegte, die ihr bescheinigten, sie sei gesundheitlich nicht in der Lage, das Nachlassverzeichnis aufzustellen. Das war ungefähr acht Jahre später und die ganze Zeit standen Mutter und Sohn gemeinsam hinter der Theke. Dr. Stiefenhofer war nach so langer Zeit auch nicht mehr so recht bei der Sache. Wenn ich ihn irgendwann einmal zu erreichen suchte, kam meist die Antwort, er befinde sich »im außereuropäischen Ausland«. Da auf dem Briefkopf der Sozietät unter anderem ein Bankkonto irgendwo in Afrika angegeben war, war er vermutlich da unten oder auf Tristan da Cunha – im europäischen Ausland hätte er vielleicht noch reagieren können. Der Sohn hat mir dann das vom Staat bezahlte Mandat wegen erwiesener Unfähigkeit entzogen.

So lernte ich sehr früh, dass Anwälte im Zentrum von Aggressionen, Widerspruch, Kritik und Zorn stehen, eine Arbeitswelt, in der man ständig vom Stress umgeben ist und trotzdem seine Gefühle im Zaum halten muss. Der Ausgleich besteht aus einem einzigen Punkt: Wir sind die Steuerleute, die das Schiff auf Kurs halten, auch wenn der Kapitän zusammengebrochen in der Kajüte liegt. Politiker, die in einem ähnlichen Umfeld arbeiten, vermissen diesen Ausgleich und lassen sich daher allzu oft gehen.

In allgemeinen Sachen hatte ich seit 1970 genug Erfahrung, und so wurde ich übermütig: »Wenn es dem Esel zu wohl wird, geht er aufs Eis«, wie meine Großmutter zu sagen pflegte. Ich startete den ersten und einzigen Prozess, den ich je für mich selbst angestrengt habe, und er endete so, wie Sieghart Ott es prophezeit hatte – negativ. Der Anlass war trivial: Als wir aus unserer winzigen Zweizimmerbude in Schwabing (Sisalteppiche und Regale aus Backsteinen) ins Olympische Dorf umzogen, erschien der Vermieter, ein Professor Dr. Ing. Dr. med., der Dutzende Häuser besaß, höchstpersönlich in Begleitung seines Architekten und seiner Anwältin, um die Wohnung abzunehmen. Es wurden vier Dübellöcher in den Kacheln festgestellt. Für die sollte ich nun bluten. Mir ging das nicht ein, denn die waren schon vorher da gewesen, und ich klagte auf Rückgabe der vollen Kaution. Man hält es nicht für möglich: Diesen Prozess habe ich verloren, denn es gab weder das AGB-Gesetz noch die heute äußerst differenzierte Rechtsprechung zu der Frage, ob man Dübel grundsätzlich nur zwischen den Kacheln bohren darf, oder es wegen des »vertragsgemäßen Gebrauches« ausnahmsweise auch mal in den Kacheln erlaubt ist57. Ich schwor mir, nie wieder in eigener Sache zu prozessieren. Dass man als Anwalt hin und wieder verklagt wird, ist wohl unvermeidbar, aber was Aktivprozesse betrifft, sollte man seinen Mandanten mit gutem Beispiel vorangehen. Ich habe deshalb auch nie einen Honorarprozess geführt.

Mit der Zeit kam ungefähr jede Woche ein weiterer Fall herein. Irgendeinen Verkehrsunfall gibt es immer in der Familie oder der Bekanntschaft und irgendwer lässt sich scheiden. So verdienten wir wie die meisten Anwälte, die anfangen, unser erstes Geld mit »Blech und Liebe«.

Mitte 1974 konnten wir in der Nussbaumstraße am Sendlinger-Tor-Platz ein kleines Büro mit drei Zimmern mieten: Zwei Anwälte teilten sich einen Raum und ein Zimmer war das Sekretariat, in dem allerdings keine Sekretärin saß. Rüdiger Greb, ein alter Freund, der auch Anwalt geworden war, verfolgte unseren Start mit freundlichem Interesse. Er hatte mit uns Examen gemacht, wechselte dann ins Management und ist später lange Jahre unser Mandant gewesen. Er empfahl uns Ulrike Leib, eine Medizinstudentin, die nachmittags 2–3 Stunden vorbeikam, um das Notwendige zu organisieren. Sie machte ihr Praktikum bei den Geisteskranken im Klinikum auf der anderen Straßenseite. Vermutlich ist sie manchmal vom Regen in die Traufe gefallen, denn wenn wir nach 17 Uhr aus den jeweiligen Büros in unser eigenes kamen und uns gegenseitig andiktierten wie die Teufel, war vor 21 Uhr abends keine Ruhe. Am Freitagabend: Rheinpfalz.

Keiner von uns konnte sich vorstellen, durch welchen Sumpf von Kleinstmandaten wir in den nächsten drei Jahren würden waten müssen, um zu vermeiden, Notare, Beamte oder Richter zu werden. Tatsächlich gab es Laufkunden, also Leute, die beim Anblick eines Anwaltsschildes entdecken, dass sie ein Rechtsproblem haben. Das können auch nette Leute sein, wie Fredrik Vester58, dessen Büro gleich nebenan lag, ein berühmter Theoretiker des Netzwerkdenkens, der sich bis dahin mit seinem urheberrechtlichen Fragen immer selbst beschäftigt hatte. Seine Bücher haben mir unschätzbare Anregungen für Vertragsverhandlungen gegeben.

Einen Stock höher finden wir den Feinkostvertrieb Schlemmermeyer, gegründet von einem Ingenieur, der noch mal etwas anderes machen will. Ein erster Vorläufer von Slow Food, mit seinen Imbissständen aber umstritten, wie man einer Notiz im Internet vom September 2010 entnehmen kann: »Also es ist schon bezeichnend, dass so ein bekannter ›Nobelmetzger‹ keine persönliche Internetseite hat!! Ich habe heute 1 fingerdicke Scheibe Leberkäse (ohne Brötchen), 1 (angebliche) Käsegreiner 1,65 € ohne Brötchen … habe das 35 ct Pappbrötchen gegen eine teueres Krustenbrötchen getauscht und 4 1/2 Handteller große Krusten 4 mm dick für insgesamt 8,35 € sprich über 16 DM gekauft … Der Käsekrainer war OHNE Käse und die Krusten waren verbrannt, salzig und bitter!!! sozusagen ungeniessbar.« Solche Schmähkritik bekämpft Schlemmermeyer mit anderen Anwälten, aber wenn seine Mitarbeiter mal Probleme mit Verkehrsunfällen und Scheidungen (»Blech und Liebe«) haben, gehen sie einfach einen Stock tiefer.

Ein Kunstschreiner, der Saunas baut, spaziert nach dem Essen am Sendlinger-Tor-Platz die Nussbaumstraße herunter und erinnert sich, dass er von einem Kunden noch Geld bekommt. Wir sehen seine Buchhaltung durch und finden zwanzig vergleichbare Fälle. Und schließlich kommt der Chefarzt eines Klinikums, lässt sich seine Privatrechnungen beitreiben, freut sich über den individuellen Service, den er so noch nie erlebt hat, und empfiehlt uns seinen Kollegen. Später haben wir ihn steuerlich beraten. Daneben hatte ich bei Gritschneder volles Programm.

Die Akten häuften sich, wir brauchten größere Schreibtische und die waren sehr teuer. Ein befreundeter Architekt kam auf eine gute Idee: Türblätter aus dem Baumarkt mit Leder überziehen und auf Messingkufen stellen (600 DM). Die habe ich ihm entworfen (mein Vater war Architekt) und an diesem Schreibtisch arbeite ich gerade jetzt.

Auch die wenigen anderen jungen Kollegen, die sich selbstständig gemacht hatten, hatten zu kämpfen – mit einer Ausnahme: Theodor von Listenbrink, ein junger Anwalt, den ich schon in Berlin in seinem Sportwagen zur Universität hatte fahren sehen, mietete sich eine kleine Zimmerflucht an der Maximilianstraße und eröffnete mit einer riesigen Party. Wer da eingeladen war, konnte in den Waschräumen richtige goldene Wasserhähne bewundern. Sehr lange konnte er das nicht genießen. Nach kurzer Zeit zog ihn einer seiner Mandanten in eine Betrugssache hinein und er verlor die Zulassung.

Da wir viele jüngere Anwälte aus den großen Münchner Büros kannten, kamen auch von ihnen gelegentliche Empfehlungen, vor allem in Scheidungssachen – Gunther Brauns Spezialgebiet. »Ich schick dir da mal einen, wenn’st ihn haben willst«, sagte Harald Eschenlohr am Telefon, und wer da erschien, war eine graue gedrückte Gestalt, die offensichtlich nicht ins Büro von Ott Weiss Eschenlohr passte. Stanislaus Dewere (67) wollte sich von seiner ebenso kleinen grauen Frau scheiden lassen (denn die hatte einen Liebhaber), und die Scheidung wurde mit kleinem Honorar durchgewinkt. Kurz danach rief er eines Tages wieder an: »Ich hab’ da Geld bekommen und den Banken trau’ ich nicht: was soll ich jetzt machen?« Eine volle Million war es, die er im Lotto gewonnen hatte. »Ich will auch so ein Auto wie Sie – nur in Rot!«, sagte er zu Gunther. Der packte ihn in seinen alten Porsche, den er schon seit Studentenzeiten hatte, und fuhr mit ihm zum Porschehändler MAHAG. Stanislaus zahlte cash und jagte sein neues Auto noch auf dem Hof im ersten Gang mit 5000 Umdrehungen gegen die Wand, weil er die Bremse nicht fand. Danach hatte er Spaß an dem Auto und einigen guten Ratschlägen, wo man Ferien macht, dass man auf Kreuzfahrten einen Smoking braucht, wenn man am Tisch des Kapitäns sitzen will, und wie man aufpassen muss, dass man nicht allzu schnell wieder verheiratet ist, sobald die Kontoverhältnisse offenkundig werden. Harald Eschenlohrs Mandanten hätte man all das nicht mehr erklären müssen.

Wenige Monate, nachdem wir die Nussbaumstraße bezogen hatten, kündigte Justin als Erster bei Offinger, um allein unser Büro zu führen, Gunter und ich folgten im Abstand von je einem halben Jahr. Gritschneder hatte nichts dagegen, dass zwei Bauträger, die wir allein bearbeitet hatten, mit uns gingen, denn ihm lag mehr am Bank- und Presserecht. Ende 1975 arbeiteten wir alle vier nur noch im eigenen Büro.

3.1.5. Gemütliche Gerichte

Routine kam auf: Jeden Tag 3–4 Gerichtstermine, auf denen man z. B. immer wieder dem braven Kollegen Amesmaier begegnete, dessen Tagesablauf daraus bestand, mit 15–20 Akten des Bayerischen Brauereiverbandes von einem Sitzungssaal in den anderen zu ziehen: Da hatten die Gastwirte ihre Beiträge vergessen, und nun mussten die Versäumnisurteile her. Geschrieben wurde da nichts. Danach Weißbier.

Manchmal fragte ich mich, wo die 3.000 Anwälte wohl sein mochten, die in München zugelassen waren (heute sind es 20.000). Beim Amtsgericht und in beiden Landgerichten (für Stadt und Land) traf man regelmäßig dieselben Kollegen, kaum mehr als hundert. Natürlich gab es noch das Arbeitsgericht und die Strafgerichte, aber schon damals lag die Dunkelziffer der Anwälte, die ihre Zulassung nur wegen des Titels aufrechterhielten, bei mindestens 30 %.

Bis zu einer der typischen Justizreformen, die mit dem Ziel der Beschleunigung überall Sand ins Getriebe werfen, terminierten die Gerichte alle ihre Sachen auf 8 Uhr (Amtsgericht) oder 9 Uhr (Landgericht) als Sammeltermine: 20–30 Sachen wurden auf dieselbe Uhrzeit angesetzt, und wer zuerst kam, trug sich bei einer vor dem Saal sitzenden Dame in eine Liste ein und ging dann zu anderen Gerichtssälen, um sich so seinen Rang zu sichern. Wenn auch »der Herr Gegenkollege« erschienen war, wurde die Sache dem Richter vorgelegt. Mitglieder der Anwaltskammer hatten Vortritt. Die Wartezeiten waren unglaublich, wer keine Zeit verlieren wollte, musste sich Fachzeitschriften zum Lesen mitnehmen oder mit dem Kollegen plaudern. Da traf man z. B. Christian Ude, damals ein Mietrechtsanwalt, oder in späteren Jahren im Strafgericht Jerzy Montag, ohne zu ahnen, dass aus ihnen berühmte Politiker werden würden. Montags Plädoyers – vor allem in Betäubungsmittelsachen – waren allerdings schon damals so berühmt, dass junge Anwälte sich hinten in die Sitzungssäle setzten, um etwas zu lernen. Andere Strafverteidiger konnten – einzig mit »Büchmanns Geflügelten Worten« bewaffnet – nur irgendwelche Invektiven in den Raum schleudern: »Wo das Aas liegt, sammeln sich die Geier!« Wenn Montag sprach, erlebte man chirurgische Operationen, bei denen die Anklage in alle ihre Bestandteile zerlegt wurde, beleuchtet von emotionalen Lichtsplittern.

Anders als in Norddeutschland oder in Berlin gab man die Akten nicht ins »Kartell« (die Wartezimmer der Anwälte), wo ein Kollege sich der Sache ein bisschen lustlos anzunehmen pflegte. Das Ganze war ziemlich gemütlich, in den Pausen traf man sich in der Kantine, die anwaltlichen Sprechzeiten begannen um 16 Uhr und die Sekretärinnen hatten Zeit zum Trödeln. Da ist heute weit mehr Zug drin. Wenn ich nach einem solchen Tag zurück ins Büro kam, begrüßte mich an der Tür schon Gunthers Labrador, der geduldet, aber auch beschimpft wurde, wenn er wieder in die Vorhänge gepinkelt hatte. Babys und Kleinkinder tauchten auf, wenn die Mütter zum Einkaufen gingen, und wurden mit Buntstiften beschäftigt. Auch Hände und Gesichter fotokopieren (Augen schließen!) ist eine aufregende Erfahrung.

3.1.6. Ein erstaunlicher Beauty-Contest

Wenn wir zwischen 17 Uhr und 18 Uhr im Büro angekommen waren, besprachen wir erst die eingegangene Post. Im März 1974 fanden wir alle vier den gleichen Brief eines Factoring-Unternehmens aus Holland, deren deutsche Niederlassung Anwälte suchte. »Da Sie erst kürzlich zugelassen worden sind, werden sie vermutlich Kapazitäten für uns haben« stand in dem Brief, und warum die Firma sich nicht für die Kenntnisse der jungen Anwälte interessierte, stellte sich bald heraus. Wir vereinbarten einen Termin, und es erschien der Leiter der Vollstreckungsabteilung, ein unscheinbarer junger Mann unseres Alters, der 120 schmale Akten in seinem Koffer hatte – frische Beitreibungsfälle. »Wir haben schon eine Sozietät in München, die für uns tätig ist, aber wir wollen die Arbeitslast lieber auf zwei Schultern verteilen – unser Geschäft wächst ständig. Auf unseren Brief haben dreißig Rechtsanwälte geantwortet«, sagte er, »jeder Anwalt hat dreißig Akten bekommen und hier sind ihre Vollmachten. Bitte überweisen Sie mir einfach alles, was bei Ihnen eingeht, ihre Kosten dürfen Sie natürlich abziehen. Wenn Widersprüche eingehen, werden wir uns wieder melden, im übrigen möchten wir nichts von Ihnen hören. Der Anwalt, der uns nach Ablauf der Frist das meiste Geld geschickt hat, bekommt ein Dauermandat für die nächsten fünf Jahre.« Im Grunde eine geniale Idee, die mich an einen der Kernsätze der Heeresdienstvorschrift erinnerte: »Wer schneller schießt und besser trifft, bleibt Sieger.« Heute sind wir solche Pitches und Ausschreibungen gewöhnt, aber damals war das eine ganz ungewöhnliche und – wie man sehen wird – für beide Seiten erfolgreiche Idee.

Wir schnappten uns jeder 30 Akten, tippten die Mahnbescheide und reagierten auf Zuschriften oder gerichtliche Anforderungen am gleichen Tag. Da die Bankkonten der Kunden bekannt waren, konnten wir nach Zugang des Vollstreckungsbescheides sofort eine Vorpfändung erwirken, was wegen des Aufwandes in keinem Inkassobüro gemacht wird. Auf den Konten war zwar kein Geld, aber die meisten Schuldner reagierten und boten Teilzahlungen an. Ich wusste aus meiner Tätigkeit bei Ott, der die Kundenkreditbank vertrat, dass die Sachpfändung im Allgemeinen nichts bringt, und man bei wichtigen Fällen persönliche Beziehungen zum Gerichtsvollzieher aufbauen muss. Hier war jeder Fall wichtig. Bei Schuldnern aus München riefen wir den zuständigen Gerichtsvollzieher an, der sofort sagen konnte, ob der Schuldner zu seinen Dauerkunden gehörte. Da hatte man die Chance, einen Nachtzeitbeschluss zu erwirken, und das geht so: Sobald das Gericht ihn erlassen hat, verabredet man sich mit dem Gerichtsvollzieher, der oft weiß, wo der Schuldner sich herumtreibt (meistens in seiner Stammkneipe), und dann macht er dort eine Taschenpfändung oder klebt einen Kuckuck auf den Mercedes-S-Klasse. Rechtlich bringt das nichts, weil das Auto dem Schuldner meistens nicht gehört, aber es sieht scheiße aus und bringt die Dinge in Bewegung. Vor allem in der Rotlichtszene erzielt man so kurzfristige Erfolge! Ende September hatten wir ungefähr 35 % der Forderungen realisiert – das war die beste Quote und wie zugesagt erhielten wir das folgende Dauermandat. Jetzt erfuhren wir, dass der andere Teil des Mandats von Ernst-Peter Sachse (Sachse & Fahr-Becker) betreut wurde. Er kam freundlich auf uns zu, erklärte uns viele Details aus der Erfahrung der vergangenen Jahre, und wir beschlossen, auch künftig unser Know-how auszutauschen.

Für uns war dieses Mandat das ideale Bread-and-butter-Geschäft für den Anfang. Als Erstes verklagten wir noch zwei Kollegen, die das Fremdgeld unterschlagen hatten und daraufhin ihre neuen Zulassungen wieder zurückgeben mussten.

Der Mandant, der am Anfang eher lässig auftrat, erwies sich in der Zusammenarbeit als äußerst fordernd. Er wollte Statistiken, die er in seine EDV übernehmen konnte, die mussten wir zunächst mit der Hand erstellen, bis wir selbst EDV einsetzen konnten. Die Mahnbescheide aber sind schon Anfang 1975 nur noch mit Schreibautomaten gemacht worden – den ersten Vorformen der Computer, die noch mit Lochkarten arbeiteten.

Als Nächstes folgten die Automatisierung der Klagebegründung und weitere Schriftsätze, wir lernten, mit Textbausteinen zu arbeiten, und all das ermutigte uns, auch in anderen Branchen nach Vollstreckungsaufträgen durch größere Mandanten Ausschau zu halten.

3.1.7. Spezialisierung, Methode, Schnelligkeit

Die Fülle gleich gelagerter Mandate hatte automatisch zur Folge, dass wir uns jedenfalls auf die Probleme dieses Mandanten spezialisierten. Viele Anwälte verstehen darunter besondere Rechtskenntnisse, aber der eigentliche Kern der Spezialisierung besteht im Verständnis der Geschäftsmodelle, die ein Mandant entwickelt und die seine rechtlichen Probleme kennzeichnen. Fälle, die man selten zu sehen bekommt, lassen einen unsicher werden. Irgendwann kam Gunther Braun auf die Idee, einen »Verein der Pressegeschädigten« rechtlich zu begleiten – damals wie heute eine interessante Idee. Allerdings werden viele Pressegeschädigten nicht ganz ohne Grund in der Presse niedergemacht, und man stellt schnell fest, dass man bald ihr nächstes Opfer wird: »Der größte Feind des Anwalts ist der Mandant!« – wie man in Frankreich sagt. Aus solchen Sackgassen muss man sich früh genug befreien. Wir fingen schon nach fünf Jahren an – von einigen Rückfällen abgesehen –, allzu exotische Gebiete auszusondern. Wehrdienstverweigerer schickten wir zu Jürgen Arnold, das öffentliche Dienstrecht zu Gerd Tersteegen, das Ausländerrecht zu Friedrich Schikora usw. Aus diesen ersten Anfängen ist eine Korrespondenzanwaltsliste geworden, die in Deutschland über 400 Kollegen und im Ausland noch einmal gut 100 Büros umfasst.

Schon unser erstes Massenmandat erzwang einen Blick für Strukturierung. Der Zahlungsbefehl (später: Mahnbescheid) wurde auf einem amtlichen Formular verlangt, alles, was danach geschah, konnte man mehr oder weniger frei formulieren. Einige Verlage boten Formulare an, aber viele Anwälte – darunter Sieghart Ott – benutzten sie nicht: »Formulare verhindern das Denken«, sagte er kritisch – und ich wusste in der Sekunde, dass diese Ansicht falsch war: Der größte Vorteil aller vorformulierten Texte besteht doch gerade darin, dass man über die Standardthemen, die das Formular anspricht, nicht mehr nachdenken muss! Es macht mich wahnsinnig, wenn ich irgendetwas immer wieder tun muss, was ich längst schon als Standard erkannt habe und irgendwo abrufen könnte. Und noch größer schätze ich die Gefahr ein, eine wichtige Maßnahme oder Idee zu vergessen, die sich in einem bestimmten Fall als nützlich erwiesen hat. Nur mit einer Checkliste kann man sie verhindern. Eine Checkliste erlaubt es auch, Fehler besser zu lokalisieren. Die einzige Fähigkeit, die man sich bei der Verwendung von Formularen/Checklisten unbedingt erhalten muss, ist: ständig darüber nachdenken, ob sie vielleicht falsch sein könnten. Man muss sie immer überarbeiten und verbessern und in vielen Fällen, in denen man keine Antworten weiß, genügt schon die Frage: Ist da noch etwas zu ergänzen? Die Gefahr, dass man das Formular oder die Checkliste neuen Rechtsentwicklungen et cetera zu spät anpasst, ist jedenfalls erheblich kleiner als das Risiko, etwas Wichtiges zu vergessen.

Methodisches Denken dieser Art ist den meisten Anwälten fremd, obwohl sie nie ein Flugzeug besteigen würden, das nicht mit Checklisten gewartet worden ist. Selbst ein betrunkener Pilot wird wach, wenn seine Checkliste ihn fragt, ob er schon genügend getankt hat!

Ich habe einmal einem Kollegen, der im Gesellschaftsrecht tätig war, die Verwendung von Textbausteinen empfohlen. »So was habe ich alles im Kopf«, rief er entrüstet, »am letzten Montag habe ich einen GmbH-Vertrag diktiert und nach 5 Minuten kommt meine Sekretärin vorbei und sagt: ›Herr Doktor, diesen Vertrag haben sie doch schon am Freitag diktiert!‹ Sie hatte recht, übers Wochenende hatte ich das völlig vergessen. Und Sie werden es nicht glauben: Die beiden Texte waren nahezu identisch!« Womit er klar bewiesen hatte, dass seine Formulare im Kopf nicht besser waren als ein Textbaustein.

Und schließlich: Anwälte, die professionell arbeiten, sind – jedenfalls dann, wenn sie ausgelernt haben – immer schnell. Das hat einen einfachen Grund: Sie arbeiten spezialisiert, haben ein hohes Präsenzwissen und viel Erfahrung. So können sie im ersten Zugriff immer für die notwendigen Absicherungen und ersten Schritte sorgen, während sie gleichzeitig unbekanntere Probleme im Hintergrund lösen (oder besser: lösen lassen), die dann zur Entwicklung der richtigen Strategie führen. Der Blick für das, was sofort erforderlich ist – vor allem in der Krise – zeichnet erfahrene Anwälte aus. Schnell und schlampig – diese Gefahren gibt es nur, wenn man auf Gebieten arbeitet, die man nicht beherrscht.

3.1.8. Gewinnen und verlieren

Eines Tages sah ich im Arbeitszimmer eines Kollegen eine unter Glas gefasste Strichliste: »Mandatseingänge/Gewonnen/Verloren/Verglichen«, die er sorgfältig jede Woche aktualisierte und seine Sozien aufforderte, ihn zu übertreffen. Auf die Idee mit den Mandatseingängen kommen nur wenige Anwälte, obgleich sie der sicherste Frühindikator für Umsatzprobleme ist. Aber der Rest der Strichliste diente nur dazu, die anderen zu ärgern. Als ob ein gewonnener Prozess etwas über die Fähigkeiten des Anwalts aussagte, der ihn geführt hat! Die Chancen stehen am Anfang eines Prozesses keinesfalls 50:50. Im Gegenteil: Im Grunde darf der Kläger seine Klage nur in der Beweisaufnahme verlieren, alles andere muss er vorher abgesichert haben. Auf der Seite des Beklagten ist das völlig anders: Er muss auch mit schlechten rechtlichen Karten kämpfen, wenn das strategisch notwendig ist. Gerade in solchen Fällen müssten kluge Mandanten einen besonders loben: »Ich habe gern mit ihnen verloren«! Das ist ein Satz, auf den ich seit 40 Jahren warte. Ich habe Kollegen nie richtig verstanden, die über gewonnene Prozesse ins Jubeln gerieten, beim Verlieren aber völlig ausrasteten. Ich hatte ein anderes Vorbild: »Im Moment des Sieges ist mir elend zu Mute und ich sage immer, dass eine gewonnene Schlacht, abgesehen von einer verlorenen, den größten Jammer auslöst.«59 Diese Haltung hat Gründe:

  • Nicht wir entscheiden, sondern das Gericht, und wie viel unsere Arbeit dazu beigetragen hat, kann man fast nie beurteilen.
  • Der Prozess wird nicht durch das Urteil, sondern erst durch die erfolgreiche Vollstreckung gewonnen.
  • Jeder gewonnene Prozess kann die Risiken, um die es geht, ebenso vergrößern wie verkleinern.
  • Jedes Rechtsmittel kann einem den Erfolg wieder aus der Hand schlagen.

3.1.9. Urlaub, Sabbaticals und andere lockere Ideen

Irgendwann Ende 1976 merkten wir, dass schon im Mai die Dreijahresfrist abgelaufen war, die wir uns in unserem Sozietätsvertrag gesetzt hatten. Wir hatten einfach zu viel zu tun, um zu überprüfen, ob wir wirklich das Gehalt eines Richters am Landgericht verdient hatten. Vermutlich war das so, denn der Umsatz lag am Jahresende bei 471.000 DM, die Kostenquote bei 44,8 %.

Der Blick in den Vertrag zeigte uns aber auch, dass wir die Urlaubsansprüche vergessen hatten. In den allerersten Entwürfen stand – man glaubt es nicht – ein Urlaubsanspruch von drei Monaten pro Jahr! Wer diesen Anspruch nicht haben wollte, sollte mehr Geld erhalten. Allerdings dürfe nur ein Anwalt von uns vier jeweils in Urlaub fahren. In den unterschriebenen Vertrag fand diese romantische Projektion keinen Eingang. Da stand überhaupt kein Zeitraum mehr drin. Weil keiner von uns außer irgendwelchen Wochenenden Urlaub gemacht hatte, war das Thema jetzt erledigt.

Wir hatten nämlich gemerkt, dass ein wirklicher Anwalt nicht so in Urlaub fahren kann wie andere Leute. Die Fälle hängen einem in den Kleidern und nicht nur da. Das war auch schon zu den Zeiten so, als es noch keine Handys gab. Man liegt am Strand, und auf einmal fällt einem eine Lösung ein, die man notieren muss, dann ruft das Büro an oder schickt ein Telefax ins Hotel und der Kopf wird nie leer. Ein Arzt macht einfach ein Schild an seine Tür, wann er wieder kommt, und in der Zwischenzeit können seine Patienten nach Lust und Laune sterben – nach dem Urlaub kommen wieder neue, denn irgendwann wird jeder krank. Bei Anwälten ist das nicht so. Auch die Familie muss lernen, damit umzugehen: Die Frau eines Anwalts ist die Witwe eines Mannes, der noch lebt, und auch die Kinder müssen lernen, sich in die Terminkalender zu schleichen, wenn sie ihre Väter (oder Anwaltsmütter) häufiger sehen wollen. Man kann Elternabende oder Sportereignisse genauso mit Prioritäten versehen wie einen beruflichen Termin, dann klappt das schon.

Wir verbrachten immer wieder gemeinsame Zeit, wenn im Fernsehen Europameisterschaften oder Weltmeisterschaften gezeigt wurden. Wichtige Rituale: Es gab Tatar, bei jedem Tor einen Wodka und der Gastgeber musste danach seinen Teppich in die Reinigung bringen. Das waren lebhafte Partys. Mittendrin wieder eine Geburt: Julia, erste Tochter von Justin, war 1975 in der Entbindungsklinik fest auf einen Montag eingeplant. Das Wochenende verbrachten wir am Ammersee und ich kochte unvergessene Spaghetti Alio Olio Peperoncino. Das war dem Kind wohl zu viel und so wurde sie am Sonntag in der Nacht geboren.

Wir ahnten aber, dass man nach ein paar Jahren wirklich einmal Abstand zu seiner Arbeit gewinnen muss. Dazu konnte ein Modell dienen, das amerikanische Universitäten verwenden: sechs Monate Sabbatical, also eine totale Auszeit, und nicht nur alle sieben Jahre, sondern schon alle fünf. Nach 20 Jahren wäre also jeder einmal dran gewesen. Gunther hat in kluger Erkenntnis als erster einen Antrag gestellt und war wirklich drei Monate weg, ich nahm zwei Monate, um das Computerrechtshandbuch fertig zu schreiben, und Justin hat es wohl nie geschafft.

3.2. Anwaltskammern

Rembrandt, Die Syndici der Tuchmacherinnung
Rembrandt, Die Syndici der Tuchmacherinnung

»Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche.«60

3.2.1. Der Sturz der Bastille

Anwälte sind Landsknechte – sie kämpfen für fremdes Geld und tun das wie jeder Unternehmer auf eigenes Risiko. Das wird ihnen schnell klar, und ebenso schnell entwickeln sie das Bewusstsein, mit ihrem Renommee, ihrem Privatvermögen und ihrer beruflichen Zukunft für Fehler in ihrer Arbeit zu haften. Nur ein sehr geringer Prozentsatz der Bevölkerung macht diese Erfahrung und nur sie ist die Quelle für das Selbstbewusstsein der Rechtsanwälte.

Auch ihre berufsrechtlichen Angelegenheiten verwalten sie in den Rechtsanwaltskammern selbst. Außerhalb Deutschlands sind diese Institutionen schon sehr alt, die Geschichte des Barreau de Paris reicht bis 1274 zurück und ganz ähnlich ist es in Italien und England. Im deutschsprachigen Raum war das anders. Hier waren Anwälte keine unabhängigen Rechtsvertreter, sondern in der Vielzahl der deutschen Länder unterschiedlich in die Justizsysteme eingebunden. Erst 1851 gründete sich in Österreich die erste Kammer, 1879 erfolgten dann die Gründungen in Deutschland. Der Deutsche Anwaltverein, der sich im neuen Deutschen Reich 1871 etablierte, hatte die europäische Idee übernommen und nach vielen Schwierigkeiten auch in Deutschland die Selbstverwaltung endlich durchsetzen können.

Aber es ist eben doch eine sehr deutsche Institution. In Italien, Frankreich und Spanien betrachten sich die Kammern wie ein Orden, der seinen eigenen Regeln folgt, eine Gemeinschaft, mit denen ihre Mitglieder sich stark identifizieren. In Deutschland ist die geistige Trennung der Rechtsanwaltskammern von der Justizverwaltung nie so recht gelungen. Die meisten Anwälte, die sich in der Kammer engagieren, sind gleichzeitig Mitglieder im Deutschen Anwaltverein. Wenn Sie den Hut der Kammer aufhaben, sieht man mehr oder weniger einen Bürokraten vor sich, am Stammtisch im Verein hingegen sitzen sie als ganz normale Kollegen. Eine seltsame Persönlichkeitsspaltung, die nicht ohne Folgen bleibt: Zu den Bemühungen der Anwälte, sich im veränderten Europa und dann auch international ihren Platz zu sichern, haben die Anwaltskammern wenig und nur sehr zögernd beigetragen. Im Gegenteil: Es gibt erst in der allerjüngsten Zeit Ansätze von Initiativen, aus denen man erkennen könnte, dass die Kammern etwas anderes im Sinn hätten, als einen Status quo zu verteidigen, der völlig sinnleer geworden ist.

In München machte die Kammer sich am Anfang (1973) nur durch die wortlose Versendung eines amtlichen Beitragsbescheides bemerkbar, der sich in keiner Weise von den Formblättern des Finanzamtes unterschied. Er hatte auch den gleichen Zweck: Geld einsammeln. Die Münchner Kammer lebte nicht nur von Beiträgen, sondern erhielt auch Erbschaften kinderloser Anwaltswitwen, bis hin zu einer respektablen Villa am Starnberger See, die sie an die Kollegen für Betriebsfeste und Kurzurlauber vermieten konnte! Und weil es immer mehr Anwälte gab, wurde die Kammer immer reicher und freute sich daran, ihr Vermögen zu verwalten. Viele Anwälte waren der Ansicht, die Kammer hätte sich Gedanken darüber machen müssen, dass die Zahl der Anwälte ständig wuchs, die Märkte aber nicht. Die klugen Österreicher hatten darauf reagiert, indem sie jedem, der Rechtsanwalt werden wollte, drei Jahre Lehrzeit als Assessor bei einem Kollegen verordneten. Auch bei Steuerberatern hat sich dieses System bewährt. Aber die Kammer war wie alle anderen Institutionen von dem Glauben nicht abzubringen, dass wir den »Einheitsjuristen« brauchen, obwohl jeder weiß, dass zwischen Juristen und Anwälten gewaltige Unterschiede bestehen. Da war aber mit Argumenten nichts zu machen.

Wir sahen also zu, wie die Kammern die Ehrengerichte organisierten, verhinderten, dass Unbefugte Rechtsrat erteilten und Anwälten Knüppel zwischen die Beine warfen, wenn sie den unlauteren Wunsch entwickelten, für sich und ihre Arbeit zu werben. Etwas anderes war offenbar nicht veranlasst. Die Kammermitteilungen befassten sich nahezu ausschließlich mit der Auflistung der Namen von Kollegen, die neu zugelassen oder gerade gestorben waren, sowie jener, die die ehrenvollen Ämter bekleideten, die die Kammer zu vergeben hatte. Ehrenvoll waren die Ämter, weil die einfachen Vorstandsmitglieder außer der Ehre nichts bekamen außer der Chance, nach 25 Dienstjahren in gehobenen Positionen (z. B. als Mitglied des Anwaltsgerichts) ein Bundesverdienstkreuz minderer Klasse zu erhalten. Der Präsident bekam (in München, aber nicht in Hamburg) ein Gehalt und die höhere Stufe des Ordens. Aber jedes Vorstandsmitglied hatte im Waschraum der Münchner Kammer ein eigenes Handtuch mit geprägtem Namensschild! Vor allem natürlich der Präsident, damals der Kollege Warmuth. Ihm kam auch noch eine andere – jetzt längst abgeschaffte – Sitte zugute: Die in den Kammern tätigen Kollegen wurden vom Staat eher mit Mandaten beauftragt als andere, um auf diese Weise ihre Aufopferung in den halbstaatlichen Organisationen zu kompensieren.

Aber das galt fast schon als Geheimwissen, das man auf den Gängen des Gerichts erfuhr, wenn man sich z. B. bei Kollegen erkundigte, warum ein Mitglied »Vortritt« hatte: Diese Kollegen mussten sich nämlich nicht eintragen, und das war ein angemessenes Honorar für die Zeit, die sie im Interesse der Kollegen durch ihre Arbeit in der Kammer opferten. Diese Arbeit allerdings bekamen wir nicht zu sehen, und die meisten Kollegen meinten, das wäre auch besser so: Wenn man mit der Kammer zu tun bekomme, sei damit stets Ärger verbunden. So war es tatsächlich: Etwas Positives oder Aufmunterndes hatte die Kammer uns nie mitzuteilen. Für junge Anwälte etwa wäre es schön gewesen, wenn man so wie heute als Mitglied mit Buchgeschenken usw. begrüßt oder die Vereidigung in würdiger Form organisiert worden wäre. Uns drückte man zwischen zwei Terminen die Formel in die Hand, die wir dann vor irgendeinem Amtsrichter herunterratterten.

In diesem absolutistischen Stil ging es dann in den nächsten Jahren weiter. Die Kammer pflegte alles zu beanstanden, was der Anwalt tun muss, um an Mandate zu kommen: Er muss sich sichtbar machen. Kollegen sollen heimlich nachts mit Meterstäben die Größe der Kanzleischilder ihrer Konkurrenten vermessen haben, um auch nur geringfügige Überschreitungen der zulässigen Größe anzuzeigen (was zulässig war, wusste natürlich niemand). Ein Anwalt hatte sich einen Paragraphen als Wetterfahne aufs Dach gestellt, ein anderer ihn beleuchtet – sie alle wurden gnadenlos verurteilt, solchen Unfug künftig zu lassen.

Einen Begriff wie Marketing nahm erstmals Wolfgang Schiefer 1986 auf einem geradezu revolutionären Anwaltstag in den Mund,61 und vorher musste man vor der Kammer kuschen, wenn man sich unternehmerische Gedanken machte. Sie rügte dann und konnte sogar strafen, aber das merkwürdige war: Man konnte schwer erkennen, unter welchen Bedingungen sie sich zum Handeln entschloss. Wenn einem Mandanten z. B. die Rechnung seines Anwalts zu hoch war, erhielt er stereotyp die Antwort, er solle den Kollegen verklagen, Auskünfte könne man nicht geben. Im nachfolgenden Zivilverfahren nahm die Kammer natürlich Stellung. Warum tat sie das nicht vorher? Für den Mandanten musste das wie eine grobe Zurückweisung erscheinen. Wagte es etwa ein Mandant, zu fragen, ob sein Anwalt versichert sei, wurde auch das als ungehörige Zumutung zurückgewiesen. Dieses Verhalten hatte Folgen: Nur die absolut hysterischen und durchgeknallten Mandanten legten sich mit der Kammer so lange an, bis sie schließlich einen ungeheuren Briefwechsel erzeugten, auf den die Kammer dann ganz zu Recht als ihre genuine Arbeitsleistung hinweisen konnte, wenn man sie nach ihrer Tätigkeit fragte.

Auch die Beschwerden von uns jungen Anwälten gegenüber älteren verliefen im Sande. Es gab damals noch die standesrechtliche Regel, ein Anwalt dürfe kein neues Mandat übernehmen, bevor sein Mandant ihm nicht nachgewiesen hatte, dass er seinem früheren Anwalt gekündigt hatte. Er musste also z. B. die Durchschrift des Kündigungsschreibens vorweisen oder den Vorgang sonst wenigstens glaubhaft versichern. Der Grund: Es ist doch sehr peinlich für einen Anwalt, von einem Kollegen einen Brief zu bekommen, der ihm mehr oder weniger unverblümt sagt: Ihr Mandant ist jetzt mein Mandant! Den Mandanten sind solche Kündigungen natürlich peinlich und irgendwie war die Regel Ende der Siebzigerjahre schon ziemlich abgeschliffen. Also hielt man sich vor allem unter Strafverteidigern nicht mehr daran.

Ich tummelte mich damals auf diesem Gebiet, und wenn ich so alle 2–3 Wochen einmal in Stadelheim einen Mandanten aufsuchte, fiel mir auf, dass dort immer wieder dieselben Gesichter auftauchten, von denen die meisten noch gar keine Kollegen, sondern »Akquisitionsreferendare« eines namhaften Strafverteidigungsbüros waren. Die gingen morgens um 8 Uhr dorthin, blieben bis 17 Uhr und ließen sich von den durchaus einverstandenen Justizsekretären beliebige Mengen Untersuchungshäftlinge vorführen. Hatten die noch keinen Verteidiger, dann hatten sie jetzt einen, im anderen Fall ließen sie häufig eine Vollmacht da, denn der anwesende Akquisiteur bewies ja am besten, dass er für seine Leute immer da war. So häuften sich auf meinem Schreibtisch die Briefe, die mir den Mandatsverlust anzeigten, mir platzte der Kragen und ich informierte die Kammer. Monatelanges Schweigen. Man habe den Kollegen um Stellungnahme gebeten. Monatelanges Schweigen. Die Stellungnahme sei noch nicht eingegangen. Woraufhin ich mich entschloss, keine Mandate mehr zu übernehmen, bei denen die Leute im Gefängnis saßen – auf freier Wildbahn waren die Mandate weniger gefährdet.

Jahre später wurde der Anwaltsausweis eingeführt, für den man amtlich in der Kammer fotografiert werden musste. Endlich hatte ich Gelegenheit, die heiligen Räume auch selbst zu betreten. Es herrschte drangvolle Enge, so dass der Fotoapparat in dem gleichen Raum untergebracht worden war, in dem die Ehrengerichtsakten standen. Und zwar alphabetisch. Und keinesfalls verhängt. Den Datenschutz hatte man damals in der Kammer noch nicht entdeckt, obwohl es ihn »auf dem Papier« schon längst gab. Mit Genugtuung entdeckte ich, dass die Sozietät jener Kollegen mit den Akquisitionsreferendaren mit etlichen Bänden würdig vertreten war. In einem stecken wahrscheinlich noch heute meine Briefe und die fehlende Reaktion der Kammer war wohl durch die Überlastung zu erklären.

Michael Kleine-Cosack, Anwalt aus Freiburg, räumte mit einer Klage vor dem Bundesverfassungsgericht dieses System ab. Ich kannte ihn damals leider noch nicht, und vielleicht hätte er uns davon überzeugt, aktiv gegen die Kammer vorzugehen. Dann wären die berühmten Bastille-Entscheidungen des Jahres 198762 ein paar Jahre früher ergangen. Sie beruhten nämlich auf viel unscheinbareren Verstößen: In einem Arzthaftungsprozess hatte der Anwalt der Klägerin die beauftragten Gutachter kritisch bewertet:

»… ferner wird gesagt, der Tod der Frau S. hätte nicht durch vorbeugende Therapie abgewendet werden können. Ich muß sagen, ich habe im Laufe meines langen Anwaltslebens schon manchen Unsinn gelesen. Dies übersteigt jedoch das übliche Maß. Die Behauptung dieser ehrenwerten Herren läuft darauf hinaus, daß sie von sich sagen wollen, sie hätten hellseherische Fähigkeiten. In Wirklichkeit dürften die ehrenwerten Herren Dres. … fachlich überfordert gewesen sein.« In einer anderen Sache, die zeitgleich entschieden wurde, hatte ein Kölner Insolvenzverwalter sich mit dem bundesweit bekannten Insolvenzrichter Ullmann angelegt, der die Insolvenz des Bankhauses Herstatt geschickt gemanaged hatte: »Es ist gerichts-, stadt- und in Fachkreisen bundesweit bekannt, daß der erkennende Richter und der Unterzeichner, die bis vor etwa zwei Jahren in einem freundschaftlichen Verhältnis zueinander standen, sich seitdem überworfen haben. Das Zerwürfnis geht so weit, daß der erkennende Richter sich nicht scheut, den Unterzeichner vor Dritten persönlich zu diskriminieren. Einzelheiten hätte der Unterzeichner bei Kenntnis des Umstandes, daß der Vergütungsbeschluß vom erkennenden Richter gefaßt werden würde, gem. § 44 Abs. 2 S. 2 ZPO glaubhaft gemacht.«

Die Kammer hatte beide Anwälte deshalb wegen Unsachlichkeit gerügt, die Sache war bis zum Bundesverfassungsgericht eskaliert, und dort erkannte man, dass das ganze System auf Sand gebaut war, weil es keine genügende rechtliche Grundlage hatte:

»Eingriffe in die Berufsfreiheit setzen Regelungen voraus, die durch demokratische Entscheidungen zustande gekommen sind und die auch materiellrechtlich den Anforderungen an Einschränkungen dieses Grundrechts genügen; im übrigen unterliegt die durch den Grundsatz der freien Advokatur gekennzeichnete anwaltliche Berufsausübung unter der Herrschaft des Grundgesetzes der freien und unreglementierten Selbstbestimmung des Einzelnen.«

Es kann kein Zufall sein, dass die Fälle deshalb von beiden Seiten so scharf ausgefochten wurden, weil die Kammern und Gerichte das Verhalten der Anwälte als widerspenstig beurteilten, die Anwälte sie aber als notwendigen Freiheitsraum interpretierten. So konnten die Rechtsanwälte erstmals ihre Satzungen selber formulieren, was gleichzeitig zu einer umfangreichen Liberalisierung führte. Der Deutsche Anwaltverein hat diese Entwicklung mächtig vorangetrieben.

3.2.2. Der Kampf um die überörtlichen Sozietäten

Unmittelbar nach der Veröffentlichung der ersten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Januar 1988 begannen die ersten Gespräche der großen Büros über Fusionen. Zuvor war es den Sozietäten ausdrücklich untersagt, sich zusammenzuschließen, jetzt konnten sie das tun. Boden Oppenhoff, Pünder Volhard, Bruckhaus, Wessing, Weiß, Hasche, Feddersen, Ohle Hansen – sie alle und viele weitere große Büros hatten seit Jahrzehnten gewachsene Beziehungen untereinander und waren international vernetzt. Teilweise entstanden diese Beziehungen aus parallelen Vertretungen großer Industrieunternehmen, teils aus Interessenkonflikten, teils aus Spezialisierungen in den unterschiedlichsten wirtschaftsrechtlichen Fächern.

Nichts davon war nach außen zu sehen. In den Anwaltsverzeichnissen waren nur die einzelnen Namen jenes Anwalts erwähnt, nicht jedoch, welcher Sozietät er angehörte. Die Einzelanwälte befürchteten, das Verzeichnis könnte in die Hände von Mandanten geraten, und die würden sich dann nur an die größeren Büros wenden. Diese Meinung hielt sich auch dann noch, als in den Telefonbüchern die Namen der Sozietäten aufgenommen wurden. Man wollte nur den Einzelanwalt zur Kenntnis nehmen. Die Sozietät als Unternehmen wurde einfach geleugnet.

Nun wollten sich Sozietäten zusammentun – eine revolutionäre Idee. Sie erhielt einen zusätzlichen Beschleuniger durch die deutsche Einheit, die sich ab Herbst 1989 als Möglichkeit abzeichnete und dann überraschend schnell realisierte. Die westdeutschen Anwälte zogen nach Osten und wollten diese Präsenz öffentlich machen. Dahinter stand die klare Erkenntnis, dass man gegenüber der innerdeutschen Konkurrenz, aber auch im Hinblick auf die englischen und amerikanischen Büros mehr Kapitalkraft, Differenzierung und Sichtbarkeit brauchen würde, um sich ihnen gegenüber im Markt zu behaupten.

Als Erste schlossen sich 1990 Pünder Volhard Weber (Frankfurt) mit Axter in Düsseldorf zusammen, mit denen sie sich auch Büros in Berlin, Brüssel, New York und Peking teilten. Auch in Leipzig gab es eine erste Niederlassung.

Sie alle hatten angenommen, dass bei den Kammern nun ein Umdenken stattfinden würde und diese Initiativen unterstützt würden, um die weitere Entwicklung der Sozietäten – nicht zuletzt gegenüber der ausländischen Konkurrenz – zu sichern. Das Gegenteil war der Fall: Sofort beanstandete die Kammer den Vermerk »Überörtliche Sozietät«. Die Münchner Kammer schrieb in ähnlicher Weise an das Büro Strobl Killius, die sich mit Droste (Hamburg) und Triebel (Düsseldorf) zusammengeschlossen hatten. Auch wir beanstandeten das: Ich schrieb dem Münchner Kammerpräsidenten Dr. Ernst, wie größere Büros diese Sachlage sahen und mit welchen Problemen sie zu kämpfen hätten, wenn sie sich nicht zusammenschließen dürften. Darauf folgte wie üblich ein ausweichender Brief der Kammer. So schlossen wir uns einer Initiative an, die Hans Schmidt-Sibeth Mitte November gestartet hatte: 15 größere Münchner Büros diskutierten die Situation, um zu einer einheitlichen Stellungnahme gegenüber der Kammer zu kommen. Das Ergebnis vieler einzelner Gespräche war: Wir müssen die Kammer einfach rechts liegen lassen und das tun, was wir für richtig halten.

Die nachfolgende Entwicklung hat das bestätigt. Es gab keinen noch so winzigen Fortschritt, gegen den die Kammern nicht opponierten, bis endlich das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort für die Freiheit der Anwälte gesprochen hatte. Das dauerte insgesamt fast zwanzig Jahre. Boden Oppenhoff musste die Möglichkeit einer Sozietät mit Wirtschaftsprüfern (MDP) gerichtlich durchsetzen. Kleine-Cosack erstritt gegen heftige Angriffe in den Jahren von 1989 – 2011 unter anderem den Vorläufigen Rechtsschutz in den Fällen, bei denen die Zulassung widerrufen wurde, die Zweit-Berufsfreiheit von Anwälten, die Änderung der Notarstellen-Vergabe, die neutrale Auswahl von Insolvenzverwaltern und schließlich die Verfassungswidrigkeit des Verbotes von Erfolgshonoraren.63 In manchen Beiträgen forderte er sogar die Abschaffung der Kammern, denn noch staatsnaher als sie würde auch ein Ministerialbeamter nicht handeln. Diese Forderung geht zu weit. Die Entwicklung zeigt uns, dass der Anwaltverein und die Kammern sehr wohl zum gegenseitigen Vorteil Doppelpass spielen können, wenn sie das als strategisches Modell einmal verstanden haben. Da soll man die Hoffnung nicht aufgeben.

3.2.3. Anwaltskammern in Frankreich: ein Ritterorden

Die französischen Anwaltskammern hatten gestützt auf ihre viele hundert Jahre alten Traditionen eine völlig andere Einstellung zu ihren Anwälten. Sie fühlten sich als »Anwalt der Anwälte« und verteidigten die Privilegien ihrer Mitglieder wie die Tempelritter den Gral. Ihr Feindbild waren die US-amerikanischen, britischen, holländischen und deutschen Anwälte, die vor allem in Paris begannen, die Märkte der französischen Anwälte zu verengen. In Deutschland wurden ausländischen Büros keinerlei Hindernisse entgegengestellt, in Frankreich versuchte man das, aber dieser Versuch musste scheitern. Die Amerikaner hatten aus der Nachkriegszeit noch bestimmte Privilegien, die sie nutzten, und auch die international tätigen französischen Konzerne zogen es vor, sich von ihnen beraten zu lassen und nicht von französischen Anwälten. Der Versuch, ihren eigenen Stil zu behalten, hat den Franzosen langfristig sehr geschadet.

Das sollte ich 1991 an einem Prozess vor der Pariser Handelskammer merken. Joachim Haigerloch, Chef einer Stuttgarter Spedition, die sich auf den Transport von Computern spezialisiert hatte, rief mich eines Tages in heller Aufregung an: »Do stehet där Gerichtsvollziehr im Wohnzimmr und kläbt seinen Kuckuck überallhin. I’ waiß gar net, was da los isch!« Ich sprach mit dem braven Beamten, der nicht nur ein vollstreckbares Urteil eines Pariser Handelsgerichts über 300.000 FF in der Hand hatte, sondern auch die zugehörige und richtig zugestellte Vollstreckbarkeitserklärung des deutschen Gerichts. Wir konnten aufklären, dass die Haushälterin diese Zustellung mit Werbematerial in den Papierkorb geworfen hatte, weil sie unter der Privatadresse erfolgte. Der Spediteur wusste, dass das Verfahren in Frankreich anhängig war – aber das war es schon jahrelang. Er hatte einen Computer von Stuttgart nach Paris transportiert, da war er von der Rampe gefallen und die Versicherung hatte die Regulierung erst einmal abgelehnt, weil die Auslandsdeckung streitig war. Der französische Kunde machte nicht viel Federlesens und klagte den Schaden ein. Haigerloch sprach gut Französisch, und weil er ein Schwabe war, wollte er die Kosten für den Korrespondenzanwalt sparen. Also hatte er direkt einen ihm empfohlenen Pariser Anwalt eingeschaltet, einen ordentlichen Vorschuss bezahlt und von dem Prozess nichts mehr gehört. Kein Fetzen Papier lag in seiner Akte.

Über unseren Korrespondenzanwalt in Paris recherchierten wir den Stand des Verfahrens: Zwei Jahre hatte es in Erster Instanz gedauert, eine Beweisaufnahme hatte stattgefunden, Fahrlässigkeit wurde festgestellt und Joachim Haigerloch war hinter seinem Rücken verurteilt worden. Der französische Kollege war sofort in die Berufung gegangen, die er ebenfalls verloren hatte, und dann war das Urteil rechtskräftig geworden. Mein erster Gedanke war: Verrat! Die Gegenseite hat unseren Anwalt bestochen, und der hat seinen Mandanten hängen lassen. Weit gefehlt! Der Fall, der als »computerrechtliches Problem« zu uns gefunden hatte, endete mit einer Lektion im Berufsrecht der französischen Anwälte.

In Deutschland müssen Rechtsanwälte ihre Mandanten über jedes einzelne Ereignis innerhalb eines Verfahrens vollständig informieren. Der Mandant erhält Kopien der Schriftsätze, der Gerichtsverfügungen, Berichte, Kommentare, rechtliche Recherchen usw., so dass er in jeder Lage des Verfahrens reagieren kann. Nicht alle Anwälte gehen mit dieser Informationspflicht sorgfältig um, aber von einem Fall, dass der Mandant über zwei Instanzen hinweg absolut keine Nachricht bekommt, habe ich noch nie gehört. Anders in Frankreich. Hier entscheidet der Anwalt nach eigenem Ermessen, welche Informationen er weitergibt und welche nicht, und es ist sogar verboten, seinen Mandanten den Inhalt von Besprechungen mit den Gegenanwälten mitzuteilen, damit die Anwälte ungestört über ihre jeweiligen Mandanten lästern können. Unbeschwert kann man dem Kollegen z. B. sagen: »Bei dem Betrag vergleicht der sich nie, der alte Geizhals.« Die französischen Anwälte fühlen sich als ordre d’ avocats, der seinen eigenen Interessen jedenfalls in dieser Hinsicht stärker verpflichtet ist als jenen des Mandanten. Unterschiedliche Standesorganisationen konkurrieren untereinander (Conseil National des Barreaux, Conférence des Batonniers und Barreau de Paris). Der französische Kollege wird sich gesagt haben: Dieser deutsche Spediteur hat sowieso keine Ahnung und seine Grundeinstellung hat wohl zu der (tatsächlich vorwerfbaren) Schlampigkeit geführt, dem Mandanten nicht einmal das Urteil und damit die Vollstreckungsgefahren mitzuteilen. Die deutschen Gerichte mussten an der Privatadresse zustellen, weil hier kein Anwalt eingeschaltet war. Und so war es zu dem Desaster gekommen. Unser Job war es nun, mit der Versicherung klarzukommen – erneut kein computerrechtliches Thema, dachte ich mir und lag wieder falsch. Nachdem die Deckungsfrage geklärt war, ging es um das Verschulden und die Schadensbeseitigung und da bekämpften sich auf einmal zwei Gutachter auf das Bitterste. Jetzt mussten wir uns in die Frage einarbeiten, ob der Schaden zu aufwändig repariert worden war usw., und dazu muss man schon eine gewisse Ahnung davon haben, wie so ein Server konstruiert ist. Oder jedenfalls lernt man es im Lauf der Zeit.

Das französische Kammersystem der unterschiedlichen »Anwaltsorden« gibt es seit dem 13. Jahrhundert. Seine Geschlossenheit verhalf ihm zur Stärke und zu hohem Ansehen der französischen Anwälte in der Gesellschaft. Eine Kritik dieses Systems war unmöglich: »… Wer gegen seine Kammer vorgeht, sagt sich vom guten alten Orden los.«64

Die Dynamik des gemeinsamen Marktes und der Globalisierung hat dieses System seit 1960 in den lukrativen Bereichen des Wirtschaftsrechts und der Finanzierungen unbedeutend werden lassen. Die meisten französischen Anwälte versuchten geradezu, gegen diese Entwicklung ihren Status als Einzelanwälte oder kleine Sozietäten zu erhalten, die nur eine Handvoll ausgewählter Mandanten beraten. Sie mussten ihre Büros nicht managen, sie arbeiteten auf Zuruf – alles was sich bei uns seit 1987 geändert hat, ist dort so geblieben wie vor zweihundert Jahren. Dem Ansturm der Engländer und Amerikaner war dieses System nicht gewachsen. Die angloamerikanischen Sozietäten hatten jahrzehntelange Erfahrung im Management von Auslandsbüros. Sie interessierten sich nicht für französische Unternehmen, sondern brachten ihre eigene Arbeit mit, die damit aber den französischen Anwälten entzogen wurde. Nur wenige Büros wie Coudert Brothers oder Debevoise (Louis Begley) versuchten mit Büros in New York und Paris, wenigstens die französischen Mandate in die USA zu retten. Aber der Wettbewerb mit Anwälten aus anderen europäischen Ländern fällt ihnen auch deshalb schwer, weil die französischen Anwälte ungern Englisch sprechen. So hat den französischen Anwaltskammern der jahrzehntelange Widerstand gegen Anwälte aus anderen Ländern nichts geholfen – im Gegenteil: Die wesentlichen Teile des internationalen Wirtschaftsrechts werden nicht mehr von französischen Sozietäten dominiert. Ganz ähnlich ist es in Italien.

3.2.4. Anwaltskammern in anderen Ländern

In Spanien sieht es etwas anders aus: Einige große spanische Büros haben sich von vornherein international aufgestellt und betreiben in anderen europäischen Schlüsselländern erfolgreiche Niederlassungen.

In Japan und Indien finden ähnliche Entwicklungen statt. Beide Länder haben ihre Märkte rigoros gegen ausländische Anwälte abgeschottet. Die Japaner haben dann gemerkt, dass die Markteintrittsschwellen aufgrund von Sprache, Schrift und Kultur bei ihnen so hoch sind, dass ein Ausländer kaum eine Chance hat, ihnen im Inland nachhaltig Konkurrenz zu machen. So haben sie ihre Märkte ein wenig geöffnet. Die Vorstellung, eine US-Kanzlei könnte z. B. einen japanischen Hotelkonzern gegen einen inländischen Zulieferer vor dem Landgericht Tokio vertreten, erscheint völlig absurd. Zum einen wird es diesen Prozess vermutlich nie geben, und wenn es ihn gibt, werden japanische Anwälte ihn führen.

In Indien ist das ganz ähnlich. Bis heute widersteht das Land internationalem Druck, ausländische Anwälte zuzulassen. Sie dürfen sich auch nicht an indischen Sozietäten beteiligen. Also entwickelt sich ein lebhafter Schwarzmarkt, denn für die wesentlichen Teile des internationalen Wirtschaftsrechts braucht man keine Zulassung vor einem Gericht, sondern nur Sprachkenntnisse und Know-how. Natürlich steht immer irgendein indischer Kollege zwischen dem ausländischen Anwalt und seinen Kontaktpersonen. Aber das ist mit Sicherheit kein unabhängiger Berater.

3.3. Grays Inn Chambers

The Whig & The Pen London
The Whig & The Pen London

Manchmal ist mir der Gedanke durch den Kopf gegangen, Koch oder Schriftsteller zu werden. Wie Anwälte sind das kreative Leute, genau wie sie verdienen einige ganz wenig und andere sehr viel, sie haben keine regelmäßigen Arbeitszeiten, und die Leute müssen essen/lesen, was ihnen serviert wird. Anders als Anwälte können Köche und Schriftsteller aber überall auf der Welt arbeiten. Ihre Zutaten, die Steaks, die Kartoffeln und die Wörter, sind auf der ganzen Welt die gleichen. Schriftsteller leben in der ihnen eigenen Welt der Wörter und können sehr darunter leiden, wenn das wahnsinnige Geschwätz der Straße sie zutextet. Viele ziehen es deshalb wie Peter Handke vor, im Ausland zu leben, wo sie die Sprache vorbeirauschen lassen können.

Anwälte müssen im Land bleiben, wenn sie sich von ihren Kenntnissen ernähren, andernfalls müssen sie auswandern und ein neues Rechtssystem lernen. Man kann nie auf mehreren Töpfen gleichzeitig kochen: Wer deutscher und amerikanischer Anwalt ist, wird zwar das amerikanische Rechtssystem besser verstehen als andere, aber wenn er versucht, darin zu arbeiten, wird er scheitern, wenn er nicht dort lebt.

All das wussten wir nicht, als wir im April 1977 unser erstes Zweigbüro in London eröffneten. Das war vier Jahre nach der Gründung, also wirklich ziemlich früh. Wir wussten, dass einige Münchner Büros intensive Auslandsbeziehungen hatten: Bei Ott Weiß Eschenlohr stand Otto F. Walter (New York), ein berühmter Emigrant auf dem Briefkopf, Oehl & Nörr hatten Bankverbindungen nach Afrika auf dem Briefkopf stehen, aber jeder wusste, dass richtige Zweigniederlassungen berufsrechtlich eigentlich nicht erlaubt waren. Uns war keine Sozietät in Deutschland bekannt, die das gewagt hätte. Trotzdem wollten wir es ausprobieren. Allerdings hielten sich die Risiken in Grenzen, denn unser junger Kollege Reinhard Dallmayr, der gerade frisch vom Examen kam und in London Material für seine versicherungsrechtliche Doktorarbeit suchte, arbeitete auf eigenes Risiko. Michael Brown von Denton Hall & Burgin (gegründet 1788), spezialisiert auf Filmrechte, bot uns in Grays Inn Chambers eine Bürogemeinschaft an. Denton Hall würden wir zwanzig Jahre später wieder begegnen, denn Heuking Kühn (Düsseldorf), mit denen wir 1997 fusionierten, gehörten zu ihrem europäischen Netzwerk.

In Gray’s Inn Chambers reichen die Anwaltstraditionen weit ins Mittelalter: Sir Francis Bacon hatte ab 1582 dort praktiziert. Damals traten als Anwälte nur Gentleman auf, die die Tätigkeit vor Gericht eher als intellektuellen Sport betrachteten: Vormittags waren sie zwar dort tätig, aber dann folgte ein Lunch in The Whig and the Pen und gelegentlich eine Bärenhatz am Südufer der Themse – bis man sich später im Theater traf, um im Parkett umherzuwandeln, die Ereignisse des Tages zu besprechen und nebenbei Shakespeares Worten zu lauschen. Die Barristers tragen heute die gleichen Perücken und Roben wie damals, an deren Rückseite eine kleine Tasche angenäht ist. Da steckten die Mandanten ihrem Anwalt einige Pfund hinein, wenn er sie durch sein Plädoyer gerührt hatte – er durfte das Geld weder fordern noch die Höhe kritisieren, das war alles Ehrensache. Heute sind diese kleinen Taschen außer Gebrauch, die Anwälte haben größere und ihre Mandanten müssen sie haben. Und die meisten haben vergessen, dass das Wort Honorar von Ehre abstammt.

In den Büros der Barristers hatte sich seit 400 Jahren nichts geändert. Am Eingang eines jeden Chambers saß der Clark, meist ein in langen Dienstjahren ergrauter Bürovorsteher. Durch seine Hände gingen alle neuen Fälle, und je nach Schwierigkeit des Falles oder dem Rang der Parteien verteilte er sie unter den Barristers, die zu seiner Kammer gehörten. Die Sekretärinnen hatten wenig Platz und überall stapelten sich Papierrollen vom Format des jungen Bambus bis hin zu einer dicken staubbedeckten Mortadella: Das waren die Akten. Aus ihnen hingen lange Aktenschwänze aus Seide, auf denen die Namen der Parteien und die Registernummern standen. An ihrem Umfang konnte man auf den ersten Blick die Länge des Verfahrens ablesen. Würdige und erfahrene Anwälte trugen den Titel »Queens Counsel« (bei einem König demnächst wieder »Kings Counsel«).

In modernen Nebengebäuden hatten sich die Solicitors eingerichtet, die nach englischem Recht bei den Gerichten nicht auftreten dürfen. Dort hatten wir im Büro der englischen Kollegen ein Türschild, ein Anwaltszimmer, konnten den Konferenzraum nutzen und teilten uns eine dreisprachige Sekretärin mit ihnen. Weil die Hotels in London so teuer waren, schlief ich bei gelegentlichen Besuchen auf dem Sofa. Das fiel nicht weiter auf, denn manche jüngeren Kollegen, die bis in die Nächte zu arbeiten hatten, fuhren dann auch nicht mehr nach Hause. So trafen wir uns gelegentlich nachts in der kleinen Pantry und ich bekam Einblick in ihre Tätigkeit. In England haben junge Anwälte keine eigenen Zimmer. Zwei oder manchmal drei von ihnen teilen sich einen Raum mit einem älteren Partner und sehen zu, wie er arbeitet, telefoniert, mit Mandanten verhandelt und so weiter. Wenn sie eine stille Arbeit haben, gehen sie in eines der Konferenzzimmer. Auf diese Weise lernen sie sehr viel schneller als bei uns Sicherheit im Auftreten – und darauf kommt es entscheidend an. Ein wissenschaftlicher Anspruch wird an die Anwaltsarbeit außerhalb Deutschlands nur selten gestellt und in England schon gar nicht. In Urteilen und Schriftsätzen wird mit sehr wenigen Ausnahmen, die meist einen internationalen Bezug haben, keine wissenschaftliche Literatur zitiert. Das nimmt den Schriftsätzen nichts – es trägt im Gegenteil zur Qualität des Vortrags bei, wenn er sich nur auf den konkreten Fall konzentriert. Die Genauigkeit der Abgrenzungen im Sachverhalt ist in den angloamerikanischen Systemen erheblich höher als bei uns. Eine Veröffentlichungspraxis, die, wie bei uns, den Sachverhalt extrem stark verkürzt oder völlig unterschlägt, wäre im angelsächsischen System undenkbar. Dort kommt es entscheidend auf die Frage an, ob es zu dem konkreten Fall ein früheres hochrangiges Urteil gibt und was sich aus diesem Präjudiz für den neuen Fall ergibt. Das kann man nur beurteilen, wenn man die Fälle in allen Details vor sich sieht. Europäische Gerichte haben die Möglichkeit, die Qualität von Anwälten zu vergleichen, und stellen immer wieder fest, dass die englischen Queens Counsels die besten sind. Man trifft sie immer noch in The Whig and the Pen, wo die Sherrys dominieren, und wenn man richtig essen will, bei Simpsons in the Strand, wo Roastbeef und Bordeaux von ehrwürdigen Kellnern serviert werden, die genauso alt zu sein scheinen wie das Silberbesteck. Besser war nur der Partner Club bei Clifford Turner (später: Clifford Chance), mit denen wir gelegentlich zu tun hatten. Da verabredete man sich am besten um 11 Uhr und wurde meist zum Mittagessen eingeladen – eines der besten Restaurants in der City!

Reinhard baute seine Kontakte in London auf, und selbstverständlich übernahmen wir die Adresse und unser Bankkonto in London auf den Briefkopf, weil das beeindruckend aussah. Tatsächlich bekamen wir ein paar Mandate aus dem Handels- und dem Computerrecht, auch die Gründung von Zweigfirmen in Deutschland usw. Meist waren es mittelständische Firmen, die sich nicht getraut hätten, sich einen Anwalt in Deutschland zu suchen. Zudem war in England die Spezialisierung schon sehr weit fortgeschritten. Kein englischer Anwalt berät über einen Vertrag mit internationalem Bezug, wenn er darin noch nicht genügend Erfahrung gesammelt hat. So bekamen wir auch Empfehlungen von englischen Kollegen.

Diese Freude dauerte nur wenige Monate. Ein Brief der Kammer belehrte uns, dass Anwälte keine Zweigstellen haben dürfen, bereits die Errichtung von Bankkonten im Ausland sei fragwürdig und all das sei zudem unzulässige Werbung: Kein Anwalt dürfe in irgendeiner Weise in der Öffentlichkeit kundtun, dass er irgendetwas Spezielles könne oder wolle, da könnte ja irgendeiner kommen und sich ein Büro in Abu Dhabi zulegen und wo sollte das dann hinführen …?

Ich fiel aus allen Wolken. Natürlich hatten wir uns Gedanken über das Verbot der Zweigniederlassung gemacht, aber listig herausgefunden, dass es ja nur für Deutschland gelten könne und über die internationale Szene gab es weder Literatur noch Kammerentscheidungen oder gar ehrengerichtliche Urteile. Ich erinnerte mich an den Briefkopf von Nörr Stiefenhofer Lutz und das dort angegebene Konto im Ausland. War das denn zulässig? Mein Versuch, sie zu Verbündeten zu machen, scheiterte allerdings: Das ausländische Konto verschwand, und wir versuchten noch zwei Jahre lang, den englischen Markt ohne offene Acquise überwiegend von München aus zu betreuen. Das war aufwändig und wenig wirkungsvoll, vor allem, nach dem Reinhard Dallmayr im April 1978 wieder nach Deutschland zurückgekehrt war. So erhielt ich die letzte noch fehlende Lehre beim Umgang mit der Kammer: einfach alles machen, was die wollen, dann stören sie auch nicht weiter. Das waren so die letzten Zuckungen des alten Standesrechts, dem Michael Kleine-Cosack vor dem Bundesverfassungsgericht im Jahr 1987 die Hacken von den Stiefeln trat (wie Georg Büchner wohl bemerkt hätte). Nun konnten Anwälte im Markt so auftreten, wie auch andere Unternehmer das taten. Das war die wichtigste Voraussetzung für ein Marketing, das seinen Namen verdient, und Europa konnte dreißig Jahre nach dem Vertrag von Rom auch aus der Sicht der Rechtsanwaltskammern Wirklichkeit werden.

Auch in Großbritannien war die Umgestaltung des anwaltlichen Berufsrechts aus verschiedenen Gründen nicht einfach. Die Anwaltskammern konnten dort auf eine ähnlich lange Tradition zurücksehen, wie in Italien und Frankreich, und sie teilten vor allem das uns eher fremde Konzept der »Bruderschaft«. Aber anders als in Rom oder Paris hatten sie auch die Entwicklung in den USA vor Augen. Dort sehen sich die Anwaltskammern als Dienstleister für ihre Mitglieder, ein Gedanke, der im Konzept der »Bruderschaft« durchaus zu finden ist, aber auch praktisch gelebt werden muss. Dazu gehört es natürlich, die Wettbewerbsfähigkeit der Anwälte im Verhältnis zu anderen rechtsberatenden Berufen sicherzustellen.

In Großbritannien ist das ab Beginn der siebziger Jahre vor allem dadurch gelungen, dass man die Bildung überörtlicher und internationaler Sozietäten erlaubte und damit den britischen Sozietäten einen Vorsprung von gut zehn Jahren gegenüber allen anderen Ländern in Europa gab, um dort mit Zweigniederlassungen und/oder Kooperationen Fuß zu fassen. Aus diesen Anfängen hat sich eine Eigendynamik entwickelt, die man kritisch sehen kann. Zwei Entwicklungen stehen im Vordergrund:

  • Das Anwalts-Monopol für Rechtsberatung: Man denkt darüber nach, einfache Beratungsvorgänge als gewerbliche Dienstleistung außerhalb der Anwaltschaft zuzulassen. Ähnlich wie bei der Absatz-Bar im Kaufhaus könnten dort Firmen mit angestellten Juristen Rechtsrat über den Tresen erteilen. Wenn man sich die Rechtsberatung im Internet ansieht, liegt dieser Gedanke nahe.
  • Die Kapitalbeteiligung an Anwaltssozietäten: Nicht nur Anwälte, sondern auch Banken, Versicherungen oder Unternehmen sollen sich (auch mehrheitlich) an Sozietäten beteiligen können.

Ich meine, dass derzeit die besseren Gründe gegen die weitere Entwicklung solcher Ideen sprechen. Aber wenn wir versuchen, sie totzuschweigen, werden wir unsere Interessen nie verteidigen können!

3.4. Wirtschaftsrecht – die ersten Ideen

Konferenzraum München 1982
Konferenzraum München 1982

3.4.1. Konferenzräume

1976 entdeckte Justin durch Zufall, dass ein Büro in der Briennerstraße 10 frei geworden war. Er rief mich im Urlaub an und ohne diese Räume auch nur gesehen zu haben, war ich sofort damit einverstanden, dorthin zu wechseln. In München liegen die Büros der Allgemeinanwälte, die viel zu Gericht gehen rund um den Justizpalast. Wer häufig prozessieren muss, braucht kurze Wege. Die großen Sozietäten senden andere Signale. Sie suchen sich weltweit ihre Büros in der Nähe der Banken und Regierungen (und zwar in dieser Reihenfolge). Das ist der point of sales. Frankfurt ist die einzige Stadt in Deutschland, deren Skyline die Zusammenhänge auf den ersten Blick deutlich macht, aber auch in anderen Städten muss man nicht lange suchen: In München liegen die richtigen Anwaltsadressen »nördlich des Stachus«, wo die Banken hinter Barockfassaden hausen, in Berlin in 2–3 gestylten Quartieren zwischen Potsdamer Platz und Brandenburger Tor, wo gleichzeitig die Regierungsnähe ins Auge springt. Nun hatten wir so eine Adresse und erstmals auch einen Konferenzraum – ein wichtiges Signal dafür, dass wir uns nur noch im Wirtschaftsrecht entwickeln wollten.

Konferenzräume sind ein wichtiger Teil der anwaltlichen Corporate Identity, unsere Visitenkarte, auf der unendlich viele Informationen zwischen den Zeilen geschrieben stehen. Nicht nur an der Bibliothek erkennt man die Interessen (und gelegentlich den Charakter) des Besitzers, die Konferenzräume spiegeln immer die Unternehmenskultur der Sozietät, die sie entworfen hat. Sie bilden eine chiffrierte Botschaft, die sich um ein einziges Zentrum dreht: den Umgang mit der Macht. Der Konferenzraum zeigt das Büro im Zentrum der Macht, umgeben von anderen Räumen, vor denen ein Türhüter steht und hinter ihm noch weitere, von denen jeder mächtiger ist als der vorhergehende.65

Die Machtverhältnisse werden in den Konferenzräumen hinter kulturellen Zeichen versteckt. Wo sich individueller Geschmack zeigt, wie in einer Jugendstildecke, einem alten Refektoriumstisch oder einer Intarsienarbeit deutet das Design des Raums auf den Anwalt hin, der ihn persönlich gestaltet hat. Die Bibliothek hat die Aufgabe, auf das Wissen der Anwälte hinzudeuten, die Kunst entschuldigt die Macht. Sie verdeckt die scharfen Kanten des Rechtsgeschäfts, ihre Schönheit überblendet die Verluste. Konferenzräume sind Operationssäle, in denen Tränen fließen und Empörung hochkocht. Aber wir müssen cool bleiben und unseren Mandanten zeigen, wie das geht: »Moralische Entrüstung ist die Würde der Idioten« (Marshall McLuhan). Sie gehört hier nicht hin. Denn Gerechtigkeit, so wie die Menschen sie erwarten, gibt es selten – es gibt sie nur in ihrer rechtlichen Form, dem Urteil, wie wir im letzten Kapitel sehen werden.

Schade, dass wir diese Räume nicht morgens um 3 Uhr sehen, nach 12 Stunden due diligence, die Akten werden gerade weggeräumt, die Shredder ächzen, nur noch Essensreste, Pizzaschachteln und klebrige Gläser sind zu sehen. Draußen ist alles finster.

3.4.2. Steuerrecht

Der Sprung nach London kam viel zu früh, war improvisiert und auf die Bordmittel beschränkt. Wie naiv das war, ist mir erst Jahre später bewusst geworden, als ich mit Michael Abels über seine ersten Erfahrungen in New York sprach, wo er Ende der Achtzigerjahre das erste voll besetzte Büro für Oppenhoff eröffnete. »Unter 1 Million $ Fixkosten braucht man da gar nicht anfangen«, erklärte er und diese Kosten waren aus den unterschiedlichsten Gründen nicht zu senken. Man brauchte z. B. einen Fahrservice, denn niemand würde in ein normales Taxi einsteigen, dessen Fahrer nicht – wie bei den Fahrdiensten üblich – einen umfangreichen Sicherheitscheck hinter sich hatte usw. Immerhin hatte uns das Londoner Experiment bewusst gemacht, dass unser Ziel in wirtschaftsrechtlichen Mandaten lag. Es gab bei uns allen einen intellektuellen Ehrgeiz, aber auch den Wunsch, Teil der Machtverhältnisse zu sein, die sich in der Wirtschaft ganz anders ausprägen als bei privaten Mandanten.

Dazu würde steuerliches Know-how gehören. Gunther Braun nahm am Fachanwaltskurs teil und 1979 bei der jährlichen Geburtstagseinladung, die Jürgen Burkhardt immer im Dezember gab, traf ich durch Zufall Reiner Ponschab, Fachanwalt für Steuerrecht. Vielleicht war es doch kein Zufall, denn diese Einladung bei Burkhardt & Reissinger war bei den Münchner Anwälten sehr begehrt: In dem schönen Altbau im Lehel hatte auch eine Modelagentur ihre Büros, und so konnte man sicher sein, attraktive junge Damen zu sehen, die auch selbst gute Gründe hatten, nach jungen Anwälten Ausschau zu halten. Ich kannte Reiner Ponschab noch aus dem Studium, da war er Assistent bei Sten Gagnér, einem Rechtshistoriker. Nach dem Examen war er zunächst bei Peat Marwick in München auf einer Planstelle, die zwei Jahre später von Peters und Schönberger besetzt wurde – und deren Nachfolger waren bis 1986 Haarmann und Hemmelrath. Nun war er bei Gleiss, um sich den letzten Schliff zu holen (neben ihm saß Jobst Hubertus Bauer66), aber so ganz schien es ihm in Stuttgart nicht zu gefallen. Anfang 1980 kam er als Partner zu uns, und in der Folgezeit haben wir so ziemlich alle Formen der Zusammenarbeit mit Steuerfachleuten ausprobiert, die sich denken lassen: eine Steuerabteilung, eine eigene GmbH, eine Partnerschaft mit Steuerberatern, eine Aktiengesellschaft usw. In gewisser Weise gehört unsere spätere Fusion mit PriceWaterhouseCoopers auch in diese strategische Linie der multidisziplinären Zusammenarbeit. Bei alldem habe ich eines mit Sicherheit gelernt: Die enge Zusammenarbeit im Bereich Recht/Wirtschaft/Steuern ist im Wirtschaftsrecht mit ganz wenigen Ausnahmen unverzichtbar. Aber die Idee, die drei Fächer könnten gleichberechtigt nebeneinander wirken, ist illusionär. Rechtsanwälte denken in völlig anderen Perspektiven als Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer, sie sind aggressiver und müssen es sein. Diese Eigenschaften wirken sich unmittelbar auf das Management aus. Zudem können Steuerberater und Wirtschaftsprüfer sich eine erheblich größere Zahl von Mitarbeitern als Unterbau zulegen und sind durch die geringere Zahl der Partner sehr viel profitabler als Anwaltskanzleien. Das führt zu Schwierigkeiten bei der Gewinnverteilung und der Bewertung, wenn man all diese Berufsgruppen in einer Sozietät zusammenschließt. Deshalb gibt es nur zwei denkbare Formen, die gut funktionieren: ein Netzwerk von Spezialisten, die sich gut kennen und eng zusammenarbeiten, oder eine einheitliche Firma, in der entweder Anwälte oder Steuerberater oder Wirtschaftsprüfer das Sagen haben und die anderen Berufsgruppen sich dem anpassen.

3.4.3. Strukturierte Mandate

Der aufregende beauty contest, den wir im ersten Jahr der Gründung bestanden haben, beruhte auf einem Zufall, aber er bot uns die Gelegenheit, eine Menge Erfahrungen zu sammeln, wenn man basierend auf ein- und demselben Geschäftsmodell mit den unterschiedlichsten Einwendungen zu kämpfen hat. Man lernt jedes Amtsgericht in Deutschland kennen, sieht große Unterschiede in der Art und Weise, wie sie den Fall anfassen, und kann die Abläufe in gewissen Grenzen schematisieren. Das ging auch schon, bevor es Computer gab.

So waren wir gut vorbereitet, als das zweite größere Mandat ebenso ungeplant auf uns zukam. Die Europäische Reiseversicherung beschäftigte bundesweit immer eine Vielzahl von Anwälten und gab uns eines Tages auch die Chance, sie zu vertreten. Nicht alle Kollegen hätten sich darüber gefreut, denn wenn Reisegepäck abhandenkommt, sind die Streitwerte niedrig, und obwohl man die Fälle nach den AGB und den versicherungsrechtlichen Standardvorschriften abwickelt, sieht man eine erstaunliche Art von Varianten, wie Gepäck abhandenkommen kann: Familien packen ihr Auto voll, gehen noch einen Kaffee trinken, bevor es auf die Autobahn geht, und in der Zwischenzeit hat jemand das Auto geklaut: Hatte die Reise schon begonnen? Oder viel häufiger der umgekehrte Fall: Nachts um 23 Uhr kommt der Reisende nach Hause, will in der Stammkneipe noch einen heben und dann ist das Auto ist weg: War die Reise vorher schon beendet?

Wer sich mit Versicherungsrecht auskennt, weiß, dass kaum jemand die vielen Obliegenheiten erfüllen kann, die er einhalten muss, um seinen Anspruch zu sichern. In Marseille wird das Gepäck geklaut und keiner kann Französisch: Also geht auch niemand zur Polizei. Wer kann ein indonesisches Polizeiprotokoll lesen? Nach der Übersetzung zeigt sich, dass es völlig lückenhaft ist, der Sachverhalt kann nicht rekonstruiert werden und schon fehlt wieder eine Bedingung für den Versicherungsschutz. Die Folge: Jedes Amtsgericht entscheidet sehr ähnliche Fälle völlig anders, die Versicherung kann nichts planen, ihre Mathematiker verzweifeln, die Schriftsätze werden dick und es kommt am Ende doch nichts dabei heraus.

Ich entdeckte diese Feinheiten, als Reinhard Dallmayr im Urlaub war und ich seine Fälle für zwei Wochen übernahm. Er hatte sich schon Checklisten erarbeitet, ich entwickelte nun Textbausteine zu den wichtigsten Grundvarianten und ergänzte sie, denn mir war eine Idee gekommen: Die Sachbearbeiter der Versicherung hatten uns bis dahin immer die gesamte Schadensakte auf den Tisch gelegt, und es kostete eine unglaubliche Zeit, aus ihr die relevanten Informationen zu entnehmen. Wir entwickelten ein Formblatt, aus dem man die wesentliche rechtliche Position der Versicherungen nehmen konnte, und baten, es zusammen mit dem Mandatsauftrag auszufüllen. Die Sachbearbeiter waren nicht begeistert über diese Zusatzarbeit, aber ich versprach ihnen eine Gegenleistung: Mit einer sehr einfachen Software speicherten wir alle Urteile, die wir erstritten, zusammen mit den Merkmalen, die in dem Formblatt erfasst waren, und auf einmal gab es erstaunliche Effekte: Das Amtsgericht Flensburg hatte im Januar 1979 entschieden, dass ein Mann, der auf der Flughafentoilette in Bombay sein Gepäck hinter sich stellt, die Obliegenheit verletzt, es ständig im Auge zu behalten. Ich sollte diesen Flughafen ein Jahr später noch persönlich kennen lernen, aber auch ohne da hineingerochen zu haben, war mir klar: Da konnte man nicht vom Boden essen, und wenn man die Obliegenheiten präzise erfüllen wollte, musste man auf sein eigenes Gepäck pinkeln. Ein mutiger Amtsrichter! Die Versicherung war begeistert, denn die meisten Amtsgerichte hatten bisher gegen sie entschieden. Als die nächste Sache nach Flensburg kam, legten wir das wichtige Präjudiz bei, denn der Richter hatte gewechselt. Sein Kollege schloss sich dem früheren Urteil an, und nun konnten wir dem Amtsgericht Garmisch-Partenkirchen die ständige Rechtsprechung der Flensburger Kollegen nachweisen. Da kam der Richter ins Grübeln.

All diese Erkenntnisse arbeiteten die Sachbearbeiter nun in die außergerichtliche Korrespondenz ein. Wir hatten weniger zu streiten, konnten beim Vorstand aber anregen, ihn auch in solchen organisatorischen Fragen zu beraten. So eröffneten sich neue Tätigkeitsfelder.

Was nichts daran ändert, dass die Mandate mühevoll waren. Wer Verbraucher vertritt, hat meistens nur hier und da einen Fall und kann mit dem geballten Wissen von Banken und Versicherungen schlecht mithalten. Wer sie vertritt, muss einiges aushalten. »Ich gehe bestimmt zur Polizei und zeige sie an … was Sie mit uns gemacht haben, ist gelinde gesagt eine Schweinerei« bekommt man zu hören. Als wir in einer Sache darauf hinwiesen, dass man in südlichen Ländern aufmerksamer auf sein Gepäck aufpassen muss als im Norden, schrieb der Anwalt des Klägers: »Ebenso dürfte die Feststellung der Beklagten, wonach die Diebstahlsgefahr steigt ›je südlicher man sich begibt‹ kaum der Richtigkeit entsprechen, da ansonsten am Südpol die Diebstahlsgefahr sozusagen ins Unermessliche gewachsen wäre.« Logisch, aber unsinnig – wie so oft in den Rechtswissenschaften. Der Fall wird immer im Sachverhalt gewonnen.

3.4.4. Bauträger und Zahnmedizinstudenten – ein unvorhersehbarer Konflikt

Der Versuch, auch die Mandate aus dem Baurecht in ähnlicher Weise zu strukturieren, ist uns nie gelungen. Vermutlich kann man es lösen, wenn man sich viel stärker auf das Thema spezialisiert, als es uns möglich war. Bei Kapellmann67 sehe ich Ideen, die ich im Computerrecht entwickelt habe und die auf das technisch verwandte Thema wohl anwendbar sind. Aber immer wird es hier – wie im Computerrecht – bedeutende Lücken geben, denn ein Bau ist so komplex und organisch wie ein Lebewesen. Es ist völlig normal, dass ein Bauwerk wie der Berliner Flughafen 2012 30 % teurer wird, als man ihn geplant hat. Man kann noch froh sein, dass die Kosten nicht um 700 % steigen wie bei der Hamburger Philharmonie (Kostensteigerung zwischen 2007 und 2012 von 77 Millionen € auf knapp 500 Millionen €). Nicht nur die Preissteigerungen sind unvermeidlich, auch die technischen Anforderungen ändern sich ständig, und niemand hat den Überblick über die Zahl der Subunternehmer und der Schnittstellen, die sich überall ergeben. Und dann der ständige Kampf mit den Architekten. Wenn sie sich als Künstler sehen, ist schwer mit ihnen zu reden, sind sie aber nur Geschäftsleute, dann hat man oft noch weniger Spaß mit ihnen.

Am Anfang schaltete die EIWOBAU uns nur ein, wenn Baumängel umstritten waren: Der Estrich schwamm nicht richtig, die Fensterdichtungen klapperten, der Maler hatte das Bad vergessen usw. Wenn man sich für Technik interessiert, wie ich, gibt es da eine Menge zu sehen. Als Erstes lernte ich, dass es für den Anwalt gut ist, auf die Baustelle zu gehen. Da trifft er den Polier, den Baustatiker, den Planungsarchitekten und viele Figuren, die später auf der Bühne des Prozesses eine Rolle spielen werden. 2–3 Jahre später übernahm Justin von Kessel auch das Bauplanungsrecht, das er schon von Offinger her kannte. Das ist reines Öffentliches Recht, aber auf das Engste mit der finanziellen Planung verbunden: Bevor man nicht weiß, was und wie man bauen darf, ist es unmöglich, finanziell zu planen, und solange man das nicht kann, gibt es keine Finanzierung, keine Prospekte, keinen Vertrieb, keinen Markt. Das Eigenkapital von Bauträgerunternehmen reicht meist nur für die Planung und die Aufrechterhaltung des eigenen Apparats, im besten Fall für 2–3 Jahre. Das eigentliche Geschäft, nämlich den Erwerb von Grundstücken und die Zwischenfinanzierung bis zum endgültigen Verkauf bzw. der Abnahme, finanzierte die EIWOBAU wie alle anderen über Bauträgermodelle oder vergleichbare Finanzierungsformen.

Das kritische Problem ist der Grundstückserwerb. Die Banken müssen überzeugt werden, dass das geplante Vorhaben realisiert werden kann und marktfähig ist, und dabei ist der Zeitraum zwischen Kauf und Abnahme entscheidend: Je länger er ist, desto höher die Zinsen (deren Höhe ebenfalls häufig schwankt), und der Vertriebserfolg hängt von so vielen Faktoren ab, dass Prognosen schwierig sind. In einem notorisch engen Verkäufermarkt wie München sind diese Probleme relativ gering, und trotzdem verlängerte sich ab 1978 auf einmal die Spanne zwischen Kauf und Fertigstellung von 18 Monaten auf 3–5 Jahre und konnte am Ende bei neuen Erschießungen nicht mehr fest geplant werden. Während man früher Grundstücke kaufte, reichte jetzt das Geld gerade noch für Optionen. Also entwarfen wir – wie 1992 auch für die Gegend um den Berliner Flughafen – keine Kaufverträge, sondern nur noch Optionsverträge und mussten gleichzeitig zusehen, wie auch die immer weniger wurden.

Wie kam das? Die Antwort wird man schwer glauben: Klagewütige Zahnarztstudenten waren es, die die Planung der Bauträger ruinierten. Und das kam so:

Wie jeder weiß, ist es gut, wenn man sich mit der Baubehörde rechtlich nicht anlegt. Die einfachste Form, die entscheidenden Personen bei Laune zu halten, ist auf der ganzen Welt die Bestechung. Sie erspart eine Menge gerichtlichen Ärger und ist so gesehen relativ billig. Auch München hatte seine Skandale in diese Richtung, aber ein seriöser Bauträger konnte auch damals schon ohne Bestechung auskommen und seine Interessen mit gerichtlicher Hilfe durchsetzen. Bei Ermessensfragen ist das schwierig, aber bei der Geschossflächenzahl, den nötigen Parkplätzen oder fragwürdigen Auflagen konnte man klagen und – weil es meist um Rechtsfragen ging – in 12–15 Monaten mit einem Urteil rechnen. Für diese Klagen der Bauträger waren beim Verwaltungsgericht München zwei Kammern zuständig, besetzt mit sachkundigen Richtern, und so hatte das Ganze sich gut eingespielt.

Gleichzeitig gab es Krach an den Universitäten. Der Numerus clausus war eingeführt worden, die Zahl der zugelassenen Studenten hing von den Kapazitäten ab und bei den Medizinern und Zahnmedizinern rechnete die Universität sich zunächst ganz bewusst arm. Auf dem Papier hatte sie vielleicht Platz für 200 Studenten, aber dahinter versteckten sich Studienplätze für 30–40 Anwärter, die nur vergeben wurden, wenn man um sie kämpfte. Und das geschah durch Einstweilige Verfügung.

Einstweilige Verfügungen haben prozessual immer Vorrang vor allen normalen Klagesachen. Sie dürfen aber die Hauptsache nicht vorwegnehmen, und deshalb hat man im Baurecht nur selten die Chance, eine zu bekommen. Anders bei den Studienplätzen: Da wird das hingenommen, weil ein Student, der zehn Jahre auf seinen Studienplatz warten müsste, kein Student mehr sein kann. Bei Bauträgern ist das anders: Sie können auch in zehn Jahren noch bauen, wenn sie bis dahin die Finanzierung des Grundstücks durchhalten und nicht insolvent sind. Eine solche Güterabwägung ist aber nie Sache des Gerichts. Es ist die Planung der Justizbehörde, die das steuern muss und deren erste Maßnahme war: Wir ändern die Geschäftsverteilung und ab sofort sind soundsoviel Kammern auch für die Einstweiligen Verfügungen um die Studienplätze zuständig. Die Bauplanungsklagen blieben liegen. Die Richter lernten nun Hochschulrecht und urteilten rund um die Uhr. Erst ein Jahr, dann zwei Jahre, neue Baukammern wurden nicht geschaffen, weil die Budgets fehlten, und unterdessen brach der Markt für freifinanzierte Immobilien in München langsam, aber stetig zusammen. Nur dort, wo eindeutiges Baurecht bestand und nicht erst erkämpft werden musste, wurde noch gebaut, alle fragwürdigen Grundstücke blieben liegen. Es kämpfte niemand mehr um sie. Und vermutlich hat sich auch die Bestechungspraxis wieder ein bisschen erholt: Trotz der lückenlos wirkenden Antikorruptionsmaßnahmen der Stadt erwischte es bei der letzten großen Korruptionsaffäre 2008 wieder einmal neun Baukontrollmeister und ihre Chefs.68

Solche Entwicklungen beruhen darauf, dass Komplexität sich der Planung entzieht. In Freiburg hörte ich 1967 von Joseph H. Kaiser das erste Mal den Begriff planification, der von den Universitäten Straßburg und Paris zu uns herüberdrang. Auch im Öffentlichen Recht (Martin Bullinger) beschäftigte man sich damit. Die Grundidee war – sehr französisch an Descartes angelehnt –, große planerische Gerüste zu erstellen, in denen am Ende jedes Problem und seine Lösung Platz finden könnten. Man würde Übersicht gewinnen. Die mächtigen Computersysteme, die danach im Markt auftraten, unterstützten diese Vorstellungen. Aber schon 1989 zeigte unter anderem Dietrich Dörner (Universität Bamberg) mithilfe einer programmierten Simulation, dass Planung so verstanden nicht möglich ist.69 Der Grund: Die Komplexität auch einfach wirkender Entscheidungen ist so groß, dass man immer wieder das Verfahren von Versuch und Irrtum anwenden muss. Damit man nicht mit einem Handgriff alles ruiniert, muss man die Versuche zunächst auf kleine Teilmengen beschränken und dann gegebenenfalls ausweiten. Genauso wird es heute mit großen Computersystemen gemacht: Erst nach vielen Testversionen versucht man kleinere Installationen mit Echtdaten usw., bevor man dann endlich das ganze System »ausrollt«.

Diese Zusammenhänge sah in München niemand, und es hätte sie auch niemand sehen können: Man kann nur das planerisch erfassen, was wenigstens als Möglichkeit vor dem inneren Auge steht, und wer hätte ahnen können, dass in dem Kampf um die Kapazitäten der Justiz, der sich hier zwischen Bauträgern und Medizinstudenten abspielte, nicht nur die Bauträger, sondern vor allem der Mittelstand, der keinen Anspruch auf Sozialwohnungen hat, von den ständig steigenden Preisen erdrückt wird. Das sind nämlich die Leute, die seit jeher 30 % bis 50 % ihres Einkommens fürs Wohnen ausgeben müssen. Ob eine neue Kammer für Baurecht ihnen geholfen hätte?

Mit diesen Problemen müssen unsere jüngeren Partner, die im Immobilienrecht tätig sind, sich nicht mehr herumschlagen. Aber es ist eher komplexer geworden, denn bei Immobilien geht es immer auch um die Finanzierung. Das Bread-and-butter-Geschäft ist heute die Beratung der Investoren, Makler70, Architekten usw. bei Gewerbeimmobilien und die rechtliche Begleitung der Finanzierung. Jan Dittmann, Christian Weinheimer, Christoph Hamm, Karl-Hubert Menne, Bernhard J. Schex, Benedikt Lehr und andere Anwälte dieser Gruppe müssen heute komplexere Aufgaben lösen als wir.

3.4.5. Erben und Hoffnungsträger

Langsam bewegten wir uns ins Wirtschaftsrecht. Die Mandatsliste zeigte schon ab 1980 mehr und mehr Firmen und weniger Privatpersonen. Das geschah unmerklich – 1984 waren wir erst fünf Anwälte und etwa jedes Jahr kam ein neuer hinzu. Es dauerte noch einige Jahre, bis wir endlich den Unterschied zwischen reichen Privatpersonen, Unternehmen und ihren Unternehmern verstanden. Abhängig von den jeweiligen Rahmenbedingungen gehen sie ganz unterschiedlich an ihre Rechtsprobleme heran.

Rasmus Hofstedde erschien auf Empfehlung seines Onkels, der schon seit langen Jahren als Privatgelehrter in Rom lebte, und stellte sich als Heilpraktiker vor. Die passenden Birkenstock-Sandalen hatte er schon an, auch das ungefärbte Baumwollhemd und der lange Zopf passten zu seinem Beruf. Nur sein seidenes Jackett ließ ahnen, dass er Kommanditist eines weltberühmten Unternehmens war – eine von ungefähr 280 Personen. »Ich bin Millionär und lebe wie ein Hund«, sagte er, »das bisschen Geld, das die persönlich Haftenden ausschütten – da sitzen noch drei Testamentsvollstrecker drauf und die spielen Fußball mit mir.« Die Bilanzen mussten damals nicht veröffentlicht werden, aber bezogen auf seinen Anteil hätten wohl 100.000 € pro Jahr herausspringen sollen, es waren aber gerade mal 18.000 €. »Damit kann ich nicht mal das Haus halten.« Das Haus seiner Großeltern, das er in Dahlem geerbt hatte, stand unter Denkmalschutz und war ein Fass ohne Boden. Die Kostenübersichten, die er mitgebracht hatte, zeigten das leider nur zu deutlich. Wenn man in die Eingangshalle trat, fühlte man sich in das Haus der Buddenbrooks versetzt, sogar der große Bär, der die Visitenkarten entgegennahm, stand zerzaust in der Ecke. Zum Tee konnte man Familiensilber aus dem 18. Jahrhundert bewundern.

Hofstedde wollte verkaufen, nach dem Gesellschaftsvertrag war das aber nur im Kreis der Gesellschafter möglich, und es sollte auch nur der Buchwert bezahlt werden. Der lag weit unter dem, was die Firma wirklich wert war. Und selbst zu diesem Preis wollte niemand kaufen! Ein wirkliches Dilemma – noch nie hatte ich zuvor einen wirklich armen Reichen gesehen.

Die nachfolgende Arbeit, die sich über mehrere Jahre hinzog, wurde am Ende von 25 Anwaltsbüros erledigt (einige davon im Ausland). Es bildeten sich Pools von Gesellschaftern, Testamentsvollstrecker, die sich unlauter bereichert hatten, mussten mit Klagen entfernt werden, die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sah alte Verträge der geschilderten Art immer mehr als unzulässig an, und schrittweise gelangte man zu neuen Verträgen, die die Lage der armen Gesellschafter deutlich verbesserte. Wer in einer solchen Situation einmal beraten hat, weiß für seine künftige Vertragspraxis, dass Privatvermögen schon durch die Zersplitterung nach mehreren Erbfällen im Winde verwehen können – wenn aber wie hier das Unternehmen floriert, muss man strategisch über die richtige Gesellschafterstruktur nachdenken. Mit Glück kann man sie finden.

Viel weniger Glück hatte Hans von Dotscherl, weil er jeden Monat unglaublich hohe Beträge aus seinem Gesellschafterkonto abrufen konnte. Er hatte mal den Versuch gemacht, Biotechnologie zu studieren, wechselte dann in die Theaterwissenschaften, aber diese Aktivitäten versandeten, weil sein Privatleben so aufregend war. Er sah gut aus, schwamm im Geld und ließ Mädels, die ihm huldigten, auch darin schwimmen. Es gab ein ausdrückliches Verbot, zu Partys irgendwelche Geschenke mitzubringen. Stattdessen stand in seiner Wohnung eine riesige Schale, in die jedermann sein Kleingeld warf. Alle Währungen der Welt fanden sich darin. Nicht nur die Putzfrauen, auch viele Schnorrer bedienten sich daraus. Gelegentlich mietete er sich im Morgengrauen einen Privatflieger, um den Pseudo-Jet-Set, der sich ihm angeschlossen hatte, nach Nizza zu karren: Da wurden die Sonnenbrillen aufgesetzt, und die Freunde der italienischen Oper beschäftigten sich damit, in der Morgensonne den letzten (oder ersten?) Drink reinzutreiben. War er mal nicht flüssig, drängten sich die Bankiers zu seinen Füßen, um ihm Kredite anzubieten.

Er kam zu uns mit dem Auftrag, den Vertrag für ein Mouse-House zu entwerfen. Das ist eine Forschungsstation für Labormäuse, das er als Mäzen erbauen und dann einer Stiftung zur Verfügung stellen wollte. Eigentlich denkt man, dass es nicht so schwer sein kann, einen Hühnerstall zu bauen, und besser als die Hühner müssen auch die Labormäuse nicht leben, dachte ich mir. Wie naiv man sein kann! Der Witz bei den Labormäusen ist, dass jeder einzelne Stamm über Jahre hinweg dieselben genetischen Eigenschaften haben muss, damit man die unterschiedlichen Stoffe, die mit ihnen getestet werden, unter stabilen Umgebungsbedingungen prüfen kann. Sonst bekommt man Moving Targets – wenn einzelne Mäuse sich nur geringfügig von anderen unterscheiden, variieren die Forschungsergebnisse zu stark. Also wird das Futter nach Rezepten hergestellt, die wirkten, wie von Ferran Adrià entworfen (viel Flüssigstickstoff!71). Die Fertigung wurde jede Woche an Stichproben überprüft, die Klimaanlage hing an Notstromaggregaten, Reinräume für die Labore waren vorhanden und die Datensicherung genügte militärischen Sicherheitsvorkehrungen: All das führt zu hohen Anforderungen an die Konstruktionsverträge, die Abnahme durch Gutachter, die ständige Information an Behörden und wissenschaftliche Institute et cetera.

Als das Haus fertig war, war auch Hans von Dotscherl fertig. Die letzten Tranchen der Finanzierung hatte er nur noch mit Krediten aufbringen können, auch privat waren seine Konten schon lange in den roten Zahlen und irgendwann hatte einer der Gläubiger die Geduld verloren. Sein Kapitalvermögen wurde gepfändet, und das führte zu einer Kettenreaktion: Er wurde aus der Gesellschaft ausgeschlossen, mit dem Wert seiner Anteile bezahlte man die Schulden und weil sein neurotischer Kern unter dem Stress explodiert war, bekam er auch einen Vormund. Jahre danach rief er mich an, berichtete, dass er die Vormundschaft wieder losgeworden war, und bat mich, am Wochenende auf seinen nahe an der holländischen Grenze gelegenen Hof zu kommen, den er nach dem Desaster geerbt hatte. Ein früh ergrauter Landedelmann zeigte sich hier, der mir mit berechtigtem Stolz seine Hundepension vorführte. Neben ihm seine nette Frau in rotgesäumter Trachtenschürze, die er als Hundeführerin ins Herz geschlossen hatte. Denn begonnen hatte er damit, die Hunde der Stadtmenschen von Köln bis Essen auszuführen, und daraus war eine kleine Firma geworden, die Langzeitarbeitslose mit dieser Tätigkeit beschäftigte und einen kleinen Gewinn abwarf. So stieß er auf ein massives Problem: Wo bleibt der Hund im Urlaub, wenn man nach Indonesien will? Hundepensionen sind meistens Drecklöcher, aber hier sah ich die Reste unserer Planung für das Mouse House: Die kleineren Terrier hatten Blümchensofas, Rottweiler ruhten auf Samt, die Tapete im Apartment der Dalmatiner passte zu ihren Mustern. Am liebsten hätte man sich gleich neben die Hunde gelegt, so elegant war alles angelegt.

In seinem Fall hatte die Erbschaft den Erben ruiniert, der dann wieder auf die Beine gekommen war. Andere, denen die Erbschaft lediglich in Aussicht gestellt wird, haben es schwerer. Ich bin Leuten begegnet, die ihr Leben nach den Launen von Erbttanten ausgerichtet haben: Zu den Geburtstagen versammelte sich eine Handvoll Verwandter, denen sie Teile ihres Erbes in Aussicht gestellt hatten. Zornbebend wurden mir diese Szenen geschildert, wenn sich beim Ableben herausgestellt hatte, dass wieder einmal alles an den Tierschutzverein, die Kirchen oder fragwürdige Pflegepersonen gegangen war. »Den Picasso hat sie mir versprochen und das Rokokoschränkchen, da hab’ ich schon als Kind dran gehangen« – von den Konten ganz zu schweigen, dachte ich mir, denn über Geld wird ja nie geredet. Willkür ist die Seele der dunklen Macht, und wer sich in den Machtspielen der Erbfolge verliert, hat schon verloren. Einer künstlerisch veranlagten Frau wurde ihr Berufswunsch ausgeredet, weil sie als Erbin betriebswirtschaftliche Kenntnisse brauchen würde – lange vorher war der Betrieb ruiniert. Jeder von ihnen hätte rechtzeitig von seinem Anwalt hören können, wie gefährlich das ist: Wer sein Geld nicht verdient, weiß nie, wie er aus dem Loch kommt, wenn er es verloren hat. Geld haben und Geld machen können ist ein Unterschied, den viele nicht kennen.

3.4.6. Unternehmer und Unternehmen

Die Arbeit für Unternehmer und Unternehmen ist herausfordernder als jede andere. Unternehmer sind mächtige Leute mit einem gesunden Selbstbewusstsein und wollen, dass ihre Anwälte schnell, zuverlässig und engagiert arbeiten. Der Schnelligkeit wird zu wenig Bedeutung beigemessen. Schnelle Anwälte (wie z. B. Reinhard Pöllath) bleiben einem immer im Gedächtnis, aber mehr noch: Sie können nur deshalb schnell sein, weil sie ein hohes Präsenzwissen haben! Das erreicht man nur durch Spezialisierung und notfalls die Fähigkeit, sich sehr schnell einzuarbeiten. Das Engagement seines Anwalts kann kein Unternehmer kaufen, es ist ein Geschenk an die Mandanten, die unsere Arbeit zu schätzen wissen.

Unternehmer gehen mit ihrem privaten Vermögen meist professionell um, wenn sie das auch mit ihren Unternehmen tun. Aber auch da können sie sich verrennen. Ich habe einmal im Auftrag eines Unternehmers eine Expressreinigung verklagt, weil sie den Anzug meines Mandanten ruiniert hat. Das kostete fünf Stunden Arbeit, also etwa 1500 € Honorar und ungefähr das Doppelte an Gerichtskosten, weil auch zwei Gutachter sich darum stritten, ob die Reinigungslösung nun richtig gemischt worden war oder nicht. Wie schon am Anfang vermutet, habe ich diese Klage verloren, vor der ich ihn gewarnt hatte. Aber er bestand unbedingt darauf, um den anderen zu zeigen, dass man mit ihm nicht Schlitten fahren kann – auch das natürlich ein Machtspiel, das im Unternehmen wie auf der privaten Ebene nützlich oder schädlich sein kann.

Im Unternehmen muss die Rechtsabteilung dafür sorgen, dass solche Planungsfehler nicht vorkommen. Sehr viele Unternehmen wissen gar nicht, was eine Rechtsabteilung ist. Nicht immer gibt es wenigstens eine Planstelle, in der (auch) rechtliche Konflikte gemanaged werden. An der Art und Weise, wie das organisiert ist, sieht man, ob Rechtsprobleme überhaupt im Fokus der Geschäftsführung liegen. Eine ziemlich große Computerfirma hatte diese Stelle mit einer Psychologin besetzt, weil ihre Rechtsprobleme in erster Linie darin bestanden, sich hin und wieder mit ihren Softwareentwicklern zu streiten. Im Projektrecht war sie völlig überfordert und versuchte die Grundsatzfragen mit einer Appeasement-Politik zu übertünchen, die der Strategie des Unternehmens nur schaden konnte. Jedes Unternehmen sollte intern oder extern einen Consigliere haben, der nach dem 4-Augen-Prinzip bei allen wichtigen Fragen wenigstens informiert und gelegentlich auch gefragt wird. Wenn dann der Vorstand von wichtigen Konferenzen zurückkehrt und seine Steuerberater fragt, warum sie ihm nicht schon längst eine Zweigniederlassung in Gibraltar oder Malta empfohlen haben wird er sich vielleicht gedrängt fühlen, diese Anregung umzusetzen. Aber nur ein Anwalt weiß, dass schon die Namen dieser Orte jedem Steuerfahnder laut in den Ohren klingen und wird davor warnen: Selbst wenn alles steuerlich richtig geplant ist, wird es immer wieder Sonderbetriebsprüfungen geben, weil der Verdacht in den Kleidern hängen bleibt.

So verstanden wir langsam, dass man erst einmal die Organisationsstruktur eines Unternehmens kennen lernen muss, bevor man Rat geben kann. Dann stellt man fest, dass es keine Organigramme gibt (das sicherste Indiz für Management auf Zuruf), dass niemand weiß, wo die Verträge archiviert sind (dadurch werden rechtlich wichtige Fristen und Termine ständig übersehen) und erst massive Steuerprüfungen oder Complianceprobleme können daran etwas ändern. Oft sind es kleine Details, an denen man schon genau sehen kann, mit wem man es zu tun hat. Man stößt auf sie nur, wenn man das Unternehmen besucht. Früher kamen Geschäftsführer oder Prokuristen zu uns, jetzt gingen wir zu ihnen. Als Erstes erlebt man die Empfangsdamen mehr oder weniger kompetent ihre Arbeit verrichten. Dann sieht man sich den Fußboden an: Wenn er ebenso abgetreten ist wie die Farbe an den Wänden abblättert, wird man mit hohen Honorarforderungen auf Widerstand stoßen. Das kann aber genauso sein, wenn man sehr luxuriös empfangen wird.

3.4.7. Ein Yachthafen am Cap Sounion

1980. »Hat einer von euch schon mal im Ägäischen Meer gesegelt? Ein Sonnenuntergang am Cap Sounion, wo Sokrates den Schierlingsbecher trank, ein heiliger Platz – aber keiner kann dahin. Um Athen herum gibt es nirgendwo einen Yachthafen. Die müssen alle nach Jugoslawien oder Italien. Wir machen in Griechenland den ersten eleganten Yacht Club, der zieht die Liegeplätze nach. Ich stelle das Projekt auf der nächsten London Boat Show vor, das wird der Renner der Saison!« Wir saßen im Bibliotheksraum des Hilton Parkhotels in München, Dr. Dieter Daxer hatte uns eingeladen. Wenn er ins Schwärmen kam, war er unwiderstehlich. Ein 2-Meter-Sportsmann durch und durch, Europameisterschaften hatte er gewonnen und war wirklich ein Vertriebsgenie, denn er glaubte alles, was er sagte. Wir standen sprachlos vor dem riesigen Modell des geplanten Yachthafens, das er in 14 Tagen mit nach London nehmen wollte. Da sollten die Interessenten nebenbei einen Letter of Intent unterschreiben, eine kleine Anzahlung »so ungefähr 30.000 DM« leisten und in fünf Jahren könnten sie ihren Liegeplatz dann benutzen. »Natürlich brauchen wir Prospekte und Verträge«, erwähnte er ganz am Rande, und wir wähnten uns im Glück, bis sich herausstellte, dass dahinter nur die Einladung steckte, uns statt eines Honorars an dem Projekt zu beteiligen.

Die Idee hatte er aus Start-up-Projekten in den USA und ich kannte sie. In Deutschland würde das auf massive berufsrechtliche Schwierigkeiten stoßen. Vor den Verträgen hatten wir keine Sorgen, denn das griechische Recht hat sich weit gehend nach deutschen Vorbildern entwickelt: Prinz Otto von Bayern, der erste griechische König, hatte es mit einigen Beamten 1833 aus München mitgebracht, um dem entstehenden Staat ein Gerüst zu geben und deshalb werden auch heute noch viele Juristen in Deutschland ausgebildet. Das Problem war die Formulierung der Prospekte. In den Achtzigerjahren gab es dazu noch keine ausgefeilte Rechtsprechung, und jedenfalls die Anwälte waren sich sicher, für nichts zu haften, das machten ja auch die Wirtschaftsprüfer, wenn sie sich mit der Prospektprüfung beschäftigten. Aber wir spürten, dass die Situation sich ändern könnte.

Die entscheidende Frage war: Durfte man da bauen? Dr. Daxer deutete zart an, er habe da schon Fühler ausgestreckt, natürlich nur über geeignete Mittelsmänner, eng verwandt mit dem Wirtschaftsminister und allen möglichen Gutachtern. »Leider haben wir noch gar nichts in der Hand, das dauert mindestens zwei Jahre.« Wir gaben ihm den Rat, die Finger von der Sache zu lassen, aber er ließ nicht locker (das Hotel in London war schon gebucht). Immerhin verzichtete er auf den geplanten Letter of Intent und legte nur Zeichnungslisten auf, um die Adressen der Interessenten einzusammeln. Die Reaktion war unglaublich: In zwei Tagen waren die 500 Plätze vierfach überbucht, und zwar zu Preisen, die unglaublich hoch waren – er hatte wieder mal den richtigen Riecher.

Wir gründeten ihm die »Yachthafen Cap Sounion Planung und Vertrieb GmbH«, und er versprach, uns auch für künftige Leistungen einen Anteil an dem Unternehmen zu übertragen, sobald die Baugenehmigung da sei. »Von dir brauchen wir kein Geld«, sagte ich, »gib uns lieber die Konzession für das Clubrestaurant.« In Griechenland hatte ich immer den verbranntesten Fisch aller Zeiten gegessen, und wenn ich da am Grill stünde, könnte ich das ändern. Außerdem würden die Griechen den Unterschied zwischen Lamm und Hammel kennen lernen, den sie häufig ignorieren. Im Hafen lägen wie in Barcelona nicht nur die Schiffe der High Society, sondern auch die Yachten der Computerspezialisten, denn in zehn Jahren könnte sich hier das Silicon Valley Europas entwickeln. Mit siebzig würde ich ganz in den Hafen ziehen, bei Sonnenuntergang den nightcap nehmen und auf der Terrasse die Gäste begrüßen – und zwar auf Griechisch, da hätten die Seminare von Erik Wolf in Freiburg über Platos Frühdialoge noch irgendeinen Sinn gehabt.

Beflügelt von diesen Fantasien suchten wir den fähigsten Anwalt für Bauplanungsrecht in Athen. So jemanden gab es nicht, weil das ganze Rechtsgebiet nicht existierte: Die Grundstücke waren nicht einmal im Kataster erfasst, ein Grundbuch gab es nicht – auf welcher Grundlage sollte man da planen? Wer etwas bauen wollte, ging mit den Leuten, die darüber zu entscheiden haben, so lange in allen denkbaren Konstellationen zum Abendessen, bis es klappte. Wenn die Bilanz der gegenseitigen Freundlichkeiten anders nicht auszugleichen war, brachte wohl auch jemand eine Plastiktüte mit. Um das Gelände zu erforschen, beauftragten wir Prof. Dr. Athanasios Sirtaki, der in München studiert hatte und fließend Deutsch sprach. Da lief er einige Jahre als Assistent im Strafrecht über die Gänge. Sirtaki war mit nahezu allen Politikern oder Beamten verwandt oder verschwägert, die bei der Entscheidung eine Rolle spielen würden. Neben seiner Lehrtätigkeit (oder eher: hauptberuflich) hatte er ein Anwaltsbüro mit einer ganzen Reihe junger Anwälte.

Griechenland hat – bezogen auf die Bevölkerungszahl – etwa dreimal so viele Anwälte wie Deutschland. Aber Arbeit haben sie keine. Die Dikigoroi können ihren Titel direkt nach dem Universitätsstudium mit 24 oder 25 Jahren bekommen, und viele behalten den Titel wie in Italien oder Spanien nur deshalb, weil es auf der Visitenkarte gut aussieht. Die angestellten jungen Anwälte bekommen im besten Fall so viel bezahlt wie eine Sekretärin. Sie warten auf die Chance, sich mit irgendjemandem, den sie kennen lernen, selbstständig zu machen oder Consigliere der Familie zu werden. Heute gibt es hier und da Sozietäten, aber das ist eine ganz junge Entwicklung.

Nach einem Jahr lag das Ergebnis unzähliger Gespräche mit allen denkbaren Ministerien vor. Wir saßen in der Osteria Italiana in der Schellingstraße schräg gegenüber vom Druckhaus München, das seit den Zwanzigerjahren den Völkischen Beobachter gedruckt hatte. Das ist der älteste Italiener in der Stadt (seit 1890) und Hitlers Stammlokal, denn da konnte er vegetarisch essen. Die Fresken von Carlo Wuttke im großen Gastraum spiegeln einen schönen Blick aufs Mittelmeer: »Das Problem sind die Amphoren!«, sagte Athanasios, sog an seiner Zigarre und ließ die zarten Nymphen auf dem Fresko in seinen Rauchschwaden verschwinden. Seit der Münchner Zeit hatte er zugenommen. Hunderte, wenn nicht Tausende Amphoren lagen unten am Fuß des Felsens, teilweise erforscht von der Universität, deren Leute aber immer wieder von den Räubern gestört wurden, die nachts da unten zugange waren. Man hätte umfassende Bergungsarbeiten durchführen müssen, um alles fachgerecht auszuräumen, bevor der Yachtbetrieb losgehen könnte. Dazu waren Anträge bei einer Handvoll griechischer Behörden in Arbeit – aber wann würden sie zu irgendeiner Reaktion führen? »Nicht mal Demiourgos kann das beschleunigen« – das war sein höchstrangiger Kontakt. »Und anderswo an der Küste, geht da gar nichts?« »Da müsst ihr erstmal Wasser bohren, die Straße bauen und Telefon hast du dann immer noch nicht.« So lange konnte niemand warten. Schade um das schöne Modell, das in London so viel Aufsehen erregt hatte.

Es ist nun dreißig Jahre her, seit unsere Fantasien im Meer versunken sind und vielleicht findet irgendjemand in Brüssel noch den alten Antrag von damals. Die damals geplanten zwanzig Millionen für eine überzeugende Infrastrukturmaßnahme wären Peanuts im Rettungsfond für Griechenland. Aber die Rahmenbedingungen fehlen immer noch: 150 Millionen € hat die griechische Regierung von der EU erhalten, um sich ein Katasterwesen aufzubauen, das Herzstück des Grundstücksverkehrs, an dem nicht nur Steuerfolgen, sondern auch die Verkehrsfähigkeit und Beleihbarkeit von Immobilien hängen. In England existiert es seit 1086 n. Chr. In den USA hat es von 1830 bis 1930 gedauert, bis das Land im mittleren Westen vermessen war – und da hatte man wegen der Eisenbahnlinien unter Hochdruck daran gearbeitet. Eines der Probleme: Eine hohe Anzahl der Landvermesser wurde bestochen, um die Ergebnisse zu fälschen, und das war schwer zu verhindern. In Griechenland wurde der Versuch, Grundbücher einzurichten, nach zwei Jahren wortlos eingestellt. EU-Kommissar Frits Bolkestein kämpfte wie ein Löwe, um sein Geld zurückzubekommen, aber es waren nur 75 Millionen € aufzufinden. Der Rest war irgendwo verschwunden. Die Griechen sind auch ohne Grundbücher oder einen Yachthafen glücklich. Sie haben die niedrigste Selbstmordrate in der EU (3,5 auf 100.000), gefolgt von Italien und Spanien. Wir haben fast dreimal so viel (11,9).

3.4.8. Kohleverflüssigung

Schon 1975 hatte sich uns ein erfahrener Industriejurist, Dr. Rohardt, als Bürogemeinschafter angeschlossen. Er beriet – teilweise als Lobbyist – unterschiedliche Technologieunternehmen, und als die Ölkrise 1973 Deutschland vier autofreie Sonntage beschert hatte, konzentrierte er sich auf die Energiepolitik. Damals gab es erst ein einziges kommerzielles Atomkraftwerk (Unterweser), und niemand wusste, wie diese Technologie sich entwickeln würde. Kohleverflüssigung war das Stichwort. Er kannte Ludwig Bölkow, der ihm manchmal sein Haus in den Bergen zur Verfügung stellte. Da saßen wir gelegentlich am Wochenende und diskutierten über staatliche Subventionen, aber auch privatwirtschaftliche Lösungen. Die ersten Fondideen zeichneten sich ab. Währenddessen arbeitete ich in der Küche an der Pasta: Strozzapreti infernali – Priesterwürger, scharf wie Teufel, die ihren Namen verdienen! Aber keiner der Energiekonzerne interessierte sich für alternative Ideen. Die Grünen sollten erst 1983 in den Bundestag kommen und das politische Klima ändern. Die damals noch kaum etablierte Atomkraft ist jetzt schon Vergangenheit. Heute beschäftigen unsere Partner sich intensiv mit erneuerbaren Energien und haben Erfolg damit.

Zwei Jahre später betrachteten wir den Begriff »Kohleverflüssigung« plötzlich aus einer anderen Perspektive. An diesem Abend lud Emir Tabatadze seine »Lieblingsanwälte« zum Abendessen ein. Emir handelte mit Edelmetallen und antiken Münzen. Er war einer der seltenen Spezialisten auf diesem Gebiet und gab auch einen Katalog heraus. Zu dem Ehrentitel »Lieblingsanwälte« waren wir gekommen, weil wir ihm einen Waffenschein verschafft hatten – andere seiner zahlreichen Anwälte waren daran gescheitert. Manchmal gingen wir Samstagmittag an seinem Laden vorbei, den er für seine Kunden fast wie ein Café betrieb: Auf einer Vitrine stand ein großer Schinken in seinem Edelstahlrahmen, Fladenbrot, Wein und Gläser wurden ausgeteilt, man sprach über Gott und die Welt. Die meisten Kunden kannten sich gegenseitig. Eines Samstags – etwa gegen 15 Uhr – klopfte jemand an der Glastür und wurde eingelassen – ein Wiener Münzhändler, dessen Porsche draußen mit laufendem Motor wartete. Wortlos zog er ein Etui aus der Tasche, in dem auf schwarzem Samt drei Goldmünzen lagen. Emir schwieg. »Und«? Emir schwieg und strich sich über die Glatze. Immerhin nahm er das Etui in die Hand und zog seine Lupe heraus. »Ägypten«, sagte der Wiener. Keine Reaktion. »Sind Sie nicht interessiert?« »Vielleicht.« In Ihrem Katalog finden Sie die drei Stücke. Können wir den Preis übernehmen?« »Was sind Kataloge …?« Damit war das Gespräch zu Ende. Der Porsche röhrte davon. »Halbe Stunde warten. Ich seh’ ihn schon kommen. Dann hören wir Preis«, sagte Emir – und genauso kam es: Zum halben Katalogpreis bekam er die Stücke, Emir hängte sich ans Telefon und eine Viertelstunde später hatte er mit 20 % Aufschlag auf den Katalogpreis weiterverkauft. 70 % in einer Dreiviertelstunde – Kompliment! Das war meine erste Lektion in Sachen Verhandlungstaktik: Wer als erster den Preis nennt, hat schon verloren. Die Regel ist unter allen Umständen richtig, und wenn man sie brechen muss, weiß man, dass das Machtgefälle sehr groß ist: Dann muss man handeln, ohne zu wissen, wohin das führt. »Woher haben Sie gemerkt, dass er verkaufen muss?«, fragte ich. »Er lässt Motor laufen«, sagte Emir. »Aber woher wussten Sie, dass er nicht anderswo verkaufen konnte?« »Ladenschluss«. Er hatte über alles nachgedacht. Sein Laden war immer offen.

Nach dem Kaffee berichtete er uns über erstaunliche Preisbewegungen auf dem Markt für Silber. Seit 1973 war der Rohstoff von durchschnittlich fünf US $ pro Feinunze auf zehn US $ gestiegen, dann auf fünfzig, es folgten Barren, Münzen und Sammlerstücke. Emirs international weit verzweigtes Netzwerk von Händlern und Bankleuten sagte weitere Steigerungen voraus. »Jetzt muss man in den Markt einsteigen, aber unter 10 Millionen hat es keinen Sinn.« Diese Größenordnung überstieg seine eigenen Möglichkeiten erheblich. Die Frage: Könnte man einen Fond auflegen, den Anlegern eine vernünftige Rendite in Aussicht stellen und dann abwarten, was geschieht?

Wir machten uns sofort ans Werk: Der Kurs stieg unaufhörlich, und das größte Risiko sahen wir darin, nicht mehr einigermaßen preiswert einkaufen zu können. Es gab wenig Vorbilder, keine Literatur, keine Formularbücher und nur hier und da Erfahrungen aus dem Wertpapier- und Immobilienbereich. Intensive Arbeit vor allem mit Banken war erforderlich, um den Prospekt und die Verträge zu entwerfen. Was wir damals als wasserdicht betrachteten, würde heute in der Luft zerrissen, denn die Anlegerschutzbestimmungen erfassen unzählige Details, die wir damals nicht einmal sehen konnten. Aber wir hatten »Glück«: Um den Abschluss der Arbeit zu feiern, sitzen wir an einem überraschend warmen Föhntag im Februar 1980 bei Emir im Garten und trinken Krim-Sekt. Und um uns die Zeit zu vertreiben, stecken wir hier und da probehalber einen Prospekt mit Begleitbrief in seinen mit Prägestempel verzierten graublauen Umschlag, um zu sehen, wie das wirkt.

Einen Tag später brach der Markt schlagartig zusammen: Die amerikanischen Brüder Bunker und William Hunt hatten gemeinsam mit Arabern und gestützt auf Kredite weltweit Warentermingeschäfte in Silber abgeschlossen und so den Markt manipuliert. Als die Börsenaufsicht es verbot, weitere langfristige Positionen aufzubauen, mussten sie verkaufen, um die kurzfristigen Zinsen zu bedienen. In die fallenden Kurse hinein verkauften die Banken. Und als sie es endlich gelernt hatten, auch die kleinen Spekulanten. Der Kurs fiel unter das Niveau von fünf US $ und blieb dort bis 2004 stehen. Die Kohle war verflüssigt und hatte sich in Luft aufgelöst. Unsere Kohle war es nicht.

3.5. American Graffitti

USA, Route 66
USA, Route 66

3.5.1. Oak Bar, PLAZA, New York, New York

Mai 1978. Sepp Unertl, ein riesiger Niederbayer vom Format eines Eishockeyspielers, Inhaber einer Werbeagentur, und sein Partner, Sergio Germann, ein Deutsch-Italiener aus Südtirol, kennen sich in New York aus. Ich nicht. Die Stadt leuchtet in ihren Bildern, die ich nur aus dem Kino kenne, und auf dem Weg vom Kennedy Airport sieht alles genauso aus wie in Martin Scorseses Taxi Driver. Auch vom amerikanischen Recht habe ich wenig Ahnung. Im Grunde soll ich eher wie der Mann aus der Rechtsabteilung arbeiten, die nicht existiert. Außerdem ist das Englisch der beiden ein bisschen holprig, da soll ich im Notfall aushelfen. Jetzt hört man das nicht so sehr, denn wir sind alle schon ein bisschen betrunken: Wenn Sepp »den Flieger über den Teich nimmt«, muss es die Swissair sein, denn da gibt’s Bordeaux und Gänseleber. Die Lufthansa ist kleinlicher. Und weil der Sepp immer in den ersten Hotels absteigt, kommt in New York nur das PLAZA infrage.

Sepp ist gelernter Feinmechaniker, wurde dann Diplom-Ingenieur und hat sich beruflich immer mit Projektoren beschäftigt. Dabei war er vor einigen Jahren in Rom auf den Fotografen Sergio getroffen und hat ihn überzeugt, dass im Management mehr Geld zu verdienen ist als in der Kunst. Beide hatten eine Firma (Technical Events) gegründet, die sich in wenigen Jahren einen soliden Ruf für das Management von großen Werbeveranstaltungen aufbauen konnte. Er hatte eine Hand voll amerikanischer Kunden, mit denen er über neue Aufträge und Änderungen von Vertriebsverträgen verhandeln wollte. Wir hatten uns kennen gelernt, als zwei Jahre zuvor auf dem Oktoberfest eine Bärenschau gezeigt wurde, bei der einige Plastikbären ihre Augen rollten, bayerisch sprachen (»Papa, geh’ ma hoam« usw.) und wie Kopien von Walt Disneys Figuren aussahen. Einer der Disney-Manager suchte nach einem Anwalt, Sepp half ihm dabei und wir haben den Versuch einer Einstweiligen Verfügung mit Glanz und Gloria in den Sand gesetzt. Aber gekämpft wie die Löwen! Vielleicht gab es deshalb auf dem Oktoberfest im nächsten Jahr keinen Bären mehr.

In der Oak Bar ist jetzt Happy Hour. Wir löffeln die berühmte Boston Clam Chowder – eine ziemlich undefinierbare Mehlpampe – und trinken Martinis, gerührt, nicht geschüttelt. Langstielige schwarze Mannequins blicken distanziert auf uns herab wie Lamas, mit steilen Perücken, die sie hin und wieder mit schmaler Hand zurechtrücken. »New York ist keine Stadt, sondern ein Urwald« (Max Beckmann). Die Jungs von der Börse, Journalisten, Anwälte, die Manager und ihre Entourage – kurz: Bis dahin kannte ich Amerika nur aus Büchern und Filmen, nun kann ich das gesamte Personal aus Woody Allens Stadtneurotiker mit Händen greifen. Früh ins Bett. Als mir am nächsten Tag durch Zufall an einem Kiosk der New Yorker in die Hand fällt, bin ich – wie so viele Europäer – der Stadt verfallen, die wenig mit Amerika zu tun hat und für uns doch den Inbegriff dieses Landes bildet. Der Schmelztopf, in dem nichts schmilzt. Der große Apfel, der manche faulen Kerne hat und seit 9/11 die politische Landschaft der Welt (ein weiteres Mal) verändert hat.72 All das liegt noch in weiter Ferne.

3.5.2. Bewegliche Plakate

Am nächsten Morgen beim Frühstück: Wir bedienen uns von der »europäischen Seite«, aber zwei Tische weiter sitzt eine Gruppe Texaner: Die Hüte hängen an den Stühlen, die Stiefelbeschläge blitzen und jeder von ihnen hat ein kleines Brikett auf dem Teller, aus dem das Blut fließt. Die essen schon zum Frühstück verbranntes Steak. Wir müssen unsere Planung machen.

Um die Kunden in New York kümmert sich Sepp vorerst selbst, ich bereite mit Sergio das neue Projekt vor, über das wir in wenigen Tagen in San Francisco verhandeln müssen. Technical Events hatte vor zwei Jahren auf einer Messe in den USA viel Aufmerksamkeit mit einer neuen Idee gefunden, für die sich Advertising International, eine kalifornische Werbeagentur, interessierte: Sergio hatte statt der üblichen Plakatwände Projektionswände aufgestellt. Brillante Fotos zogen in einer von ihm entwickelten Endlosschleife langsam am Zuschauer vorbei – sie konnten sogar für ein oder zwei Sekunden stillstehen, wenn die Texte das erforderten. Die herkömmlichen Diaprojektoren (Kodak-Caroussel) hatten ausgedient. Die Technik, die dahinterstand, war sehr aufwändig und musste ständig überwacht werden. Als einer der Manager von Advertising International diese Projektionen sah, kam ihm die Idee, ob man daraus nicht ein Standardprodukt machen könnte. Man müsste die ganze Mechanik nur erheblich verkleinern, vereinfachen und wartungssicher machen. Dann könnte man Video-Boxen in allen Städten aufstellen und Riesenumsätze machen. Das war wirklich eine Vision, denn erst 30 Jahre später sehen wir solche Werbeflächen überall.

Advertising International war nur an der Aufstellung und dem Vertrieb interessiert, die ersten Geräte konnte man in Deutschland herstellen und bei größeren Stückzahlen vielleicht einen amerikanischen Subunternehmer einschalten. Sepp und Sergio machten sich an die Arbeit. Die Gespräche verdichteten sich, Patente wurden angemeldet, Produktionsstätten gesichert, sie flogen häufig zwischen USA und Europa hin und her, stellten Prototypen her und ließen sie in den USA prüfen. Die Kooperation nahm Gestalt an.

3.5.3. 50 x Zivilrecht

Ich hatte mich auf die Verhandlungen, die uns in Kalifornien erwarteten, sorgfältig vorbereitet. Es lag auf der Hand, dass der Vertrag nicht nach deutschem Recht abgeschlossen werden würde – welche Gesetze würden gelten? Zunächst entdeckte ich, dass es in den USA anders als in Deutschland 50 unterschiedliche Zivilgesetzbücher gibt – für jeden Staat ein anderes! Die Gesetze hatten sich organisch entwickelt, jeweils geprägt von den Strömen der Einwanderer, die das Land besiedelten. An der Ostküste galt selbstverständlich das englisch geprägte Common Law, aber in der früheren französischen Kolonie Louisiana richtete man sich nach angepassten Formen des Code civil, in New Mexiko und Kalifornien galten spanische Elemente.73 Natürlich hatten diese Regeln sich im Lauf der Jahrhunderte irgendwie koordiniert, aber das Gesetzesrecht (Statutory Law) hat sich auch in den amerikanischen Bundesstaaten, die stärker durch diese rechtlichen Einflüsse geprägt sind, nicht sehr stark entwickelt. Daneben gibt es die Bundesgesetze (United States Code) und koordinierende Gesetze (Uniform Laws), zu denen vor allem der Codified Commercial Code (CCC) gehört. Die aus dem Common Law stammende Prägung durch das Richterrecht gilt auch in den US-Bundesstaaten, die Einflüsse des Civil Law aufweisen. Man musste also neben den Gesetzen auch die wichtigsten Präjudizien für internationale Lizenzverträge kennen. Ich wollte das mit einem amerikanischen Anwalt besprechen, der auch eine Vorstellung vom deutschen Rechtssystem hatte. Es gab damals nur eine einzige internationale Anwaltsliste, den Martindale-Hubbel, der nicht nur die Anwälte mit biografischen Daten nennt, sondern auch ihre wichtigsten Mandanten. In ganz Kalifornien gab es nicht ein Büro, das deutsche Klienten vertrat. In New York war die Situation ganz anders. In den Dreißigerjahren waren viele deutsch-jüdische Juristen aus Deutschland vertrieben worden und hatten die Chance gefunden, in New York zu bleiben. Wissenschaftler mit internationalen Beziehungen wie Hans Kelsen oder Heinrich Kronstein konnten sich an Universitäten etablieren.

Manche Anwälte wie Ernst C. Stiefel (1908–1997), der neben der deutschen auch die französische und englische Zulassung hatte, konnten gleich für die Anwaltsprüfung lernen, andere studierten neben ihrer Arbeit als Tellerwäscher oder Büroboten amerikanisches Recht, um am Ende die Anwaltszulassung zu bekommen.74 Im Wirtschaftsrecht gab es eine Handvoll Sozietäten mit eindeutigem deutschen Schwerpunkt, so z. B. Walter Conston. Otto L. Walter (1907–2003) war eine erste New Yorker Adresse, aber kooperierte mit Ott, Weiß, Eschenlohr (heute: CMS), unseren Konkurrenten in München. Da blieb noch Alexander & Green, und dort traf ich am Tag nach unserer Ankunft Klaus Jander (danach Chef des German Desk bei Clifford Chance), ein paar Jahre älter und in allen Fragen bestens vorbereitet, die ich hatte.

In der Bibliothek sah ich für jeden amerikanischen Bundesstaat Gesetzessammlungen und Kommentare, aus denen man die wesentlichen Rechtsgrundlagen ableiten kann. Das Recht von New York und verschiedene Auslandsrechte waren weit umfangreicher dokumentiert. Obwohl amerikanische Anwälte auch damals schon die Möglichkeit hatten, in Vertragssachen bundesweit zu beraten, schalteten sie häufig lokale Kollegen ein, um sicher zu sein, dass auch die Vertragspraxis richtig erfasst wurde. In Newport Beach, wo wir verhandeln würden, gab es niemanden, den ich kannte, in San José aber Peter Delmonico, den mein Partner Reinhard Dallmayr bei einem Seminar in London getroffen und empfohlen hatte. Könnte sein Büro uns gegebenenfalls vor Ort helfen? Klaus Jander recherchierte und stimmte zu. Peter sollte mich bei den örtlichen Verhandlungen begleiten und bei Zweifelsfragen könnten wir eine Telefonkonferenz mit New York organisieren. Die wichtigste Information, die er mir gab: Amerikanische Rechtsanwälte, die nur ihr eigenes System kennen, haben keine blasse Vorstellung davon, wie Rechtsysteme in Europa aussehen. Manchmal bezweifeln sie sogar, dass es dort etwas gibt, was den Namen Recht verdient75, denn sie vermissen die Maßarbeit, deren Anteil in den angloamerikanischen Systemen viel höher ist als bei uns. Erstmals bekam ich eine Vorstellung von den wirklich großen Anwaltsunternehmen mit Dutzenden internationaler Niederlassungen76. Niemals hätte ich geahnt, dass es in wenigen Jahren auch in Deutschland Sozietäten dieser Größe geben würde.

Die Verträge, die mir gezeigt wurden, sahen den unseren trotzdem ziemlich ähnlich. Auffällig war die Liste der Begriffsdefinitionen, die nötig sind, weil es für viele rechtliche Begriffe keinen hinreichend klaren gesetzlich definierten Inhalt gibt. Ich sah typische Lizenzverträge über technische Produkte und Patente und zum ersten Mal auch eine Checkliste, mit der man Verträge systematisch auf Lücken und Fehler überprüfen kann. So ein Werkzeug würde ich mir zuhause sofort einrichten! Das Büro war beeindruckend gut organisiert. In der Buchhaltung wurden schon Rechner (ohne Bildschirm) eingesetzt, alles andere, was von Hand zu machen war, wurde durch geeignete Formulare und Checklisten unterstützt. Die Anwälte beschränkten sich auf die juristische Arbeit und konnten andere Tätigkeiten an ihre Assistenten (Paralegals) und Sekretariate delegieren. Die Paralegals stammten aus den unterschiedlichsten Berufen und waren meist nur teilzeitbeschäftigt, um an der Law-School lernen zu können. Sie wollten Anwälte werden! Die vielfältigen Begabungen von ehemaligen Schauspielern, Teppichhändlern, Köchen, Versicherungsvertretern oder geistlichen Predigern machten das oft eintönige Bild des juristischen Lebens lebendig und bunt. Ihre Lebenserfahrung half unmittelbar beim Verstehen der Konflikte, mit denen man als Anwalt zu tun hat. Ich wollte den Test machen und fragte, ob es wohl zufällig jemanden im Büro gäbe, der sich mit der Werbeindustrie auskenne. Tatsächlich gab es einen Annoncenakquisiteur, den wir fragten, was er von dem Projekt halte. Er fand es überzeugend und gab uns noch einige Tipps auf den Weg, die für das Verständnis der Vertriebswege wichtig werden sollten.

3.5.4. Sprachen und Systeme

In San Francisco trafen sich die Mandanten mit Jack Roberts und anderen Managern von Advertising International im Hyatt Regency. So ein Hotel hatte ich noch nie gesehen. Im Innenhof war der Urwald inszeniert: riesige Bäume, Vogelgezwitscher (vom Tonband), ein gechlorter Wasserfall, der 15 Stockwerke herunterdonnerte und gläserne Fahrstühle, die abends wie leuchtende Perlenketten lautlos herauf- und herunterschwebten. Leider musste ich gleich weiter, um Peter Delmonico zu instruieren. »Komm gleich zu mir nachhause«, hatte er am Telefon gesagt, »… übernachten kannst du auch hier, mein Sohn ist auf dem College.« Die unkomplizierte Art hatte mir gefallen. Sein Haus lag einen Steinwurf vom Strand. Als ich um 18 Uhr eintraf, kam er mit seiner Harley gerade vom Surfen und es gab es nicht viel Federlesens: Gleich fuhren wir zum Walmart (»What we don’t have, you don’t need«), kauften Hacksteak, Chardonnay und fertige Bratkartoffeln und dann kamen auch seine Frau und die kleine Tochter vom Sport. Während die Mikrowelle arbeitete, zeigte er mir seinen Überlebensbunker. Er war Mormone wie Mitt Romney, und die müssen ständig einen Lebensmittelvorrat für ein Jahr im Keller haben, um den Weltuntergang zu überleben. Wenn die Heiligen der letzten Tage wieder herauskommen, sind alle anderen tot, aber sie haben es geschafft – this is Gods own country. Das survival kit (Basic-4-Program) besteht pro Person aus vier Elementen: 170 kg Weizen (im ganzen Korn, wenn möglich dehydriert), 45 kg Zucker oder Honig, 45 kg Milchpulver, 6 kg Salz, einer Kornmühle, einer Wasseraufbereitungsanlage, Luftfiltern – alles mit Tretmühlen usw. zu bedienen, denn beim Weltuntergang wird es Stromausfall geben.77

Als Anwalt ist man es gewöhnt, dass die Mandanten in Wahnsystemen leben, aber das hier war eine religiöse Lebenslehre, die innerhalb ihres geschlossenen Systems eine eigene Logik zeigte, wie wir sie auch aus anderen Religionen kennen. Es war eine Parallelwelt, von der Peter hoffentlich nie Gebrauch machen musste. Bei einem Atomschlag hätte sie immerhin auch geholfen. Zum Nachtisch gab es einen Horrorfilm von John Carpenter, den ich nur deshalb überlebt habe, weil die ständigen Werbeunterbrechungen die Filmerzählung und dabei gleichzeitig den Horror zerbrachen.

Am nächsten Tag treffen wir uns mit den Managern in der Konzernzentrale. David Hu taucht auf, Leiter der Rechtsabteilung: »How are you today«? »Fine« »Take it easy« – das übliche Ritual. Die Verhandlungen dauern den ganzen Tag. Gelegentlich legt David seine Schlangenlederstiefel auf den Tisch. Zum Lunch werden wir in den »Presidents Club« gebeten, der den führenden Managern und Aufsichtsräten vorbehalten ist. Ein schwarzer Butler mit Silberhaaren und weißen Handschuhen dirigiert würdig seine Truppe. Auf dem edlen Porzellan liegt ein Burger, wie man ihn auch an jeder Ecke hätte bekommen können, zusammen mit laschen Fritten und einem Haufen Ketchup.

3.5.5. Die zwölf Geschworenen

Gegen Abend waren wir mit den wichtigsten Themen endlich durch. Die Manager gingen wie üblich zum Arbeitsessen (oder genauer: Arbeitstrinken), bei dem sie endgültig über Preise reden wollten, und überließen den Anwälten »den juristischen Kleinkram«, der uns bis in die Nacht beschäftigen sollte. Dave begann wie schon zuvor auf der ersten Seite mit der ersten Zeile, um sich dann durch die folgenden 40 Seiten durchzukämpfen. Dieses Verfahren ist ebenso normal wie unzweckmäßig. Nach aller Erfahrung gibt es in jedem Vertrag nur eine Hand voll Kernprobleme, über die man wirklich intensiv sprechen muss. Mehr als zehn sind es nahezu nie. Hat man die Konflikte dort gelöst, fallen einem die Formulierungen im Übrigen in den Schoß. Bei Lizenzverträgen gehört dazu der Nachweis der Rechte (Lückenlosigkeit der Lizenzkette usw.), die Fragen der Gewährleistung, die Absicherung der Zahlungen, die Informations- und Prüfungsrechte und – nicht zuletzt – Rechtswahl, Gerichtsstand oder Schiedsvereinbarung. Bei der Rechtswahl hatten wir keine Wahl: Unser Vertragspartner war viel zu mächtig, um ein fremdes Recht wie das deutsche zu akzeptieren. Das bedeutete gleichzeitig, dass auch ein US-Gericht für einen Streit zuständig sein würde. So stand es auch im Entwurf, aber das wollte ich aus unterschiedlichen Gründen nicht akzeptieren.

Vor allem hatte ich Sorge, einen Juryprozess führen zu müssen. Die amerikanischen Kollegen waren anderer Ansicht. Sie waren es gewöhnt, den Prozessstoff so aufzubereiten, dass auch ein Laie ihn verstehen kann, und kritisierten die europäische Methode, die in vielen Fällen wirklich weitab von den Tatsachen arbeitet. Ich konnte ihnen meine wirklichen Motive nicht offenlegen: Bei dieser Prozessart sind wir auf Gedeih und Verderb in den Händen der amerikanische Anwälte und können schwer beurteilen, wie wir uns verhalten sollen. Der Ausweg aus diesem Dilemma ist das Schiedsverfahren. Hier können die Parteien sich ihre Richter selbst aussuchen und diejenigen Fachleute berufen, die sie für geeignet halten. Das Schiedsverfahren hat außerdem den Vorteil, dass die Schiedsrichter selbst bestimmen können, wie sie vorgehen wollen, und dass die Anwälte darauf einen Einfluss nehmen können. So konnten wir auch den schwierigen amerikanischen Beweisverfahren ausweichen, deren Kosten man nie abschätzen kann.

Dave Hu, dem alle diese Probleme bekannt waren, zeigte sich mit meinem Vorschlag einverstanden, beharrte aber darauf, dass wir ein verbreitetes amerikanisches Schiedsstatut der American Arbitration Association (AAA) akzeptierten. Dagegen war nichts zu sagen und so kamen wir in dieser Nacht wider Erwarten ziemlich früh ins Bett.

Am nächsten Morgen geht es in die letzte Verhandlungsrunde. Die Anwälte referieren die Ergebnisse ihrer Arbeit vom Vorabend und nun geht es »nur noch« ums Geld. In dieser Frage waren die Manager am Abend nicht mehr weitergekommen. Nun wird hart verhandelt. Jeder kennt seine internen Kalkulationen, die Spielräume, die er hat, und schließlich wird man sich bei Stückpreisen, Rabatten und Zahlungsbedingungen einig. Sergio Germann hat sich aus der Diskussion ausgeklinkt (Geld ist nicht sein Thema), und ich sehe, wie Sepp Unertl immer stiller wird, was sonst nicht seine Art ist. Ich bitte um eine Unterbrechung, und die ist auch der Gegenseite willkommen: »Ich telefoniere in der Zwischenzeit mit meinem Aufsichtsrat«, sagt Jack Roberts und verschwindet. Sepp kommt schwer ins Grübeln: »Wenn ich das, was jetzt auf dem Tisch liegt, akzeptiere, dann darf wirklich nichts passieren, sonst sind wir in den roten Zahlen – und passieren tut immer was.« Gleichzeitig sieht er den riesigen amerikanischen Markt vor sich, verlorenes Geld, verlorene Zeit und einen Plan B hatte er nicht: Wer hätte sonst mit ihm auch nur verhandelt?

Jack kommt zurück, seufzt, wedelt mit dem Händen, die Ringe blitzen: »Wir müssen noch mal reden«, sagte er, »2 % Skonto sind Konzernvorgabe, an der komme ich nicht vorbei.« Steinernes Schweigen. Und dann erhebt sich Sepp Unertl, geht umständlich um den Tisch herum zu der anderen Seite, Erkenntnis und Trauer im Blick und baut sich vor seinem alten Freund auf: »Jack, you want everything for nothing!«, sagt er tonlos, geht zurück, packt seine Sachen und seinen Anwalt, ohne ein weiteres Wort zu wechseln. Auf dem Rückflug tröstet ihn der gute Bordeaux der Swiss Air genauso wenig wie die Ideen, die Sergio für andere Märkte entwickelt. Vielleicht hat es ihn gefreut, dass der ganze Konzern wenige Jahre später pleite ging.

Sepps letzter Satz enthält in einer Nussschale das meiste, was man über Vertragsverhandlungen wissen muss. Ich habe ihn aus der Konkursmasse dieser ersten Erfahrungen gerettet. Wie instinktsicher Sepp die Situation erfasst hat, zeigen uns erst jüngere Forschungen von Ökonomen78 und Neurobiologen79 über das Verhalten von Menschen, denen unfaire Angebote gemacht werden: Das dahinterstehende Machtspiel führt eher zum Abbruch der Verhandlungen als dazu, beleidigend niedrige Offerten anzunehmen. Für den, der das Angebot in der Hand hat, gilt spiegelbildlich: Reizt er seine Möglichkeiten voll aus, verliert er alles. Henry Kissinger hat in seinem Buch über den Wiener Kongress80, das er mit 35 Jahren geschrieben hat, daraus die Erkenntnis gezogen, die Kunst der Politik bestehe in der Selbstbegrenzung. Zehn Jahre später hat ihn seine politische Praxis erfahren lassen, dass diese Grenzen schwer erkennbar sind.

Aus diesen und manchen anderen Erkenntnissen entwickeln sich eine Handvoll Grundregeln für die Vertragsverhandlung, aus denen zwanzig Jahre später mein Handbuch Vertragsverhandlung und Vertragsmanagement geworden ist.

3.5.6. Gerichte

Kurz danach hatte ich aus anderem Anlass in Chicago zu verhandeln. Ich hatte es mir angewöhnt, auf jeder Reise ein örtliches Gericht zu besuchen. In den meisten Ländern der Welt sind die Verhandlungen – jedenfalls der unteren Gerichte – öffentlich, und häufig fand ich einen Kollegen, der mich begleitete, um mir zu erklären, was geschah. In Chicago hat mich der souveräne Stil des Richters sehr beeindruckt. Es war genau so, wie die amerikanischen Gerichtsserien es zeigen. Allzu viel Sorge vor Ablehnungsanträgen schien er nicht zu haben, vermutlich deshalb, weil Anwälte wegen »Missachtung des Gerichts« sich nicht nur Strafmaßnahmen aussetzen, sondern erstaunlich schnell ihre Zulassung verlieren können.

Die Kosten der Prozesse sind unvergleichlich höher als bei uns, obwohl die Gerichtskosten sich nicht am Streitwert orientieren und es keine Kostenerstattung gibt. Bei jeder Sitzung entstehen Wortprotokolle und die Stenographen sind hoch bezahlte Leute. Da an jedem Fall immer mehrere Spezialisten gleichzeitig arbeiten, sind die Anwaltskosten drei- bis fünfmal so hoch wie bei uns. Daneben gibt es eine Unzahl fachlich spezialisierter Firmen für die Auswahl der Jury, die Überprüfung der Anwaltskosten (!), beratende Psychologen – eine ganze Nebenindustrie, die wir nicht kennen. Deshalb müssen europäische Anwälte amerikanische Klienten immer darauf aufmerksam machen, dass es hier ein gesetzliches Gebührensystem gibt, dessen Sätze weit hinter den üblichen Stundensätzen zurückbleiben – sie aber auch überschreiten können. Schon 1980 hat der BGH festgestellt, dass der Münchner Anwalt Lois Erdl (im Urteil namentlich genannt!) dem US-Importeur von BMW das deutsche Streitwertsystem genauer hätte erklären müssen und hat ihm daher einen Gebührenanspruch in Millionenhöhe abgesprochen.81

Und Prozesskostenhilfe innerhalb eines Systems, das dem deutschen vergleichbar wäre, gibt es überhaupt nicht. Bei bestimmten Straftaten hat man Anspruch auf einen Pflichtverteidiger, in Zivilsachen kann man einen Antrag stellen (»application to sue in forma pauperis«), bei dem Kosten außerhalb der eigenen Anwaltsgebühren ganz oder teilweise erstattet werden. Im Wesentlichen helfen der Staat und die Anwaltskammern nur, einen geeigneten Pro-bono-Anwalt zu finden, der in sehr seltenen Fällen auch beigeordnet werden kann. Wer kein Geld für seinen Rechtsstreit hat, muss sich – oft vermittelt durch die örtlichen Kammern – an eine legal clinic wenden und sie für seinen Fall interessieren. Solche Einrichtungen werden von freiwilligen Sozialverbänden und Stiftungen unterhalten, viele Anwälte, die pro bono arbeiten, engagieren sich in solchen Fällen, aber jeder geht innerhalb dieses Systems unter allen Umständen davon aus, dass er für seine Probleme selbst verantwortlich ist. Für uns ist das schwer zu verstehen. Wer aber einmal die Schulordnung einer Grundschule in New York gelesen hat, weiß, woher dieser Grundzug des amerikanischen Charakters kommt:

  • Sag immer die Wahrheit,
  • Sei für dich selbst verantwortlich,
  • Bevor du um Hilfe bittest, versuch es erstmal alleine,
  • Grenze niemanden aus,
  • Bleib ruhig, wenn du dich über etwas ärgerst,
  • Trink nicht länger als 5 Sekunden im Unterricht aus deiner Flasche,
  • Kaue nicht Kaugummi.82

Das auch für die Sechsjährigen gültige Verbot, Waffen mit in die Schule zu bringen, ist in diesen sieben Geboten nicht erwähnt. Sie sind offenbar lückenhaft und klingen unsystematisch (was hat das Kaugummi mit der Wahrheit zu tun?), aber jeder einzelne Satz vermittelt eine unmissverständliche Botschaft: Auch im Rechtssystem musst du dich selbst zurechtfinden.

Wer also in dem oben skizzierten sozialen Netz niemanden für sich und seine Sache interessieren kann, bleibt rechtlos, wenn er nicht einen Fall hat, der sich gegen ein großes Unternehmen mit »tiefen Taschen« richtet. Nur dann wird er Anwälte finden, die sich darauf spezialisiert haben, an deren Geld heranzukommen – und zwar auf eigenes Risiko! Der Mandant schuldet nichts, dem Anwalt steht ein Erfolgshonorar von durchweg 30 % zu, wenn er gewinnt, wird er reich, andernfalls geht er selbst bankrott.83

Schon deshalb haben Mediationsmodelle außerhalb der Gerichte eine viel unmittelbare Akzeptanz als bei uns (multi-door-courthouse). Mir lag daran, sie kennen zu lernen, nachdem Reiner Ponschab mit anderen Anwälten – teils aus Rechtsabteilungen – die Idee aufgrund eigener Recherchen in den USA nach Deutschland gebracht und die Gesellschaft für Wirtschaftsmediation (GWMK, heute EUCON) gegründet hatte. Also besuchte ich bei Gelegenheit das Institut in Harvard, an dem die Professoren Fisher, Ury und Patton anlässlich der Geiselaffäre im Iran (1979–1981) das Harvard Negotiation Research Project entwickelt hatten. Seit 1993 wird es bis heute von Robert H. Mnoukin geführt. In kaum zwanzig Jahren hat sich diese Idee auch bei uns bis zu Gesetzen verfestigt, die unser Konfliktmanagement in vieler Hinsicht beeinflussen werden.

3.5.7. Der kalifornische Traum

Das amerikanische Rechtssystem hat nicht nur in sich vielfältige Widersprüche, es ist auch Teil eines Landes, das man kaum wagt, mit dem einheitlichen Begriff »Vereinigte Staaten von Amerika« zu bezeichnen. Wenn man ein fremdes Land erstmals kennen lernt, durchläuft wohl jeder von uns eine Phase »der ahnungsvollen Heiterkeit des Verstehens« (Ernst Pitz), bis er schließlich erkennen muss, dass er immer nur einen kleinen Teil der Oberfläche sieht und die Tiefe der See nie ausloten wird. Zum Beispiel diese Sehnsucht nach Geschichte. Ein Stacheldrahtmuseum zeigt alle Formen des Stacheldrahts seit der ersten Besiedlung und dann noch einen Stein »älter als 125 Jahre«. Auf die europäischen Wurzeln wollen die weißen Amerikaner sich nicht beziehen, weil sie vor ihnen geflohen sind, und die Geschichte der Indianer oder der Sklaven, die mit ihnen gemeinsam das Land hochgebracht haben, erzählen sie nur zögerlich.

Und doch gibt es immer wieder Momente einer tiefen Einsicht darüber, wie wir alle zusammengehören: Wer auf der Route Nr. 1 von San Diego nach San Francisco fährt, wird etwa auf halbem Weg auf Big Sur treffen, wo hoch über der Steilküste Henry Miller seine Zelte aufgeschlagen hatte. Gleich daneben liegt Esalen, seit Jahrtausenden ein heiliger Platz der Indianer mit heißen Quellen. Wer von dort weit übers Meer in die Abendsonne sieht, ihr Licht gedämpft durch die Schleier der hochsteigenden Meeresbrandung, weiß, dass hier seit jeher Gods own country ist.

So müssen es die Jurastudenten der Jahrgänge 1948–1968 empfunden haben, die mit Stipendien nach Stanford, Harvard oder Yale kommen konnten. Dort trafen sie noch auf die Emigranten der Jahre 1933, die mit tiefer Dankbarkeit über ihre Rettung sprachen und jeder, der in diesen Jahren in den USA studieren konnte, hat das als außerordentliches Privileg empfunden. Es war der Königsweg in die Welt des internationalen Rechts und ist es unter vielen Aspekten auch heute noch: Jedes Jahr durchfluten hunderte deutsche Jurastudenten und Referendare die amerikanischen Universitäten. Rechtsunterricht ist dort etwas völlig anderes als bei uns: Er ist dialogorientiert, lebhaft, den Grundlagenfragen gewidmet und trotzdem so anschaulich, dass man Lust auf die Praxis bekommt. Die legal clinics der Law Schools sind voll von begeisterten Studenten!

Der Vietnam-Krieg und die außenpolitische Entwicklung der letzten Jahrzehnte haben unsere politische Naivität beseitigt, und das wachsende Selbstbewusstsein der Europäer sorgt heute für einen realistischeren Blick auf die USA. Anwälte und Manager, die lange dort gearbeitet haben und mit diesen Erfahrungen wieder zurück nach Europa kommen, neigen nicht mehr dazu, den USA die Lösungen für alle Weltprobleme zuzutrauen, so wie es in der Nachkriegszeit die ganz herrschende Meinung war. Und je länger man sich mit den Rechtssystemen beschäftigt, die stets die Struktur der politischen Lösungen bestimmen, umso mehr lernen wir die europäischen Traditionen zu schätzen.

3.6. Krisenmanagement und Insolvenzen

Gothic Figurinen Berlin 2010
Gothic Figurinen Berlin 2010

Anfang der Achtzigerjahre kamen wir in Kontakt mit einer Unternehmensberatung, deren Klientel bundesweit aus mittelständischen Unternehmen bestand, die in die Krise geraten waren. Meistens waren sie von Sparkassen oder Raiffeisenbanken finanziert und hatten den Überblick über ihre Situation verloren – wenn sie ihn denn je hatten. Als Erstes lernten wir, dass ein mittelständische Unternehmer, der unter 50 Millionen Umsatz hat, im Grunde genommen gar keine Zahlen braucht, um zu wissen, wo er steht. Jeden Freitag sieht er sich sein Bankkonto an, und wenn das in der gewohnten Höhe liegt, kümmern ihn weder Lagerbestände noch Verpflichtungen. »Das Lager bringt dich um« – ein wichtiger Hinweis in der Textilindustrie, geht in anderen Branchen leicht unter, wenn das Forderungsmanagement stimmt.

Schon kleinere Forderungsausfälle oder Qualitätsprobleme bringen ein Unternehmen, das nur auf Zuruf gesteuert wird, schnell an den Rand der Krise. Die Bank merkt das als Erste, alarmiert die Unternehmensberater, und die stellen erst einmal ein Zahlenwerk her, mit dem man die Firma steuern kann. Das geht erstaunlich schnell: »Wenn ich in einen Betrieb komme, sehe ich auf den ersten Blick, ob der sanierungsfähig ist oder nicht«, sagt der Insolvenzverwalter Michael Frege (CMS). Er habe noch nie einen ordentlich aufgeräumten und sauberen Betrieb gesehen, der finanziell gefährdet gewesen wäre. Wer überschuldet ist, lässt sich gehen.

Meistens bleiben die Berater ein paar Monate als Lotsen an Bord, und dann kann der Unternehmer selbst wieder weitermachen – wenn er dazu fähig ist (»der Fisch stinkt vom Kopf«). Andernfalls: Generationswechsel, Verkauf oder ähnliche Exitmodelle. Anwälte werden bei allen diesen Problemen auf der Schuldnerseite gebraucht, und wenn der Schuldner sie aus Privatvermögen finanzieren kann, ist manches noch zu retten. Auch die rechtliche Begleitung einzelner Personen im Rahmen der Planinsolvenz als Sparringspartner oder Berater für den Insolvenzverwalter ist ein interessantes Modell.

3.6.1. Ein trauriger Ferrari

Viele Unternehmer mit einem bewährten Geschäftsmodell neigen dazu, aus Bequemlichkeit von ihrem Laden geistig Abschied zu nehmen, und vertrauen auf den Sachverstand ihrer langjährigen Mitarbeiter. Sie fahren morgens schon mit dem Surfbrett auf dem Porsche ins Büro, damit jeder weiß, was sie nachmittags vorhaben (auch bei Münchner Anwälten gelegentlich als Statussymbol zu bewundern). Das ist oft kein schlechtes Modell, aber man darf es nicht zu weit treiben: In einem Fall fand die Krisensitzung im Haus des Unternehmers statt, einer hübschen Villa mit Blick auf den Wannsee. Markus Neumaier und ich waren fassungslos: Unmittelbar hinter der Sitzgruppe im Wohnzimmer stand ein Ferrari, der gemeinsam mit seinem Besitzer (Eigentümer war er nicht) traurig auf den See blickte. Er roch auch ein bisschen streng. Deshalb musste man gelegentlich eine Seitenwand des Wohnzimmers hochrollen. Das Haus war um das Auto herum gebaut, so wie manche Leute ihr Leben um ihre Hunde herum organisieren. Haus und Auto kamen unter den Hammer. Das Haus war schwerer zu verkaufen als der Wagen, denn mit der Fläche, wo er es sich gemütlich gemacht hatte, konnte der Käufer nichts anfangen.

3.6.2. Blusen aus Singapur

Kurz danach traf ich auf einen Textilhändler aus Krefeld, dem die heimische Produktion zu teuer geworden war. Er hatte sich die Produktion in Singapur angesehen, mehrere Muster dort gelassen und zwei Hanjin-Container Damenblusen geordert. Geliefert wurde »Kasse gegen Dokumente«, die Zahlung erfolgte also bei Eintreffen der Container in Hamburg. Als sie in Krefeld ankamen, wurde der Händler blass: An der Mittelnaht jeder einzelnen Bluse war ein Serienfehler, der sich durch die ganze Produktion zog. Die Order hatte seinen gesamten Kredit in Anspruch genommen. So wurde die über hundertjährige Firma von heute auf morgen insolvent, denn die Rückabwicklungsansprüche wären – wenn überhaupt – erst in Jahren zu realisieren gewesen. Ich erfuhr, wie die großen Konzerne mit diesem Problem umgehen: Sie haben überall in Asien Qualitätssicherungsbüros, die nur Ware aufs Schiff lassen, die sie mit zumutbaren Stichproben geprüft haben. Da war nun nichts mehr zu retten.

Sehr oft ist aber genügend Substanz da, deren Potenzial der Unternehmer selbst nicht sehen kann. Eine Firma für Datenservices hatte sich exzellente Technik zugelegt, um dann zu erleben, wie eine Reihe von Stammkunden insolvent wurde. Man konnte sehen, dass gar keine Zeit blieb, um neue Kunden zu werben. Die Berater sahen trotzdem eine Möglichkeit: eine kurzfristige Vermietung an andere Datenbankbetreiber, die gerade vor dem Problem standen, zusätzliche Sicherheitssysteme einzurichten, für die ihnen der Platz fehlte. Eine neue Anforderung an die Datensicherheit, die kurzfristig umzusetzen war.

All diese Eindrücke machten uns klar, dass das Insolvenzrecht, das damals nur die Zerschlagung im Sinn hatte, dringend reformiert werden musste. Für die Gläubiger ist es ebenfalls interessant, wenn das Unternehmen überlebt, aber eine Planinsolvenz kann auch nur funktionieren, wenn das bisherige Management radikal und schnell entmachtet wird (»die Treppe muss von oben gekehrt werden«). Ich habe nicht einen Insolvenzfall gesehen, der nicht durch schwere Fehler des Managements verursacht worden wäre. Sobald sich die ersten Zeichen einer krisenhaften Situation zeigen, sieht man sofort, wer nur ein Schönwetter-Kapitän gewesen ist: Solche Leute stecken den Kopf in den Sand, beschuldigen andere und verdrängen den Fehler, einige vergrößern ihn noch, weil sie ihn vertuschen wollen. Bei den Bankskandalen der letzten Jahre, aber auch bei der Planung des neuen Berlin – Brandenburger Flughafens kann man das mit Händen greifen.

3.6.3. 104 % Konkursquote

Die unglaubliche Nervosität der Kapitalmärkte, die durch den Zusammenbruch der Lehman Bank 2008 in New York verursacht wurde, ist mir nie recht verständlich gewesen. Natürlich sind international tätige Banken vielfältig untereinander vernetzt und haben daher allen Grund, eine solche Entwicklung zu vermeiden. Aber als man einige führende Banken Mitte 2012 fragte, wie sie heute auf eine Zahlungsunfähigkeit reagieren würden, waren diese Szenarien viel milder, als man sie früher dargestellt hatte.

Mir war schon lange klar, dass Konkurse von Banken keinesfalls so gefährlich sind, wie sie zu sein scheinen. Ich habe nämlich Ende der Achtzigerjahre die Insolvenz einer mittelgroßen Privatbank aus der Nähe mitverfolgen können. Früher ein Familienunternehmen war sie an ausländische Investoren gegangen, die hatten den Markt nicht richtig verstanden, und als sie sich eines Tages weigerten, weiteres Eigenkapital nachzuschießen, handelte die Aufsichtsbehörde sehr schnell und schloss die Schalter.

Der Insolvenzverwalter brauchte ungefähr zehn Jahre, um die Bank abzuwickeln. Am Ende konnte er eine Quote von 104 % ausschütten, die Gläubiger bekamen also ihr gesamtes Geld mit 4 % Zinsen zurück. Wie konnte das geschehen? Die Bank zog einfach alle Forderungen ein, die sie in ihren Büchern fand, und das geschah mit einem sehr kleinen Stab von Mitarbeitern. Der gesamte Wasserkopf der Verwaltung, des Vertriebs und der repräsentativen Posten, der Frühstücksdirektoren und anderer Figuren, die man in solchen Banken leicht findet, fiel von heute auf morgen weg. Immobilien, die zum Eigenkapital gehörten, warfen Mieten ab, Aktien brachten Rendite, wer Ansprüche gegen die Bank hatte, musste so lange warten, bis alles abgewickelt war, und am Ende bekamen sie die Zinsen, die die Haftungsmasse über die Kosten hinaus erwirtschaftet hatte. Wie man sieht: Das Warten hat sich gelohnt.

Bei Lehman Brothers gibt es schon jetzt gute Nachrichten: 15 Milliarden Insolvenzmasse, das bringt ungefähr 80 % Quote, wie der Verwalter Michael Frege kürzlich mitteilte.84 Wenn man berücksichtigt, dass dieser Scheinzusammenbruch eine weltweite Bankenkrise ausgelöst hat, wird man nachdenklich:85 Ob diese Bank wirklich systemrelevant war, oder ob man sich ihrer nur entledigen wollte? Der einzig mögliche Weg, solche Krisen mit geringstmöglichem Schaden abzuwickeln ist, die von der Krise betroffenen Teile in die Intensivstation zu schicken, von den anderen zu isolieren und sich nur dort punktuell auf die Heilungsversuche zu konzentrieren – das Modell der bad bank kennen wir längst.

Die Politik des billigen Geldes führt – wie Erfahrung uns gezeigt hat – keinesfalls dazu, dass eine Bank diese Beträge ausleiht, sie fängt vielmehr damit an, noch gefährlicher zu spekulieren und den gleichen Managern hohe Boni auszuzahlen, die vorher den Karren in den Dreck gefahren haben.

3.6.4. Massenware

Wieder mal ein Anruf aus einer Volksbank in Niedersachsen. Ein Kredit über 200.000 € war an ein traditionsreiches kleines Unternehmen gegangen, dessen Edelbrände mit französischem und Schweizer Niveau konkurrieren konnten. Dann hatte den Inhaber der Auftrag eines Lebensmitteldiscounters gelockt: Tausende Flaschen Zwetschgenwasser als Eigenmarke, die Brennerei war wochenlang ausgelastet. Dazu musste er Tonnen von Obst zukaufen, die Marge sah gut aus. Nur im Kleingedruckten standen die Zahlungsziele: drei Monate nach Abnahme und die Abnahme hatte nichts mit einem normalen Warenempfang zu tun: Seitenweise war vorgeschrieben, welche Tests zu bestehen seien, wer sie zu bezahlen habe usw. Einige Partien waren auch schon zurückgewiesen worden. Wer diese Art Verträge kennt, weiß, dass der Händler sich hier seine Zwischenfinanzierung beim Hersteller holt. Jetzt war der Kredit fällig und man konnte den Händler nicht einmal unter Druck setzen. Mit dem Inhaber war kaum zu reden, der hatte aus Verzweiflung das Saufen angefangen. Die Bank versprach stillzuhalten.

Die schwierigste Aufgabe bestand darin, den Unternehmer davon zu überzeugen, sich auf sein Stammgeschäft zu beschränken und nie mehr wieder Massenware zu produzieren. Mit Rechtsrat hatte das nicht viel zu tun.

3.6.5. Die Anhängerkupplung

Wer als Anwalt einer Einmann GmbH oder einer anderen juristischen Person begegnet, bei der der Unternehmer de facto als Einziger das Sagen hat, kann fast darauf wetten, dass er irgendwo einen Fall der Steuerhinterziehung und damit – fast immer gleichzeitig – der Untreue finden wird. Dies bei vollständig fehlendem Unrechtsbewusstsein.

Der Reeder Severin Sonderhoff hatte einen runden Geburtstag. Er war einer, der sich Gedanken machte, als er die Einladungsliste fertig gestellt hatte. Ein großes Fest in Kühlungsborn sollte zweihundert Gäste versammeln, Dampferfahrt, Zauberer, große Buffets und andere Einfälle waren zu einem bunten Strauß gebündelt. »Die privaten Gäste müssen deutlich in der Minderzahl sein, sonst wird das steuerlich nicht anerkannt«, hatte ihm der Steuerberater erklärt, und so wurde es auch gemacht. Als einer der Caterer Schwierigkeiten hatte, wurde ihm der Privatwagen ausgeliehen und dazu eine Anhängerkupplung gemietet, und zwar auf Firmenkosten.

Die normale Betriebsprüfung hätte all das nicht bemerken können. Aber eine Woche nach dem Fest war Sonderhoff insolvent. Er war in größere Zusammenbrüche hineingezogen worden, die sich schon mehrere Wochen vor seinem Geburtstag als dunkle Wolken am Horizont gezeigt hatten. Neben dem Vorwurf der Insolvenzverschleppung wurde nun auch jede einzelne Position der Geburtstagseinladung unter die Lupe genommen. Der Vorwurf war »Steuerhinterziehung und Verschleuderung des Firmenvermögens im Angesicht erkannter Insolvenzgefahren«, und als ich mit dem Staatsanwalt darüber verhandelte, ob man die Anklage nicht auf einige wesentliche Punkte reduzieren könne, stieß ich auf Granit. Nicht einmal auf die Anhängerkupplung wollte er verzichten. Dass das alles gleichzeitig auch Untreue gegenüber der eigenen Gesellschaft war, hat Sonderhoff bis zuletzt nicht verstanden. Ich kann das verstehen, denn diesen kritischen Situationen könnte man nur entgehen, wenn man unter allen Umständen das Privatvermögen vom Firmenvermögen strengstens trennt. Kein mittelständischer Unternehmer versteht, dass die juristische Person, deren Geschäftsführer er ist, genauso eine Person darstellt wie ein Mitgesellschafter, dem man ja auch nicht beliebig in die Tasche fassen kann.

3.6.6. Rechtliche Strukturberatung

Die Beratung von Unternehmen in der Krise brachte mich in den Achtzigerjahren auf die Idee für mein erstes Beratungsprodukt. Die »Rechtliche Strukturberatung« beruhte auf der Idee der DIN/ISO 9000 und bestand aus einer Handvoll Checklisten, mit denen das Unternehmen an allen Stellen, an denen es rechtlich gefährlich werden konnte, auf rechtliche Gefahrenquellen untersucht wurde. Es beginnt im Vertragsmanagement und zieht sich durch alle Unternehmensteile (Datenschutz, Umweltschutz et cetera). Die Zusammenarbeit mit Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern war zwingend, aber ich hatte festgestellt, dass sie die Krise nur unter ihren Aspekten betrachten, während die Anwälte hinter jedem einzigen Thema eine Vielzahl von weiteren Risiken sehen: Im Grunde brauchte man nur das Lexikon des Nebenstrafrechts Punkt für Punkt durchzugehen und sich zu fragen, an welcher Stelle es in der Unternehmensmatrix für den Geschäftsführer oder Vorstand gefährlich werden konnte.

Diese Ideen sind heute unter dem Begriff Compliance allgemein bekannt, aber vor zwanzig Jahren war der Nutzen eines solchen Produkts schwer zu vermitteln – zu wenige Vorstände und Geschäftsführer waren strafrechtlich in Schwierigkeiten gekommen und eine Haftpflichtversicherung für die führenden Manager galt als überflüssiger Luxus.

3.6.7. Verhandlungskunst

Es werden eine ganze Menge Bücher über die Kunst der Vertragsverhandlung geschrieben, meist von Psychologen, gelegentlich von Unternehmensberatern. Selten wird darin unterschieden, ob man am Anfang einer Geschäftsbeziehung über Verträge spricht oder das mitten in der Krise tun muss.

Wenn die Vertragspartner sich in einem optimistischen Umfeld begegnen, reicht ein natürliches Gespür für Höflichkeit, Diskretion und Respekt aus, um Ergebnisse zu erreichen, die beide Seiten zufrieden stellen. Wenn es fehlt, kann man das als Anwalt oft nicht ausgleichen. So stand ich hilflos da, als in der notariellen Verhandlung über eine prachtvolle Immobilie, die wegen vieler Details (Denkmalschutz usw.) stundenlang gedauert hatte, am Ende die Sprache auf den Kaufpreis kam. Er war längst abgestimmt und lag über den Erwartungen, die man haben konnte. Man hätte einfach die Zahl nennen und die Unterschrift leisten sollen. Aber nun fiel meinem Mandanten ein, dass er gerade im letzten Monat noch für 2300 € Heizöl gekauft hatte. Davon war noch nichts verbraucht, denn es war Sommer. Die wollte er nun zusätzlich erstattet haben. Die Stille, die jetzt eintrat, war schneidend. Der Käufer, ein erfahrener Unternehmer, saß neben seinem Anwalt und blickte nur auf den Schreibblock, der völlig leer war. Dann erhob er sich langsam und verließ den Raum, als wolle er ein wenig nachdenken. Aber man hat ihn nie mehr gesehen.

Ist man in der Krise, haben die Leute sich geraume Zeit in allen Formen und Farben gestritten. Dann laufen die Machtspiele anders, es geht um Rache und Demütigung und nicht nur um Dummheit und Ermüdung. Was ich über die Kunst der Verhandlung in solchen Situationen weiß, habe ich im Handbuch Vertragsverhandlung86 beschrieben. Die vielen Verhandlungssituationen, auf denen diese Erfahrungen beruhen, wären nur anschaulich, wenn man sie in aller Offenheit schildern dürfte. Das lässt die Vertraulichkeit nicht zu. Aber Jörg Schröder, Inhaber des März-Verlages, hat uns in einer kleinen Skizze gezeigt, dass derjenige die Verhandlung gewinnt, der bis zum Schluss die Nerven behält.87

Maurice Girodias war der amerikanische Lizenzgeber der Olympia Press, den man unter anderem dafür kannte, dass er seine Autoren nie bezahlte und Henry Miller um Millionen betrogen hat. Jörg Schröder verhandelte mit ihm über Verlagsrechte:

»Girodias war ermüdbar gewesen, nicht nur physisch ermüdbar, sondern intellektuell ermüdbar, besonders bei Verhandlungen über Geld und über Fakten. Er begab sich immer sehr professionell in solche Verhandlungen hinein, aber nach einer längeren Zeit, die man einfach durchstehen musste, baute er allmählich ab. Nach und nach kam dann eine zweite Phase, in der ihn auch seine Verhandlungsposition nicht mehr interessierte und schließlich baute er so sehr ab, dass ihn auch Geld nicht mehr interessierte. Er sagte dann nur noch selten etwas zu den Argumenten der Gegenseite. Und in der Schlussphase, kurz bevor Maurice Girodias unterschrieb, saß er nur noch apathisch auf dem grünen Sofa, nachts gegen zwei Uhr, saß nur noch da, presste seine Knie zusammen, die Füße leicht auswärts gestellt, in einer merkwürdig mädchenhaften Stellung, dann machte er eine für ihn typische Bewegung, eine gefasste Bewegung des Hohepriesters, eine moseshafte Bewegung der wirklichkeitsmüden Resignation: Maurice hielt die Oberarme an seinen Leib gedrückt, die Unterarme schwankten frei, wobei die langen Finger oben auf den Unterarmen schon ein Eigenleben führten und von innen nach außen fielen und dabei sagte Girodias dann mit tiefer Würde, in der Erschöpfung und Anerkennung sagen: »I feel more and more like a fool …«

Diese Gebärde und diese Worte brachte er am Schluss der Verhandlung mehrmals, brachte er aus wie einen dekadenten Toast, wie einen leichten Hohn auf alles, was ihn dazu gebracht haben mochte, über Geschäfte und über Geld zu verhandeln: »I feel more and more like a fool …«

Ich habe Dutzende Verhandlungen erlebt, in denen es genau sogelaufen ist: In den Vorbesprechungen sieht man selbstbewusste Mandanten, die ihre Position meist überschätzen und sich deshalb nicht gut vorbereiten. Erfahrene Anwälte wissen längst, dass ihr Rat in den wenigsten Fällen allzu viel mit den Rechtsproblemen zu tun hat, die mit jedem Vertrag verbunden sind. Damit belästigen wir unsere Mandanten in der Regel nicht mehr (wenn es nicht die Kollegen von der Rechtsabteilung sind). Stattdessen erarbeiten wir Ihnen einen roten Faden oder ein »Drehbuch« für ihre Verhandlung, damit sie den Kern der Sache auf gar keinen Fall aus den Augen verlieren. Aber auch diese Papiere werden nicht gelesen oder nicht wirklich durchdacht, sondern als »rechtliche Korinthenkackerei« abgetan, wie mich ein Düsseldorfer Vorstand bei Gelegenheit wissen ließ. Die meisten Manager betrachten Verhandlungen als reines Machtspiel, und vor allem die Vertreter großer Konzerne glauben, ihre Argumente seien stark genug, um die anderen zu überzeugen. Aber »Argumente sind nur Geräusche« (Heinz-Georg Macioszek), wenn sie den anderen nicht emotional positiv beeindrucken. Angst und Schrecken tun das nicht. Also kann man seine Position in Verhandlungen nur mit drei Mitteln durchsetzen:

  • Man muss genügend Fantasie entwickeln, um sich vorstellen zu können, was im Kopf der anderen Beteiligten vorgeht: Man muss sich für die Interessen der anderen interessieren!
  • Dann muss einem eine Maßnahme (nicht nur: ein Argument) einfallen, die die anderen davon überzeugt, ihre Positionen wenigstens teilweise zu räumen.
  • Und schließlich: In der Art und Weise der Verhandlung muss der Respekt für die andere Seite in jedem Detail zum Ausdruck kommen, auch wenn man die Positionen der anderen inhaltlich nicht teilt.

Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, diese drei Aspekte im Detail umzusetzen. Wenn man in einer schwachen Position ist, genügen manchmal ausweichende Antworten, aber nie ein provozierendes »Nein«. Wenn die anderen das nicht durchschauen, werden sie noch stundenlang von der Hoffnung getrieben, ihre Konzepte endlich doch irgendwie durchsetzen zu können – und zwar allein aufgrund ihrer Machtposition. Aber wenn es dann gegen Morgen geht und jeder bewiesen hat, dass er für die gute Sache bis zum Umfallen gekämpft hat, werden viele Bastionen kampflos verlassen, die zu Beginn der Verhandlung als »alternativlos« bezeichnet worden sind. Jede Verhandlung in Brüssel und jeder Tarifstreit zeigt uns dieses simple Bild eines wirklichen Mangels an Verhandlungskunst.

3.7. Die ersten Bücher

Graffito, Berlin 2011
Graffito, Berlin 2011

»Jetzt haben wir stundenlang nur über mich gesprochen, kommen wir endlich zu Ihnen: wie finden Sie mein neues Buch?«
Hans Mayer im Interview mit Fritz Raddatz

In Japan hat man die Regel entdeckt, dass es zehn Jahre braucht, bevor man ein Handwerk, eine Kunst oder sonstige Fertigkeit so beherrscht, dass man sich um die grundlegenden Techniken keine Gedanken mehr machen muss. Sitzt man abends an irgendeiner Sushitheke und sieht den Köchen zu, fragt man sich allerdings, ob man wirklich zehn Jahre lernen muss, einen Fisch zu zerschneiden und auf ein Häufchen Reis zu legen. In Europa mag es sein, dass die Leute an den Sushitheken nichts anderes können, in Japan aber hat man erst dann ausgelernt, wenn man jeden (!) Fisch so zerlegen kann, dass praktisch alles verwertbar ist: Jede Gräte wird für den Fond verwendet, Innereien werden frittiert, die Haut getrocknet, gegrillt oder zu Flocken verarbeitet, manche Teile werden eingelegt, andere nur blanchiert usw. Um das in allen Lagen wirklich zu beherrschen, sind zehn Jahre eine kurze Zeit.

Bei Anwälten ist das nicht anders. Jeder Referendar kann sich eine Robe anziehen und ein »Versäumnisurteil auf der Beklagtenseite« holen, wenn der Kläger den Termin verschlafen hat. Er kann auch ziemlich schnell lernen, in Standardsachen Standardschriftsätze zu machen, wenn er endlich den magischen Satz »das wird bestritten« auswendig gelernt hat. Aber schon bei den Anträgen kann es schwierig werden: Ist es in der konkreten Situation besser, Duldung oder Unterlassung zu verlangen? Reicht ein Feststellungsantrag aus? Welches Verhältnis haben Haupt- und Hilfsanträge? Soll oder muss man im Strafprozess Beweisanträge stellen – und wann tut man das am besten? Alle diese Fragen sind in unterschiedlichen Rechtsgebieten und Prozessrechten anders zu beantworten. Im Bereich der Vertragsentwürfe wird es endgültig chaotisch, und was das Schlimmste ist: Es gibt oft keine Bücher, in denen die Antworten stehen. Man gewinnt sie nur durch die Erfahrung. Auch die Art der Darstellung hängt von ihr ab. Schreibt man in der konkreten Situation besser emotional aufgeladene Texte (wie jene, die Goethe als junger Anwalt geschrieben hat) oder verzichtet man auf diesen Bühnendonner und arbeitet eher mit chirurgischer Präzision? Die Antwort kann im einen Fall richtig und im anderen falsch sein.

1980 hatte ich die zehn Jahre rum. Jedenfalls dann, wenn man die Lehrjahre mitrechnet, in denen ich fast jeden Tag neben der Referendarausbildung ein paar Stunden mit anwaltlicher Arbeit zubrachte. Ich spürte Boden unter den Füßen und wusste, dass ich kein Anfänger mehr war.

Am Ende dieses Jahres hatte ich einen kleinen Schiunfall und verbrachte ein paar Tage im Bett. Es war die ruhige Zeit nach dem Jahreswechsel und es gab absolut nichts Dringendes zu tun. Ich spürte diesen Abstand zur Arbeit und dachte über manche Situationen nach, die ich in den vergangenen zehn Jahren mit meinen Mandanten erlebt hatte. Rechthaberisch die einen, hilflos die anderen, auch die Manager unter ihnen ohne Gespür für Strukturen und Fristen – sollte man denen nicht mal erzählen, wie sie das abstellen können, damit die Zusammenarbeit mit ihrem Anwalt besser wird? Ich hatte ein Thema: »Über den Umgang mit Anwälten«.

Ich dachte an 30–40 Seiten gute Tipps, die es mir ersparen sollten, jedem Mandanten aufs Neue immer wieder dieselben Dinge erklären zu müssen: Warum muss man Fristen einhalten? Wann und warum werden Anwälte ungeduldig? Wie ist die gesetzliche Gebührenordnung aufgebaut? Was tun, wenn der Gerichtsvollzieher kommt? Usw. Dann sah ich durch Zufall die neue Sachbuchreihe Kompaktwissen beim Heyne Verlag und fragte dort an, ob sie Interesse an dem Buch hätten. Ja! Das fand ich sehr überraschend, weil ich nicht wusste, dass Heyne 40 Bücher pro Monat herausbrachte und alles, was sich nicht schnell verkaufte, sofort wieder einstampfte.

Als Buch musste mein Manuskript erheblich dicker werden. Und vor allem brauchte es einen neuen Titel! Ich hatte an ein eher psychologisches Buch im Stil von Knigge gedacht, jetzt wurde ein Ratgeber daraus, der den reißerischen Titel trug: »So gewinnt man Prozesse und schließt vorteilhafte Verträge«. Den Untertitel über den Umgang mit Anwälten konnte ich gerade noch retten. Ich war ein bisschen irritiert, aber meine Lektorin Margit Schönberger schrieb selber und hatte mit ihrem Diätratgeber »Ich bin rund – na und!« großen Erfolg gehabt. Da sollte ich mir mal ein Beispiel nehmen.

Gute Lektoren sind eine Mischung aus Geburtshelfer und Marathontrainer. Sie müssen die Empfindlichkeiten und Widersprüche ihrer Autoren kennen, dürfen sich von ihnen aber nicht irritieren lassen und sollten ein sehr gutes Gespür dafür entwickeln, wann sie etwas nur andeuten dürfen oder mal richtig auf den Tisch hauen müssen. Ohne diese sehr persönliche Beziehung zwischen Autor und Verleger (den der Lektor repräsentiert), würden viele Bücher nicht entstehen. Bertolt Brecht hat es bei Erscheinen eines neuen Buches so gesagt: »Auch der Verleger sei bedankt, denn er hat es mir abverlangt.« Mit Margit Schönbergers guten Ratschlägen wurde das Buch auf viele Fragen erweitert, über die ich noch gar nicht nachgedacht hatte. Sie zeigte mir vor allem, wie man so schreibt, dass die Leute den Text auch ohne Kommentar verstehen. Erst viel später habe ich Rudolf Jehrings Empfehlung gelesen, Juristen sollten »denken wie ein Philosoph und reden wie ein Bauer«. Daran habe ich mich seither trotz mancher Kritik gehalten.

Das Buch wurde rechtzeitig fertig und sollte auf der Buchmesse 1982 in Frankfurt erscheinen. Ich war noch nie auf dieser Messe gewesen, nahm mir einen Tag frei und fuhr hin. Ich spürte ein Gefühl der Freude, der Anmaßung, der geahnten Desillusionierung und der Furcht davor, mich lächerlich zu machen. Schriftsätze werden im kleinen Kreis gelesen und sind außerdem vertraulich, ein Buch ist etwas ganz anderes. Die Storys, Ideen und Ratschläge, die Erfahrungen, die Erfolge und Misserfolge, über die ich völlig abstrakt geschrieben hatte, erschienen mir als allzu persönlich: »Eigentlich habe ich eine Art Tagebuch geschrieben«, dachte ich mir und wusste genau, dass das ziemlich neurotisch war, denn selbst ein Meister der Fassadenzertrümmerung würde hinter diesem Fachbuchtext nichts über den Autor entdecken können (mit diesem Buch ist das anders). Am Stand des Heyne Verlages standen einige Exemplare im Regal. Ich nahm eines heraus, schlug es auf, und sah – 324 weiße Seiten! Die Druckerei war nicht fertig geworden, und damit der Stand nicht leer blieb, hatte man Dummies hingestellt. Die Reise hätte ich mir sparen können. Aber erst so wurde mir bewusst, dass Bücher auch dann eine Autorität ausstrahlen, wenn sie absolut keinen Inhalt haben.

Als es dann zwei Wochen später gedruckt vorlag, war ich verblüfft, dass der Stolz und die Anspannung, so ein Buch geschrieben zu haben, nach ungefähr fünf Minuten zu Ende sind. Nur wenige wissen, dass ein Autor sein Buch nicht mehr liest, sobald es gedruckt ist. Der Grund: Er hat es vorher 20–30-mal gelesen und es hängt ihm zum Hals raus. Deshalb vergisst man viel von seinem Inhalt (soweit er nicht im Präsenzwissen ohnehin herumliegt) und muss dann bei sich selbst nachschlagen. Prozesse kann man damit nicht gewinnen: »Warum schreiben Sie denn in ihrem Schriftsatz etwas ganz anderes als im Computerrechts-Handbuch?«, werde ich von Richtern immer wieder gefragt und muss dann sagen, dass nur ein Narr an überholten Ansichten festhält – die letzte Auflage liegt häufig zwei Jahre zurück.

Immerhin war dieses erste Buch etwas Neues, das es in dieser Art noch nicht gegeben hatte. Ich wartete auf die Reaktion der Leser. Arthur Koestlers Bemerkung »der Leser ist ein kalter Fisch« kannte ich noch nicht, sonst hätte mich das Warten nicht gewundert. Einige Leser reagierten. Die meisten baten dringend darum, andere Anwälte (meistens im Armenrecht) zu verklagen, um denen mal zu zeigen, was eine Harke ist. Die Rezepte dazu hatte ich ja alle geschrieben. Die Kollegen reagierten nicht. Ich schickte Otto Gritschneder ein Exemplar. »Was Sie da geschrieben haben, ist ja ganz lustig, aber viel zu harmlos«, sagte er mir, »Mandanten sind Bestien, Anwälte auch.« »Aber sowas kann man doch nicht schreiben«, rief ich. »Ja dann schreiben’s halt gar nix!«.

Ich habe danach noch eine Reihe von Büchern und Aufsätze geschrieben und nur Themen behandelt, zu denen es noch nichts gab, oder die auf neue Weise dargestellt werden konnten – manches zum praktischem Nutzen, auch aus Freude an der Darstellung und vor allem, um auf bestimmten Gebieten Kompetenz zu zeigen. Auch in der Welt des Rechts wird vieles schlecht erklärt, obwohl unsere juristische Fachliteratur erheblich umfangreicher ist als in jedem anderen Land der Welt. 90 % der Bücher zum Steuerrecht werden weltweit nur in Deutschland geschrieben. In vielen Ländern werden Gesetze gedruckt, aber keine Kommentare, manchmal sind nicht einmal die Gesetze oder die Rechtsprechung öffentlich zugänglich. Welchen Wert Gesetzessammlungen haben, die in Loseblattform angeboten werden, kann man sich in den Zeiten des Internets nur schwer vorstellen. Allein die technischen Probleme, die dabei zu bewältigen sind, lassen viele Projekte dieser Art scheitern. Am Ende setzen sich aber immer Werke wie Der Bauprozess von Werner / Pastor88 durch – mein großes Vorbild für das Computerrechtshandbuch. Sie haben klare Strukturen, sind aus einem Guss gearbeitet und auf diese Weise jedem Online-Angebot überlegen. Mit solchen Büchern wird gearbeitet, die anderen stehen nur als Alibi im Regal.

Als Anwalt hat man immer interessante Zeiten, Autoren hingegen arbeiten einsam und eintönig. Aufmunterung oder Lob sind von den Verlagen nicht zu hören, die haben nur Sorgen und Nöte. Das ist seltsam, denn irgendetwas an ihrem Beruf muss ihnen doch Freude machen. Schreibt einmal ein Leser, dann hat er entweder triumphierend einen Druckfehler entdeckt oder besser noch, einen inhaltlichen Fehler oder muss eigene Sorgen loswerden. Bei Fachbüchern beschränkt sich die Kritik meist nur auf die Wiedergabe des Klappentextes, denn auch der Kritiker weiß, dass das Buch sich in der täglichen Arbeit bewähren muss und daran ändert keine Lobeshymne etwas. Bei literarischen Werken ist das anders, aber da will uns der Kritiker oft genug mehr über seine eigenen Ansichten mitteilen als darüber, was der Autor geplant hat und ob seine Pläne gelungen sind.

Ich hatte völlig falsche Vorstellungen davon, was geschieht, wenn ein Buch endlich auf dem Markt erscheint. Als Löffler sein Presserecht schrieb, hat er fast ein Jahr nur noch halbtags gearbeitet, aber danach konnte er sich vor Aufträgen nicht mehr retten. So ähnlich sollte es auch beim Computerrechtshandbuch laufen. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass ein Mandant – zum Beispiel der Leiter einer Rechtsabteilung – eines meiner Bücher liest, mir dann einen Auftrag gibt und dann an Hand meines eigenen Buches genau überwacht, dass alles so gemacht wird, wie ich es dort beschrieben habe. Aber so läuft es weder bei der Akquisition noch bei der Mandatsdurchführung. Bei weitem nicht alle Rechtsabteilungen haben das Recht, Mandate zu vergeben, häufig hat man mehr Chancen, wenn man mit dem Vorstand seine Tage auf dem Golfplatz verbringt und seine Kollegen die Arbeit machen lässt. Und die meisten Mandanten empfinden den Hinweis darauf, dass sie sich besser vorbereiten oder mitarbeiten könnten, als destruktiv.

Auch auf dem Buchmarkt haben die Zeiten sich geändert: Heute haben Fachbücher genauso wie literarische Werke ihre eigenen Schicksale. Was mit ihnen geschieht, wenn sie einmal gedruckt sind, ist reiner Zufall. Viele Verlage machen sich auf denselben Gebieten mit mehreren Büchern selbst Konkurrenz, weil sie nicht sicher sind, welches Konzept sich am Ende durchsetzt. Der Erfolg hängt von einem Zusammenspiel zwischen Autor, Verleger und Lesern ab, den man oft nur magisch nennen kann.

Alle Verleger wissen, dass die Werbung bei Fachbüchern nur eine geringe Rolle spielt – aber die Autoren wollen das nicht wahrhaben. Fachbücher werden gekauft, wenn man sie wirklich braucht. Der Erfolg des Palandt beweist das: Er ist im Grunde gar kein Buch mehr, sondern nur noch ein Stenogramm für Leute, die den Text längst im Kopf haben und sich ihres Wissens nur noch vergewissern müssen. Deshalb haben Bibeln, Logarithmentafeln und steuerliche Ratgeber die höchsten Auflagen.

Die einzig wirksame Werbung ist die Empfehlung des Buches durch einen Leser, der einem anderen den praktischen Nutzen des Werkes vermittelt (»Steht ständig griffbereit auf meinem Schreibtisch.«).

Ende 1981 waren die Beitreibungsmandate für unseren Umsatz bei weitem nicht mehr so bedeutend wie in den Jahren zuvor. Wir hatten uns schrittweise in das Wirtschaftsrecht hineinbewegt. Das zeigte sich am Umsatz, der jetzt bei 1,3 Millionen DM lag. Ich hatte die Vollstreckungsabteilung soweit durchorganisiert, dass auch die Standardklagen und gelegentlich sogar die Berufungen mit Textbausteinen und Checklisten erschlossen werden konnten. Computerprogramme, mit denen man eine Forderungsübersicht erstellen konnte, fanden sich nur für Großrechner, die die Inkassobüros einsetzten oder einige wenige Anwälte mit großen Aufkommen wie Abels (Dortmund) oder Hans Buschbell (Düren).

Wir verwendeten ein einfaches Formular, die Forderungsübersicht, die aber durch einen kleinen Trick optimiert wurde: Mithilfe einer Kopiermaske, die ich gemeinsam mit Lumoprint entwickelt hatte, konnte man die unterschiedlichsten Texte für einzelne Anträge von der Sachpfändung bis zur Offenbarungsversicherung mit ihr kombinieren. Es war mir klar, dass wir diese internen Organisationsabläufe selbst schulen mussten. Aber die Inhalte dessen, was eine Anwaltsgehilfin im Rahmen der Zwangsvollstreckung wissen muss, sollte die Berufsschule vermitteln. Da waren aber große Lücken. Ich sah mir die Lehrbücher an und musste zugeben: Das war ein so seltsames Deutsch, dass auch ich kaum verstand, was der Autor uns sagen wollte. Hölzern wurde da geschrieben, und es gab viele Rechenbeispiele, aber nirgendwo wurde erklärt, wie die Sachen in der Praxis ablaufen. Das Drehbuch für den unwilligen Schuldner fehlte ohnehin, denn dem war der Berufsschullehrer wohl nie begegnet.

Also schrieb ich 1983 ganz ähnlich wie für mein erstes Buch 30–40 Seiten darüber, wie die Zwangsvollstreckung sich von der Wiege bis zur Bahre entwickelt. Einschließlich Checklisten, praktischen Hinweisen usw. Die Mitarbeiter freuten sich, und ich dachte mir: Da kann man auch ein Buch draus machen, denn bei C.H. Beck war gerade die »BRAGO für Anfänger« von Enders erschienen.

Den Verlag fand ich fast zufällig bei einem der monatlichen Treffen der Gesellschaft Münchner Juristen, einem Club, zu dem Heinz Thomas (Richter am Oberlandesgericht München) mich eingeladen hatte: »Da gibt es eine Reihe Kollegen, die machen kein Strafrecht und vielleicht gibts da auch was anderes für Sie zu holen«, meinte er, und tatsächlich war der Referendars-Jahrgang 1948, aus dem die Gesellschaft im Wesentlichen bestand, eine große Bereicherung: Lois Erdl, Herbert Sernetz, Helmut Pischel, auch Rudolf Nörr (der zwar selten erschien), und einige Bank-Syndici boten wertvolle Kontakte. Ähnlich wie bei der Gruppe 47 waren sie eine geschlossene Gesellschaft: Man musste irgendetwas leisten, um Anerkennung zu finden.

Ulrich Büchting, der Cheflektor des Verlags C.H. Beck, gehörte auch dazu – wie Peter Schlumberger einer der jungen Leutnants der letzten Kriegsjahre, deren eine Seite Lothar-Günter Buchheim im »Boot« schildert – die andere hat Wolfgang Borchardt beschrieben (»Draußen vor der Tür«). In zerrissenen Uniformen und mit Reitstiefeln waren sie ab 1946 über den gleichen Lichthof der Universität gegangen, auf dem wenige Jahre zuvor Sophie Scholl verhaftet worden war.

Jetzt sah man Ulrich Büchting, der gewiss nicht mehr in seine alte Uniform gepasst hätte, wie einen Kugelblitz durch das mönchische Ambiente des neuen Verlagshauses zischen, das Alexander von Branca gestaltet hat wie ein Zisterzienserkloster. Büchting hörte sich meine Idee wohlwollend an und akzeptierte das Buch. Es sollte noch viel Arbeit kosten, um aus dem ersten kleinen Manuskript ein ganzes Buch zu machen, aber diese Arbeit hat sich gelohnt: Jetzt sieht man das Buch in der 11. Auflage nicht nur bei den Auszubildenden, sondern auch bei Inkassobüros, in Rechtsabteilungen oder bei jungen Anwälten.

Dann traf ich Vito von Eichborn, einen Vetter von Justin von Kessel, der 1980 den »Verlag mit der Fliege« gegründet hatte. Sein erstes Erfolgsbuch war eine umgangssprachlich heruntergerotzte Version der Bibel, aber auch »Das kleine Arschloch« von Walter Moers hat ihm viel Freude gemacht. Als ich ihm beiläufig von dem »Drehbuch wider den flüchtigen Schuldner« erzählte, meinte er, viel erfolgreicher müsste ein Buch sein, das dem Schuldner zeigt, wie er vor seinen Schulden entfliehen kann. Da hatte er natürlich recht, aber wie soll man differenzierte Ratschläge geben, ohne sich selbst und den Leser strafbar zu machen? Schon die Verschiebung des Vermögens ist Vollstreckungsvereitelung, manche anderen Ideen schrammen am Betrug vorbei und der Rest ist Untreue. Es gibt nur wenige Nischen, wie z. B. das Konzept vom »Leben im Geliehenen«, die auch heute noch straffrei funktionieren. Ein Hochstapler hatte mir gezeigt, wie das geht.

Daniel Serpentins war ein unglücklicher Hochstapler, einer von jenen traurigen Figuren, die selbst beschissen werden, bevor sie sich entschließen, daraus ein eigenes Konzept zu entwickeln. Irgendwie verdiente er als Makler Geld (was in Hamburg nicht allzu schwer ist) und war Mitglied in einem Tennisclub, wo er sich gleich bemühte, sich durch vielfältige Aktivitäten als Schriftführer usw. nützlich und damit bekannt zu machen. So kam er in den Vorstand. Natürlich fuhr er einen Morgan (der nicht ihm gehörte) und auf seinem Briefkopf prangte ein Wappen, das sich jeder von uns auch heute noch bei Pro Heraldica entwerfen lassen kann. Man kommt dann in eine »Wappenrolle«, was viele Leute mit dem »Gotha« verwechseln. Bei einer gesellschaftlichen Veranstaltung traf er einen echten arabischen Scheich, von dem er nicht wusste, dass er sein Spiegelbild war. Das war (vermutlich) der 45. Sohn aus einer der führenden Scheich-Familien mit knapper Apanage, so dass er ein Zubrot brauchte. Verwandte hatten ihn gegen kleines Honorar nach Deutschland geschickt, um für sie bei Daimler zwei Autos zu kaufen. Daraus machte er im Geiste zweihundert, jedes Auto für 100.000 DM: »Daimler nimmt meinen Auftrag aber nur an, wenn ich 2 Millionen DM Sicherheit hinterlege. Das Geld ist da, aber die Überweisung hängt gerade in London fest«, erklärte er Daniel Serpentins und wies ein entsprechendes Telegramm vor. »Ich bekomme 30 % Provision und davon gebe ich dir 50 %.« Das wären 300.000 DM gewesen, für drei Tage Darlehen eine Menge Zins. Wer ein bisschen Erfahrung mit Hochstaplern hat, weiß, dass sie nie mit kleinen Zahlen arbeiten. Wer 10 % Zinsen verspricht, wird misstrauisch betrachtet, ab 30 % verlieren die Leute den Verstand. Hier lagen nun 2 Millionen auf dem Tisch, die offensichtlich in London waren und unserem Mann morgen gehören konnten. Es war Freitagnachmittag und die Banken würden in kurzer Zeit schließen. Also rief Serpentins einen Freund aus dem Vorstand an (der mir die Geschichte später erzählt hat). Das war ein wirklich reicher Mann, der seinem Freund aus der Patsche helfen wollte. Eine halbe Stunde später brachte ein Bote das Geld: Ein Bankdirektor hatte sich persönlich noch einmal in die Tresore bemüht, ein kleiner Darlehensvertrag wurde aufgesetzt und das Geld verschwand in den Taschen des Scheichs, den man nie mehr ausfindig gemacht hat. Er verschwand mit dem Geld, ohne weitere Spuren zu hinterlassen. Serpentins erkannte die Forderung seines Sportsfreunds sofort notariell an. Als der Gerichtsvollzieher in seiner Villa an der Binnenalster erschien (die ihm nicht gehörte), um die im ganzen Club bekannte goldene Rolex zu pfänden, stellte sich heraus, dass auch sie nur geliehen war. Dann wanderte er durch etliche Räume, prächtig ausgestattet mit allen möglichen Bildern, Teppichen, Antiquitäten, Silberbesteck usw. Auf jedem Gegenstand war eine unauffällige Nummer angebracht, die zu einer Liste führte. Da war vermerkt, wem er gehörte, und zwar mit Adresse und Telefonnummer. Serpentins war als Name nirgendwo zu finden. Wie sich herausstellte, hatte er schon Jahre vor seinem aktuellen Deal mit guten Freunden vereinbart, deren Wertgegenstände in seinem Haus auszustellen, damit sie dort in repräsentativem Rahmen bei Gelegenheit verkauft werden konnten. Substanz war nicht vorhanden, Luxus wohl. Sein Modell würde auch heute noch funktionieren. Sein reicher Freund trug es mit Fassung: »Mehr als zehn Mal kann ich mir solche Fehler nicht leisten«, sagte er trocken.

Um diese Story in Buchform zu erzählen, hatte ich keine Zeit, aber mein Bruder Hejo, der sonst für die Entwicklungshilfe in Südamerika tätig ist, freute sich auf das Buch »Schulden machen – aber richtig«: Das war einmal eine andere Art Entwicklungshilfe für Hochstapler. Er hat in dem Buch eine ganze Reihe geschickter Leute porträtiert, die genau wussten, wie man seine Gläubiger im Regen stehen lässt. Ich bin bei »Schulden machen« nur als fachlicher Ghostwriter tätig gewesen. Unser gemeinsames Pseudonym: Frank Bieber, ein Unterwassertier, das ständig an den Pfählen der Gesellschaft nagt. Auflage: 25.000 – Vito war begeistert, das Buch ist auch heute noch ein richtiger Renner, gebraucht bei Amazon 0,01 €. Guter Rat ist hier billig, weil schon etwas veraltet.

Heute müsste man ein dickes Kapitel über den Möglichkeiten der Restschuldbefreiung in Europa einfügen, auf die man in Deutschland sechs Jahre warten muss, in England aber nur 18 Monate. Allerdings muss man auch wirklich umziehen89 und die englische Sozialhilfe ist ein hartes Brot. In Holland oder Frankreich ist es gemütlicher.

3.8. M & A-Projekte, Start-ups und Fondprobleme

An der holländischen Küste
An der holländischen Küste

3.8.1. Neugier und Furcht

Als junger Anwalt will man herausfordernde Projekte haben und hat doch Zweifel, ob man die Risiken beherrschen kann. Es ist ein Spannungsverhältnis, das nicht nur beruflich prägen kann: Der Politikwissenschaftler Iring Fetscher hat seine Memoiren »Neugier und Furcht« genannt, und wenn man sie gelesen hat, weiß man auch warum.

Irgendwann 1981 hatte ich ein Mietproblem auf dem Tisch. In einem Ferienhaus im Allgäu, das der Mandant gekauft hatte, waren die Kücheneinrichtungen defekt. Ein kleiner und fast hoffnungsloser Fall bei einem gebrauchten Haus. Ich hatte mir schon überlegt, ob ich die Sache nicht einem anderen Kollegen geben sollte, denn eigentlich hatte ich Besseres zu tun. Aber es war die Empfehlung einer Empfehlung einer Empfehlung, und jeden Anwalt begleitet die Sorge, dass solche Quellen plötzlich versiegen. Die Idee, dass aus kleinen Sachen große werden, ist nicht auszurotten, weil sie immer wieder Wirklichkeit wird.

Dann ein Anruf: »Können Sie Englisch?« Diese Frage hatte ich von meinem Mandanten nicht erwartet, weil sie mit unserem Fall wirklich nichts zu tun hatte. Warum wollte er das wissen? Er handelte mit Pilotenhelmen für Starfighter und andere Kampfflugzeuge und zu seinen Lieferanten gehörte die Allied Instruments, ansässig in Boston (USA). Die Amerikaner hatten kurz zuvor ein niederländisches Unternehmen aus der Insolvenz gekauft, das in Venezuela Hochpräzisions-Messgeräte herstellte. Dieser Versuch einer Auslagerung der Fertigung in Niedriglohnländer war an Qualitätsproblemen gescheitert: Kleine grüne Viren, von denen bislang noch niemand gehört hatte, ernährten sich gut von den seltenen Metallen, die man in diesen Geräten verarbeitete. Auch eine deutsche Tochtergesellschaft war von der Insolvenz betroffen und war das nächste Akquisitionsziel. Warum die Käufer ihren deutschen Geschäftspartner nach einer Anwaltsempfehlung fragten, habe ich nie herausfinden können. Der naheliegenste Weg wäre gewesen, eine große amerikanische Sozietät wie Skadden Arps90 zu fragen. Die hätten ihre deutschen Korrespondenzanwälte (vermutlich Oppenhoff) eingeschaltet, denn in Köln saß auch der Insolvenzverwalter, der den Vertrag nach deutschem Recht abschließen wollte. Aber vielleicht wollte Allied Instruments Geld sparen, denn sie waren sehr erfreut zu hören, dass (damals) bei uns nicht nach Stunden abgerechnet wurde und ich ihnen den Honorarbetrag auf den Pfennig genau sagen konnte. Der war nicht so hoch, wie man denken sollte – und das lag am Kaufpreis.

Vermutlich brauche ich nicht vertieft zu erklären, dass ich bis dahin noch nie ein M & A-Projekt gemacht hatte. Aber irgendwann ist immer das erste Mal. Ich deckte mich mit einer Zusatzversicherung und allen denkbaren Wirtschaftsinformationen ein. Pöllath und Holzapfel hatten ihr Buch über den Unternehmenskauf91 schon veröffentlicht, und da fand ich wertvolle Informationen. Dann flog ich nach Köln. Der Fahrer des Vorstandes mit Livree holte mich ab. Vornehm geht die Welt zu Grunde, dachte ich mir und habe auch bei späteren Fällen immer wieder festgestellt, dass die Statussymbole erst verschwinden, wenn der Insolvenzverwalter auf den Tisch haut. Ich stellte mir meine Checklisten zusammen, schnallte mich an und war auf Überraschungen vorbereitet.

Die kamen dann auch, wenn auch auf andere Art, als ich vermutet hatte. Der Insolvenzverwalter, ein Steuerberater, hatte auch keine der großen Sozietäten beauftragt. Sein Hausanwalt schickte mir seinen Standardvertrag für Firmenkäufe. Das waren neunzehn Seiten (auf Deutsch), auf denen wie üblich der Verkäufer alle Rechte hatte und der Käufer gar keine. Nur zwei Punkte waren offengeblieben: der Kaufpreis und eine Bewertungsklausel für die Lagerbestände. Ich übersetzte das meinen Mandanten und erhielt sofort grünes Licht. »Nur nicht verhandeln«, riefen sie, denn auch der Kaufpreis war längst abgesprochen und nur aus taktischen Gründen noch nicht in die Urkunde aufgenommen worden. Wegen der Bewertung würde man sehen.

Für mich gab es anscheinend nichts zu tun, bis der Tag der Beurkundung kam. Der Notar begann um 14 Uhr und hoffte wohl, bis zur Kaffeepause fertig zu sein. Allerdings hatte er sich keine Gedanken darüber gemacht, dass Engländer nicht Deutsch sprechen, und nicht für einen Dolmetscher gesorgt. »Das machen doch am besten Sie, Herr Kollege«, munterte er mich auf und verpflichtete mich, nach bestem Wissen und Gewissen zu übersetzen. Interessenkonflikte sah er keine – ich auch nicht. Mit mehr Erfahrung wäre mir klar gewesen, dass jedes Wort einer Übersetzung kontrovers interpretiert werden kann, und das sollte sich bei dem Begriff »stocks« bald herausstellen. Fast drei Stunden wurde darum gerungen, näher zu beschreiben, was darunter zu verstehen sei. Immer wieder musste in Boston angerufen werden, und von da kam plötzlich eine ganz neue Nachricht: Der Erwerber sollte pro forma eine ganz neue Tochtergesellschaft sein, deren Vorstand sich allerdings gerade auf dem Flug nach Kairo befand. Handelsregisterauszüge fehlten. Wer sollte unterzeichnen? Gegen 23 Uhr standen wir vor fast vierzig Seiten Text, von dem große Teile erst bei der Beurkundung entstanden waren.

Ich schlug vor, die offenen Fragen zu klären und die Beurkundung zu verschieben. Das gab offenen Widerspruch von allen Seiten. Auch der Notar wollte ins Bett. Also unterschrieb ich in behaupteter Vollmacht des fliegenden Vorstandes und bis zu dem später geradezu notwendig entstandenen Schiedsverfahren über die Bewertung der Lagerbestände habe ich von der Sache nichts mehr gehört.

Fast nur durch Zufall kam ich einige Wochen später auf die Idee, mit der Allianz zu sprechen, bei der wir versichert waren und die wir auch in einigen Sachen vertraten. Dabei zeigte sich, dass ich an diesem Abend wie der Reiter über den Bodensee geritten war. Schon die Übernahme der Übersetzung war ein Grundlagenfehler, denn diese Risiken sind nicht versichert! Als Anwalt ist man reiner Interessenvertreter, als vom Notar bestellter Übersetzer hingegen muss man »objektiv« sein. Damit kann ich die Interessen des Mandanten verletzen; halte ich mich aber gerade daran, bin ich vielleicht gegenüber dem Vertragspartner nicht neutral. Schadensersatz ist eine mögliche Folge.

Die Übernahme der Vertretung für den abwesenden Vorstand war noch ein größerer Fehler. Als Anwalt tritt man immer wieder in behaupteter Vollmacht für Mandanten auf, und das ist so lange unproblematisch, als alle Beteiligten das wissen und auf die Vollmacht nicht vertrauen. Anders jedoch, wenn die juristische Person, die vertreten wird, gar nicht existiert und den Vertrag nicht genehmigt, weil sie entweder nie existent wird oder den Inhalt ablehnt. Dann kann der vollmachtlose Vertreter persönlich haften, wenn die Gegenseite auf die Existenz vertrauen durfte. Und mit ihm seine Sozien – einer der wichtigsten Gründe, warum eine Haftungsbegrenzung für Sozietäten unerlässlich ist. Ein Rückgriff beim Notar ist zweifelhaft, obwohl er vermutlich über beide Risiken hätte aufklären müssen.

Mir wird heute noch schlecht, wenn ich daran denke, auch wenn diese Fragen zwischenzeitlich geklärt sind92. Hier wie in so vielen anderen Fällen zeigt nur die Erfahrung, wo die Untiefen liegen.

3.8.2. Dark Rooms

M & A-Projekte, die das Ziel haben, Firmen oder Firmenanteile zu verkaufen oder zu erwerben, haben ihre typischen Schwerpunkte im Recht der Finanzierung, im Gesellschaftsrecht und im Steuerrecht häufig auch unter internationalen Aspekten. Die IT/IP-Spezialisten braucht man hier und da, wenn es darum geht, die Beständigkeit einer Lizenzkette nachzuprüfen oder festzustellen, ob die Rechte an Software, Patenten und Marken et cetera von Dritten angegriffen werden, ob sie damit Erfolg haben können und wie alle diese Tatsachen den Kaufpreis beeinflussen.

Wenn man das erste Mal vor so einer Aufgabe steht, bemüht man sich, wirklich jeden Stein umzudrehen, und ist mit seinen Risikoprognosen kritisch. So ging es mir auch am Anfang, meine Stellungnahmen und Gutachten wurden immer länger und die Reaktionen meiner Mandanten immer dürftiger. Irgendwann merkte ich dann, dass das ganze Zeug, das ich geschrieben hatte, nicht mehr gelesen wurde. Ob ich grünes Licht gab oder vor dem Kauf warnte, spielte offensichtlich keine Rolle. Für diese Vermutung bekam ich eines Tages einen drastischen Beleg. Kollegen aus London koordinierten die due diligence in mehreren europäischen Ländern und beauftragten uns, die rechtliche Absicherung der Software bei der deutschen Niederlassung zu prüfen. Problematisch war das Thema, weil es über die Zulässigkeit des Erwerbs gebrauchter Software national wie international sehr unterschiedliche Ansichten gab. »Wo liegen die Verträge?« »Im Datenraum in Brüssel«, sagte der englische Kollege. Das ist meist das hässlichste und lichtloseste Hinterzimmer bei einem der beteiligten Unternehmen oder etwas besser ausgestattet bei Beratern, die die Unternehmen begleiten, geschützt durch mächtige Sicherheitssysteme. Dieser Raum wird häufig statt dataroom »darkroom« genannt, und keiner ist scharf darauf, sich da stundenlang aufzuhalten. Aber da half nun nichts, ich fuhr hin und fand kein Stück Papier, das ich brauchen konnte. Die Verträge waren zwar auf den Bestandslisten, aber tatsächlich nicht vorhanden. Der Grund: Der IT-Chef hatte sie in seinem Panzerschrank verwahrt und der Geschäftsführer sich geweigert, ihn um die Herausgabe zu bitten, weil das ganze Projekt äußerst geheimhaltungsbedürftig war. Das schrieb ich in einem (diesmal kurzen) Bericht. Der Kauf wurde abgeschlossen, und nachträglich stellten sich nicht nur in dem vermuteten Bereich, sondern auch an vielen anderen Stellen Versäumnisse beim Vertragsmanagement heraus, die erhebliche finanzielle Schäden verursachten. Prozesse folgten und wie üblich hat man sich schlecht verglichen.

All das hat die Manager wenig beeindruckt. Selbst wenn wir jeden Fehler gefunden hätten, der im Bereich der IT-Verträge zu finden war, wäre der Deal ohnehin über die Bühne gegangen. Der Mut, mit dem ständig Firmen gekauft und verkauft werden, und die Risiken, die man dabei in Kauf nimmt, sind erstaunlich. Zwischen 50 % und 80 % aller Fusionen scheitern unter hohen Verlusten93, und man verliert 60 % der fähigsten Leute94. Ein anschauliches Beispiel ist der Kampf von Bertelsmann um die Tauschbörse Napster. 80 Millionen $ Kredit gab der Medienkonzern, mit dem Ziel, die Tauschbörsen zu legalisieren, und sofort wurde ihm von Wettbewerbern vorgeworfen, er habe nur das absehbare Ende des illegalen Systems verlängert. Schadensersatz: 17 Milliarden $. Am Ende (2007) mussten 400 Millionen $ vergleichsweise bezahlt werden, und das war nur einer von vielen Kriegsschauplätzen! Auf diesem Hintergrund bekommt man als Anwalt manchmal Zweifel, ob man im Rahmen der due diligence nicht nur deshalb eingesetzt wird, damit das Management eine zusätzliche Haftpflichtversicherung in Anspruch nehmen kann.

Die organisatorischen Abläufe, die sich vor allem durch die zunehmende Internationalisierung der Wirtschaft im Bereich von M & A-Projekten etabliert haben, sind Lichtjahre von diesen Anfängen entfernt. Heute werden im data-room alle relevanten Dokumente gesammelt. Da sitzen dann Tage und Nächte lang die Experten und suchen nach riskanten Vertragsgestaltungen, die Einfluss auf den Preis haben können. All das muss dokumentiert werden. Früher schrieb man dicke Bücher, nicht zuletzt, um auch den Zeitaufwand berechtigt erscheinen zu lassen. Die modernen Datenräume, die man in den Wolken des Internets einrichten kann, sind noch sehr viel angenehmer. Heute beschränkt man sich auf Berichte über das, was vom erwarteten Standard abweicht und das ist immer noch genug. M & A-Spezialisten sind in jeder Sozietät mächtige Leute, weil sie einen hohen Umsatz machen. Aber manchmal fragt man sich, warum sie überhaupt eingeschaltet werden. Ich habe noch selten erlebt, dass kritische Berichte über den Zustand eines Unternehmens dazu geführt haben, es nicht zu erwerben. Die strategischen Gesichtspunkte überwiegen immer und die politischen Rücksichten, persönliche Marotten von Beteiligten usw. beeinflussen das Geschehen so stark, dass die rechtlichen Prüfungen am Ende ziemlich sinnlos wirken.

Häufig bleiben wichtige Risiken eines Deals unaufgeklärt. Man kauft wie so oft nur eine verhüllte Braut, und wie sie dann wirklich ausgesehen hat, sieht man in der darauf folgenden Jahresbilanz an den Sonderabschreibungen.

3.8.3. Aufsichtsräte im Blaumann

Fusionen gelingen nur dann, wenn die Unternehmenskulturen der beteiligten Firmen gut zusammenpassen. Andernfalls muss die übernommene Firma erheblich kleiner sein und gezwungen werden können, sich der Unternehmenskultur des größeren Konzerns anzupassen. Selbst wenn das gelingt, kann die Fusion zusammenbrechen, weil die wichtigsten Leute und mit ihnen die tragenden Geschäftsbeziehungen verloren gehen. Wenn man den dann folgenden Zusammenbruch des Projekts einmal im Detail analysiert, traut man sich kaum, das nächste zu beginnen. Aber zu solchen Analysen neigen ja nur die Anwälte, nicht die Manager.

Diese Probleme verstärken sich bei internationalen Fusionen.95 Und so seltsam es klingt: Am schwierigsten ist es mit den Franzosen und nicht mit den Amerikanern oder Japanern (bei Chinesen fehlt uns noch die Erfahrung). Mit Ausnahme der Airbus (EADS) habe ich nur von Schwierigkeiten gehört und bei einer saß ich zufällig neben der Tür. Irgendwann 2004 spreche ich mit Leuten aus der Rechtsabteilung der Berliner Wasserbetriebe wegen irgendwelcher Lizenzprobleme, plötzlich ein Anruf: Der Chefjurist wird in der Aufsichtsratssitzung gebraucht. Es soll nur ein paar Minuten dauern, und er bittet mich, einfach mitzugehen und zu warten, bis er wieder frei ist. Da sitze ich nun auf der Aufsichtsratsetage, gelegentlich geht die Tür auf, und da sieht man die Leute von RWE und Veolia – die Minderheitsgesellschafter. Die Franzosen wie aus dem Ei gepellt, Hermés-Krawatten über den zugeknöpften Hemden, Maßschuhe und Knopf im Ohr, damit sie die Dolmetscher verstehen. Die Absolventen der École nationale d’ Administration, Paris (ENA) – die junge Elite Frankreichs. Sie müssen warten.

Dann rumpeln Stiefel über das Parkett. Aus drei entfernt gelegenen Zimmern rottet sich eine Gruppe von Männern zusammen, teils in klobigen Schuhen, manche in Gesundheitssandalen (einer ohne Socken), speckige Schirmmützen und Baseballkappen auf dem Kopf (»Eisern Union«), einige im Blaumann, andere mit Pullover: die restlichen Aufsichtsräte – der Gewerkschaften. Sanft schließen sich die gepolsterten Türen, und dann haben die Gewerkschaftler wohl stumm um den Tisch gesessen, denn wenn man sich nur ansah, genügte das, um den Franzosen zu zeigen, was Mitbestimmung in Deutschland bedeutet. Mitte 2012 hört man, dass die Franzosen verkaufen wollen. Es passt eben nicht, genauso wenig wie bei der Energie Baden-Württemberg (ENBW).

3.8.4. Venture Capital und Start-ups

Vor 1980 hätte kaum jemand gedacht, dass eine Handvoll junger Leute aus einer Garage heraus eine Weltfirma entwickeln könnte, wenn sie nichts anderes haben als ein paar Ideen, wie Software oder Hardware aussehen soll. Bill Hewlett und David Packard gründeten 1939 mit 583 $ ihre Firma und bauten 1980 ihren ersten Personal Computer. Aber weder sie noch das Team um Bill Gates (* 1955) hätten Erfolg gehabt, wären sie nicht von Anfang an von Anwälten, Unternehmensberatern und Bankleuten begleitet worden, die die rechtlichen Strukturen aufbauten und Finanzierungsideen hatten, die es bisher im Markt noch nicht gab. Bill Gates’ Vater war Anwalt in Seattle und begleitete das Unternehmen seines Sohnes von Beginn an mit all seinen Kenntnissen, Kontakten und Beziehungen. Man arbeitete nach einem Modell, das Wilson Sonsini Goodrich & Rosati (Palo Alto) entwickelt hatten. Larry Sonsini (1941) hatte die Idee, sich genauso wie die Banken statt des Honorars eine Beteiligung an den Start-ups zu sichern und so einen Teil des Risikos abzufangen. Ihr zentrales Büro liegt mitten im Stanford Research Park, da hatten die Entwickler kurze Wege. Apple, Google und andere große Firmen der IT-Branche sind von ihnen rechtlich begleitet worden und haben das Büro mit diesem Finanzierungsmodell groß gemacht. Seit Jahren zählt die relativ kleine Firma (700 Anwälte) in allen Rankings immer zu den führenden 20 Sozietäten in den USA.

In Deutschland wäre es vor 30 Jahren schon aus berufsrechtlichen Gründen nicht möglich gewesen, so ein Modell zu wählen, denn man betrachtet solche Vereinbarungen als verbotene Erfolgsprovisionen. In jedem Fall müssten solche Beteiligungen über Tochtergesellschaften von Sozietäten abgewickelt werden, um die Haftungsrisiken voneinander zu trennen und zu begrenzen. Es ist auch sehr fraglich, ob deutsche Start-ups je vergleichbare Chancen wie US-Unternehmen entwickeln könnten, deren Produkte sich immer weltweit vertreiben lassen. In Deutschland folgte man eher dem Vorbild der Bauträgermodelle, bei denen sich eine Reihe von Investoren zusammenschloss, ohne eine klare Vorstellung vom Exit zu haben, der in den USA als unabdingbar angesehen wird. So hatte sich 1978 eine Handvoll Steuerberater und Wirtschaftsprüfer zusammengetan, um den berühmten Koch Eckart Witzigmann96 in die Selbstständigkeit zu begleiten: Nach Jahren im Tantris eröffnete er sein Restaurant Aubergine. Die Verluste waren absehbar, was die Steuerberater freute, denn nur so konnten sie den Meister abschreiben. Als das geschehen war, hatte er die Möglichkeit, günstig zu erwerben. Eine Win-win-Situation.

Solche Modelle habe ich immer aus dem Augenwinkel beobachtet, um zu sehen, wie man sie auch für andere junge Unternehmen nützen könnte. Bis dahin wickelten wir geeignete Einzelfälle erst einmal pro bono ab.

»Mein Freund hat da mal eine Frage, können Sie ihn sich kurz anhören?«, fragte eines Abends eine unserer Auszubildenden, und der Freund, vielleicht 18 Jahre alt, stand auch gleich in der Tür. Vlado Lustik hatte keinen Verkehrsunfall mit seinem Moped und auch sonst keinen Ärger an der Backe, wie er einem in diesem Alter zusteht. Er war Erfinder. Das hatte ihm der Gewinn im Wettbewerb Jugend forscht bestätigt, und nun überlegte er, ob sich aus dieser Erfindung finanziell etwas machen ließe. Ich rief einen befreundeten Patentanwalt an, erklärte ihm, dass auch er kein Geld bekommen würde, bis die Firma sich etabliert hatte, und dann begann die übliche Arbeit an Verträgen, in Verhandlungen usw. Vlado begann, Physik zu studieren, aber wie so oft bei begabten Leuten langweilte ihn der Betrieb und er konzentrierte sich auf sein Unternehmen. Nach drei Jahren hatte er mehrere Mitarbeiter, darunter einen promovierten Ingenieur, und alles nahm eine sehr erfreuliche Wendung. Auch die Berater bekamen nachträglich ein angemessenes Honorar, die Firma wurde mehrheitlich von einem Konzern gekauft und – wie es so oft geschieht – kurz danach ins Abseits gestellt, so dass Vlado sie für geringes Geld zurückkaufen konnte. Jetzt begann der Laden erst richtig zu florieren. Den zweiten Exit brachte Vlado mit Mitte vierzig hinter sich und ist seither selbst nur noch in Pro-bono-Projekten tätig: Da geht es darum, mitten im Busch mit einfachen Mitteln und geringsten Energiemengen Lampen und Computer zu betreiben, um den Leuten die Möglichkeit zu geben, sich von ihrer eigenen Arbeit zu ernähren.

3.8.5. Das Münchner Kabelpilotprojekt

Das Zeitalter der Neuen Medien begann 1982 mit den Kabelpilotprojekten. Leo Kirch hatte mit Helmut Kohls Hilfe in Ludwigshafen begonnen, dann folgte München. Das Medienrecht entstand, aber ich hatte weder Lust noch Zeit, mich damit zu beschäftigen – bis mich eines Abends Joe Winkler anrief, ein alter Jazzer aus der Nachkriegszeit, der in München ein Tonstudio betrieb. Jazz wurde da auch produziert, aber den größten Umsatz machte er mit kleinen Volksmusik-Ensembles, die ihre winzigen Auflagen dort pressen ließen. Auf dem weitläufigen Grundstück am Rand der Stadt waren in einigen Hallen noch andere Aktivitäten untergebracht: Spielautomaten wurden vermietet, Billardtische gebaut, und wenn Joe Winkler aus einer Insolvenz zufällig eine Wurstmaschine hätte kaufen können, stünde da neben der Volksmusik auch noch eine kleine Wurstfabrik – er war ein sehr ideenreicher Start-up-Unternehmer. Kein anderer wäre wohl auf die Idee gekommen, dass man aus einem Tonstudio auch ein Rundfunkstudio machen kann. Als er mir die Idee vorstellte, war ich sofort überzeugt: Man brauchte nur die Hunderte – von GEMA-Gebühren unbelasteten – Volksmusikplatten abspielen, dann würde sich schnell Werbung finden lassen, die aus dem Ganzen eine Goldgrube machen würde.

Es war nicht ganz einfach, 1984 der erste Lizenz zu bekommen. In den Bewerbungsrunden trafen wir Fred Kogel (Radio Xanadu), Helmut Markwort (Radio Gong 2000), Helmut Kloiber (im Mantel, Pelz außen) und andere berühmte Leute. Außer Radio Brenner und Radio Charivari hatte niemand Volksmusik im Angebot und schon gar nicht rund um die Uhr. So wurde die Lizenz für den »Bayerischen Heimatfunk« erteilt, und nun musste die ganze Familie Winkler in den Einsatz: zwei 8-Stunden-Schichten Livesendung (in der Nacht kam alles vom Tonband). Die Werbung lief schleppend, aber nach einigen Jahren waren die Zahlen zufriedenstellend und irgendwann konnte verkauft werden. Eine neue Geschäftsidee lauerte gewiss im Hintergrund.

3.8.6. Fondsprobleme

Die Tätigkeit für Bauunternehmen und Bauträger brachte uns schon Mitte der Achtzigerjahre in Berührung mit geschlossenen Immobilienfonds einschließlich der dabei relevanten steuerlichen Aspekte. So lernt man natürlich, auch die Schwäche solcher Konstruktionen zu durchschauen. Sie wirken sich in einer Vielzahl von Fonds aus, die sich von der Schiffsfinanzierung über die Ölförderung in nahezu alle Wirtschaftsgebiete hinein erstrecken. 1978 hatten Ernst Willner und Kurt Schleicher die Idee zu einem Ölförderungsfond (Megapetrol): Die Zwischenfinanzierung bis zur Einlage der Kommanditanteile übernahm die Bayerische Landesbank. 1983 behaupteten Anleger, das Basisgeschäft des Fonds, die Ölförderung, sei nie ernsthaft in Angriff genommen worden (Schneeballsystem), und weil bei den Initiatoren nichts zu holen war, beschuldigten sie die Bank, sie hätte das wissen und die Zwischenfinanzierung spätestens 1981 einstellen müssen müssen.97 Reiner Ponschab vertrat die Gesellschaft gegen Anleger, die ihren Eigenkapitalanteil noch nicht erbracht hatten. In jedem Einzelfall kam es auf die Frage an, was der Anleger vom Verhalten der Initiatoren bzw. der Bank konkret wusste. Nirgendwo zeichnete sich ein Muster ab, das die Sache hätte vereinfachen können. Grundregeln zur Prospekthaftung, die die Rechtsprechung erst später erarbeitet hat, fehlten. Bis 1993 musste die Bank etwa 270 Millionen DM Schadensersatz bezahlen.

Das war der erste Fall, der Zweifel an der Fähigkeit von Landesbanken weckte, sich im Markt seriöse Geschäftsmodelle zu verschaffen. Er hat aber offensichtlich nicht zu einer Änderung des Verhaltens geführt: Es folgten Kredite an Leo Kirch (ab 2002), der Erwerb der Hypo Alpe Adria (2007) und der Verkauf der Formel-1-Rechte 2009, bei der es Bernie Ecclestone fertigbrachte, das Vorstandsmitglied Gerhard Gripkowsky mit 44 Mio. € zu bestechen (Verurteilung 2012).

Aus diesen Anfängen hat sich in den folgenden Jahren die Arbeitsgruppe Kapitalmarktrecht entwickelt. Hier ging es in erster Linie um die Filmfonds (Christoph Schmidt). Es ist eine seltsame Haltung des Gesetzgebers, für bestimmte Geschäftsmodelle erst Steuervorteile auszuschreiben und dann die Leute, die sie wahrnehmen, wegen Steuerhinterziehung zu verfolgen, weil sie irgendetwas falsch interpretiert hätten. Die Unabhängigkeit der Gerichte ist ein unverzichtbarer Bestandteil unseres Rechtssystems, aber sie kann zu skurrilen Ergebnissen führen: In einem Fall wurde ein Mandant wegen Beihilfe zur Steuerhinterziehung strafrechtlich rechtskräftig verurteilt (auch die Revision wurde zurückgewiesen), obwohl die Frage, ob überhaupt ein Steueranspruch entstanden war, noch vor den Finanzgerichten diskutiert wurde – umfangreiche Gutachten eines früheren Bundesfinanzrichters stützten seine Position!

3.8.7. Nichts ist klein und einfach

Jedes dieser Mandate bestätigte Sieghart Otts These, dass es keine kleinen und keine einfachen Fälle gibt. Viele Anwälte, die nur in den großen Büros und nur im Wirtschaftsrecht gelernt haben, neigen dazu, Streitwert und Komplexität miteinander zu verwechseln. Tatsächlich wird das meiste Geld mit Standardfällen verdient, und noch mehr Geld gibt es in allen Mandaten (z. B. Börsengänge, Finanztransaktionen, M & A-Projekte), in denen es nur ums Geld geht. Wer nahe am Geld arbeitet, verdient viel – auch der Konditor hat immer die Hand im Sahnetopf. Will man aber ein versicherungsrechtliches Problem, einen verzweigten Erbrechtsfall oder Lizenzfragen im Urheberrecht wirklich auf hohem Niveau lösen, reichen die gesetzlichen Pauschalhonorare meistens nicht. Der Markt hat im Lauf der letzten 40 Jahre Stundenhonorare akzeptiert, und vielleicht war er in den Jahren vorher nur deshalb so unbeweglich, weil die Anwälte nicht fähig waren, ihren Mandanten klarzumachen, was es kostet, anspruchsvolle Rechtsprobleme zu haben.

3.9. Japanische Skizzen

Die Stunde des Fuchses, Thomas Orthmann (Detail, 1982)
Die Stunde des Fuchses, Thomas Orthmann (Detail, 1982)

3.9.1. Ein europäischer Analphabet

Mai 1981, nach 18 Stunden Flug über den Nordpol: Flughafen Narita, Tokio. Später Nachmittag, es regnet stark. Trotz Piktogrammen und englischsprachiger Schilder fühle ich mich angesichts der Schriftzeichen wie der Mann vom Lande, weil ich nicht mehr selbstverständlich lesen und schreiben kann. Starke Sicherheitskontrollen, als der Taxifahrer das Gelände verlässt: Zehn Jahre Kampf um den Flughafen, den die örtlichen Reis- und Gemüsebauern militant geführt haben, hat seine Spuren hinterlassen. Vom Land des Lächelns keine Rede. Mir fällt auf, dass der Taxifahrer weiße Handschuhe trägt. Wie erwartet kann er sich nicht auf Englisch verständigen. In den skandinavischen Ländern lernt man Englisch im Fernsehen, hier nicht. Das Wort »InterContinental« versteht er nicht, aber ich zeige ihm die Buchung mit japanischen Lettern. In Tokio tragen nur die großen Boulevards Straßennamen, im Übrigen werden die Häuser in den Quartieren durchgezählt, und zwar keinesfalls linear! Die Hausnummer richtet sich nach dem Entstehungsdatum. Deshalb brauchen selbst Taxifahrer immer Pläne, auf denen das gesuchte Haus eingezeichnet ist. Für den Fußgänger gibt es in der Innenstadt einige Beschriftungen auf Englisch und notfalls kann man in großen Geschäften jemanden finden, der einem weiterhilft. Aber schon 2–3 U-Bahn-Stationen vom Zentrum entfernt ändert sich das Bild.

3.9.2. Der neue Vertriebschef

Tokio war die erste Station einer Reise, die sich danach in einer kleinen Reisegruppe der Deutsch-Japanischen Gesellschaft der japanischen Keramik widmen sollte. Durch Zufall war ich an der Sushibar des Restaurants Mifune in München mit einem Japan-Kenner ins Gespräch geraten. Er berichtete von solchen jährlichen Reisen – meist übers Land –, auf denen man die Künstler treffen würde, in Landgasthöfen (Ryokan) und Klöstern übernachten, japanisches Theater sehen, begleitet von fremder Musik. Japanische Ästhetik hatte mich seit je fasziniert.98 Also buchte ich diese Reise und erzählte beiläufig dem Musikverleger Jay Schoentaler davon, der in Deutschland und den USA »World-Music« produzierte und vertrieb – eine riesige Spannweite, die von Musikexperimenten über Volksmusik mit seltenen Instrumenten bis hin zu den wolkigen Klängen reichte, die man in Aufzügen und Pianobars ertragen muss. In Japan saß Kitaro, ein Komponist, dessen New-Age-Stil nachgefragt war. Sein Soundtrack zu einer Fernsehdokumentation über die Seidenstraße war ein internationaler Hit geworden. Jay Schoentaler hatte dessen Manager und Verleger zweimal geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Ich könnte doch da mal vorbeischauen, meinte er, denn auf Asien sei er ganz und gar nicht neugierig.

Über die Deutsch-Japanische Gesellschaft hatte ich Guntram Rahn kennen gelernt, der am Max-Planck-Institut in München tätig war. Er hatte in Japan gelebt, schrieb gerade sein berühmtes Buch über das Rechtsdenken in Japan und gab mir freundlich Auskunft über alles, was ich wissen wollte: Kein japanische Unternehmer würde auf einen Brief eines anderen Unternehmers antworten, den er nicht persönlich (z. B. auf einer Messe in USA oder Europa) kennen gelernt habe. Man müsse durch die weite Reise sein Interesse beweisen. Einen Termin würde ich bekommen, aber ich sollte lieber nicht als Anwalt schreiben, sonst bekämen die Angst: Anwälte seien in Japan selten. Also schrieb mein Mandant (per Telex), sein »Vertriebschef« werde nach Tokio fliegen, und zwar allein für diesen Termin. Das war nicht ganz ehrlich, denn meine Reisekosten zahlte ich selbst. Aber es wirkte: Der Termin wurde bestätigt. Also musste ich noch einen Anzug und eine Krawatte einpacken.

3.9.3. Eine Menge Leute

Der Taxifahrer, der mich am anderen Morgen zum Termin bringt, trägt weiße Handschuhe. Ebenso der Mann, dessen Aufgabe es ist, mir an der Drehtür des Hochhauses die Tür zu öffnen. Ebenso die Empfangsdame, die mich nach hinten begleitet, damit ich die zehn Meter bis zum Empfangstisch gefahrlos überwinden kann, hinter dem vier junge Damen mit gleicher Haartracht in Uniformen sitzen, die alle weiße Handschuhe tragen. Flüsternd deuten sie an, es wäre hilfreich, wenn sie meine Visitenkarte sehen könnten. Mir ist nicht klar, warum sie die sehen wollen, und doch wird mir flau, denn ich kann meine Karte als Anwalt nicht herzeigen und als »Vertriebschef« habe ich keine. Also zeige ich die Terminvereinbarung und zusammen mit dem Pass scheint das zu reichen. Eine der Damen geleitet mich zum Aufzug, drückt den Knopf für das 20. Stockwerk und zieht sich dann diskret zurück. Ich bin überrascht, dass sie mir zutraut, den Rest allein zu schaffen. Aber oben steht natürlich wieder eine Dame (mit weißen Handschuhen), die mich in den Konferenzraum begleitet.99

Ich erwartete einen Vertriebsmitarbeiter der Gesellschaft, die für einen Fernsehsender den Musikbetrieb managt, zu einer Art Vorgespräch, um die Lage zu checken. Aber in diesem Raum sitzen sieben Personen, die sich sofort erheben und einer nach dem anderen ihre Visitenkarten anbieten – auf der einen Seite englisch, auf der anderen japanisch. Die Irritation, dass ich selbst keine dabei habe, kann man mit Händen greifen. Dann bieten sie mir den Platz gegenüber an, Tee wird serviert und ein großes Schweigen setzt ein. Danach beginnt einer der Manager zu sprechen – ausgezeichnetes amerikanisch gefärbtes Englisch –, die anderen schweigen und machen sich teilweise Notizen. Das ändert sich während der ganzen Verhandlung nicht. Ein Gespräch über die Gefahren der Reise, ob ich auch mit Stäbchen essen kann – und ein international überall zuverlässiges Thema: das Wetter. Wie soll ich da den Einstieg finden? Am besten lobe ich den Künstler, für den wir uns interessieren. Ich erfahre, dass er allein auf dem Land mit den Katzen lebt, mit Frauen will er nichts mehr zu tun haben, weil sie die Konzentration stören, er isst nur vegetarisch und bevorzugt das deutsche Bier. (Wie in vielen Ländern der Welt ist auch in Japan die Kunst des Bierbrauens aus Deutschland importiert worden, Kirin und Asahi sind sehr gute Marken, aber man schätzt eben das Original!) Langsam wird die Atmosphäre etwas angenehmer. Die Visitenkarten habe ich mir so hingelegt, dass ich den Namen mit einer Person identifizieren kann und fange langsam an, die Titel zu entschlüsseln. Und da kommt die erste Frage, die wirklich etwas wert ist: Welche Bedeutung hat Ihre Firma im Weltmarkt? Darauf bin ich einigermaßen vorbereitet. Japaner denken grundsätzlich in festen Rangklassen. Es gibt kein Unternehmen auf der Welt, das sich dort nicht aufgrund eigener Recherchen oder allgemein anerkannter Ratings in einer bestimmten Liste findet, die mit 1 (Ichiban) beginnt und irgendwo endet. Ein japanisches Unternehmen, das z. B. auf Rang Nr. 17 steht, wird möglichst nur mit einem anderen Unternehmen verhandeln wollen, das gleich- oder höherrangig ist. Ab Nr. 25 nach unten spricht Nr. 17 mit keinem mehr. Und die Nr. 1 spricht nur mit einer anderen Nr. 1. Natürlich gibt es gewisse Schwankungsbreiten und Notfälle. Vielleicht ist heute so einer.

Die Lösung liegt – genauso wie im Kartellrecht – darin, die Märkte »richtig« zu definieren. Im allgemeinen Musikmarkt war mein Mandant gar nicht wahrnehmbar, aber in der speziellen Nische, die er bediente, sowohl in Deutschland wie in den USA sichtbar. Die Muttergesellschaft meiner Gesprächspartner war bedeutend, aber die Tochter im Musikgeschäft nicht bekannt. Und außerdem hatten sie für diesen speziellen Komponisten weder in Deutschland noch in den USA einen Lizenznehmer gefunden. Ich überreichte Kataloge, Charts und vergleichbares Material, aus dem man die Marktstellung erschließen konnte. Eine schöne Reihenfolge – etwa im Verhältnis zu PolyGram, Decca Records et cetera (Sony Music und die UniversalMusic Group waren noch nicht auf dem Markt) – konnte ich allerdings nicht bieten. Aber ich erhielt auch keine! Daraus konnte ich schließen, dass meine Gesprächspartner auf dieser Ebene auch selbst nichts anzubieten hatten. Die Stimmung wärmte sich langsam auf, es wurden Sushi gebracht, man konnte sich kaum beruhigen, dass ich die kalten toten Fische mit den Stäbchen richtig anfasste, die California Roll vorschriftsgemäß mit der Hand nahm (!) und nicht mit Wasabi und Sojasoße alles vollmatschte. Dann erscheint der Fugu, auf einer Platte mit Kirschblütenmuster. Er ist dünn geschnitten und durchsichtig wie Pergament. Erwartungsvolle Blicke, ob ich wohl erkenne, was da vor mir liegt. Fugu gilt als hochgiftig, tatsächlich sind es nur die Innereien, bei deren Entfernung man das Fleisch nicht infizieren darf. Winzige (und ungefährliche) Spuren finden sich im Fleisch, es schmeckt nach nichts, nur wird die Zunge ein wenig pelzig. Die Japaner mit ihrer ausgeprägten Selbstmordneigung100 finden es spannend, wenn der Tod ihnen beim Essen über die Schulter sieht. Deshalb ist es teuer.

Etwas später: Eine kaum merkbare Andeutung, dass übliche Lizenzen erwartet würden und auf jeden Fall eine hohe Mindestlizenz, sagte mir, dass das Gespräch nicht ganz aussichtslos war. Aber dann versackte es. Ich teilte mit, dass ich noch 14 Tage »Arbeit« in Japan zu erledigen hätte. Für einen Urlaub dieser Länge hätte kein Japaner Verständnis gehabt. Vier Tage in der »Goldenen Woche« im Mai sind schon das höchste. Wie auch an anderen Feiertagen ist dann allerdings die ganze Nation unterwegs: Wenn alle Urlaub machen, hat man kein schlechtes Gewissen. Zudem konnte es nicht schaden, dass sie darüber nachdachten, ob ich vielleicht auch mit anderen Unternehmen spräche. Wir tauschten die Telefonnummern, ich dachte mir, da wird vermutlich nichts dabei herauskommen und wurde zum Ausgang geleitet.

Die vierzehn Tage, die wir danach mit unserem japanischen Führer überwiegend in kleinen Städten rund um den Biwa-See verbracht habe, um Schlösser, Tempel, Gärten und Sammlungen von Keramik, Lackgeschirr, alten Rüstungen und Rollbildern zu sehen, hinterließen einen bleibenden Eindruck. Die ungewöhnliche Qualität des japanischen Kunsthandwerks beruht auf der inneren Überzeugung, dass Form und Inhalt nicht zu trennen sind und niemand sich anmaßen darf, etwas zu gestalten, was er formal nicht beherrscht. (Frank Castorf würde nicht zustimmen!) Ein Meister der Keramik, des Bunraku-Puppentheaters, der Kaiseki-Küche usw. stützt sich auf jahrhundertealte Kenntnisse und wird das Ziel, die Kunst zu erhalten und weiterzugeben, höher schätzen als eigene Weiterentwicklungen.101 Dafür brauchen sie in allen Künsten und Handwerken zehn Jahre.

Bei uns im Westen sind diese Zusammenhänge oft vergessen, aber die wichtigsten beruflichen Erkenntnisse habe ich nicht aus Büchern, sondern aus der unmittelbaren Zusammenarbeit mit erfahrenen Anwälten (auch Gegnern) gelernt. Auch Anwälte betreiben das Handwerk (und gelegentlich die Kunst) der Rechtsdurchsetzung, und jeder Anwalt, der sich ehrlich fragt, wie lange er dafür gebraucht hat, auch bei einem neuen und bisher unbekannten Problem eine erfolgreiche Lösung zu finden, wird antworten: nach zehn Jahren! Auch wenn er schon nach fünf Jahren beim Oberlandesgericht zugelassen worden ist. Aber dann ist man in vielerlei Hinsicht immer noch ein Anfänger. Japan ist das einzige Land auf der Welt, in dem solche Meister in höherem Alter zu einem »Lebenden Nationalschatz« erklärt werden können. Dieser Ehrentitel ist nicht mit Geld verbunden, wohl aber mit unendlicher Anerkennung und höheren Preisen für ihre Kunstwerke. Diese Ehrung erhalten auch Dichter, Schauspieler, Köche – kurz jeder, der auf dem Feld der Ästhetik arbeitet.102 Anwälte würde man dafür nicht ins Auge fassen. Bei uns gibt es nach 25 Jahren ehrenamtlicher Tätigkeit in der Kammer immerhin Bundesverdienstkreuze, die man sich allerdings mit fragwürdigen Entertainern teilen muss. Nur im Saarland und in Rheinland-Pfalz kann ein verdienstvoller Anwalt zum Justizrat ernannt werden, wenn es ihm nichts ausmacht, deshalb von den Kollegen ironisch angesprochen zu werden. Und in Baden-Württemberg wird man gemeinsam mit verdienten Politikern Ehrenprofessor.

3.9.4. Die Kultur des Service

Als ich nach unserem Gespräch beim japanischen Rundfunk durch die Straßen schlenderte und versuchte zu raten, was auf den Schildern steht, stand ich plötzlich vor dem Kaufhaus Mitsukoshi: Da gibt es eine beeindruckende Lebensmittelabteilung, bei der jeder Stand etwas zum Probieren anbietet, vor allem europäische Lebensmittel, die in Japan unbekannt sind. (Noch heute könnte man mit guten Schokoladen und Pralinen ein Vermögen verdienen.) Und plötzlich denke ich über die weißen Handschuhe nach, die die Sekretärinnen im Rundfunkhaus getragen hatten. Auf einmal sehe ich sie überall: Die Verkäuferinnen tragen weiße Handschuhe, alle Polizisten, Taxifahrer, das U-Bahn-Personal, die Mitarbeiter der Hotels, der Restaurants. Sie alle tragen die unterschiedlichsten Uniformen, deren einheitliches Element der weiße Handschuh ist. Auch die Müllfahrer oder Monteure tragen sie, abends verschmutzt, aber blütenweiß am Morgen. Sie sind ein Teil der Uniform des Dienstleisters, die die Rangordnung zwischen jedem Kunden und allen andeutet, die ihm zur Verfügung stehen wollen. Als ich das erste Mal einer Kellnerin wie üblich Trinkgeld gab und sie mit entsetzter Mine abwehrte, verstand ich, dass hinter dem Verbot des Trinkgeldes eine tiefere Überlegung steckt: Wer einen Service empfängt, soll ihn nicht mit dem Gefühl verbinden, selbst etwas schuldig zu sein, er darf sich vollständig gehen lassen. Jedes Trinkgeld würde diese Illusion zerstören. Die Amerikaner fassen einen Besuch im Restaurant nicht auf wie eine Theateraufführung, die ein einheitliches Erlebnis werden soll. Hier werden Essen, Trinken und Service streng getrennt und alles einzeln abgerechnet.

Sogar die Polizisten tragen weiße Handschuhe und sagen uns damit: »Ich dien’!« Dieser Wahlspruch des Prince of Wales, den er als englischer Thronfolger führt, wird hier von jedem ernst genommen, der zu befehlen oder zu dienen hat: Wer führt, kann Dienste verlangen, aber er ist sich in jeder Sekunde bewusst, dass er in anderen Rollen selbst Dienste leisten muss – eine Vorstellung, die jeder deutsche Beamte entschieden ablehnen würde. Für Anwälte ist dieses Denken selbstverständlich: Dem Mandanten gegenüber sind wir Dienstleister, unseren Mitarbeitern oder den Lieferanten gegenüber nicht. Außerdem haben wir gelernt, die Gerichte zu respektieren und andere Fachleute als gleichberechtigt zu betrachten. Auch die Punks, die man in den Großstädten hier und da über die Straße laufen sieht, passen in dieses System: Einige von ihnen sind Teil des Prekariats, aber für viele andere ist es nur eine Modeerscheinung, die sich häufig auf das Wochenende beschränkt: Die Kinder des mittleren Bürgertums tauschten ihre Schuluniformen gegen die der Outlaws ein und am Montag ist alles wieder wie gewöhnlich. Es sind nur Rollenspiele.

3.9.5. Rollenspiele und Gruppendynamik

Das soziale Leben wird in allen asiatischen Staaten als Aufgabe verstanden, die nur durch ein gemeinsames Zusammenspiel in unterschiedlichen Kreisen gelöst werden kann. Dazu gehören die Familie, Freunde und Nachbarn, die örtliche Gemeinde, die Firma, in der man tätig ist, und die Nation, repräsentiert in ihren staatlichen Institutionen. In diesen Innenwelten (uchi) kann niemand seiner Rolle entkommen, die in jedem der Kreise sehr unterschiedlich ausfallen kann: Der Bürgermeister ist innerhalb der Familie vielleicht ohne hohen Rang, ein Nachbar wird wegen seiner Fähigkeiten in der Gartenkunst geschätzt, gilt aber in seiner Firma nichts usw.

Im Westen ist uns die Anforderung, sich der einzelne Rollen, in denen wir uns täglich bewegen (Rechtsanwalt, Familienvater, Kunde, Mitglied im Sportverein usw.) bewusst zu sein und sie zu perfektionieren, ziemlich fremd. Wir trennen nicht genau zwischen diesen Anforderungen. So fehlt uns auch die in Asien unbedingt notwendige Fähigkeit zur Rollendistanz, also die Möglichkeit, sich von seiner Rolle innerlich zu distanzieren, auch wenn sie nach außen hin perfekt gespielt wird. Das bleibt nicht ohne Einfluss auf die Beherrschung der Rolle. Nicht nur den Verkäuferinnen im teuren Kaufhaus des Westens (Berlin) fehlt die innere Haltung, die eigentlich zu ihrer Rolle gehört. Ihr wichtigstes Anliegen ist es, miteinander zu schwatzen und verärgert zu reagieren, wenn man versucht, auf sich aufmerksam zu machen. Eine peinliche Situation, an die ich mich bis heute weder dort noch bei den Kellnern in der westlichen Welt jemals gewöhnt habe. Anders in Japan: Es gibt kein Land der Welt, in dem man besser erfahren kann, was es bedeutet, Kunde zu sein. Der Begriff »Höflichkeit« beschreibt nur einen kleinen Bruchteil davon. Die japanischen Dienstleister sind nicht deshalb höflich, weil sie ihre Kunden besonders schätzen, sondern weil ihre kulturelle Prägung ihnen von Kindesbeinen an eingehämmert hat, dass Rollen perfekt gespielt werden müssen. Wer als Diplomat, Bankier oder Manager nach Japan kommt, schwimmt etwa ein Jahr lang auf einer Woge sensationeller Illusionen, er werde von jedermann (und mehr noch von jeder Frau) hofiert. Dann aber hört der Spaß auf, wie mir Folker Streib103, der Chef der Commerzbank, viele Jahre später erklärte, als wir im Internationalen Presseclub darauf warteten, dass Michael Gorbatschow erscheine. »Am Anfang bist und bleibst du in deiner Rolle als Gast gefangen, ohne es zu merken. ›Tatamizé‹ nennen die Franzosen das, abgeleitet von den japanischen Bastmatten, auf denen man dir abends das Bett macht. Aber irgendwann musst du dir dein Bett selber machen und der ganze Kirschblüten-Quatsch ist vorbei.« Ein hartes Urteil, das nicht alle Facetten erfasst, die Japan ausmachen. Aber instinktiv erfasst man, dass die Verhältnisse nach innen (uchi) etwas völlig anderes sind als jene nach außen (soto) und wie wenig geschult die Japaner darin sind, diese Grenzen zu überwinden. Die Neigung, jemandem behilflich zu sein, den man nicht kennt, ist sehr gering, wenn er nicht in der förmlichen Rolle des schützenswerten Gastes auftritt.

Auch die Rollen, die man bei Arbeit und Vergnügen einnimmt, sind scharf getrennt. Sobald man nach Dienst die Restaurants betritt, legt jeder Schuhe, Krawatten und sonstige hinderlichen Kleidungsstücke ab und vergisst alle Zeremonien der Distanz. Nur so wirkt er in der Rolle des »Mannes, der sich einmal richtig gehen lässt«, überzeugend. Man kann sich gut vorstellen, warum Frauen es in japanischen Unternehmen sehr schwer haben, denn an diesen Ritualen können sie nicht teilnehmen, ohne ihr Gesicht zu verlieren. Ihre Rolle in der japanischen Gesellschaft ist nicht so definiert wie im Westen.

Das Gesicht, die Fassade, die Form wahren (mentsu o tateru): Dieser auch bei uns bekannte Begriff bedeutet nichts anderes als die Fähigkeit, seine Rolle richtig zu interpretieren und sie gegen Angriffe zu verteidigen. Die Ehre hat Inhalte, vor allem aber hat sie eine Form. Auch derjenige, der einen anderen (berechtigt) auf seine Fehler hinweist, verliert sein Gesicht – deshalb werden Fremde in Japan nie kritisiert (was sie oft fälschlich als Zustimmung zu ihrem Verhalten interpretieren), und aus dem gleichen Grund werden wenig Prozesse geführt, denn das ist ohne Kritik nicht möglich.

Niemand erwartet, dass diese Drehbücher jemals umgeschrieben werden können, wenn das Schicksal sie nicht ändert. Es ist wie in der Commedia dell’ arte – jeder trägt seine Maske und keiner darf fragen, wie es hinter dieser Maske aussieht. Der Gast passt in keine dieser Rollen, er steht außen (soto) und deshalb erwartet man von ihm keine Kenntnisse über korrektes Verhalten. Das ist so tief im Verständnis aller angekommen, dass ein Schritt nach außen in andere Kreise oder über die Grenzen hinweg nur durch Vermittler gewagt wird. Spricht ein Europäer einen Japaner unmittelbar an, wird er seltsame Reaktionen erleben. John David Morley104, der als Journalist in Tokio fließend Japanisch sprechen gelernt hatte, konnte Interviews auf der Straße nur mithilfe seines Assistenten führen, denn auch wenn er die Leute auf Japanisch ansprach, wurde ihm bedeutet, man verstehe kein Englisch. Dahinter steckt auch die Sorge, eine Frage von außen nicht richtig beantworten zu können und sich dafür schämen zu müssen. Ich habe einmal den Fehler gemacht, insistierend nach dem Weg zum Kaiserpalast zu fragen. Ich wurde freundlich zur nächsten U-Bahn geschickt, die Station wurde aufgeschrieben, an der ich aussteigen sollte, und als ich ankam, war ich auf dem Fischmarkt Tsukiji gelandet. Besser eine falsche Auskunft, als unhöflich zu wirken!

Diese innere Haltung wirkt sich nicht nur im Privat- oder Geschäftsleben, sondern auch auf den politischen Ebenen aus. In ihren außenpolitischen Perspektiven sind Japaner äußerst unbeweglich und in ihrer nationalistischen Phase (1930–1945) waren sie geradezu anmaßend. Damals wie heute haben sie es schwer, eine Umwelt zu verstehen, die nicht so organisiert ist wie die ihnen bekannten Gruppen. Nicht nur hier zeigen sich erstaunliche Parallelen zur deutschen Geschichte.

3.9.6. Ein überraschender Vertrag

14 Tage war ich nun zwischen Tokio, Kyoto, Nara und dem Biwa-See unterwegs und hatte mein Gespräch im Rundfunk fast schon vergessen. Einen Tag vor dem Abflug erreichte mich unerwartet in meinem Hotel ein Anruf mit der Frage, ob wir bereit seien, den Vertrag nach japanischem Recht abzuschließen. Das konnte ich schnell klären, denn mir war klar, dass keiner meiner Gesprächspartner einen deutschen oder gar US-amerikanischen Vertrag hätte beurteilen können oder wollen. Das japanische Lizenzrecht war nach deutschem Muster gestrickt, die internationalen Verträge galten hier wie überall und wenn es Schwierigkeiten geben würde, musste man eben irgendeine Verhandlungslösung finden. Dann ging es nur noch um finanzielle Fragen. Noch am gleichen Tag brachte ein Bote den Vertragsentwurf – acht Seiten, minimaler Inhalt und offensichtlich aus irgendwelchen Entwürfen zusammengeschustert. Es fehlte viel, was ich gern in dem Vertrag gesehen hätte, aber auch meinem Mandanten war klar, dass er dann das Projekt hätte begraben müssen. Also unterschrieb er. Und verdiente über die nächsten zehn Jahre eine Menge Geld damit.

Als ich wieder in München war, rief ich Hans Eschenbeck, einen bayerischen Schreinermeister an, lud ihn ins Mifune zum Abendessen ein und zeigte ihm, was ich haben wollte. Die Shoji-Türen, die man damals noch nicht bei Ikea kaufen konnte, irritierten ihn, denn sie waren an den Kanten verklebt: »Des machst besser auf Nut und Feder«, erklärte er, ohne zu wissen, dass genau das der Handwerksstandard des 16. Jahrhunderts in Japan war. Auch das Papier störte ihn: »De Qualität kennat bésser sei’«, meinte er und bestellte sich ein Spezialpergament für Architekten, die in subtropischen Gegenden arbeiten müssen. Das verzieht sich nicht und die Kinder können mit dem Kugelschreiber dagegendonnern. Ein halbes Jahr später hatte ich eine japanische Wohnung mit Schiebetüren, das Bett eingelassen im Fußboden und einen Steingarten mitten im Zimmer.

3.9.7. Individueller Anspruch und Harmonie des Ganzen

Der wesentliche Unterschied zwischen der europäischen und der asiatischen Perspektive liegt in der von der europäischen Aufklärung begründeten Idee, der Mensch müsse und könne sich individuell entwickeln und trage für seine Selbstverwirklichung eine eigene Verantwortung. Dieser Unterschied wirkt sich unmittelbar auf das Rechtssystem aus: In Europa leben wir in einer Rechtskultur, die dem Einzelnen die Verantwortung für sein Verhalten zuweist. Asien hingegen wird von der Schamkultur beherrscht.105 Sie legt weniger Wert auf die Frage, wer etwas zu verantworten hat, als vielmehr, wie die gestörte soziale Ordnung wieder harmonisch (giri) herzustellen sei.106 Der herausstehende Nagel muss eingeschlagen werden – und zwar mit allen Mitteln: Im alten Japan wurde bei einem Vergehen nicht nur der Täter bestraft, sondern auch seine Familie, weil man sie für die Tat mitverantwortlich machte, auch wenn nichts Derartiges beweisbar war. So wollte man auch sicherstellen, dass innerhalb jeder Gruppe eine interne Überwachung stattfindet, die den staatlichen Eingriff überflüssig macht. Diese Regeln sind heute natürlich überholt, aber das Grundverständnis ist in Randgebieten immer noch vorhanden: die Yakuza sorgen wie in alten Zeiten im Milieu der Verbrecher für Zucht und Ordnung und nehmen damit der Polizei die Arbeit ab. Ihre Beziehungen reichen seit Jahrzehnten bis in die höchsten politischen Spitzen: Jedes Jahr tritt irgendwo einmal ein japanischer Minister zurück, weil seine Beziehungen zur Unterwelt offenkundig geworden sind, die natürlich gar keine Unterwelt ist, weil sie den informellen Auftrag hat, für Ordnung zu sorgen. Wer – wie etwa Künstler außerhalb der klassischen Disziplinen – nicht einmal zur Unterwelt gehört, hat in Japan kein einfaches Leben.

Dieser Ansatz wird in Europa schwer verstanden, wie wir vor allem an der Diskussion über die Menschenrechte sehen. In Asien stellt man sich weniger die Frage, ob ein Einzelner in seinem Recht verletzt wird, sondern vielmehr, unter welchen Bedingungen insgesamt ein harmonisches Zusammenleben gewährleistet werden kann. Es sind zwei unterschiedliche Perspektiven, die sich offenbar nur schwer koordinieren lassen.

3.9.8. Law made in Germany

Auf der Universität – oder besser: der Law-School – lernt man in Japan eine Art juristischen Denkens, die auf dem Papier besonders auf einen Deutschen sehr vertraut wirkt:107 Die Japaner haben sich in der Meiji-Zeit (1852–1912) mit westlichen Rechtssystemen vertraut gemacht und kamen zu dem Ergebnis, in Deutschland finde man vom Verfassungsrecht bis zum Strafrecht einschließlich der Prozessordnungen das überzeugendste von allen. Als die US-Amerikaner 1853 mit ihren Kriegsschiffen nach zweihundert Jahren der Isolation Japans von der Außenwelt die Öffnung der Grenzen für den Welthandel erzwangen, vermissten sie ein Rechtssystem, das ihrem eigenen entsprach. Tatsächlich trafen sie auf einen Ständestaat mit hohen Privilegien für den Adel und die Samurai. Die Idee einer Gewaltenteilung, unabhängige Gerichte oder gar Anwälte hatte sich nicht entwickelt: »Wenn wir zu dem Ergebnis kommen, dass das englische Common law von den Richtern entwickelt wurde und das deutsche System durch die Professoren, dann spielt im amerikanischen System der Anwalt die zentrale Rolle. Eine vergleichbare Funktion hat in Japan der Verwaltungsbeamte.«108 Diese Entwicklung beruht auf chinesischen Vorbildern. Anders als die Amerikaner meinten, gab es daher im alten Japan eine hohe Regelungsdichte für alle denkbaren Konfliktsituationen. Erb- und Familienrecht stützten sich auf altes Herkommen und die Autorität erfahrener Verwandter, das Handwerk auf Zunftregeln, der Handel auf jahrhundertealtes Gewohnheitsrecht, die Verwaltung auf detaillierte öffentlich-rechtliche Vorschriften, die das Verhalten der Bürger auf allen Ebenen bestimmten: Seit 1637 gab es ein Meldewesen, das in Europa erst sehr viel später entwickelt wurde, und die Verhaltensvorschriften der Bürger z. B. im Fall eines Brandes oder anderer Katastrophen waren bis in jede Einzelheit geregelt. Das Strafrecht war (wie im alten Europa) Teil des politischen Handelns oder der Verwaltung. Die Japaner suchten nun nach modernen Strukturen, verstanden aber das englisch-amerikanische Denken in Präjudizien nicht recht (sie vermissten ein System), adaptierten dann französische Vorbilder (Code civil), um nach dem Sieg der Deutschen über die Franzosen im Krieg 1870/1871 zunächst die neu konzipierte, auf den Kaiser ausgerichtete Reichsverfassung und danach weite Teile des deutschen Rechts zu übernehmen. So konnten sie den Nachweis führen, über ein Rechtssystem »nach westlichem Muster« zu verfügen. Eine Handvoll deutscher Verwaltungsbeamter und Rechtsgelehrter (Hermann Roesler, Georg Michaelis u. a.109) reichte aus, um ein System des japanischen Rechts zu entwickeln, in dem Teile des alten Rechtsverständnisses ihren systematisch richtigen Platz fanden. Dieses Präzisionswerkzeug wird seither im ständigen wissenschaftlichen Austausch mit europäischen Universitäten gepflegt. Urteile von japanischen Gerichten lesen sich wie deutsche, nicht wie englische oder amerikanische (oder gar französische).110 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die deutschen Prozessrechtselemente entfernt, weil man sie für unfair hielt, und stattdessen Elemente des amerikanischen Prozessrechts eingeführt. Ihre Wirkung wurde dadurch verstärkt, dass die meisten jungen Japaner, die als Anwälte Karriere machen wollen, auf amerikanischen Law-Schools ausgebildet werden. Man fragt sich natürlich, wie diese Mischung funktioniert. Die Antwort lautet: Man benutzt die übernommenen Systeme je nach Situation dort, wo man sie braucht (also vor allem im Umgang mit westlichen Firmen), aber daneben existiert eine Parallelwelt des japanischen Rechtsdenkens, dem die Art und Weise, wie Konflikte im Westen geregelt werden, nach wie vor fremd ist. Wäre es nicht so, bräuchten sie mehr Anwälte.

Ähnliche Entwicklungen gab es später in vielen Ländern der Welt, zuletzt in den ehemaligen kommunistischen Staaten, selbst dort, wo die angloamerikanischen Rechtssysteme sich mit erheblicher politischer Unterstützung Raum zu schaffen versuchen. Da sie aber kein in sich konsistentes System anbieten können, setzt sich das deutsche Recht viel leichter durch.111 Der Grund: Die »richtige« Entscheidung lässt sich im Verfahren der Rechtsgewinnung112 in vielen Fällen allein aus der Logik des Systems ableiten und nur an einer Stelle – der Analogie – kommt es auf den Vergleich des aktuellen Falles mit den Präjudizien an. Im angloamerikanischen, nur auf Präjudizien und einige Regeln des Common-Law-gestützten Rechtsdenken ist es sehr viel schwieriger, zu ermitteln, was Recht ist, um so mehr oder weniger willkürliche Entscheidungen zu vermeiden.

3.9.9. Visitenkarten

Ich habe noch viele Reisen nach Japan, viele Bücher und viele Gespräche gebraucht, um zu verstehen, warum man in Asien in diesen Strukturen denkt und lebt – entschlüsseln kann man sie vermutlich nie, wenn man Europäer ist.113 Augenfällig werden sie in einem winzigen Detail: der Visitenkarte. Wenn Menschen sich in der japanischen Geschäfts- oder Kulturwelt oder natürlich auch in staatlichen Institutionen et cetera erstmals begegnen, ohne durch einen Vermittler vorgestellt zu werden, können sie die ihnen zukommende Rolle nur dann sachgerecht auswählen, wenn sie den Rang ihres Gegenübers ermitteln können. Unter Militärs erleichtern die Rangabzeichen die Einschätzung der Situation. Alle Übrigen brauchen Visitenkarten, auf denen ein bestimmter Titel steht, so dass man die Ränge miteinander vergleichen kann. Sie wird mit beiden Händen übergeben, was seit dem Mittelalter andeutet, dass keine Hand zum heimtückischen Waffengebrauch frei ist. Jeder wirft einen sekundenschnellen Blick auf die Karte, erkennt, ob er den höheren oder niedrigeren Rang hat, und je nachdem verbeugt er sich tiefer oder höher. Gelegentlich mehrmals. Treffen Europäer auf Japaner, kommt ein zweites Problem hinzu: Soll man die Hand geben oder lieber nicht? Japaner vermeiden körperliche Berührungen, weil sie ihre Schamgrenzen überschreiten – ein merkwürdiger Gegensatz zu ihrer freizügigen Sexualität. US-Amerikaner haben schon ganze Verträge durch einen freundschaftlichen Schlag auf den Rücken des japanischen Vorstandes zum Fallen gebracht. Andererseits gebietet die Höflichkeit, den Ausländer mit Handschlag zu begrüßen. Der kluge Ausländer wiederum weiß, dass der Japaner ungern die Hand gibt, kann aber die ausgestreckte Hand nicht verweigern. Gleichzeitig soll er mit der Visitenkarte hantieren! Nur wer schon lange im Land lebt, kann durch körpersprachliche Signale all diese Dinge regulieren, ohne sich zu verkrampfen. Paul Klee hat – ohne jemals in Japan gewesen zu sein – diese Situation in seiner bekannten Skizze »Zwei Herren, einander in höherer Stellung vermutend, begegnen sich«, festgehalten.

Noch heute überkommt mich ein Schaudern, wenn ich an meinen ersten Besuch in Tokio zurückdenke. Ich konnte anhand der Visitenkarten analysieren, wer mir gegenüber saß, aber kein Japaner konnte auch nur annähernd einschätzen, wen er vor sich hatte. (Webseiten und E-Mail waren noch unbekannt!) Im Grunde genommen haben mich nur die Mühe der Reise und das mitgebrachte Material so weit legitimiert, dass es überhaupt zu einer Verhandlung gekommen ist. Aber wie konnte ich es wagen, über einen Vertrag zu verhandeln, der mit großer Sicherheit dem japanischen Recht folgen würde, von dem ich überhaupt keine Ahnung hatte. Manager stellen sich diese Frage nicht, aber ich spielte nur die Rolle des Managers. Für den rechtlichen Inhalt würde ich auch verantwortlich sein!

3.9.10. Anwälte in Japan

Hätte ich meine Lizenzverhandlungen als Anwalt geführt, wäre mir die peinliche Situation mit der fehlenden Visitenkarte erspart geblieben. Ich hätte eine Visitenkarte gehabt, aber darauf wäre »Rechtsanwalt« gestanden, und vor dem Ärger, der daraus entstehen könnte, war ich gewarnt worden.»Rechtsanwalt« ist kein Titel innerhalb einer definierten Hierarchie. Japaner kennen Rechtsanwälte, diese seltene Spezies (Bengoshi) kaum. Es gibt (2012) in einer Bevölkerung von ca. 120 Millionen nur etwa 20.000 von ihnen. Verglichen mit Deutschland (160.000 Anwälte, 82 Millionen Menschen) ist das nichts, schon die Rechtsanwaltskammer München hat so viele Anwälte. Die Zahl in Japan ist – im Verhältnis zu einem geringen Bevölkerungswachstum – seit Jahrzehnten konstant: Während in Deutschland jedes Jahr zwischen 2500–3000 Anwälte neu zugelassen werden, sind es in Japan etwa 500. Das Justizministerium steuert das über eine besondere Anwaltsprüfung (die es in Deutschland nicht gibt): Jedes Jahr nehmen bis zu 8.000 Bewerber teil, die die Law-School hinter sich haben, obwohl sie wissen, dass sie nur dann eine Chance haben, wenn in diesem Jahr mehr als 400 Anwälte gestorben sind: Dann werden die Noten besser. Es ist ein closed shop, in den – ähnlich wie heute noch in Indien – ausländische Anwälte viele Jahrzehnte lang nicht zugelassen waren. Wer die Law-School bestanden hat, aber nicht Anwalt werden kann, findet relativ einfach einen Job in den Unternehmen, weil für den Allgemeinpraktiker, wie wir ihn in Europa kennen, nur wenig Arbeit da ist.

Der Grund liegt in den unterschiedlichen Instrumenten, die man in Japan für die Regelung von Konflikten hat. Wer sich mit einem Nachbarn, einem Vorgesetzten oder einem Zulieferer nicht verträgt, wird in erster Linie nach einem Vermittler Ausschau halten, der auch die andere Seite kennt und das Problem in der formal richtigen Weise zur Sprache bringen kann. Jeder, der so angesprochen wird, weiß, dass er sein Gesicht verliert, wenn er darauf nicht angemessen antwortet, auch wenn er im Recht ist – wir nennen dieses Verfahren Mediation und nähern uns damit, ohne es zu wissen, dem asiatischen Modell der Konfliktlösung. Auch bei uns wächst die Erkenntnis, dass Rechtssysteme immer nur einen Teil der Konflikte lösen können und das meiste unter der Oberfläche weiterschwelt. Die Mediation ist deshalb bei uns noch nicht sehr verbreitet, weil die Weigerung, an ihr teilzunehmen, keine Nachteile mit sich bringt. Nur wenige Japaner haben eine Vorstellung davon, was über ihren Konflikt in den Gesetzen steht und wie man seine Interessen mit gerichtlicher Hilfe durchsetzen kann. Bei großen Skandalen formieren sich natürlich Interessengruppen usw., aber die für uns völlig selbstverständliche Idee, sich seiner individuellen Rechte über einen Anwalt zu vergewissern und sie durch ihn durchsetzen zu lassen, ist den Japanern – jedenfalls soweit es um private Dinge geht – fremd.

Auch bei Streitfällen zwischen Unternehmen wird man erst alle möglichen Versuche anstellen, sich irgendwie zu einigen, bevor man zu Gericht geht. Die Unternehmen sind in Japan viel stärker vernetzt, als es bei uns der Fall ist. Es gibt – abhängig von der Branche – 4–7 Handelsstufen zwischen Produzenten und Verbrauchern, die von vielfältigen Abhängigkeiten untereinander geprägt sind, wobei sehr wenig schriftlich vereinbart wird. Wer im Prozessfall irgendetwas beweisen muss, hätte schon aus diesem Grund schlechte Karten. Auf der Ebene der Konzerne ist es nicht anders. Vieles von dem, was sie als selbstverständliche Abstimmung untereinander betrachten, würde bei uns Kartellstrafen auslösen. Die Versteinerung der japanischen Wirtschaft, die wir etwa seit dem Jahr 2000 beobachten, ist die Folge. Japan kann sich seine beachtlichen Schulden nur deshalb leisten, weil seine Gläubiger ganz überwiegend Japaner sind, die mit dem Zeichnen der Staatsanleihen die Vorstellung einer nationalen Pflicht verbinden.

Offene Konflikte findet man allerdings im Wirtschaftsrecht, vor allem dort, wo es um internationale Fragen geht. Deshalb konzentrieren sich die japanischen Anwälte auf die großen Wirtschaftsregionen zwischen Tokio und Osaka. Dort sind die internationalen Konzerne zuhause, der Point of Sales für europäische und amerikanische Anwälte und ihre japanischen Kollegen, die meist in den USA ausgebildet worden sind. Außerhalb der Region Tokio – Osaka, vor allem auf dem Land, kann es sehr schwer sein, überhaupt einen Anwalt zu finden, schon gar nicht im internationalen Wirtschaftsrecht. Die internationale Anwaltsliste Martindale-Hubbel listet (2012) in Sapporo (etwa 2 Millionen Einwohner) nicht einen Anwalt auf, die US-Botschaft kennt immerhin sechs Büros, in denen offenbar Englisch gesprochen wird.

In den ersten Jahren versuchte ich die Rechte meiner Mandanten in der üblichen Weise durchzusetzen und schaltete einen japanischen Korrespondenzanwalt ein. In einem dieser Fälle hatte mein Mandant einen japanischen Entwickler ausgebildet, der dann zur Konkurrenz gewechselt war. Durch Zufall zeigte sich, dass er das Quellenprogramm unverändert kopiert hatte und es dort eingesetzt wurde – ausnahmsweise eine klare Beweislage.

Ich schilderte den Fall meinem japanischen Korrespondenzanwalt (Studium in Hamburg), der mir statt der gewünschten Abmahnung des Gegners und des Entwurfs einer Einstweiligen Verfügung ein ausführliches Gutachten darüber schickte, dass Softwareprogramme in Japan ähnlich wie in Deutschland rechtlich geschützt seien. Er musste wissen, dass ich das wusste, denn er konnte das deutsche Urheberrechtsgesetz in seinem Schönfelder nachschlagen und mit der nahezu identischen japanischen Version vergleichen. Stattdessen meinte er, er habe mit dem Vertriebschef des anzugreifenden Unternehmens gemeinsam studiert und werde sicher in drei Monaten beim Jahrestreffen der Todai-Universität (Rang Nr.1 in Japan) Gelegenheit haben, anzudeuten, dass es hier Probleme gebe, denen man sich vielleicht widmen sollte, um Ärger zu vermeiden. Danach schickte er ohne den konkreten Fall auch nur berührt zu haben, eine Rechnung über knapp 10.000 DM, um mich wissen zu lassen, was die Existenz und die Pflege eines Netzwerks Wert ist, das den beruflichen Erfolg der Alumni (und damit ihrer Mandanten) lebenslang sichert. Die japanischen Anwälte – vor allem diejenigen, die im Ausland ausgebildet worden sind – verstehen wohl den Wert der Rechtswissenschaft, so wie man ein Samuraischwert hinter den Glasscheiben einer Ausstellungsvitrine bewundert, dass man jederzeit im Ernstfall verwenden könnte. Aber sie werden nur selten die Tür öffnen, um es wirklich zu benutzen, solange sie auf dem japanischen Weg andere Alternativen sehen.114

Die US-Amerikaner machten solche Erfahrungen schon in den frühen Siebzigern und reagierten zunächst mit der Entsendung eigener Anwälte, dann mit dem Aufbau von Japan Desks und der gezielten Abwerbung japanischer Absolventen in den amerikanischen Law Schools. Im deutsch-japanischen Geschäft war nie genug Substanz für solche Strategien. Außer der bekannten Sozietät Sonderhoff & Einsel (Tokio) haben nur wenige deutsche Anwälte Fuß fassen können. Außerdem lernten die deutschen Manager vor Ort sehr schnell ihre Lektion und wussten, dass sie mit keinem Anwalt weiterkommen würden, wenn sie die Geschäftsbeziehung nicht sofort ruinieren wollten. Also erklärten sie ihren Rechtsabteilungen, was japanische Rechtskultur ist, und arrangierten sich ohne Anwälte.

3.9.11. Ein stilles Gericht

Zwei Jahre danach gab es wegen unserer Musiklizenzen wieder Gesprächsbedarf. Diesmal fuhr ich – wie auch in den folgenden Jahren – nur wegen der Verhandlungen nach Japan, hatte mich mit genügend japanisch-englischen Visitenkarten versorgt und nahm auch meinen Dolmetscher – einen japanischen Juristen – mit, mit dem ich in München in anderen Sachen zusammengearbeitet hatte. Ihm gelang es, einen Besuch beim Obersten Gerichtshof (Saiko-Saibansho) zu arrangieren. Er besteht aus 15 Richtern in drei Senaten, von denen einer das Verfassungsrecht behandelt, die beiden anderen sind die Revisionsinstanzen für alle anderen Rechtsgebiete, ersetzen also unsere obersten Bundesgerichte, die (2010) mit 457 Richtern besetzt sind. Wir wurden durch Bibliotheken geführt, die ich vergleichbar kaum in einer deutschen Universität gesehen hatte. Neben dem japanischen Recht waren das US-amerikanische, das englische, das französische und viele europäische Einzelrechte dokumentiert. An der deutschen Abteilung konnte ich ungefähr ermessen, wie vollständig die Bestände sein mussten. Der Richter aus dem Verfassungs-Senat, der uns begleitete, lud uns danach zum Tee in sein großes Amtszimmer. Außer ihm und seiner Sekretärin waren wir niemandem begegnet.

»Wie viele Fälle erledigt der Senat pro Jahr?«, fragte ich und erntete ein schwer deutbares Schweigen. »Derzeit sitzen wir über der Genehmigung für den Flughafen in Osaka«, sagte der Richter schließlich und erklärte dann rechtsvergleichend, wie man den Fall wohl in Deutschland und nach dem Planungsrecht des Staates Florida lösen würde. Es war der einzige Fall des Senats. Die gesetzlichen Grundlagen in Japan waren mager und so suchte man nach vergleichbaren Fällen. Ich ahnte nicht, wie hochpolitisch dieses Thema war. Für Japaner, die bei Konflikten immer um den Konsens ringen, war der Kampf um den Flughafen Tokio noch immer ein aktuelles Trauma: Als 1986 eine zweite Landebahn gebaut werden sollte, weigerte sich ein Bauer, das Feld zu räumen, und man wollte die Polizei nicht hinschicken, um nicht wieder Demonstrationen zu riskieren.

Den Flughafen Osaka hatte man deshalb auf eine künstliche Insel ins Meer gebaut. Und trotzdem gab es Schwierigkeiten, deren Bedeutung man allein daran abschätzen konnte, dass das Gericht überhaupt eingeschaltet worden war. Hier konnte man mit Händen greifen, dass es »eine etwas unwirkliche Kluft zwischen ikonoklastischer Verehrung der Verfassung auf der einen und ihrer Nichtanwendung auf der anderen Seite« gibt. »Leblos, wie ein Idol, ist sie geltendes Recht und doch nicht gegenwärtig.«115

3.9.12. Computer

In den nächsten Jahren war ich häufig in Tokio, weil sich weitere Kontakte zu japanischen Unternehmen vor allem aus der Computerindustrie ergeben hatten. Peter Kaemmerer, in Tokio aufgewachsen, deutscher Jurist und Bankier bei der Landesbank Baden-Württemberg half mir mit Kontakten und unschätzbaren Ratschlägen. Ich konnte auf Japanisch Hotel & Essen bestellen, was nicht so schwierig ist, wenn man einmal verstanden hat, dass das Bier »Bieru«, die Nudeln (italienische Variante) »Espaghetti« und der magere Thunfisch »Maguro« heißen. Wenn man irgendetwas nicht versteht, kann man zustimmend »Ah só des« sagen, was – jedenfalls im bayerischen – wörtlich übersetzt »Ah só is des« bedeutet. Schreiben wird man allerdings nie lernen. Und vor Humor oder gar Ironie muss man sich wirklich hüten: Es gibt beides in Japan, aber in keiner Form, über die wir lachen könnten. Die Kunst, etwas mitzuteilen, ist gleichzeitig die Kunst der Andeutung. Das gilt nicht nur für die Komik, sondern für jede Art Gespräch und besonders für Vertragsverhandlungen. Eine direkte Aussage ist unhöflich und unintelligent. Der Witz der meisten Witze besteht für einen Europäer darin, zu raten, was daran witzig ist. Japaner sind wie Italiener in Grönland. Beide Sprachen verwenden viele Vokale und dulden es selten, dass ein Wort mit einem Konsonanten endet (bei Fremdwörtern werden die Vokale einfach drangehängt oder vorangestellt). Das verleiht der Sprache eine große Musikalität. Anders als im Chinesischen, bei dem die Tonhöhen eine inhaltliche Bedeutung haben, werden sie hier individuell nach Person und Situation moduliert, wobei es eine unterschiedliche Intonation für Männer und für Frauen gibt. Hinter den dicken Pelzen und Gesichtsmasken, die die Japaner wie die Grönländer vor der Kälte der Welt schützen sollen, sind sie ungeheuer emotional und sentimental.

Einer der Manager, die ich im Lauf der Jahre gut kennen lernte, war schon im höheren Alter und kannte Deutschland gut, seit er als junger Offizier der japanischen Kriegsmarine 1943–1945 in Berlin Kriegsgerät für den Pazifikfeldzug gegen die USA gekauft hatte. Ich fand für ihn als Gastgeschenk in einem Antiquariat das »Ehrenbuch der Deutschen Kriegsmarine« von 1916. Darin war auch die Schlacht von Tsushima (1905) beschrieben, in der die Japaner – teilweise mit deutschen Schiffskanonen – nahezu die gesamte russische Flotte vernichtet hatten. Überreicht man in Japan ein Geschenk, wird es normalerweise verpackt mitgenommen, damit der Beschenkte nicht in die Verlegenheit kommt, Freude oder gar Ablehnung zu zeigen. Herr Ueno wusste aber natürlich, dass es bei uns genau umgekehrt ist: Heuchlerische Begeisterung muss unsere Züge erhellen, egal was da übergeben wird. So versuchte er es auch, brach aber – kaum dass er den Bericht über die japanische Kriegsmarine überflogen hatte – vor Rührung in Tränen aus und musste aus dem Raum geführt werden. Schlechte Geschenke zerstören die Freundschaft, aber die guten können sie auch gefährden, wenn der Beschenkte sein Gesicht nicht wahren kann.

Alle diese Erkenntnisse kommen der Vertragsarbeit sehr zugute, denn mit ihrer Hilfe kann man ganze Verträge abschließen, ohne sich den Inhalten jemals so konkret genähert zu haben, wie das für uns selbstverständlich wäre. Als Erstes lernt man, dass das Wort »Hai« (Ja) nichts weiter bedeutet als: »Ich habe Sie verstanden und ahne, was Sie sagen wollen«, dass es ein direktes »Nein« wirklich nicht gibt (nur Kinder verwenden »iie«, weil sie die Kunst der Andeutungen noch lernen müssen), und dass es niemals von den konkreten Interessen einer Seite abhängt, wie sie sich verhält, sondern ausschließlich von der Interpretation ihrer Rolle usw. Man erhält Andeutungen, man gewöhnt sich an, nur Schattenrisse zu werfen und aus dem Zusammenpassen aller Details auf die wirklichen Absichten zu schließen. Angela Merkel arbeitet in diesem Stil.

3.9.13. Veränderungen

Meine Besuche und Verhandlungen im Lauf der nächsten zehn Jahre zeigten mir, wie Japan sich schrittweise veränderte. Am auffälligsten: Man sah mehr Obdachlose und Punks auf den Straßen.

In Rechtsfragen wurde das Land offener und internationaler. Wie auf allen Gebieten finden die Japaner stets einen »japanischen Weg«, um die Ideen, die ihnen zweckmäßig erscheinen, so zu gestalten, dass sie zu den Rahmenbedingungen passen, die sie für unverzichtbar halten.116 Die wichtigste Sorge ist immer: Passen diese anderen Ideen, Vorschläge oder Modelle harmonisch zu dem, was schon da ist und was unter allen Umständen gesichert werden soll? »Man muss die Gewohnheit aushalten« und »Die größte Härte ist die Geduld« sagen die Sprichwörter.

Das wirkt sich auch auf die anwaltliche Arbeit aus. Sie ist auf der ganzen Welt im Grunde die gleiche. Wir müssen denken, sprechen, schreiben und lesen und dafür brauchen wir ein abgeschlossenes Zimmer. In Japan ist das anders. Junge Anwälte arbeiten genauso wie die Mitarbeiter in Großraumbüros, denn zu diktieren gibt es nichts: Briefe und Schriftsätze werden handschriftlich entworfen und dann von den Sekretärinnen mühsam und zeitraubend abgeschrieben. Die Tagesleistung beträgt vielleicht 8–10 DIN-A4-Seiten. Also sind die Akten sehr dünn. Nur die Mandantenkorrespondenz kann Umfang annehmen, wenn sie auf Englisch geführt wird. Der Grund: Man kann die Bedeutung vieler gesprochener Worte in der japanischen Sprache nicht eindeutig identifizieren, wenn man nicht das zugehörige Schriftzeichen (Kanji) vor sich sieht. In Restaurants beobachtet man immer wieder Menschen, die ein Zeichen mit dem Zeigefinger in die Hand »schreiben«, damit der Gesprächspartner weiß, was gemeint ist. Bei uns entstehen Tonnen von Papier, in Japan wird telefoniert oder von Hand geschrieben – das war der Grund, warum sich das Telefax dort am schnellsten verbreitet hat und auch heute noch viel intensiver genutzt wird als bei uns. 1984 arbeiteten wir gerade mit dem ersten Schreibcomputern auf Diskette, bei den japanischen Anwälten standen Maschinen mit riesigen Keyboards, die an Setzkästen erinnerten, aus denen man die Schriftzeichen zusammensetzen konnte. Ein handtellergroßer Bildschirm zeigte das jeweilige Ergebnis. Jetzt war mir klar, warum man hier Prozesse anders führen musste, als wir das gewöhnt waren.

Danach besuchte ich mit meinem Kollegen den Vertriebsleiter Europa einer der großen Brauereien, die schon in erheblichem Umfang japanisches Bier nach Deutschland exportierte. Daneben machten sie hohe Umsätze mit Softdrinks. Überall in Japan sieht man prächtige Automaten, die eine Auswahl unterschiedlicher Getränke anbieten. Und zwar immer heiß und kalt! Auf dem Land gibt es viele Pilgerwege (ähnlich wie bei uns den Jakobsweg), auf denen vor allem ältere Menschen weiß gekleidet monatelang unterwegs sind, um die berühmten 99 Tempel zu besuchen, die in ihrem Pilgerbuch quittiert werden. Auf diesen Wegen kann man – oft mitten zwischen den Reisfeldern – schnell einen Espresso trinken. Ob das nicht eine gute Idee für Deutschland sei? Ich sah vor meinem geistigen Auge einen Automaten für Weißbier und Espresso zwischen wogenden Weizenfeldern auf dem Pilgerweg nach Altötting und war begeistert – auch wenn mich schon die dunkle Ahnung überfiel, dass es da baurechtliche Probleme wegen »Bauten im Außenbereich« geben werde. Wie üblich saßen uns Anwälten etliche Gesprächspartner gegenüber, darunter auch Leute von der Technik, die zu dem Problem gar nichts beitragen konnten. Aber in Japan will man, dass die ganze Gruppe immer einen unmittelbaren Eindruck von den Leuten hat, mit denen man arbeitet. Der Zeitaufwand dafür ist gewaltig, aber er wird bei der Umsetzung von Projekten wieder eingeholt. Softwareprojekte z. B. dauern weltweit 18 Monate. In Japan werden sie ein ganzes Jahr lang geplant und dann in sechs Monaten umgesetzt – im Rest der Welt geht es genau umgekehrt und die Rate gescheiterter Projekte ist höher, weil die Planungsfehler am Ende nicht korrigierbar sind.

Am Ende dieses Gesprächs folgte ein Zeremoniell, das mir noch lange zu denken gab: Wie von einer Schnur gezogen standen alle Manager auf und ein kleiner Mann, den ich bis dahin kaum beachtet hatte, setzte sich an die Spitze – der Vertriebsvorstand, wie mir jetzt klar wurde. Bis dahin hatte er kein Wort gesagt. Er bat mich mit einer Geste neben sich. An den Doppeltüren standen rechts und links die üblichen Mädels in Uniform, um uns zum Aufzug zu geleiten. Beide drehten sich alle Sekunden um und deuteten mit ihren weißen Handschuhen in Schlangenlinien eine imaginäre Richtung auf dem Fußboden an, die den Weg zum Aufzug verdeutlichen sollte. Es sah aus, als würden uns Blumen auf den Weg gestreut. Wir warteten, die Türen öffneten sich, und als zwei Leute, die offensichtlich noch weiterfahren wollten, den Vorstand erkannten, huschten sie erschreckt aus der Kabine, damit er (und vor allem: der europäische Gast!) durch ihre Anwesenheit nicht etwa belästigt würde. Japanische Manager verdienen ungleich weniger als die Spitzenleute in Europa oder gar in den USA. Wenn ein durchschnittlicher Ingenieur bei Toyota 80.000 € im Jahr verdient, wird sein Vorstandsvorsitzender vielleicht 2,0 bis 3,0 Millionen € haben, aber nicht das Zehnfache. Vielleicht beruht das gewissenlose Verhalten westlicher Manager, das wir in letzter Zeit so häufig kritisieren, auch darauf, dass es ihnen an solchen Ritualen der Macht fehlt, die ihre Bedeutung allgemein sichtbar macht. Niemand bestätigt sie in der Ansicht, dass sie Gottes Werk verrichten (wie Lloyd Blankfein von Goldman Sachs uns hat wissen lassen) und so leisten sie Teufels Beitrag, um sich dafür zu rächen. In Japan könnte sich ein exzentrischer Unsinn dieser Art nicht entwickeln. Dafür gibt es andere Probleme. Die vielfältigen Überschneidungen der sozialen Beziehungen und die geringen Möglichkeiten, sich individuell zu entwickeln, sorgen dafür, dass die Anpassungsfähigkeit leidet, die notwendig ist, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können.

Meine anwaltliche Arbeit für Jay Schoentaler endete auf erstaunliche Weise. Nachdem er jahrelang einen großen Bogen um Asien gemacht hatte, entschloss er sich eines Tages doch, das fremde Land zu besuchen. Wie üblich wurde er in großem Stil eingeladen, und die persönliche Betreuung durch die junge Dame, die ihn durch Tokio führte, muss ihn so beeindruckt haben, dass er sie gleich geheiratet hat. Und so spricht er heute besser Japanisch, als es mir je gelungen ist.

3.10. Synthesizer in Bombay

Bad Wörishofen 2012
Bad Wörishofen 2012

3.10.1. Keine Erleuchtung

Niemals hätte ich geahnt, dass meine Arbeit in Japan mich kurz danach nach Poona (heute: Pune) in Indien führen würde. Dort lebte im Ashram des umstrittenen Meisters Bhagwan Shree Rajneesh ein weiterer wichtiger Komponist meines Musikverlegers Jay Schoentaler, der mit einer Mischung aus Synthesizer-Klängen, Blasinstrumenten, Schlagzeug usw. einen ähnlichen Erfolg hatte wie sein japanischer Kollege Kitaro, der 1976 dort auch ein halbes Jahr verbracht hatte. Georg Deuter, früher Kulturjournalist bei der Abendzeitung in München, brauchte für sein Tonstudio laufend Hightechgeräte, die in Indien zu verzollen waren, Lizenzeinnahmen flossen aus allen möglichen Ländern zusammen und mussten abgerechnet werden, daraus resultierten für seinen Verleger auch steuerliche Probleme usw. Schon nach Japan hatte er nicht reisen wollen, aber Indien erschien ihm endgültig – und wie sich zeigen würde auf Dauer – als zu gefährlich. Er hielt sich an den klugen Satz meines Partners Justin von Kessel: »Man muss nicht in der Bratpfanne gelegen haben, um etwas über Schnitzel zu wissen!« Zudem war er durch Berichte von Jörg Andrees Elten im STERN verunsichert worden. Der hatte mit bisher nie gesehenen Bildern tanzende, singende und meditierende Menschen gezeigt, ein Filmsternchen – Eva Renzi – war in einer Selbsterfahrungsgruppe mit harten Kissen beworfen worden usw. Dabei kamen ihm seine eigenen Traumata hoch, die er als Schüler eines Nazi-Internats vor Jahrzehnten erlitten hatte. Als er seine Reportage beendet hatte, ließ er sich mit knapp fünfzig Jahren von dem Meister in die Gruppe aufnehmen und trug als Sannyassin (in Indien geläufig für die Schüler eines Gurus) seitdem rote Gewänder.117 Vielleicht fürchtete Jay Schoentaler, ihm könne Ähnliches geschehen. Die Sorge, dass ich da unten für immer bleiben würde, hatte er offenbar nicht.

Im Flugzeug von München nach Bombay traf ich einen Kollegen aus der Rechtsabteilung eines großen Rüstungskonzerns, der seinen Weihnachtsurlaub in Goa verbringen wollte und zu seiner eigenen Überraschung in Poona hängen blieb. Dort konnte er den ganzen mixed grill therapeutischer Angebote ausprobieren – von Vipassana über Kundalini bis Encounter. Dies alles wurde als Teil eines Weges zur Erleuchtung beschrieben, der bestimmt unterhaltsamer und herausfordernder war, als auf der Couch eines Psychoanalytiker zu liegen. Was aber Erleuchtung war, darüber hatte wohl jeder seine eigene Vorstellung. Viele haben sich nach des Tages Müh’ und Last zuhause ihre tägliche Tüte Hasch gedreht (im Ashram war das ebenso wie Alkohol verboten!) und gemeint, dass er damit das Licht schneller andrehen könnte. Neben dem Komponisten, der jetzt den Namen Chaitanya trug, lernte ich interessante Leute aus aller Welt kennen, darunter einen Germanistikprofessor aus Sidney, der hysterisch erblindet war und hier wieder sehen gelernt hatte. Jetzt managte er die Küchenbrigade im Dauerstreit mit einer italienischen Mamma (Ex-Staatsanwältin aus Perugia), die eigentlich das Regime führte.

Was immer an religionsähnlichen Ritualen zu sehen war, kannte ich aus der katholischen Kirche bis zum Abwinken. Einschließlich der roten Ordenskleidung, der Rosenkränze, des Bildes des Meisters an allen Ecken – alles zielte auf eine Gemeinschaft der Heiligen, die mir völlig unrealistisch erschien. »Was ist das: klein, rotes Fell, mit buschigem Schwanz und klettert flink auf die Bäume?« »Normalerweise würde ich sagen – ein Eichhörnchen! Aber wie ich den Laden hier kenne, ist es sicher wieder das liebe Jesulein.« Ein alter Witz aus dem Internat, der dem Meister sicher gefallen hätte; denn hier trug jedermann sein Bild an einem Rosenkranz um dem Hals (Mala), und er war es, der in jedem Eichhörnchen steckte, das da im Park herumlief.

Baghwan hatte schon schräge Seiten: Er ließ sich 60 (oder 90?) Rolls-Royce schenken, die er nie benutzte, weil er das Gelände am Koregaon Park nie verließ. So wurde die Überflüssigkeit alles Geschaffenen augenfällig. Er stammte – wie der Vorstand der Deutschen Bank Anshu Jain – aus der Religion der Jainas, aber er verachtete alle Religionen als Täuschungsmanöver. Wer bis dahin von den Gefahren des Double-Bind noch keine Ahnung hatte, hörte einen Satz wie: »Schlagt den Buddha, wo ihr ihn trefft.« Nur wenige werden verstanden haben, warum er seine Anhänger und Spender immer wieder lächerlich machte und sie aufforderte, ihn nicht weiter zu beachten, sein Bild gegen Spiegel auszutauschen und ihrer eigenen Wege zu gehen. Sie kannten die alten Zen-Texte nicht, auf die er sich berief. Seine aggressive Verachtung der volksnahen Götter Indiens brachte ihn in Schwierigkeiten. Ich war zufällig dabei, als bei einem seiner Vorträge ein Hindu aus den hinteren Reihen ein Messer auf ihn warf, das ihm zu Füßen fiel. Die Folge waren umfangreiche Sicherungsmaßnahmen: Baumlange Deutsche und Amerikaner überwachten nach diesem Ereignis mit Schäferhunden das Gelände: Paradies und Normalzustand ähnelten sich immer mehr.

Nicht nur deshalb konnte ich mit der Erleuchtung nichts anfangen. Eine Menge Rituale erinnerte mich an Szenarien von Befehl und Gehorsam, denen ich keinen Reiz abgewinnen konnte. Es gab aber offenbar einen erheblichen Teil der 68er, die es nach dem Scheitern der anarchistischen Ideen nun auf diese Weise versuchen wollten. Vieles erinnerte an die gescheiterten Experimente vom Monte Verita bei Ascona, als man 1920 in der Zeit zwischen den Kriegen völlig neue Modelle versuchte, um sich dann später wieder zu unterwerfen. Andere wollten sich vermutlich kontrollierten Traumata von Befehl und Gehorsam aussetzen, um damit die früheren Wunden zu heilen – ein ebenso homöopathischer wie psychoanalytischer Ansatz. Ich empfand den Ort als ernsthaften Versuch, der Leute beeindrucken konnte, denen religiöse oder meditative Ansätze bis dahin eher fremd gewesen waren. So wird es auch Peter Sloterdijk, dem Meister der zynischen Vernunft, ergangen sein, der zwischen 1978 und 1980 immer wieder einige Monate dort verbracht hat. Gewiss hat ihn nicht nur das Ambiente, sondern auch das enzyklopädische Wissen des Meisters angezogen, der früher Philosophieprofessor gewesen war und auch jetzt Heidegger, Nietzsche und Sartre lebendig zu zitieren wusste. Er fühlte sich wohl aus manchen Zwangsjacken befreit: »Die Umstimmungserfahrung von damals bleibt irreversibel. … Man lebt unter einem helleren Himmel. Was mich betrifft: Indien ist völlig in den Hintergrund getreten, aber die damals erlebte Umstimmung wirkt immer noch nach.118«

So konnte man das erleben, wenn man sich selbst im Griff hatte. Wer sich aber von der Gruppendynamik angezogen fühlte oder von ihr abhängig wurde, konnte in schwierige Verhältnisse geraten. Schon die einheitlichen Rituale erzeugten eine erhebliche Gruppendynamik, wenn ich auch nie von einem Fall gehört habe, dass jemand gegen seinen Widerstand in die Gruppe gepresst oder am Weggehen gehindert worden wäre, wie es für alle militanten Sekten – wie etwa die Scientologen – typisch ist. Staatliche Behauptungen in diese Richtung sind von verschiedenen Instanzen, zuletzt vom Bundesverfassungsgericht, untersagt worden.119 Aber vermutlich wurden schon in Indien die Gesetze nicht ernst genommen, und als die Gruppe auch unter dem Druck von Steuerforderungen nach Oregon (USA) ausgewandert war, kam es zu regelrechten Skandalen. Der Meister kehrte unter dem Namen Osho wieder nach Indien zurück und seit seinem Tod (1990) hat sich der Koregaon Park zu einem »spirituellen Disneyland für unzufriedene Erste-Welt-Yuppies« (Wall Street Journal) mit ordentlichen Umsätzen entwickelt.

3.10.2. Bombay

Für meine Rückreise, die wieder über Bombay (heute: Mumbai) führen würde, hatte ich mir in dem einzigen internationalen Anwaltsverzeichnis, das es gab (Martindale-Hubbel), eine der fünf Sozietäten ausgesucht, die ausweislich ihrer Mandantenliste auch europäische Klienten vertraten. Wie gewohnt wollte ich mir die Kollegen ansehen, die ich vielleicht demnächst bei Zoll- oder Steuerproblemen würde einschalten müssen. Ich hatte ein Telex geschickt und prompt eine Terminbestätigung von Patel & Associates auf dem Tisch, bevor ich nach Indien geflogen war. Die waren also ordentlich organisiert. Ich fuhr mit dem Taxi nach Bombay und genoss das Abendessen in dem schon damals luxuriösen Taj Mahal. Am nächsten Morgen sollte ich um 11 Uhr Vikram Gupta in seinem Büro treffen.

3.10.3. Indisches Recht

In Indien haben sich schon sehr früh – etwa 150 Jahre nach dem römischen Zwölftafelgesetz – differenzierte Rechtsregeln entwickelt, die Allgemeingültigkeit beanspruchten. Das ist vor allem dem indischen König Ashoka (304–232 v. Chr.) zu verdanken. Er wandelte sich vom kriegerischen Eroberer zum friedlichen Herrscher und ließ seine Gesetze im ganzen Land auf mehreren tausend Säulen festhalten, damit jeder sich auf sie – vor allem gegenüber anmaßenden Provinzbeamten – berufen könne:

»Es ist mein Bestreben, dass Gesetze und Bestrafungen einheitlich sein sollen. Ich gehe auch so weit, jenen die zum Tode verurteilt wurden, einen dreitägigen Aufenthalt im Gefängnis zu erlauben. Während dieser Zeit können ihre Verwandten um eine Begnadigung ansuchen. Wenn niemand da ist um das Leben des Gefangenen zu bitten, darf der Gefangene Schenkungen tätigen, um gute Verdienste für die nächste Welt zu sammeln oder fasten.«

Auch ein modernes Gesetz für die Erhaltung der Arten würde sich auf seine Vorschriften stützen können:

»Sechsundzwanzig Jahre nach meiner Krönung werden einige Tiere unter Schutz gestellt – Papageien, wilde Gänse und Enten, Fledermäuse, Ameisenköniginnen, Schildkröten, Fische, Stachelschweine, Eichhörnchen, Rehe, Rinder, wilde und Haus-Tauben, alle vierfüßigen Tiere, die weder nützlich noch essbar sind. Die Ziegen, Schafe und Säue, die Junge haben oder Jungen Milch geben, sind geschützt, wie auch die Jungen, wenn sie jünger als sechs Monate sind. Hähne dürfen nicht kastriert werden, Unterholz, in dem Tiere sich verbergen, darf nicht verbrannt werden und Wälder dürfen weder ohne Grund, noch um Lebewesen zu töten abgebrannt werden. Ein Tier darf nicht an ein anderes verfüttert werden.«120

Das sind starke Traditionen, die heute noch wirksam sind, auch wenn sie in den Berichten über Indien selten auftauchen.

3.10.4. Anwälte in Indien

Anders als in Europa hat sich aus solchen Anfängen aber kein einheitliches Rechtssystem entwickelt. Indien hat ein gespaltenes Rechtssystem: Im Wirtschaftsrecht und Prozessrecht sind die englischen Vorbilder nahezu unverändert übernommen worden, im Privatrecht und vor allem auf dem Land haben lokale und traditionelle Rechtsordnungen einen entscheidenden Einfluss mindestens in den Bereichen von Treu und Glauben usw.

Auf dem Papier gibt es 1,2 Million Anwälte, bezogen auf die Bevölkerungszahl also etwa die Hälfte wie in Deutschland. Sie sind nach englischem Vorbild in Bar Associations organisiert, in Bombay seit 1862 – also früher als in Deutschland! Verdiente Anwälte können vom Supreme Court den Titel Senior Advocate erhalten – das geschieht vermutlich nicht, wenn sie ihn allzu sehr ärgern. Bei der Größe des Landes kann man sich denken, dass die Gerichte mit Klagen überschwemmt werden, obwohl Prozesskostenhilfe außerhalb von Pro-bono-Aktivitäten unbekannt ist. Prozesse sollen Jahre dauern.

Gegenüber dem Ausland ist der indische Anwaltsmarkt seit jeher und bis heute noch völlig abgeschlossen, obwohl Indien im Januar 1995 der Word Trade Organization (WTO) beigetreten ist. Ausländische Anwälte dürfen hier nicht praktizieren und sich schon gar nicht an indischen Sozietäten beteiligen. Mit der EU wird dilatorisch verhandelt, ob sich das einmal ändern soll. Das einzige Zugeständnis der selbstbewussten Inder: Ausländische Anwälte erhalten bevorzugt Visa, wenn sie Mandanten mit Problemen im Ausland oder ihre Korrespondenzanwälte aufsuchen müssen.

3.10.5. Vergebliche Mühe

Nach dem Stadtplan lag das Büro von Patel & Associates nicht allzu weit von dem Hotel entfernt, aber ich wollte mir sicherheitshalber ein Taxi nehmen, um mich nicht zu verlaufen. Für die achthundert Meter, die wir zu fahren hatten, brauchten wir eine Dreiviertelstunde. Ich muss nicht näher schildern, warum – im Fernsehen wird das jeden Tag gezeigt. Die Zeit, in der Bombay eine luxuriöse Oase der Ruhe gewesen war, lag achtzig Jahre zurück. Das sah man auch den Gebäuden an. Die Architektur der Kolonialzeit war vielfältig erhalten, aber das Betreten der Häuser schien lebensgefährlich.

Am Eingang des Stadtpalais, in dem sich das Büro befand, hängen unter dem Firmenschild von Patel & Associates etwa dreißig blinkende Messingsschilder europäischer Firmen, vor allem aus der Pharmaindustrie. Dieses Briefkastensystem ist in Asien verbreitet und ein schönes Bread-and-butter-Geschäft für die Anwälte. Der denkmalwürdige Aufzug (1899) rappelt sechs Stockwerke nach oben, am Empfang ist alles wie gewohnt im englischen Stil und ich blättere langsam in der Times of India. Dann erscheint ein Diener. Er geleitet mich durch lange, schwach beleuchtete Gänge, zwischen fünf und sechs Meter hoch, beiderseits gesäumt von Aktenregalen. In Indien werden wie in England die Akten in Rollen verwahrt. Ein Dutzend barfüßiger Diener in grauen und blauen Kitteln, die sich respektvoll verbeugen, sind damit beschäftigt, sich die Ordnung dieser staubigen Aktenbestände auf Leitern zu erschließen. Auf langen Aktenschwänzen sind die Namen verzeichnet. Andere Diener von niedrigerem Rang (die vermutlich nicht lesen und schreiben können) versorgen sie mit Tee. Irgendwo verschwinden die Rollen in den Seitengängen, neue werden aus anderen Archiven gebracht. Wer Kafkas Prozess gelesen hat, kennt dieses Bild.

Am Ende des Ganges öffnet sich die Tür zum Zimmer des Partners. Es ist ein großes Eckzimmer, mit fast geschlossenen Jalousien, durch die die Sonne und die Geräusche der Straße nur gedämpft hereindringen. Der Schreibtisch des Partners ist leer, die Wände sind bis zum Ansatz der Stuckfriese mit dunkelgrüner Ölfarbe gestrichen wie in einem Badehaus – der Monsun würde jeden anderen Anstrich in wenigen Wochen zerstören. Als Wandschmuck drei Werbeplakate von Ciba-Geigy. »These are our clients«, sagt Vikram Gupta LLM (Oxford) zur Begrüßung und weist auf die Plakate, zwei ältere Diener bringen den Tee, und mit diesem Schachzug hatte er die Rangverhältnisse klargestellt, ohne ein weiteres Wort verlieren zu müssen: Wenn ich mich nicht als Anwalt von BAYER würde vorstellen können (was leider nicht möglich war), konnte ich hier nichts gewinnen. Also sprach ich in allgemeinen Worten von der Musikindustrie, deren Tätigkeiten hier nicht bekannt waren. Nach einer freundlichen Schonfrist erhielt ich Empfehlungen an andere Kollegen in Bombay, die Ahnung von der Filmindustrie hatten und daher auch etwas von der Musik verstehen sollten und wurde huldvoll wieder entlassen.

Draußen standen keine Taxis. Der Versuch, zu Fuß ins Hotel zu gehen, scheiterte nach fünfzig Metern: Hupen, Lärm, Getöse, Schweißausbrüche. Ich resignierte und winkte eine Rikscha, die bunt bewimpelt mit dem Göttern Shiva und Shakti vorbeikam, der Sitz eine Art Wiener Fauteuil mit holländischen Kachelmustern. Überall Glöckchen und Gebimmel. Das wirkte beruhigend. Ich dachte mir: Erst wenn es wirklich Zollprobleme gibt, werde ich versuchen, diese Stadt zu verstehen. Aber es gab keine, und so ist es mir auch nie gelungen, einen Gerichtshof in Bombay von innen zu sehen. Am Flughafen traf ich den Kollegen aus der Rüstungsindustrie. Der war Sannyassin geworden und hatte sich die Aufgabe gestellt, den Spagat zwischen Verträgen über Tretminen und Mediation auszuhalten. Indien hatte ihn mit seiner Liebe zu Gegensätzen offenbar angesteckt.

Der kurze Aufenthalt in Bombay hat mir geholfen zu verstehen, warum die indische Filmindustrie, deren Zentrum dort liegt, sich ebenso wie die vielfältigen Unternehmen der IT-Industrie, die Softwarefirmen, Callcenter usw. für den Nabel der Welt halten. Die Engländer haben Indien in der Zeit der Kolonialisierung nicht nur ihre Sprache, sondern eine ganze Infrastruktur überlassen (gewiss gegen einen angemessenen Preis!). Englisch verbindet die unzähligen Sprachen Indiens als lingua franca, ebenso wie die Eisenbahnen für den Grundbedarf in der Logistik sorgen. So können die Inder die Technik des Westens, seine Infrastruktur und sein Know-how so benutzen, als seien sie selbst die Erfinder. Das Selbstbewusstsein dazu gewinnen sie aus anderen Quellen: der Wärme und Farbigkeit des indischen Lebens, dem Zusammenhalt der Familien, den (immer noch) im Wesentlichen unbestrittenen Rangsystemen und nicht zuletzt dem präsentes Bewusstsein der jahrtausendealten Kultur, die sie trägt und gleichzeitig behindert121. Neben dem westlichen Leben, das sie wie in geliehenen Kleidern nur imitieren, gibt es ein indisches Leben, zu dem wir nur über die jüngere indische Literatur (z. B. Vikram Seth; Arundati Roy, Rohintron Mistry u. a.) einen Zugang gewinnen können.

3.11. Die Erfindung des Computerrechts


Fassade Meran, 2012

»Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.«
Archilochos (650 v. Chr.)

3.11.1. Probleme bei der Softwareentwicklung

1982 versagte kurz nach Ablauf der Gewährleistungsfrist unsere Hardware (Wang MVP) und gleichzeitig war die Software verschwunden.

Unser neuer Computer sollte Texte und Daten miteinander verbinden, die bisher getrennt verarbeitet worden waren. Ein Softwareentwickler hatte uns die Maschine empfohlen, aber seine Programme passten nicht richtig. Wir verbrachten gemeinsam ganze Wochenenden im Büro. Gelegentlich brachte er Frau und Hund mit, wobei die Aufgabe der Frau darin bestand, die frisch geschriebenen Programme zum Absturz zu bringen – was ihr meist gelang. »Eine bessere Testerin werden sie nirgendwo finden!«, sagte der Entwickler stolz, kam aber nicht auf die Idee, dass die Programme vielleicht hätten stabiler werden können. Was tun? Die Zusagen im Vertrag waren – vorsichtig ausgedrückt – äußerst dehnbar (dafür waren wir selbst verantwortlich), aber die Elektronikversicherung schien für Datenverlust haften zu wollen (aber hatten wir den überhaupt?). Wir suchten nach Urteilen und fanden nichts, wir suchten Literatur, aber außer Christoph Zahrnt, der regelmäßig in der Computerwoche schrieb, fanden wir sonst nichts Brauchbares. Weil es noch keine juristischen Datenbanken gab, hatten wir keine Chance, vielleicht zufällig auf geeignetes Material zu stoßen. Die folgenden Monate waren quälend. Eine Lösung war nicht zu finden, wir gingen wieder einen Schritt zurück, trennten Text- und Datenverarbeitung und gingen im Streit mit dem Entwickler auseinander. Wir hatten uns überschätzt.

Unsere ersten Erfahrungen mit Computern reichten bis 1974 zurück. Damals setzten wir im Bereich der Zwangsvollstreckung die ersten Schreibautomaten ein, später folgten dann Diskettenlösungen mit Textbausteinen für Massenmandate im Banken- und Versicherungsbereich. Am Anfang versuchte ich, Verlage dafür zu interessieren, Anwaltssoftware zu entwickeln. Bei C.H. Beck wurde gleich abgewinkt, weil man dort gewöhnt ist, Risiken sehr vorsichtig anzugehen. Sogar meine Anregung, die wunderbare Leitsatzkartei auf Diskette zu veröffentlichen, wurde abgelehnt – wie sich später zeigte, eine richtige Entscheidung, denn die Speicherkapazität von Disketten wäre viel zu niedrig gewesen. Ich hatte die Arbeit mit der Leitsatzkartei nach einigen Jahren Benutzung einstellen müssen, weil das Einsortieren der wöchentlichen Lieferungen bis zu 2–3 Stunden dauerte. Das war im Verhältnis zum Nutzen zu viel Zeitaufwand. Nur eine elektronische Datenbank konnte helfen. Als die ersten Pläne auftauchten, die Leitsatzkartei endlich auf CD-ROM herauszubringen, versuchte ich den Verleger Hans Dieter Beck mit einer Wette aufzumuntern: »Wenn Sie im ersten Jahr nach der Einführung nicht mindestens 1000 Abonnements bekommen, spendiere ich eine Kiste Champagner.« Aber er war zu vorsichtig, diese Wette anzunehmen. Arthur L. Sellier (Schweitzer) schrieb ich: »Eine Hardware mit einer Speicherkapazität von ca. 40 MioByte, die bis auf ca. 200 MioByte aufrüstbar ist, zwei Diskettenstationen hat (einfache Datensicherung), maximal bis acht Bildschirme und in der Grundkonfiguration nicht mehr als 25.000 DM kostet« sei die Lösung. Heute bin ich mir sicher, dass Verlage mit Tochtergesellschaften, die sich um Hardware und Software gekümmert hätten, um ihre Inhalte zu vermarkten, eine strategisch richtige Entscheidung getroffen hätten. Aber im Nachhinein ist das leicht zu sagen.

Andere Kollegen mit ähnlichen Erfahrungen, die auf den Märkten die gewünschten Produkte vermissten, entwickelten sie auf eigenes Risiko. Aus manchen Anwälten (z. B. Abels (Dortmund) oder Peter Becker (Berlin, RA-Micro)) wurden Chefs von EDV-Firmen. Von Dr. Peter Becker hatte ich aus der Szene gehört und fragte ihn bei einem Besuch in Berlin um Rat. 1983 betrieb er seine Praxis neben dem soeben gegründeten Softwarehaus in fünf Räumen, eine Firma, die heute als Marktführer hunderte Mitarbeiter und Dutzende Vertriebspartnern hat. Der Deutsche Anwaltverein hingegen, der es auch mit einem eigenen Softwarepaket versucht hat, scheiterte.

Wenn ich bedenke, was anderen Sozietäten mit ihren Versuchen, sich eigene Programme schreiben zu lassen, alles geschehen ist, wird mir im Nachhinein noch schlecht. Bis heute gibt es nur relativ kleine Lösungen, die den gleichen Komfort haben, wie wir ihn z. B. von Windows- oder Apple-Oberflächen gewöhnt sind. Die großen Programme sind immer noch viel zu umständlich. Manche Anwälte versuchten, um die Computer einen möglichst großen Bogen zu machen. 1991 traf ich zufällig Wolfgang Usinger (damals Anwalt und Notar bei Pünder Volhard Weber) in Frankfurt und sah zu meinem Erstaunen auf seinem Tisch keinen Bildschirm. »Der kommt mir nie ins Haus«, sagte er, und ich wettete zwei Flaschen Bordeaux, dass er spätestens in fünf Jahren nachgegeben hätte. Ich muss bei Gelegenheit mal nachfragen, ob er Ende 1996 tatsächlich noch Widerstand leisten konnte.

Die Beschäftigung mit diesen Fragen führte zwangsläufig zu der Überlegung, ob das Computerrecht nicht eine interessante Marktlücke darstellte. Viele der älteren Konkurrenten (Christoph Zahrnt, Jochen Schneider) hatten Erfahrungen als Softwareentwickler. Die technischen Kenntnisse, die sie so erworben haben, sind die Grundlage für alle juristischen Theorien, die man auf diesem Feld vielleicht entwickeln kann. Auf diesem Niveau würden wir nicht mithalten können, aber wir hatten unser Büro aus dem Baurecht heraus entwickelt und waren mit technischen Prozessen und Branchen gut vertraut. Ich dachte, das müsse sich auf die Welt der IT-Branche übertragen lassen. Den ersten »richtigen« Computer sah ich 1981 in Chicago: Da konnte man dabei zusehen, wie der kleine Pac-Man auf einem grünlichen Bildschirm einen Punkt nach dem anderen verspeiste und das Ganze nannte sich »Computerspiel«. Auch die stürzten ab. Wenn nur eine Hand voll Leute wusste, wie man mit computerrechtlichen Problemen umgehen sollte, müsste da ein Markt sein.

Da agierten allerdings ganz andere Menschen, als wir sie bisher gesehen hatten: Während wir bisher gewohnt waren, nur mit Juristen oder gestandenen Unternehmern zu sprechen, trafen wir auf junge Leute mit neuen Ideen, die besonders dann, wenn sie Software entwickelten, nicht viel Geld brauchten, um im Wettbewerb mitzumischen und eine völlig neue Unternehmenskultur mitbrachten. Prozesse waren selten, aber ich begleitete solche kleineren Firmen bei ihren Besprechungen mit ihren Kunden, meistens größeren Konzernen. Auch die mussten ihre Softwareentwickler an der langen Leine führen, weit mehr, als sie es sonst gewohnt waren. 1986 fuhren in einem Siemens-Bezirk, der intern »Data-Sibirsk« hieß, auf ihren Rennrädern plötzlich dieselben Freaks mit Pferdeschwanz, Birkenstock-Sandalen und California-Dream-Outfit herum, wie am Rand des Instituts für Mikroelektronik von Professor Ingolf Ruge, der die Bayerische Landesregierung in IT-Fragen beriet. Da hielt ich bei Gelegenheit Vorträge über Rechtsprobleme, die die jungen Leute aber wenig interessierten. Sie wussten: Es hat wenig Zweck, sich Gedanken über Probleme zu machen, die man erst hat, wenn man mit den Füßen fest im Markt verankert ist.

In München richtete man Kammern für Computerrecht ein, weil es kaum einen Richter gab, der praktische Erfahrungen mit moderner Technologie hatte. Andere Gerichte folgten, aber einige Jahre später wurden diese Experimente wieder abgebrochen, weil an der Erkenntnis kein Weg vorbeiführt, dass das Computerrecht sich quer durch alle Rechtsgebiete zieht und daher das allgemeine Niveau der technischen Kenntnisse von Richtern und Staatsanwälten und Anwälten angehoben werden muss. Aber das geht langsam, und deshalb stoßen wir heute immer noch auf einen Richter, der uns erklärt: »Sie können mir schreiben, was Sie wollen, ich verstehe es ohnehin nicht«, weil er nicht erkennt, dass sich hinter der technischen Darstellung nur ein längst geläufiges Rechtsproblem versteckt. Andere, wie der Münchner Familienrichter Gutknecht, haben schon in den Siebzigerjahren eigene Programme für die richtige Berechnung des Unterhalts et cetera geschrieben und manchen Kollegen mit diesem Interesse angesteckt. Millimeterweise bewegte sich das Verständnis auch auf der Seite der Justiz. Aber immer wieder gibt es Rückschläge: Ein Richter weigerte sich, Texte auszudrucken, weil das keine Arbeit für Richter sei!

3.11.2. Komplexität: Checklisten, Mindmaps und andere Werkzeuge

Im Zentrum dieser frühen Mandate standen Computerprojekte, also Verträge über Hardware, Software, Wartung, Pflege, Outsourcing und eine Vielzahl anderer Leistungen, die im Lauf der folgenden Jahre immer vielfältiger wurden. Durch Gespräche mit Systementwicklern, Mathematikern und Versicherungsleuten, die mit Risikoberechnungen vertraut waren, wurde mir klar, dass schon eine Handvoll unterschiedlicher Faktoren und damit verbundener Schnittstellen ausreicht, um jede Übersicht auf das Ganze zu verlieren. Die technische Praxis reagierte darauf mit den gängigen Mustern von Versuch und Irrtum. Das kann man sich aber nur leisten, wenn man alle Standardvariationen ausschaltet und damit die Komplexität reduziert. Eine der einfacheren Komplexitätsformeln lautet

n (n – 1)/2

Hat man also nur n = zehn Faktoren, die Probleme machen können wie z. B. Hardware, Software, Fremdleistungen, Missverständnisse, finanzielle Probleme, rechtliche Unklarheiten usw., so können

10 (10 – 1)/2 = 45

bis zu 45 unterschiedliche Szenarien auftreten, auf die man jeweils individuell reagieren müsste. Kein Vertrag der Welt könnte das abfangen. Vor allem Gerd Gigerenzer122 hat uns gezeigt, dass wir außerordentlich wichtige Entscheidungen mit einem Minimum an Kriterien treffen, die wir instinktiv und aufgrund von Schätzungen auswählen, die auf unserer Erfahrung beruhen. Wer würde irgendein Problem erkennen, wenn er in einem Vertrag liest, dass ein neues Softwaresystem spätestens am 31. Dezember des ablaufenden Jahres abgenommen werden soll, damit es am 1. Januar des nächsten Jahres in den Echtzeitbetrieb übergehen kann? Und doch ist dieses – häufig gewählte – Datum die Ursache für massive Schwierigkeiten bei der Einführung neuer Software. In einem Fall musste ich zusehen, wie der Leitende Systemingenieur des Kunden unter dem Druck der Gewerkschaften am 15. Dezember zwangsweise in den Urlaub geschickt werden musste, obwohl er sich heftig dagegen wehrte: Ihm war klar, dass gerade in den letzten Tagen viele unbekannte Probleme auftauchen würden. Aus Zorn fuhr er zum Trekking in die Anden – kein Telefon, keine Funkverbindung, nichts. Zwei Tage nach seiner Abreise stand das Testsystem still und bewegte sich keinen Millimeter mehr. Niemand konnte den Fehler aufklären. Als der Projektingenieur am 15. Januar wieder zurückkam, brauchte er eine Viertelstunde, um die Sache zu beheben.

Gerade diese Erfahrungen fehlten uns in den Anfangszeiten. Es würde noch lange dauern, bis wir genügend tragfähige Grundsatzentscheidungen zu sehen bekämen, aus denen man auf eine einigermaßen sichere Verteilung der Haftungsrisiken bei Computerprojekten schließen könnte. Die Idee: Ein einheitlicher Begriff »Systemverantwortung« sollte die unterschiedlichsten Variationen zusammenfassen, unter denen die Haftungsrisiken bei einem komplexen Projekt verteilt werden konnten.123 Leider hat er sich nicht durchsetzen lassen, so dass wir nach wie vor mit den unterschiedlichsten Werkzeugen arbeiten müssen, um zu ausgewogenen Ergebnissen zu kommen.

Daneben war ein praktisches Problem zu lösen: Wie konnte man diese Komplexität organisatorisch in den Griff bekommen? Wir hatten schon früher bei Massenmandaten (Abrechnung von Kreditverträgen, Abwicklung von Versicherungsfällen) Checklisten eingesetzt, und diese Idee wollte ich auf das Computerrecht übertragen. Es hat sich bis heute bewährt: Mit etwa 70 Checklisten lässt sich das gesamte Computerrecht durch geeignete Fragen erschließen und seit 2010 können wir sie mithilfe von Mindmaps strukturieren und auch von verschiedenen Standorten aus gemeinsam daran arbeiten. Für Juristen ist diese Denkweise im Grunde selbstverständlich, denn ihre Prüfungsschemata sind nichts anderes. Die neue Idee bestand nur darin, das, was sich im Studium bewährt hatte, auch in der Praxis beizubehalten. Für ein neues Gebiet wie das Gewährleistungsrecht bei Computerverträgen konnte man so auch geeignete Strukturen für eine Vielzahl von Problemen anbieten, zu denen es weder Rechtsprechung noch Literatur gab.

3.11.3. Festpreise: unvermeidlich, aber gefährlich für beide Seiten

So weit – so gut. In der Praxis sollte sich zeigen, dass bestimmte Konflikte auch mit guten Werkzeugen nicht in den Griff zu bekommen waren.

Auf einer Lebensmittelmesse in den USA besuchte der Produktionschef eines deutschen Unternehmens die Aussteller und traf auf ein interessantes Angebot: An definierten Schnittstellen der Produktionsstraßen sollten einzelne Messwerte elektronisch erfasst, strukturiert und ausgewertet werden und so konnte man wie in einer Flugleitzentrale jede Abweichung von der Norm identifizieren. Bei solchen Produktionsprozessen ist die große Gefahr, dass irgendeine Verunreinigung die ganze Partie ergreift und wertvolles Material vernichtet werden muss. Dieses System würde viel Geld sparen! Die amerikanischen Ingenieure kamen nach Deutschland, liefen einen Tag lang in dem Betrieb umher, machten sich Notizen und dann folgte ohne weitere Festlegung von Details ein Festpreisangebot, verbunden mit Liefertermin usw. – eine ideale Situation für den Kunden. Die Verträge wurden gleich unterschrieben, nicht einmal die Rechtsabteilung warf einen Blick darauf. In den nachfolgenden Workshops stellte sich heraus, dass der Lieferant seiner Ansicht nach seine Standardlösung verkauft hatte, der Kunde aber einen Maßanzug wollte. Die Produktionsabläufe hätten an verschiedenen Stellen geändert werden müssen, um zu den von dem Softwareprogramm angenommenen Prozessen zu passen – dazu war der Kunde aber aus verständlichen Gründen nicht bereit. »Die haben sich doch in unserem Betrieb genau umgesehen und wussten, wie wir produzieren« – dieses Argument leuchtete ein und mehr noch die Pflicht, den Kunden darauf hinzuweisen, dass er seine Prozesse würde ändern müssen, wenn er das Programm richtig einsetzen wollte. Vergleichbare Probleme kennt man bei Industrieanlagenverträgen seit Jahren. Als Anwalt der Amerikaner stand ich auf verlorenem Posten. Kündigen konnten sie nicht. Das zu realisieren, was der Kunde wollte, hätte weitere Millionen gekostet. Ich schrieb, telefonierte, versuchte Leute zu erreichen, und außer manchen rechtlichen Tricks, mit denen man Salz in die Wunden der Gegenseite reiben konnte (Gerichtsstand, Vollstreckbarkeit et cetera) war die Lage nicht erfreulich. Es kam zur Schlussverhandlung, in der man den Anbieter gegen angemessene Entschädigung aus dem Vertrag entlassen wollte. Als die Zahlen auf den Tisch kamen, wurde der Geschäftsführer der deutschen Niederlassung blass. Sie waren mehr als dreimal so hoch, als er Verhandlungs-Vollmacht hatte. »Das ist ungefähr die Hälfte von dem, was wir verlangen könnten«, sagte der Leiter der Rechtsabteilung, der mir gegenübersaß. »Ich will das nicht glauben!« Der Geschäftsführer griff mich am Arm und geriet außer sich – und das führte zu einem der wenigen Fehler, die ein Anwalt unter gar keinen Umständen machen darf. Ich verlor die Contenance: »Seit drei Monaten sage ich nichts anderes – wir müssen unterbrechen«, sagte ich und frage mich noch heute, welcher Teufel mich geritten hat, den ersten Teil dieses Satzes nicht zu verschlucken. Es wäre sehr viel besser gewesen, die Verhandlung oder sogar einen Prozess durchzustehen, als den Kunden so bloßzustellen. Ich legte das Mandat nieder, verzichtete auf Honorar und die Einigung kam später ohne mich zu Stande.

Der Fall ging mir nie aus dem Kopf, weil ich einige Jahre später – wie es bei Anwälten so üblich ist – auf der anderen Seite stand und den Kunden bei einer Festpreisvereinbarung vertrat. Erst einmal hatte sich die Entwicklungszeit auf fast das Doppelte verlängert. Schon dadurch war der Erfolg des Projekts gefährdet, denn »undefinierte Zeit dehnt sich unendlich« wie der Gutachter später sagte – ein Satz, an den man sich immer erinnern sollte, wenn man etwas Konkretes erreichen will. Dann endlich war die Software geliefert worden, aber so fehlerhaft, dass sie nie zum Einsatz kam. Das Problem: Das Projekt war über eine Leasingvereinbarung finanziert worden und die Leasingraten liefen weiter. Der Bundesgerichtshof hatte in einem Grundsatzurteil124 schon entschieden, dass in einem solchen Fall auch der Leasingvertrag zusammenbricht, womit die Zahlungspflicht endet. Zu diesem Präjudiz gab es in unserem Fall nur einen winzigen Unterschied: Diesmal war der Finanzierungsvertrag zeitlich erst nach dem Projektvertrag zu Stande gekommen, so dass sich die Frage des wirtschaftlichen Zusammenhangs stellte. Aber auch dazu gab es schon einige Urteile – alle in unserem Sinn. Allerdings wurde diese zentrale Frage von einer Fülle kleinerer Details überwuchert. Sie reichten von der Zuständigkeit der Gerichte und der richtigen Anträge (einschließlich Streitverkündung) bis hin zu ziemlich komplizierten Fragen des Internationalen Privatrechts. Wir haben uns die Finger wund geschrieben, die Sache in zwei Instanzen an zwei unterschiedlich zuständigen Gerichten zunächst gewonnen und dann verloren, und der Bundesgerichtshof hat die Revision, in der er deutlich auf seine früheren Entscheidungen hingewiesen wurde, ohne Begründung verworfen. Irgendwann muss bei den Gerichten die einfache Tatsache, dass eine bezahlte Software wegen (völlig unbestrittener) Mängel nie zum Einsatz gekommen war, vergessen worden sein.

»Das Ergebnis ist bedauerlich, aber wir müssen es akzeptieren«, schrieb unser Revisionsanwalt ungerührt, ein Textbaustein, den er für andere Fälle nicht variieren musste, denn über dem Bundesgerichtshof gibt es nur den blauen Himmel, wenn man nichts verfassungsrechtlich Relevantes in der Hand hat. Die Kollegen am BGH haben ein gesundes Selbstbewusstsein. Von den Gerichten werden sie gelegentlich gequält, aber sie lassen uns doch merken, dass die Juristen an den Revisionsgerichten ein Club sind, zu dem wir keine Eintrittskarten haben.

An solchen Fällen erkennt man, dass es nicht immer gelingt, die entscheidungserheblichen Rechtsfragen im Prozess so klar herauszuarbeiten, dass sie mit einem gleichzeitigen Blick auf die divergierenden Interessen der Parteien fair beurteilt werden können. Nur das nämlich ist der Inhalt des Verfahrens, das am Ende zur Gerechtigkeit führen soll. Es enthält Beschränkungen, die für Mandanten schwer verständlich sind.

3.11.4. Ein rotes Telefon

Das zeigte sich anschaulich an einem Fall, den ich Anfang 1999 übernahm. Das Jahr 2000 stand bevor und zwei Jahre früher hatte der Chefanalyst der Deutschen Bank in New York Edward Yardeni entdeckt, dass in alten Computerprogrammen (bis 1988, spätestens 1996) wegen des geringen Speicherplatzes für die Darstellung der Jahreszahl nur zwei Ziffern verwendet worden waren (z. B. 01.02.99), ab dem Jahr 2000 aber vier Ziffern gebraucht wurden (Y2K-bug). Die Daten in allen älteren Computern würden also nicht auf das Jahr 2000 umspringen, sondern auf das Jahr 1900.125 Damit hätte man leben können, aber einige Softwareprogramme, die von einem Datum abhängen, sind sicherheitsrelevant. Das hatte man durch Zufall bei der Arzneimittelproduktion entdeckt: Die gesamte Tagesproduktion wurde bei der Qualitätskontrolle automatisch in den Müll gekippt, weil das Verfallsdatum schon am Tag der Produktion ausgelaufen war.126

Solche Szenarien machten der Deutschen Bahn große Sorgen. Als eines der ersten deutschen Unternehmen hatte sie schon 1998 ein Y2K-Projekt eingerichtet und insbesondere überprüft, wie automatische Stellwerke auf das Problem reagierten. Es ging um 50 Fernverkehrszüge und 370 Nahverkehrszüge, die kurz vor Mitternacht in ihren Bahnhöfen bis nach dem Jahreswechsel festgehalten werden sollten. In der Presse war darüber berichtet worden. Die Frage: Gibt es aus computerrechtlicher Sicht noch etwas zu sagen? Ich meinte, die Deutsche Bahn habe mit ihren Vorkehrungen das Zumutbare getan, erinnerte mich aber an den nachhaltigen Eindruck, den die Hochgeschwindigkeitszüge (Shinkansen, Hikari) in Japan auf mich gemacht hatten: Im Fünfminutentakt bedienten sie die 500 km lange Strecke zwischen Tokio und Kyoto störungsfrei und auf die Sekunde genau. Warum schaffte das niemand anderer? Die Lösung liegt (nahezu ausschließlich) in der Entscheidung für bestimmte Prioritäten. Die japanischen Züge laufen auf einer eigenen aufgeständerten Trasse völlig kreuzungsfrei, so dass sie – außerhalb der Erdbeben – »keine natürlichen Feinde haben«. Da sich alles ihrem Rhythmus beugen muss, kann nichts schiefgehen. Ich erinnerte mich an Managementbücher, die immer wieder sagen: Wenn man ein Problem überhaupt lösen kann, wird das immer gelingen, wenn die richtigen Prioritäten gesetzt sind (ein gutes Beispiel: der Flug zum Mond, ein schlechtes Beispiel: Toll Collect). Theoretisch war nicht ausschließbar, dass es irgendwo einen Fehler gab, und dafür würde man mit hoher Wahrscheinlichkeit niemanden verantwortlich machen können. Entscheidend war, was danach geschah: Dann musste der Bahnbetrieb stillgelegt werden, und das konnte nur der Vorstandsvorsitzende selbst entscheiden. Ich empfahl Bahnchef Mehdorn ein rotes Telefon. Es wurde, wie bekannt, nicht gebraucht.

3.11.5. Das Labyrinth des Datenschutzes

Unter den vielen Themen, mit denen das Computerrecht sich beschäftigt, ragt der Datenschutz besonders hervor, denn er hat dem Bundesverfassungsgericht Anlass gegeben, das neue Grundrecht der Informationellen Selbstbestimmung zu erfinden.127 Ich bin wie viele der Ansicht, dass das nicht nötig gewesen wäre. Die Grundidee, dass der Staat den Bürger nicht wie einen gläsernen Menschen betrachten darf, ergibt sich auch ohne die umfassenden Begründungen, die das Bundesverfassungsgericht entwickelt hat, schon aus der Garantie der Menschenwürde im Zusammenhang mit dem Übermaßverbot. Es waren Wilhelm Steinmüller und Bernd Lutterbeck, die 1971 den Begriff der informationellen Selbstbestimmung geprägt haben. Als das Volkszählungsurteil im Jahr 1983 ihn aufnahm, war er den Erfindern selbst schon fragwürdig geworden, denn die Datenschutzgesetze haben die Information selbst zum Schutzgut erklärt, so dass jede Speicherung, Verarbeitung oder Weitergabe an Dritte Ausnahmetatbestände wurden, die man rechtfertigen musste: »Einige der Schwierigkeiten dürften ihre Ursache in der Tatsache haben, dass das Bundesverfassungsgericht unser Institut ohne jeden Beleg übernommen hat.«128

Tatsächlich ist in den Minenfeldern der Interessenkollisionen, die sich zwischen den Freiheitsrechten der Bürger und den Sicherheitsinteressen des Staates ständig bilden, ein solches Regel-Ausnahme-Verhältnis praktisch nicht durchsetzbar. Es soll den Bürger absolut schützen, aber de facto kann der Staat die Bürgerrechte nahezu beliebig einschränken: Einer Serie von Bombenanschlägen ist kein Datenschutzrecht gewachsen. Will aber der Bürger etwas vom Staat wissen, gibt der sich zugeknöpft, und wollen wir gar etwas über einen anderen Bürger wissen, z. B. im Bereich der Zwangsvollstreckung, dann ist der Datenschutz das schönste Mittel, sich allen Auskünften zu entziehen. Im Bereich des Vertragsrechts wird die Weitergabe privater Daten geradezu kriminalisiert, aber für fünf Euro oder einen törichten Gutschein verkauft jeder Bürger einem Versandhändler intimste Informationen, die er dem Staat nur geben will, wenn ein Krieg ausbricht.

Dieser Widersinn wird durch die Entwicklung des Internets und vor allem die sozialen Netzwerke noch einmal so gesteigert, dass wir ihn jetzt schon in die politische Szenerie übergreifen sehen: Eine Partei wie die Piraten erhält Zustimmung mit Themen, deren Zusammenhänge sie vermutlich selbst nicht verstehen, weil sie viel zu komplex sind. Das liegt nicht zuletzt an den erheblichen Unterschieden im Schutzniveau, die zwischen der Europäischen Union, den USA und anderen Drittstaaten bestehen. Safe harbours gibt es da noch weniger als bei uns.

Die Lösung liegt in der Umkehr des Systems von Check and Balance.129 Bisher ist die Sammlung, Speicherung und Verarbeitung von Daten theoretisch verboten, praktisch aber nicht durchsetzbar. Man sollte all das in einem fairen Rahmen erlauben, aber im Verhältnis von Staat und Bürger die Sicherheits- und Freiheitsinteressen so miteinander koordinieren, dass Verletzungen wirklich geahndet werden: Jede staatliche Stelle müsste jedem Bürger auf Anfrage Auskunft über die Daten geben, über die sie verfügt, und bei Einzelmaßnahmen (z. B. Abhörmaßnahmen oder Online-Durchsuchungen et cetera) müsste es nach Abschluss der Maßnahme eine Informations- und pauschalierte Schadensersatzpflicht der Behörden geben, damit jeder Betroffene sich gegen willkürliche Maßnahmen wirksam wehren kann. Ganz ähnlich könnte man es jedem Unternehmen auferlegen, das Daten Dritter speichert. Bei den sozialen Netzwerken wird man ansetzen müssen, denn hier steckt das größte Gefahrenpotenzial, das in keinem Rechtssystem der Welt auch nur im Ansatz geklärt ist.130

3.11.6. Name ist nicht Schall und Rauch

Die Situation war völlig verfahren. Ein Start-up-Unternehmen hatte sich vor wenigen Jahren von einem befreundeten Entwickler eine Software stricken lassen, von der das ganze Geschäftsmodell abhing. Die Idee war, Online-Shops, die nach Marktnischen, Bezugsquellen und Kunden im In- und Ausland suchten, im Internet eine Beratungs-Plattform anzubieten. Sie würde über automatisch arbeitende spiders oder crawlers geeignete andere Seiten ausfindig machen, strukturieren und nach Branchen oder anderen Kriterien geordnet gegen geringe Gebühren zur Verfügung stellen. Das war ein anspruchsvolles Thema – aber es klappte. Leider war Rupert Senftl (der Entwickler) – wie so viele seines Schlages – ein schwieriger Mensch. In seinen Quellcode ließ er niemand blicken (was gut verständlich war), aber wenn es Wartungs- oder Entwicklungsbedarf gab, stand er nicht immer zur Verfügung, schickte ungeeignete Leute oder erklärte, mit solchen Fehlern müsse man leben. Und verschwand dann tagelang in den Bergen zum Freestyle-Climbing. Nach einiger Zeit lagen die Nerven blank. Ich war der Anwalt des Kunden und bot ihm an, die Software insgesamt an seinen Kunden zu verkaufen und sich anderen Aufgaben zu widmen. Wir orientierten uns dabei an üblichen Preisen, die von der Ertragskraft solcher Programme ausgehen. Sechsstellige Beträge standen im Raum. »Unter 3 Millionen geht do gar nix«, meinte Rupert Senftl schroff. »Sucht’s euch ein’ andern Depp, der wo euch was Neues macht«, sagte er, als wir nach stundenlanger ergebnisloser Verhandlung in einer verlassenen Hotelbar saßen. Ich wühlte in meinen Akten und irgendwo zwischen den Ordnern lag »Everest«, ein Buch von Reinhold Messner, das ich auf der Heimfahrt lesen wollte. »Der iss richtig berühmt, der kriegt Credit für sein’ Scheiss«, meinte Rupert, »un mir krieg’n nix, mich kennt kein Aas.« Ähnliches hatte ich schon zu anderen Gelegenheiten gehört. Softwareentwickler sind die unbekanntesten Künstler von allen. Zehntausende müssen es sein, die die Programme für Microsoft entwickeln, und nur eine Handvoll davon findet man an versteckter Stelle irgendwo hinter den Kulissen in einer Art Abspann namentlich erwähnt. Die Aktienoptionen entschädigen die Entwickler kaum dafür, dass sie nie Stars werden können, sondern immer nur Nerds bleiben. Mir kam eine Idee: »Was halten Sie davon, wenn wir auf die erste Bildschirmseite schreiben »Design by bei Rupert Senftl?«. »Des hat’s noch nie geb’n, des mach’n die nie!«, meinte der Künstler und ich griff zum Telefon. Es war ein Präzedenzfall, aber warum sollte der Name des Entwicklers nicht die Werbeeffekte noch verstärken? Umso mehr, wenn er als Sportler auch noch Erfolge hatte! Wir einigten uns auf 950.000 €, und an der Differenz zu 3 Millionen kann man sehen, was sein Name ihm Wert war.

3.11.7. Pyrate Style ad ACTA

Seit ein paar Jahren hat sich neben der Welt der proprietären Rechte eine Parallelwelt freier Lizenzen (häufig auf der Basis von GNU-General Public Licenses) entwickelt, die einen völlig anderen Ansatz verfolgen. Auch hier werden Lizenzen zwischen Entwicklern und anderen vergeben, aber sie sind offen und werden nicht von Zahlungen abhängig gemacht. Jedermann kann sie kostenfrei einsetzen, wenn er selbst bereit ist, die Rechte an Bearbeitungen und Weiterentwicklungen ebenfalls jedem Dritten kostenfrei zugänglich zu machen. Er muss nur auf die Basis der freien Lizenz hinweisen und so auch die politische Idee verbreiten helfen. Natürlich werden Dritte sich an einem solchen Modell nur beteiligen, wenn sie von der Entwicklungsleistung und ihren Möglichkeiten beeindruckt sind. Wie Richard M. Stallman, von dem die Idee der Freien Lizenzen stammt, anschaulich sagt, geht es auch bei gewerblichen Produkten um freie Rede und nicht um Freibier. Dieses Angebot ist kein Geschenk, und wer es annimmt, ist kein Räuber.131 Die Zahl der Unternehmen, die ihre Leistungen auf der Basis von Freien Lizenzen (z. B. GNU) kostenfrei vergeben, ist erheblich. All das geschieht genauso wie bei den proprietären Lizenzen auf der Basis einer Vereinbarung der Offenheit gegenüber Vergangenheit und Zukunft.

Auch auf dem Gebiet der Inhalte haben sich solche Modelle entwickelt. Die Idee von Wikipedia scheint gegen das soziale Grundgesetz des Gebens und Nehmens zu verstoßen: Tausende von Autoren schreiben ohne Vergütung hochrangige Inhalte, die jedermann kostenfrei zugänglich sind. Das ist einer der seltenen Fälle, in denen kostenlose Dinge viel wert sind. Aber in diesem System hat sich nur der Zusammenhang zwischen Preis und Wert verändert. Tatsächlich lebt Wikipedia nur von den Spenden der Menschen, die das System benutzen. Ein solches System der gegenseitigen Vorleistungen ist voller Risiken, aber das Vertrauen in das Gefühl der Fairness der einzelnen Benutzer wird nicht enttäuscht. Auch hier zeigt sich wieder, dass Menschen, die ihr Verhalten selbst bestimmen können, ein natürliches Gefühl für Fairness entwickeln (Axel Ockenfels).

Die Ideen mancher Piraten, die mit ihren Schiffen auf den Weltmeeren des Internets unterwegs sind, gehen aber noch erheblich weiter. Sie kritisieren die oben skizzierten Unstimmigkeiten beim Urheberrecht und andere Widersprüche im Gesamtsystem des gewerblichen Rechtsschutzes. Manche von ihnen wollen wirklich Freibier – das sind jene, die im November 2012 ihre Vorsitzende Julia Schramm (26) aus dem Vorstand gejagt haben, weil sie es wagte, ein normales Buch zu veröffentlichen, ohne es zu verschenken. Sie hatte sich zuvor den Slogan »Geistiges Eigentum ist ekelhaft« auf ihre Fahne geschrieben. Danach schrieb sie »Klick mich. Bekenntnisse einer Internet-Exhibitionistin«, das als Buch bei Random House erscheint: »Ich will natürlich, dass die Leute dafür bezahlen. Ich will aber nicht, dass sie behandelt werden wie Mörder.«132 Gern würden wir von Julia Schramm hören, worauf sie diese Ansicht stützt, denn die Höchststrafe nach § 106 Urheberrechtsgesetz beträgt drei Jahre, im gewerbsmäßigen Fall fünf Jahre. Strafrechtliche Verurteilungen von Urheberrechtsverletzungen muss man mit der Lupe suchen. Solange die Ideen der Piraten nur auf dem Konzept situationsbedingter Schwarmintelligenz beruhen, können sie keine politische Wirksamkeit entfalten. Jetzt hört man,133 sogar die Zwölfjährigen sollten wählen können, denn die Piraten rechnen damit, dass fehlende Einsicht in die Zusammenhänge es einem leicht macht, einen Shitstorm zu entfachen.

Solche Ideen sind erst dadurch möglich geworden, dass die Kopie einer Idee heute (fast) nichts mehr kostet. Diesen Quantensprung der Technologie gab es schon einmal vor 500 Jahren. Im Jahr 1418 kostete in Sachsen eine Henne einen Pfennig, aber eine Handschrift des Livius so viel wie ein ganzes Landgut134, weil die Bücher nur durch Abschreiben vervielfältigt werden konnten. Um 1470, also zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten mit beweglichen Lettern gedruckten Buches, waren die Preise mittelalterlicher Handschriften bereits dramatisch gefallen. Jetzt erleben wir die zweite Gutenberg-Galaxis.135

Sind die Ideen selbst nichts mehr wert, weil die Kopier- und Transportkosten weggefallen sind? Dieser Schluss ist offensichtlich töricht. Im Gegenteil: Gerade weil diese Kosten den Wert der Idee nicht mehr verdecken, haben wir die Chance, ihn zu entdecken. Die Anerkennung einer geistigen Leistung hat nämlich nicht nur etwas mit den Kosten zu tun. Sie ist ein Ausdruck unseres Persönlichkeitsrechts (wie die Aufklärung, die sie erfunden hat, richtig anerkennt). Wer etwas erfunden oder entwickelt hat, muss bestimmen können, in welchem Kontext es vervielfältigt, bearbeitet oder sonst ausgewertet wird. Ob er dazu proprietäre oder freie Lizenzen benutzt, ist seine Entscheidung. Wer ungefragt darüber bestimmen will, wird weder rechtliche noch moralische Rückendeckung haben. Der schon zu Tode geredete Plagiatsfall Guttenberg zeigt uns diesen Aspekt: Hätte der Autor überall da, wo er fremde Texte zitiert, die geistige Leistung jener Autoren kenntlich gemacht, würde er kaum den Mut gehabt haben, seine Arbeit als etwas Eigenes vorzulegen. Die Pflicht, fremde Leistungen sichtbar zu machen (die auch im Bereich der Freien Lizenzen selbstverständlich ist), muss in der Diskussion um geistiges Eigentum selbstverständlich bleiben.

Es wird am Ende zwei (oder mehr) parallele Modelle geben, deren Wahl von der jeweiligen Strategie des Autors abhängt: Die proprietären Modelle werden sich immer neben den Open-Source-Modellen behaupten, und zwar überall dort, wo die Inhalte nicht so einfach und ohne Qualitätsverlust transportiert werden können. Die entscheidende Voraussetzung ist eine Vereinfachung der Bezahlsysteme und ihre Absicherung gegen Hacker – der Erfolg von PayPal zeigt es. Neben den rechtlichen Schutzformen werden sich außerdem praktische Formen der Geheimhaltung entwickeln, begleitet von vertraglichen Absicherungen aller Art. Der Versuch, durch die ACTA-Vereinbarungen die einseitige Perspektive der proprietären Rechtsinhaber international zu verfestigen, ist im Juli 2012 im Europäischen Parlament gescheitert. Solche Initiativen werden in einem Open-Source-Umfeld auch in Zukunft nicht durchsetzbar sein. Beide Systeme werden nebeneinander existieren.

In solchen Entwicklungen zeichnen sich Möglichkeiten ab, die Friedrich Nietzsche gesucht hat: »Hundert tiefe Einsamkeiten bilden zusammen die Stadt Venedig – dies ihr Zauber. Ein Bild für die Menschen der Zukunft.« Geht man heute durch dieses von Touristen zertretene und nach innen entvölkerte Stadtmuseum, versteht man, was Nietzsche schon damals gespürt haben muss. Martin Heidegger zitiert seine Bemerkung in einem Brief an Karl Jaspers136 und kommentiert: »Was hier gedacht wird, liegt außerhalb der Alternative von Kommunikation und Nichtkommunikation.« Es mag sein, dass das Internet uns dorthin führt.

3.12. Rudern – steuern – segeln: Das Management

Grundriss einer Anwaltssozietät
Grundriss einer Anwaltssozietät

»Rudern Sie noch – oder steuern Sie schon?« Diese intelligente Frage verdanke ich dem Wiener Steuerberater und Wirtschaftsprüfer Gunter Hübner.137 Sie bringt die Managementaufgaben freiberuflicher Partnerschaften wirklich auf den Punkt und ich habe für Anwaltssozietäten nur seinen Begriff »steuern« durch »segeln« ersetzt: Steuerberater und Wirtschaftsprüfer können ihre Büros wirklich steuern wie ein Motorboot, da sie bis auf die oberste Beratungsebene fast 90 % ihrer Aufgaben und Fachkräfte delegieren können. Rechtsanwälte hingegen müssen weit mehr selbst erledigen, Sie müssen den Wind berechnen, die Segel setzen oder reffen und können sich nicht auf das Steuern beschränken.

Wer heute als junger Anwalt in ein wirtschaftsrechtliches Büro kommt, wird mit Managementfragen nicht belästigt. Das bedeutet aber auch: In dieser Hinsicht weiß er nichts und kann nichts entscheiden, ja nicht einmal mitreden. Er muss sich in die Organisation einfügen und selbst als Partner kann er in den meisten Fällen nur dann etwas ändern, wenn sich deutliche Mehrheiten bilden.

3.12.1. Management auf Zuruf

Wir verteilten in den ersten Jahren ab 1973 die Managementaufgaben unter den Partnern auf Zuruf. In den meisten anderen Büros wurde das ebenso gemacht, es sei denn, ein dominanter Seniorpartner (wie Otto Gritschneder) hatte das gesamte Management an sich gezogen. Das sensible Thema der Finanzen war von Anfang an in den Händen von Justin von Kessel. Ich kann mich nicht erinnern, je einen Scheck oder eine Steuererklärung des Büros unterschrieben zu haben. Über Gewinnverteilung haben wir fast zwanzig Jahre lang nicht gesprochen, weil wir unter den Gründungspartnern das, was übrig blieb, einfach durch vier teilten. Die Jüngeren erhielten prozentuale Anteile vom Gewinn – ein reines Lock-Step-System.

Wer sich für andere Fragen zuständig fühlte, tat das Erforderliche und informierte die anderen, soweit sie es nicht ohnehin schon gemerkt hatten. Grundsatzfragen wie Strategie, Aufwendungen für Akquisition oder Investitionen wurden besprochen. Manchmal geschah das nach der Postbesprechung am Mittag: Wer nicht bei Gericht oder sonst unterwegs war, sah die gesamte Post durch (als das Telefax aufkam, wurden die Ausdrucke dazu gelegt) und hatte so immer einen Gesamtüberblick über das Geschehen. Das klingt sehr umständlich, aber solange man noch nicht spezialisiert ist, diente so ein Verfahren auch der Qualitätssicherung. Ein ärgerlicher Brief eines Mandanten wurde von allen gelesen und alle reagierten darauf. Danach gingen wir meist gemeinsam Mittagessen. Abgestimmt haben wir nie. Wir haben so lange geredet, bis der Letzte umfiel. War das zu erwarten, wurde die Besprechung nach der Arbeit in der Rheinpfalz oder in der Osteria Italiana fortgesetzt. Selige Zeiten. Sobald man junge Anwälte einstellt, ändert sich die Unternehmenskultur.

3.12.2. Neue Partner

Die meisten Einzelanwälte, die ich kenne, machen sich erst Gedanken darüber, Partner aufzunehmen, wenn sie zehn oder 15 Jahre im Geschäft sind. Manche warten damit bis sechzig und stellen fest, dass es dann oft wenig Sinn gibt. In der Sozietät ist der Gedanke, gemeinsam mit jüngeren Partnern zu wachsen, selbstverständlich. Eine Sozietät muss wachsen, wenn sie sich im Markt behaupten will, weil auch die Konkurrenz sich um Wachstum bemüht.

Wir haben nie ausdrücklich darüber gesprochen, aber als unser erster junger Anwalt, Wolfgang von Wasielewski, zu uns kam, haben wir in ihm den ersten möglichen Partner gesehen. Er hat sich dann nach wenigen Jahren für die Versicherungswirtschaft entschieden (Münchener Rück), und dann folgten eine Reihe anderer Kollegen, die bei uns gelernt und sich anderswo einen Namen gemacht haben. Einige Beispiele: Benno Schwarz, einer meiner besten Referendare (gleichzeitig Dolmetscher für Russisch) erhielt von Beiten Burkhardt das Angebot, in der Gründungsphase ihres neuen Büros in Moskau dort einzusteigen, und da habe ich ihm gut zugeredet, denn so eine Gelegenheit hätten wir ihm nie bieten können. Peter Waltl ging auch zu Beiten Burkhardt und ist nach einigen Umwegen heute bei Graf von Westphalen (München). Martin Imbeck, ein hervorragender Prozessrechtler, ging erst zu Raupach und gründete dann nach langen Jahren mit neuen Partnern eine Sozietät. Mit den meisten der Anwälte, die durch unser Büro gegangen sind, sind wir freundschaftlich verbunden.

3.12.3. Wachstumsschmerzen

1982. Wir waren jetzt sechs: Reinhard Dallmayr war von der Aachen Münchener wieder zurückgekommen, und Peter Decker, einer unserer früheren Referendare, verstärkte das Immobilienrecht (er wechselte später in die Immobilienindustrie, kehrte dann zurück und ist heute gemeinsam mit Benno Schwarz Partner bei Gibson Dunn in München). In diesem Jahr zog die Beta Film zu den anderen Firmen der Kirch-Gruppe nach Unterföhring, ihr Büro am Amiraplatz wurde frei, wo auch heute noch das Berliner Büro von Heussen ist. Miete damals: 17,50 DM; wie hoch sie heute ist, kann man sich denken! Wir mussten allerdings von Grund auf renovieren, denn das fröhliche Filmvolk hatte offenkundig weniger gearbeitet als gefeiert. Ich erwähne das nur, weil wir uns diesen Mietpreis gerade noch leisten konnten. Die größten Kostenblöcke für Anwaltsunternehmen sind Personal und Miete, und deshalb könnte ich mir vorstellen, dass virtuelle Büros, die beide Faktoren flexibel steuern können, schon in näherer Zukunft gewaltige Marktchancen haben werden. Erste Ansätze sieht man bei http://www.123recht.net/: Wenn man für 200 virtuelle Anwälte die richtigen Rahmenbedingungen schafft und die Terminsvertretungen vor Ort sichert, könnte das klappen.

Uns gegenüber liegt das Café Luitpold. Dort hatten wir die Abrede: Wenn ein größerer Tisch für sechs oder acht Leute nicht bis um 12.30 Uhr besetzt ist, geben wir ihn frei. Ein paar Jahre später merkten wir plötzlich, dass gelegentlich zehn oder zwölf Anwälte da waren. Imme Roxin hatte drei Kinder aufgezogen und war Ende 1986 als Quereinsteigerin im Verwaltungsrecht und Strafrecht (eine seltene Mischung) dazugestoßen. Dann kamen Peter Waltl (Computerrecht), Petra Sauckel und Matthias Wohlfahrt (Immobilien), später Boris Mariacher und Michael Ketterl (Arbeitsrecht) – und so ging das weiter.

Auch Bürogemeinschafter haben viel zu unseren strategischen Überlegungen beigetragen, denn sie zeigten uns in ihren jeweiligen Tätigkeitsfeldern Perspektiven, die wir ohne sie nie kennen gelernt hätten. Ernst-Peter Sachse, den wir aus jahrelanger Zusammenarbeit im Mandat kannten, wollte sich auf wenige Mandate beschränken. So haben wir ihn gern eingeladen, zu uns zu kommen. Dieter Lüer schied als Vorstand aus der Frankona Rückversicherung aus und ist beim Streit um große Havarien als Schiedsrichter tätig. Hans-Uwe Neuenhahn, langjähriger Vorstand in der Energiewirtschaft, ist auf diesem Gebiet, aber auch als Vorsitzender der EUCON (Gesellschaft für Wirtschaftsmediation) engagiert. So wurde der Tisch im Café Luitpold für uns alle zu klein. Etwas Größeres konnte das Restaurant uns nicht anbieten. Nun trafen sich mittags nur noch kleinere Gruppen in unterschiedlicher Zusammensetzung. Die Zeiten hatten sich auch sonst geändert: Die Jüngeren hatten andere Gesprächsthemen als die Älteren, und die hielten sich bei bestimmten Fragen zurück, die sie nur unter sich erörtern wollten. Hierarchie zog ein. Daneben gab es noch einen anderen Trend: Das Mittagessen klassischen Stils geriet schrittweise aus der Mode (»Mittags essen nur Versager« – Michael Douglas in Wall Street). Man holte sich ein Sandwich. Vorbei war es mit Spargelcremesuppe, Berner Rösti und Mandelhörnchen in einer Qualität, für die man in Berlin auch heute noch auf die Knie sinken würde.

Wir haben nicht gemerkt, dass sich hinter diesen kleinen Äußerlichkeiten viel tiefer liegende Probleme versteckten. Jahre später fiel mir auf, dass die Art und Weise, wie man ein Anwaltsunternehmen führen muss, in erster Linie von der Größe des Unternehmens abhängt. Danach sah ich, dass diese Entwicklung sich nicht kontinuierlich zeigt, sondern in einzelnen Quantensprüngen. Bei sechs Partnern und fünf angestellten Kollegen ist die Grenze erreicht, bei der man noch auf Zuruf managen kann. Sie zeigt sich auch bei Mannschaftssportarten: Beim Fußball stehen elf Leute auf dem Platz und nicht zwanzig auf jeder Seite! Bei Wohnungseigentumsgemeinschaften (WEG) hatten wir schon gemerkt, wie schwierig es ist, 20 oder 30 Eigentümer unter einen Hut zu bringen. Bei riesigen Anlagen, in denen das professionell gemanaged wird, gibt es nicht eines der Probleme, die die mittelgroßen Anlagen verursachen. Dort lernt man auch die Regel: Unter mehr als zwölf Leuten (The dirty Dozen) findet sich immer ein Querulant (bei Jesus und seinen Jüngern war das Judas). Hinter der ersten Grenze von zwölf Personen liegt die nächste etwa bei 24, dann bei 50, dann bei 100. Also sind unter fünfzig Partnern vermutlich fünf, die lautstark auf alle denkbaren Fehler hinweisen, aber keinen Vorschlag dazu machen, wie man das ändern könnte. Jedes Mal ändern sich die Kommunikationswege und die gruppendynamischen Verhältnisse. Diese Erfahrungen sind auch wissenschaftlich untersucht und bestätigt worden.138 Für Sozietäten ist die Zahl 150 wichtig: Wird sie überschritten, erhöhen sich die Managementprobleme drastisch, und es entstehen endlose und für alle frustrierende Diskussionen, die nur ein wirksames Management steuern kann. Je größer ein Büro wird, desto mehr müssen die Partner bereit sein, Führung zu ertragen, und es muss sich jemand finden, der diese Aufgabe übernimmt. Erst dann beginnt ein Schiff wieder zu segeln.

Wenn man diese Grenzen blind überschreitet, merkt man zunächst gar nicht, dass man mehr und mehr rudern muss, um das immer größer werdende Schiff auf Kurs zu halten. Das Unternehmen entwickelt sich unbemerkt über die Köpfe der Partner hinweg. Solange die Zahlen stimmen, merkt man das nicht. Es zeigt sich aber an bestimmten Erosionen: Jüngere Anwälte verlassen das Büro wieder, der Nachwuchs erfüllt die Erwartungen nicht, die erfolgreichen Anwälte arbeiten wie die Teufel und beschweren sich, dass die anderen zu wenig tun, die Stimmung wird schlecht. Für den Abend in der Rheinpfalz hat keiner mehr Zeit. Schade.

3.12.4. Gefährliche Leute

»Anwälte sind eine Gattung von Leuten, welche die Gewohnheiten ihres Geistes im allgemeinen recht gefährlich machen – das ist die unvermeidliche Folge ihres Berufes.«139 Talleyrand, von dem diese Bemerkung stammt, war schon als Kleriker mit allen Tricks und Schlichen vertraut, bevor man ihn zu den gefährlichsten Politikern der Neuzeit rechnen konnte – er hatte wenig Angst vor anderen Leuten, aber die Anwälte Danton und Robespierre hat er wohl persönlich gut genug kennen und fürchten gelernt.140 Den meisten Leuten geht das so, und sie haben umso mehr Angst vor Anwälten, je weniger sie ihnen tatsächlich begegnet sind. Reinhard Pöllath berichtete einmal im Interview, wie überrascht er war, als er in seiner Zeit als Manager von anderen Managern so besonders zuvorkommend behandelt worden war – als Anwalt war er das von seinen Kollegen (und schon gar nicht von seinen Mandanten) nicht gewöhnt.

Solange Rechtsanwälte diese Eigenschaften für ihre Mandanten nutzen, sind alle sehr zufrieden. Die nötige Gefährlichkeit trainiert man sich in der Praxis am einfachsten an, wenn auf der Gegenseite große Unternehmen stehen. Da lernt man unmittelbar an der Front von unten nach oben zu kämpfen, eine schwierige Ausgangslage, vor der schon Clausewitz gewarnt hat. Die Juristen in den Rechtsabteilungen, auf die ein einzelner Anwalt trifft, sind ihnen in der Kenntnis der differenzierten Rechtsprobleme meist überlegen, aber kämpfen lernen sie in den Unternehmen nicht: Die Entscheidung, ob und wie Prozesse geführt werden, wird nicht von der Rechtsabteilung getroffen, sondern von den Managern.

Der Widerspruchsgeist der Anwälte macht in der Sozietät vor den Kollegen nicht halt. Auch hier gilt die alte Regel: zwei Anwälte – drei Meinungen! Will einer einen blauen Teppich, dann erheben sich Stimmen für graue oder rote Varianten, manche wollen in englischen Antiquitäten arbeiten, andere bevorzugen den Bauhausstil, dritte wieder Plüsch und Pomp – am Ende der Diskussion hält einer einen Grundkurs über Corporate Identity und dann fängt die ganze Diskussion wieder von vorn an: Sind wir eher englisch, eher Bauhaus oder eher Kitsch?

Einer der besten Kenner der Anwälte, der amerikanische Unternehmensberater David Maister,141 hat nach 25 Jahren resigniert bemerkt, sie seien tatsächlich eine »besondere Brut«, im Wesentlichen resistent gegen jede Beratung und immer bereit, in die freundliche Hand zu beißen, die man ihnen hinstreckt.

Man kann sich vorstellen, wie schwierig es ist, eine Sozietät so zu führen, dass sie den gleichen Erfolg hat wie ein Unternehmen.142 Anwälte müssen lernen, ein Mindestmaß an Führung zu ertragen, sie aber auch in allen kritischen Lagen zu übernehmen. Bei der Mandatsführung ist das für sie selbstverständlich, im eigenen Management nicht. Bis 1990 hatten wohl die meisten deutschen Sozietäten – auch die größten – an solche Überlegungen keinen Gedanken verschwendet. Aber unter dem Wettbewerbsdruck und den sich überschlagenden deutschen und europäischen Rahmenbedingungen änderte sich das in wenigen Jahren. Jedes erfolgreiche Büro hat heute einen Managing-Partner, der die »vertrauliche Achtung« (John Keegan) seiner Kollegen braucht, wenn er seinen Job gut machen will.

Während andere Sozietäten versucht haben, sich an den alten Strukturen festzuklammern, haben wir unerbittlich über den richtigen Weg diskutiert. In einer denkwürdigen Nachtsitzung in einem kleinen Restaurant im Lehel tobte der Sturm so stark, dass ich am anderen Tag ein etwas ungewöhnliches Protokoll schrieb. Es ist kein Wortprotokoll, sondern nur eine vage Erinnerung. Hier ein Auszug aus den Dialogen:

»Jeder hat seine Schwächen.
Aber es gibt unerträgliche Schwächen.
Du hast auch Schwächen.
An die habt ihr euch längst gewöhnt.
Bei dir haben wir sie erst akzeptieren müssen.
Du nimmst ja den Jüngeren die Luft weg.
Ich nehme niemandem die Luft weg.
Das kannst du selbst doch gar nicht merken – das ist ja alles verdrängt.
Können wir das Thema jetzt vielleicht beenden?
Du weichst ständig aus.
Wieso weiche ich aus?
Können wir das Thema jetzt beenden?
Ihr haltet ja die Wahrheit nicht aus.
Können wir die Wahrheit nicht auf morgen verschieben?
Die Wahrheit ist allgegenwärtig.
Aber gerade deshalb können wir uns Zeit mit ihr lassen.
Nur über meine Leiche.
Leichen halten normalerweise die Schnauze.
Können wir diese Diskussion nicht beenden?
Nein!«

Alle Beteiligten hatten natürlich Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns gelesen (oder jedenfalls von ihr gehört), einige kannten Fritz Perls Gestalttherapie und deren wichtigstes Instrument, den »heißen Stuhl« und versuchten, es so zu machen, wie die Meister es beschrieben hatten:143 tolerant, nach allen Seiten offen und daher nicht ganz dicht. Reiner Ponschab reagierte auf mein Protokoll mit einer Postkarte an alle: Auf dem berühmten Bild von Ferdinand Hodler (1892) saßen einige Gestalten »vom Leben gezeichnet«, die uns erstaunlich ähnlich sahen.

3.12.5. Strategiedebatten

Wir ahnten, dass diese Art Freistilringen beendet werden musste. Da es in Deutschland keine Literatur gab, haben wir im Wesentlichen auf Management-Lehrbücher und die amerikanischen Quellen zurückgegriffen. Sie zeigten uns, dass man neben den monatlichen Partnerversammlungen einmal im Jahr eine Strategiedebatte durchführen muss. Dazu trafen wir uns für ein langes Wochenende auf dem Land, um da über alle Grundsatzfragen zu debattieren. Das war damals eine ganz neue Idee, heute ist sie überall verbreitet und absolut notwendig, wenn man sich nicht schwere Spannungen zwischen den Partnern einhandeln will. Das Problem: Sind mehr als zwanzig Partner in der Gruppe, ändert sich (wiederum unmerklich) die Kommunikationskultur, es bilden sich Fraktionen und Gruppierungen, und so muss man dafür sorgen, dass die Gruppen nicht größer werden, wenn man von ihnen konkrete Ergebnisse erwarten will. So weit war es bei uns aber noch lange nicht: 1996, bevor wir mit Heuking Kühn fusionierten, waren wir sieben Partner und achtzehn weitere Anwälte an zwei Standorten.

Der Kern unserer Debatten drehte sich immer wieder um die Frage, ob wir uns als General Practice im Wirtschaftsrecht weiterentwickeln oder eher spezialisieren sollten. Diese Frage kann man nicht auf dem Reißbrett entscheiden: Sie hängt im Wesentlichen von drei Faktoren ab:

  • Welche Dienstleistungen braucht der Markt?
  • Haben wir Leute an Bord, die Wissen und Erfahrung in diesen Bereichen mitbringen?
  • Wie können wir den dazu erforderlichen Nachwuchs gewinnen?

Manchem Anwalt wird auffallen, dass die Frage »Bei welcher Alternative verdienen wir am meisten?« fehlt. Wir haben Sie bis zu unserer ersten Fusion zu keinem Zeitpunkt gestellt, sondern Gewinn als das Ergebnis richtiger Entscheidungen betrachtet. Ich glaube auch heute noch, dass diese innere Einstellung die einzige Möglichkeit ist, um ein Unternehmen erfolgreich zu führen. In Partnerschaften kann man eine solche Unternehmenskultur immer noch erzeugen, im gewerblichen Bereich ist es außerhalb von Familienunternehmen und Stiftungen sehr schwer.

Für junge Anwälte bot sich spätestens ab 1990 eine Vielzahl interessanter Chancen, die eine mittelgroße Sozietät, die aus eigener Kraft wachsen will, nicht bieten kann. Hinter dieser Erkenntnis steckte eines der Motive, uns schnell um Größe zu bemühe und das ging nur über Fusionen. Die meisten Diskussionen über Wachstum werden nur über Zahlen und Umsätze geführt. Ich habe lange Zeit gebraucht, um das als Irrtum zu entdecken: »Mit einem Mehlsack kann man keinen Nagel in die Wand schlagen« – wohl aber eine Menge Menschen ernähren. Es kommt darauf an, welches Ziel man im Auge hat. Der überdurchschnittliche Erfolg kleiner, aber hochspezialisierter Einheiten, wie sie vor allem als Spin-offs entstehen (im Arbeitsrecht z. B.: Kliemt & Vollstädt (Düsseldorf), im Datenschutzrecht: Scheja (Bonn)) zeigen, dass Größe relativ ist. Die entscheidende strategische Frage ist immer, ob man General Practice oder Spezialisierung als den höheren Wert ansieht. Wir haben uns immer näher an dem ersten Modell aufgehalten: General Practice im Wirtschaftsrecht mit einzelnen Branchen-Schwerpunkten. Wie alle Kompromisse hat das Vor- und Nachteile.

In den ersten Jahren konnten wir ohne weiteres Referate definieren und feste Verantwortlichkeiten und Kompetenzen vereinbaren. Justin von Kessel war wie stets für die Finanzen zuständig, Axel Czarnetzki (heute: Görg) für die IT-Landschaft, Gunther Braun für das Personal, die Immobilienleute für die Mietverträge, Reiner Ponschab für die Steuererklärung und ich für Berlin. Durch meine Arbeit im Ausschuss Büroorganisation und Bürotechnik des Deutschen Anwaltvereins hatte ich genügend Einblick in alle möglichen Büros von Kollegen, die sonst unerreichbar gewesen wären. Unsere strukturierten Mandate sorgten für technische Abläufe, die kontrollierbar waren, und dann kam auf einmal die Zertifizierung in Mode (AdvoZert)! Ich sah darin eine Chance, die Strukturen zu vereinheitlichen und steuerbar zu machen. Bis dahin organisierte jeder Anwalt nicht nur seine Akten, sondern auch sein Sekretariat nach eigenem Gutdünken. War seine Sekretärin krank, fand sich keine andere zurecht. Die Vorstellung, das zu ändern, stieß auf harten Widerstand. Am Anfang haben wir uns teilweise verrannt: Das Handbuch für den Postausgang war fast 50 Seiten lang, weil es minutiös jeden einzelnen Schritt beschrieb. Es wäre undenkbar gewesen, die Aufbau- und Ablauforganisation auf diesem Niveau zu beschreiben. Wie man das richtig macht, lernten wir im Zertifizierungsverfahren. Tatsächlich waren wir das erste Büro in Deutschland, das nach der DIN/ISO 9000 zertifiziert wurde144 – gemeinsam mit dem Zertifizierer haben wir darüber geschrieben.

3.12.6. Die Crew

Man kann eine tolle Designer-Yacht haben, aber sie nützt einem nichts, wenn sie im Hafen liegen bleibt, weil man keine Crew hat. Jeder Einzelne muss hungrig sein nach Wissen und Erfahrung, und die Persönlichkeit muss zu der Unternehmenskultur passen, die das Büro prägt. Diese Unternehmenskultur kann man nicht gezielt beeinflussen, sie ist das Ergebnis einer Vielzahl von Stilelementen, die von den Menschen abhängen, die in der Sozietät zusammenarbeiten. Wer einen einheitlichen Stil will, wird auf einheitliche Persönlichkeitsprofile achten müssen. Das ist der Hauptgrund, warum die großen Sozietäten ihre jungen Leute nach sehr strengen und schematischen Kriterien aussuchen: »Notwendig für einen erfolgreichen Einstieg bei Gleiss Lutz sind zwei mindestens voll befriedigende Examina. Nur wenn wir an dieser formalen Hürde festhalten, stellen wir sicher, dass die besten Talente zu uns kommen. Für die Zukunft der Kanzlei ist das unabdingbar. Denn was haben wir zu verkaufen, außer Exzellenz?« (Webseite Gleiss Lutz – Karriere/Qualifikation).

Diese Sätze klingen – um es mit modernen Termini der Politik zu sagen – absolut alternativlos, aber sie sind nicht richtig. Was die Sozietät nämlich wirklich verkauft (falls sie überhaupt etwas verkauft), sind nicht die guten Noten ihrer jungen Anwälte, sondern die Erfahrung ihrer älteren Sozien! Um diese Erfahrung zu gewinnen, braucht man viel Zeit und muss eine Menge erlebt haben. Was die jungen Leute zu bieten haben, ist ein überdurchschnittliches juristisches Wissen (das man tatsächlich durch Noten belegen kann), eine schnelle Auffassungsgabe, mit der viele begabte Leute ihre Wissenslücken überbrücken, und die Bereitschaft, sich rund um die Uhr zu engagieren, wozu auch ein gewisser Stumpfsinn gehört.

Die Auswahl des Personals in den USA wird völlig anders als bei uns vorgenommen. Auch dort zählen gute Noten, aber viele andere Elemente ebenfalls. Man weiß, dass eine Segelcrew einen intelligenten Steuermann braucht, einen durchsetzungskräftigen Kapitän, aber auch viele fleißige Hände, Leute, die dicke Bretter bohren können, andere, die Geduld mit Menschen haben, manche Querdenker, einige ganz stille Leute. Auch der rüpelhafte (aber unersetzliche) Koch wird in Kauf genommen, denn wenn alle sich über einen ärgern können, halten sie besser zusammen.

All das gilt nicht nur für die Anwälte, sondern für alle Mitarbeiter. Vier von ihnen will ich beispielhaft für alle anderen nennen, deren Beitrag zur Unternehmenskultur für jeden von uns auf der Hand liegt. Monika Rampeltshammer, die ich schon bei Gritschneder kennen gelernt habe, wechselte 1976 zu uns und hat bis heute alle Höhen und Tiefen erlebt, in die wir steuerten. Ihre beiden Kinder, die sie allein erzogen hat, sind heute Ärzte. Sie war beim Schreiben unheimlich schnell, aber Jutta Wünsche stand ihr in zäher Pflichterfüllung keinesfalls nach. Über Jahrzehnte konnte man sich darauf verlassen, dass sie stundenlang Diktatbänder geradezu verschlang (je länger, je lieber) und ebenso sicher war, dass sie für die Nikolausfeier Gedichte schrieb, damit die Chefs sich für ihre Untaten schämen sollten.

Alfred Rümmler, Oberst a.D., bei der Bundeswehr früh pensioniert, suchte einen Job und übernahm für Jahre eine Fülle von Organisationsaufgaben. Ein Glücksfall für uns, einen älteren Herrn mit natürlicher Autorität (Fallschirmjäger auf Kreta) zu haben, der für viele der jungen Leute, die bei uns beschäftigt sind, ein familiärer Ansprechpartner war: Einmal in der Woche labte er die Lehrlinge (als Auszubildende mochte er sie nicht bezeichnen) mit Schokolade. Er brachte uns auf die Idee, für den Empfang sprachbegabte junge Damen aus Hotel-Rezeptionen abzuwerben, die dort unter dem Schichtdienst leiden. Justins Idee, diesen Damen Dirndl zu spendieren, um – besonders ausländischen Mandanten, etwa aus Kiel oder Neu-Delhi – etwas Lokalkolorit zu vermitteln, ist leider nach vielen Gesprächsrunden am Ende doch gescheitert.

Und schließlich Detlev Weber, der als Student der Philosophie zu uns kam, dann die Theorie mit der Praxis vertauschte und seither Bibliothek, Know-how-Management und die Handvoll Jurastudenten organisiert, die bei uns Praktika absolvieren.

Sie alle passten perfekt in unsere Unternehmenskultur, die man nicht auf dem Reißbrett entwerfen kann. Sie entsteht organisch durch Zufälligkeiten der Charaktere, die in der gemeinsamen Arbeit aufeinander reagieren und sich durch Unterstützung wie durch Kritik gegenseitig fördern.

Die beste Crew nützt einem aber nichts, wenn es weder Steuermann noch Kapitän an Bord gibt oder jeder, der das vorschlägt, gleich zum Küchenjungen degradiert wird. Eines der zentralen Probleme von Anwaltssozietäten besteht darin, dass sie das Mindestmaß an Führung, das sie brauchen, um Erfolg zu haben, nicht akzeptieren können. Führung ist nichts anderes als145

  • Ziele, Mittel, Wege und Zeit definieren
  • persönliche Verantwortungen festlegen
  • jedem die nötige Unterstützung und Aufmerksamkeit geben
  • Wirkung und Ergebnisse feststellen
  • gute Leistungen anerkennen
  • Misserfolge auf der Erfahrungseite gutschreiben und unverdrossen neu planen.

Es gibt gewiss keinen Partner, der das bestreiten wollte, aber die meisten ziehen es vor, den Teil der Aufgaben selbst zu erledigen, der ihnen gefällt und die anderen Teile einfach liegen zu lassen. Dabei ändern sich die Situationen in einer Sozietät nahezu täglich. Es gibt neue Mandate, andere brechen weg, es kommen und gehen neue Anwälte und Partner, auch die Ziele und Vorstellungen der Einzelnen verändern sich, nicht nur aus beruflichem, sondern auch aus persönlichem Anlass. Die meisten arbeiten unverdrossen in ihren Referaten, aber dann kommen die Kinder, einer geht in die Politik, die andere erbt was, der Nächste findet, dass er genug Geld hat und sich nur noch der Kultur widmen will oder der Familie. Und nach vielen Jahren ist auf einmal ein wissenschaftliches oder ein ehrenamtliches Interesse da, das wichtiger erscheint als der Beitrag zum Umsatz. Über solche Ziele muss man reden, man muss sie in die Strategie einbauen, man muss Detailfragen klären. Wer kann das, wenn nicht eine klare Mehrheit ihm dazu die notwendigen Kompetenzen gibt und einer bereit ist, die damit verbundene Verantwortung zu übernehmen? Ich halte das (mit Fredmund Malik) für die zentrale Frage des Managements. Bei Anwälten trifft sie selten auf die richtigen Antworten.

3.12.7. Geht nicht, gibt’s nicht: das Zusammenspiel von Wissen und Erfahrung

Als Referendar fühlte ich mich – wie jeder von uns – von den einfachsten Fällen gedemütigt: In wenigen Minuten hat man sie rechtlich durchschaut und weiß trotzdem nicht, wie man die Interessen des Mandanten durchsetzen kann. Wenn es rechtlich kompliziert wird, steht man erst recht dumm da. Kaum hat man aber einen Fall gelöst, verliert alles, was so ähnlich aussieht, seinen Schrecken und man kann allzu leicht übermütig werden. Wenn bei den Versuchen der Anwälte, Erfahrung zu gewinnen, genauso viel Blut flösse wie bei den Chirurgen, wäre unsere praktische Ausbildung doppelt so lang. Also suchte ich einen Weg, meine Erfahrungen zu dokumentieren. Ich habe ihn später in den Handbüchern gefunden, die ich konzipiert habe, aber die Anfänge sahen sehr simpel aus: Schon bei Sieghart Ott hatte ich mir einige Grundregeln aufgeschrieben, die ich bei neuen Erfahrungen immer wieder ergänzte. Einige von ihnen habe ich kürzlich in alten Ablagen wieder gefunden. Sie lauteten:

  • »Sich nicht durch vorformulierte Interessen des Mandanten gedanklich blockieren lassen, eigene Strategien vorschlagen,
  • Gegner kurz mahnen, keine Rechtsausführungen in der Mahnung, verrät Unsicherheit,
  • Kein Gegenanwalt hält deine Rechtsargumente für zutreffend – diese Hoffnung ist überflüssig,
  • Risiken klar ansprechen,
  • Man kann nicht gegen den Mandanten gewinnen,
  • Sorgfältige Tatsachenermittlungen nach Checkliste der Anspruchsgrundlagen – hier ist Arbeit nie viel fehlinvestiert,
  • Urkunden sind besser als Zeugen,
  • Mandanten auf Gerichtstermine gut vorbereiten,
  • Sich gegnerische Schriftsatzgliederung nie aufzwingen lassen,
  • Keine Floskeln, keine halben Beweisangebote, keine Sottisen im Schriftsatz,
  • Schon im Prozess nach Vollstreckungsmöglichkeiten recherchieren.«

So einfach all das klingt – es ist äußerst schwierig, solche Erfahrungen an jüngere Anwälte weiterzugeben. Wenn man guten Juristen den Auftrag gibt, die Rechtslage zu beurteilen, haben gerade diese Perfektionisten die größte Sorge, irgendeine Schwierigkeit zu übersehen. Alle möglichen Kleinigkeiten werden wichtig genommen. Deshalb kommen junge Anwälte in fast 60 % aller Fälle zu dem Ergebnis, dass das, was der Mandant will, eben nicht geht.

»Geht nicht, gibt’s nicht«, sagte Otto Gritschneder in solchen Fällen, »wenn wir wissen, dass es nicht geht, fängt unsere Arbeit erst an!« Anwälte müssen Lösungen für Probleme und Konflikte finden. Gute Noten hatten wir alle (Dr.-Titel als »Frontspoiler«), aber für eine zwanzigjährige Erfahrung braucht man zwanzig Jahre und keinen Tag weniger.

Erst in langjähriger Praxis lernt man, unerbittlich nach den Tatsachen zu suchen und über Strategien nachzudenken, wie man die strategisch richtige Lösung mit rechtlichen Mitteln erreichen kann. Man muss das Thema aus allen Perspektiven betrachten, also auch alle Untiefen sehen, aber die Lösung findet man häufig nicht in rechtlichen Überlegungen, sondern in Konstruktionen, die das Rechtsproblem umgehen, Entscheidungen des Mandanten, die die Sachlage ändern, usw. In vielen Fällen wissen Mandanten am Anfang gar nicht, wie ihre »wirklichen« Interessen aussehen. Der Geschäftsführer einer überschuldeten GmbH wird immer die Aufgabe stellen, den Zusammenbruch zu verhindern. Dass eine geordnete Insolvenz die viel bessere Lösung ist, kann er erst nach dem Gespräch mit seinem Anwalt erkennen.

Viele große Büros unterhalten »Akademien«, in denen sie eine Menge Wissen weitergeben. Aber das hat mit Erfahrung nichts zu tun. Sie entsteht nur, wenn ein erfahrener Anwalt gemeinsam mit einem Team Jüngerer ganz ähnlich wie die Chirurgen unmittelbar am Fall arbeitet und sich nachher Zeit nimmt, allen zu erklären, warum es so gelaufen ist. Wenn die jüngeren Anwälte wirklich hungrig nach Erfahrung sind, lernen sie schneller – wie ein chinesisches Sprichwort sagt: »Ein gutes Pferd läuft unter dem Schatten der Peitsche.« Nur durch gemeinsame Erfahrungen, die Diskussion über sie, durch Kritik und Gegenkritik, durch Trost und Unterstützung wird das Problem lösbar. Und durch dieses Verfahren wächst gleichzeitig die Unternehmenskultur der Sozietät. Sie bleibt unterkühlt, wenn es an solchen Erfahrungen fehlt.

3.12.8. Zeitmanagement

Als ich 1992 nach Berlin ging, vereinbarten wir, das Berliner Büro zu führen »wie die dritte Etage«. Die gesamte innere Verwaltung (Aktenmanagement, Personal, Finanzen et cetera) blieb in München. Die EDV-Technik war bei uns wie bei den Banken, die die Geldbewegungen abwickeln mussten, glücklicherweise gerade so weit, das zu schaffen. Für mich war es nicht einfach, zwischen München, der früheren heimlichen Hauptstadt, und Berlin zu pendeln, das sich anschickte, diesem Titel gerecht zu werden. Ich hatte zwei Schreibtische, zwei Aktenbestände, zwei Wohnungen, zwei Sekretariate, die unterschiedlichsten Mandanten mit Anforderungen, die kaum zu koordinieren waren. Was ich nicht hatte war ein Laptop, ein I-Pad, das Internet, ja nicht einmal ein Funktelefon. Es gab solche Geräte, wie sie bei Soldaten oder Notärzten im Einsatz waren. Fredrik von Wietersheim, unser Steuerberater, lief mit so einem Koffer herum. In ehrlichen Momenten gab er allerdings zu, dass er von Funkloch zu Funkloch stolperte und am liebsten noch einen Techniker gehabt hätte, der sein Telefon funktionsfähig hielt. Das Telefax half über die größten Schwierigkeiten hinweg, aber die Koordinierung fraß so viel Zeit, dass ich sogar den Versuch eines Privatlebens vergessen musste. Anderen fiel das auf. Mir nicht.

Die meisten Anwälte arbeiten mehr, als sie sollten. Sie beuten sich selbst aus, empfinden das aber nicht so, weil sie wissen: Das ist der Preis, den wir dafür zahlen müssen, dass wir sagen, wo’s lang geht – und kein anderer! So akzeptieren sie den unvorhersehbaren Termindruck, den Mandate jedenfalls im Wirtschaftsrecht mit sich bringen. Begleitet man einen Unternehmer zur letzten Verhandlungsrunde, die vielleicht am Freitagabend um 20 Uhr endet, wenn die Manager zum Arbeitstrinken gehen wollen, dann erwarten sie spätestens Montagmittag die Dokumentation der Verhandlungsergebnisse, möglichst in Form eines Vertragsentwurfs. Das Wochenende ist hin, ob man will oder nicht. Selbst wenn man es fertig brächte, an 220 Tagen im Jahr nur 8 Stunden am Tag und damit 40 Stunden in der Woche zu arbeiten, hätte man in 1760 Stunden gewiss seine Arbeit erledigt. In englischen und amerikanischen Büros verlangt man diese Stundenzahl als Untergrenze für das, was man abrechnen kann. Einige von ihnen sind stolz darauf, 2500–3000 Stunden abzurechnen. Wie sie das hinkriegen, bleibt ihr Geheimnis, denn man braucht auch Zeit für Akquisition, Management, Weiterbildung, Reisezeiten und anderen Aktivitäten – das sind 1000 weitere Stunden, die den freien Beruf reizvoll, aber auch belastend machen.

Wenn man diesen Teil des Berufes zu Gunsten der Arbeit am Mandant völlig einstampft, bleibt das nicht ohne Auswirkungen auf Privatleben und Persönlichkeit. Bei 2760 Stunden ist man schon ziemlich am Anschlag. Die Akten stapeln sich auf dem Boden immer höher. Diese seltsame Angewohnheit beobachtet man bei 80 % aller Anwälte: Sie lassen sich die Akten ins Zimmer schaffen, weil sie die Fälle wirklich bearbeiten wollen, dann kommen sie nicht dazu, und nach Monaten liegen die Akten immer noch dort, wenn weder Mandant noch Gericht nachfassen. Der Auftrag an die Sekretärin, die Akten wieder einzuräumen und eine neue Wiedervorlage einzutragen, überfordert die meisten. Manchem habe ich schon vorgeschlagen, sich bei IKEA ein Regal anzuschaffen. »Aber ich sitz’ doch nicht in meinem eigenen Aktenraum! Wie sieht das aus?«, kommt die entrüstete Antwort. Lieber durchs Papier waten, bevor man seinen Schreibtisch erreicht. Vermutlich ertragen sie die täglichen Überstunden nur mit einem guten Schuss Schuldgefühle.

Als dieses Stadium irgendwann 1988 bei mir erreicht war, kamen eines Tages drei meiner Partner mitleidig blickend in mein Zimmer, jeder nahm wortlos einen Stapel mit und ließ die Akte auf sich umheften. Das waren jene Zeiten, in denen jeder noch in »allen« Rechtsgebieten arbeiten konnte.

Zwei Jahre später war das vorbei. Seit 1990, als wir erst in Weimar und dann in Berlin auswärtige Büros hatten, kam ich mit Reisezeiten auf 3200 Stunden pro Jahr – ohne es zu merken. Bis mich jemand eines Tages auf ein unscheinbares Softwareprogramm aufmerksam machte. Ellert Schaepman, ein holländischer Softwareentwickler, hatte einen intelligenten Algorithmus entwickelt, der mit einem minimalen Speicherplatz auskam. Auf der Oberfläche des Programms war nur das Datum und der Kalendertag zu sehen und darunter konnte man all das machen, was wir heute von Outlook gewöhnt sind. Nur die Suchfunktion war erheblich besser, denn sie machte keine Unterschiede zwischen Terminen, Notizen, Aufgaben und Adressen. Das Handbuch umfasste zwei DIN-A4-Seiten. Natürlich konnte man damit nur am stationären Computer arbeiten, aber wer tagsüber alles aufschrieb, was er festhalten wollte, brauchte abends dazu höchstens 5 Minuten. Bis dahin hatte ich um die dicken Zeitplanbücher, die Hans Buschbell so begeisterten, einen großen Bogen gemacht. Mir war das Eintragen und Umtragen von Terminen viel zu lästig. Viel bequemer, sich all diese Informationen von seiner Sekretärin zurufen zu lassen. Aber jetzt war ich mit diesen Möglichkeiten ans Ende gekommen. Das Programm ERNA hatte mich bekehrt.

Und nun begann ich, andere zu bekehren. Der Beck-Verlag machte 1992 ein schönes Buch, in dem der Lektor Weinknecht, den das Programm auch begeistert hatte, das Zeitmanagement im Detail beschrieb. Am Ende stand einer der größten Flops, die ich je gelandet habe! Kein Mensch wollte ERNA haben, denn die Welt von Microsoft, die sich gerade erst in den Anfängen befand, warf schon ihre Schatten voraus. Kalenderprogramme gab es im Dutzend, und die Vorteile von ERNA waren so erklärungsbedürftig, dass der Markt das Programm nicht angenommen hat. Ich war so wütend, dass ich mir dachte: Ich werde gegen die Stumpfheit der Anwälte so lange anschreiben, bis sie es begreifen. Genützt hat dieser gute Vorsatz wenig, denn mein Buch über das Zeitmanagement hat sich erst zehn Jahre später durchgesetzt, als man selbstverständlich davon ausging, dass mehr oder weniger jeder mit Outlook arbeitet.

Wenn auch niemand das Buch haben wollte, so war mir das Programm ERNA in den nächsten Jahren eine große Hilfe. Das Programm zwang dazu, bestimmte Informationen festzuhalten. Wir rechneten damals nur wenig nach Stunden ab, aber es gab Mandate, in denen das notwendig war. Wenn man diese Informationen aufschrieb, konnten sie später bei der Rechnungserstellung helfen. Schritt für Schritt machte ich mir Gedanken, welche Bereiche man im Zeitmanagement erfassen kann. Ein Buch sollte daraus werden. Der große Meister dieses Themas, Lothar J. Seiwert, und viele andere Autoren haben die wesentlichen Ideen geliefert, aber die Umsetzung gerade auf die anwaltliche Arbeit fehlte.

2001 war das Buch fertig.146 Es hat mir eine Reihe von Vortragsverpflichtungen im In- und Ausland eingetragen, von denen einige unterhaltsam und lehrreich waren. Am beeindruckendsten war der Besuch 2002 in Warschau, wo eine polnische Übersetzung erschienen war. Einen Empfang durch Kollegen von der Anwaltskammer, Simultandolmetscher und andere aufwändige Services war ich nicht gewöhnt. Zu einem abendlichen Varieté mit Diner wurde auch meine Frau eingeladen – alles auf Kosten der Kammer! Im persönlichen Gespräch stellte sich heraus, dass nahezu jeder Anwalt, mit dem ich sprach, ein Büro mit 15–20 angestellten Anwälten hatte. Es gab jeweils nur einen Chef, der das Büro entweder geerbt oder es geschafft hatte, sich mit guten Beziehungen selbstständig zu machen. Sozietäten gab es nicht. Hier hatte sich also das System, das ich aus Griechenland, Spanien und Süditalien kannte, ebenso durchgesetzt und sogar den Kalten Krieg überdauert.

Es hat noch einige Jahre gebraucht, bis mir klar wurde, wie wichtig das Zeitmanagement für die Steuerung des gesamten Unternehmens ist. Viele Anwälte schreiben die Zeit auf, die sie in ihren Mandaten arbeiten, aber bei der Frage, wie viel Zeit sie in die Akquisition, die Fortbildung oder ihre Managementaufgaben stecken, verlassen Sie sich auf ihr Gefühl. Das geht oft meilenweit an der Wirklichkeit vorbei. Man kann auch nichts delegieren, wenn man nicht weiß, wie viel Aufwand eine bestimmte Tätigkeit erfordert usw.

Von den guten Ratschlägen, die das Buch enthält, befolge ich selbst höchstens 30 % – aber das genügt auch, um einigermaßen organisiert arbeiten zu können. Jeder kann sich die Werkzeuge auswählen, die für seine Arbeitsmethode richtig sind. Allein schon der Gedanke, dass die Zeit unser wichtigstes Kapital ist, hilft dabei, respektvoll mit ihr umzugehen. So war das Schiff für unsere weiteren Pläne gerüstet.

3.13. Der Fall der Mauer

Berlin Unter den Linden, 1992
Berlin Unter den Linden, 1992

Der Fall der Mauer hat uns alle – nicht nur die Politiker – auf dem linken Fuß erwischt. Die komplexen Aktivitäten in Politik und Wirtschaft, die ihm folgten, haben eine einfache Tatsache verdeckt: Hätte Michail Gorbatschow nicht freiwillig und gegen den Rat fast aller, die ihn umgaben, der DDR seine Unterstützung entzogen, lebten wir heute in zwei deutschen Staaten. Es war seine persönliche und sehr riskante Entscheidung, die eine Eigendynamik entwickelte, an der selbst François Mitterrand und Margret Thatcher nichts ändern konnten. Sie hat ihn am Ende die Macht gekostet.

Am späten Abend des 09.11.1989 habe ich nur durch Zufall noch die Nachrichten eingeschaltet und bin dann die ganze Nacht wach geblieben. Ich habe nie daran gezweifelt, dass dieses Ereignis zum Zusammenbruch der DDR führen würde, auch wenn es danach noch schwierige und verwickelte Situationen gab. Die ersten Trabi-Kolonnen haben uns in München so überrascht, dass unser Partner Frederik von Wietersheim, der immer einen Ruf als kühler Rechner genoss, unbekannten Leuten Hundertmarkscheine als »privates Begrüßungsgeld« in die Hand drückte.

Bis zum Fall der Mauer hatten Anwälte in der Bundesrepublik (oder in Westdeutschland, wie die Berliner zu sagen pflegten) sich hauptsächlich mit deutsch-deutschen Strafsachen, Scheidungen, Erbfällen, Zollfragen und den Bartergeschäften (Tauschhandel) beschäftigt, der den innerdeutschen Handel prägte. Ein bisschen internationale Arbeit gab es in Schiedssachen vor den Handelskammern in Stockholm oder in Genf. DDR-Anwälte wie Professor Kaul oder Wolfgang Vogel waren auch im Westen bekannt. Mit den Berliner Kollegen Ackermann & Schulze-Zeu hatte ich vor Jahren mal darüber gesprochen, wie man bayerischen Hopfen gegen Lederschuhe tauscht. Daraus war nichts geworden. Sie und einige bayerische Kollegen kannten die Verbindungslinien zu DDR-Ministerien oder Schalck-Golodkowskis Antiquitätenhandel.

Nach dem ersten Schock wurde jetzt auch anderen Anwälten klar, dass sich hier völlig neue und interessante Arbeitsfelder auftaten. Die Voraussetzungen, um auf ihnen zu ackern, hatte das Bundesverfassungsgericht – wie oben geschildert – durch Zufall rechtzeitig Ende 1987 geschaffen: Wir durften Zweigstellen errichten, grenzüberschreitend tätig werden und Werbung treiben!

Aus der Münchner Perspektive gab es dazu in den ersten Monaten des Jahres 1990 noch wenig Anlass. Wir wussten nicht, was wir in der DDR hätten tun sollen, denn die Rechtslage im Immobilienbereich, in dem wir uns auskannten, war noch im Fluss und wurde von der Regierung Modrow bewusst unklar gehalten: Die Grundbücher waren nicht à jour, und daraus konnten einige Leute Vorteile ziehen. Die Treuhandanstalt wurde zwar schon im März 1990 gegründet, aber brauchte fast ein Jahr, um zu halbwegs professioneller Arbeit zu finden (ganz hat sie es nie geschafft). Es gab keine rechtlichen Kommentare, ein paar Aufsätze kursierten – und das war alles.

Allerdings verstärkten die ersten westdeutschen Unternehmen schon sehr schnell ihren Vertrieb in die DDR, verlegten die Sitze ihrer Handelsvertreter dorthin und schickten waggonweise Waren über die alte Grenze, die man bisher nur im Intershop hatte kaufen können. Und die Gebrauchtwagenhändler jubelten: Sie saßen auf großen Halden unverkäuflicher Automobile, die im Osten plötzlich begeisterte Käufer fanden. Und es gab eine Menge unbeschäftigter Juristen, die genauso wie die Gebrauchtwagen im Osten guten Absatz fanden.

3.13.1. Die Rechtsanwälte in der DDR

In der DDR waren Anwälte kein wesentlicher Teil des Rechtssystems. Man braucht sie nur, wenn die Gewaltenteilung ernst genommen wird, die die SED aber aus ihrer Perspektive konsequent ablehnte: »Unsere Juristen müssen begreifen, dass der Staat und das von ihm geschaffene Recht dazu dienen, die Politik von Partei und Regierung durchzusetzen.«147 Das Rechtssystem war mit den Parteiinteressen völlig koordiniert und konnte kein Gegengewicht zum Staat entwickeln. In der DDR regelte man die meisten Konflikte unterhalb der Ebene der Gerichte. Vieles wurde durch Gliederungen der Partei selbst abgefangen. In den Betrieben gab es Konfliktkommissionen, und die Jugendkriminalität verschwand unter sozialen Regelungsmaßnahmen, für deren Durchsetzung man keinen Richter brauchte. Das Arbeitsrecht beschränkte sich auf betriebliche Moderationsgespräche. Es ist interessant zu beobachten, dass sich gerade auf diesen beiden Gebieten auch im Westen die Tendenz zeigt, Mediationsgespräche zu führen, anstatt die Gerichte einzuschalten. Tatsächlich lassen sich Konflikte in diesen Bereichen oft schon dadurch lösen, dass Verständnis für die Position der anderen Beteiligten entsteht. Bis zu einem gewissen Grad konnten das auch die Institutionen in der DDR leisten, aber der Autoritätsanspruch der Partei überschattete auch sie. Und vor allem: Die Mediation schneidet den Rechtsweg nicht ab!

Öffentliches Recht in einem auch nur in Ansätzen mit unseren Begriffen vergleichbaren Sinn, war unbekannt: Wie hätte der Staat es dulden können, dass von ihm unabhängige Gerichte gegen ihn und die Partei auftraten, die immer recht hatte?148 Unabhängige Anwälte konnten da nur stören.

In den allgemeinen Fällen wurden Rechtsanwälte in der DDR nur hier und da gebraucht, um ein paar bürgerlich-rechtliche Probleme zu lösen, vor allem bei Ehescheidungen oder Todesfällen et cetera. Anders war es im Bereich des Wirtschaftsrechts. Die nur in Halle und Leipzig ausgebildeten Wirtschaftsjuristen hatten eine wichtige Funktion beim Ausgleich der Interessen zwischen den staatseigenen Betrieben, den Handelsorganisationen, den Kombinaten. Auf dem Papier sollten sie alle vertrauensvoll zusammenarbeiten, um den Plan zu erfüllen, aber das funktionierte in der Wirklichkeit nicht. Sie konnten ihren Plan nur erfüllen, wenn sie an ihren Plan dachten und nicht den Plan der anderen Betriebe. Wer Maschinen oder Ersatzteile brauchte, musste sie sich bei einem anderen Betrieb besorgen, der ihrerseits irgendetwas benötigte, um seinen Plan zu erfüllen. Neben dem offiziellen Markt entwickelte sich ein funktionsfähiger Graumarkt, und den mussten die Wirtschaftsjuristen steuern. Ganz unersetzlich waren sie bei allen internationalen Beziehungen. Stefan Haupt, einer meiner Autoren im Beck’schen Rechtsanwaltshandbuch, früher Justiziar bei der DEFA, hat mir über seinen täglichen Arbeitsalltag berichtet, und der sah nicht anders aus, als bei Constantin Film oder anderen westlichen Unternehmen.

Als Strafverteidiger haben die Anwälte in der DDR ihren Mandanten erklärt, wie man sich korrekt bei Gericht verhält. Das emotional so wichtige »Letzte Wort« wurde regelmäßig schon vom Anwalt vorzensiert, damit weder die Staatsanwaltschaft noch das Gericht sich ärgern mussten. Wie bei uns gab es auch in der DDR den »Geständnisrabatt«, der aber teilweise mit absurden Strafdrohungen erzwungen wurde. Von einer Konfliktverteidigung mit dem Ziel des Freispruchs habe ich noch in keinem Fall gehört und sie wäre wahrscheinlich auch sinnlos gewesen. Als der Theologiestudent Matthias Storck149 nach seiner Verhaftung zitternd sagte: »Ich spreche nur über meinen Anwalt«, löste das erhebliches Gelächter aus. So einer hatte »zu viele amerikanische Filme gesehen«!

Anwälte waren in der DDR keine unabhängigen Interessenvertreter, sondern eher Diplomaten oder Doppelmakler, die einen Weg finden mussten, die Interessen des Mandanten so darzustellen, dass der Staat sie für seine eigenen hielt. Ihre Aufgabe bestand darin, den Mandanten zu erläutern, wie die Machtsysteme arrangiert waren, und wie man sich dem System anpassen konnte. Diese Aufgabe war notwendig, und sie deckt sich mit vielem, was ein Anwalt auch in einem demokratischen Umfeld tun muss.

Am besten sieht man das bei dem Freikauf von 33.775 Gefangenen zum Durchschnittspreis von 90.000 DM in der Zeit zwischen 1962 und 1989, der zwischen den Rechtsanwälten Wolfgang Vogel (Ost) und Jürgen Stange, Herbert Taubert und Barbara von der Schulenburg (West) ausgehandelt und durchgeführt wurde. Beide Regierungen hatten ein politisches Interesse daran, nach außen nicht sichtbar über ihre beteiligten Ministerien zu handeln.

In der DDR gab es offiziell keinen »Häftlingsfreikauf«, es handelte sich aus ihrer Perspektive um eine humanitäre Aktion, bei der die Bundesrepublik die DDR für den Aufwand der Ausbildung und den entgangenen Gewinn der Arbeit eines Häftlings bezahlte, die er künftig in der Bundesrepublik leisten würde. Wenn man die Verhandlung über Art und Umfang der Entschädigung einem Anwalt übertrug, konnte man offiziell immer behaupten, die Regierung habe sich nicht daran beteiligt, sondern nur ein Angebot der Anwälte der Bundesrepublik entgegengenommen. Es mag sein, dass Wolfgang Vogel dabei in einzelnen Fällen ethische (nicht: rechtliche) Grenzen überschritten hat. Er hat auch gewiss gut an diesen Fällen verdient, aber das wird bei den Anwälten im Westen nicht anders gewesen sein. Beide mussten von sich sagen, was nur Wolfgang Vogel ausgesprochen hat: »Meine Wege waren nicht weiß und nicht schwarz. Sie mussten grau sein.« Helmut Schmidt, Jochen Vogel und andere Politiker der Bundesrepublik haben ihn in dieser Verteidigung unterstützt.

Die Bundesrepublik wollte ebenfalls nicht offiziell beteiligt sein. Beim Verwaltungshandeln hätte sie wohl den Gleichheitssatz anwenden müssen und nicht im Einzelfall nach Opportunität entscheiden dürfen. Gleichzeitig konnte sie durch Einschaltung von Anwälten der DDR helfen, ihr Gesicht zu wahren (eine Kernaufgabe der Diplomatie). Die meisten Leute, die mit einem DDR-Anwalt in diesem Zusammenhang Kontakt hatten, haben ihn als Kenner der inneren Machtverhältnisse der DDR bezahlt, er sollte nicht für eine Gerechtigkeit streiten, die niemand erwartet hat.

Der nach der Wende bekannteste Anwalt in der DDR, Gregor Gysi, wurde häufig beschuldigt, auch noch Informeller Mitarbeiter (IM) des Staatssicherheitsdienstes gewesen zu sein.150 Er hat das mit einer Begründung abgestritten, die seine anwaltlichen Qualitäten auf den ersten Blick beweist: Seine Kontakte zu Regierungsstellen seien seit jeher besser gewesen als die des Staatssicherheitsdienstes, der eher an ihn hätte berichten müssen als umgekehrt. Sein Vater Klaus Gysi war seit 1963 Mitglied des Politbüros des ZK der SED und danach ebenso wie seine Mutter in einer Vielzahl anderer politischer Ämter tätig, er selbst seit 1988 (also schon mit 40 Jahren) Vorsitzender aller Anwaltskollegien der DDR. Er hat sich als Diplomaten betrachtet, nicht als jemand, der sich für Einzelinteressen mit dem Staat hätte herumschlagen sollen. Abgesehen von einigen besonders naiven Leuten haben die Mandanten in der DDR von ihren »Anwälten« auch nichts anderes erwartet. Der Kern des Anwaltsberufs besteht weltweit darin,

  • die rechtmäßigen Interessen eines Mandanten ausschließlich aus dessen Perspektive zu sehen und sie
  • in absoluter Verschwiegenheit und Unabhängigkeit
  • mit rechtlichen Mitteln durchzusetzen.

Das Vertrauen, das ihm geschenkt wird, weil er an der Freiheit der Gedanken seines Mandanten teilnimmt, darf ein Anwalt unter keinen Umständen missbrauchen.151 Diese Aussage hat in den unterschiedlichsten Rechtssystemen, in denen sie abstrakte Gültigkeit hat, jeweils einen ganz unterschiedlichen Inhalt. Das beginnt schon bei der Frage, was ein »rechtmäßiges Interesse« ist. Sind es etwa allgemein gültige Menschenrechte (wie wir im Westen fordern) oder ist der Begriff »rechtmäßig« im Einzelfall von dem abhängig, was die jeweilige Rechtsordnung offiziell zulässt?

Es mag in den Anfangsjahren der DDR Anwälte gegeben haben, die ihren Beruf in diesem klassischen Sinn verstehen konnten. Aber nach dem Bau der Mauer 1961 und der Einführung der Anwaltskollektive war jedem Anwalt im Ostblock klar, dass bereits seine Zulassung zum exklusiven Kreis der Anwälte die Verpflichtung enthielt, sich mit dem Staat nicht anzulegen. Jeder wusste, dass eine unbedingte Interessenvertretung nur in einem Rechtssystem möglich gewesen wäre, das diese Arbeit schützt und zulässt. Davon konnte in der DDR wie in wohl allen sozialistischen Staaten und vielen Diktaturen in der westlichen Hemisphäre keine Rede sein.152

Aus der Perspektive des Westens waren die rechtlichen Institutionen in der DDR nur Fassaden, aber tatsächlich erfüllten diese Strukturen viele Zwecke, die wir auch unter demokratischen Verhältnissen für notwendig halten. Aber dafür brauchte man nur eine Handvoll Anwälte. In der DDR waren es 1989 knapp 600 für 17 Millionen Einwohner, da mussten sich also 28.333 Einwohner einen Anwalt teilen. Das war der zweitschlechteste Wert auf der ganzen Welt, übertroffen nur von Nordvietnam: Da gibt es nur einen Anwalt auf 300.000 Einwohner.

Schon diese Zahlen lassen vermuten, dass unter dem Begriff »Rechtsanwalt« in der DDR und in Nordkorea etwas anderes verstanden wurde als im Rest der Welt. Ich habe mir später die Frage gestellt, ob eine hohe Zahl von Anwälten etwas darüber aussagt, dass das Rechtssystem besonders ernst genommen wird.153 Die USA haben seit Jahrzehnten die meisten Anwälte in der Welt (270 Einwohner pro Anwalt), aber sie beeindrucken uns nicht durch ihre Effizienz. Und wie kommt es, dass Spanien und Griechenland fast doppelt so viele Anwälte haben wie die Bundesrepublik? Deren Rechtssystem ist gewiss nicht höher entwickelt als unseres! Die Antworten sind für jedes einzelne Land sehr unterschiedlich. In den angloamerikanischen Rechtssystemen ist es sehr viel schwieriger, die Rechtslage zu ermitteln, weil man sich nur auf wenige Gesetze (Statutory Law) stützen kann und daher die relevanten Präjudizien finden muss. Dafür braucht man mehr Anwälte, und die brauchen eine Menge Zeit – daher auch die hohen Kosten. In Spanien und Griechenland sind die Anwaltszahlen so hoch, weil man die Zulassung ohne größere Probleme bereits nach dem Universitätsstudium bekommt und viele sie nur als schmückendes Beiwerk tragen, ohne den Beruf auszuüben. In der DDR hingegen war der Weg zur Zulassung als Anwalt lang, und in den letzten Jahren konnte man ihn nur in Anwaltskollektiven ausüben, wo es eine starke gegenseitige Kontrolle gab.

Nach 1989 brach dieses System von heute auf morgen zusammen. Für die Anwälte wurden jetzt neue Zulassungsregeln entwickelt, die man aus dem Westen einfach übernehmen konnte. Tausende neuer Anwälte drängten in den Beruf. Durch einen seltsamen Zufall gab es im Westen einen Überschuss an jungen Anwälten – ähnlich wie bei den Gebrauchtwagen. Nun wurden beide Halden abgebaut.

Zaghaft streckten jetzt einige DDR-Kollegen ihre Fühler über die Anwaltskammern und den DAV aus: Sie wollten die westdeutschen Gesetze kennen lernen. So wurden bei den örtlichen Vereinen Gesetzestexte, Fachbücher und Kommentare eingesammelt und verschenkt, der DAV half den Kollegen bei der Gründung ihrer ersten Vereine usw. So bekam völlig überraschend ein unscheinbares Buch Auftrieb, das ich gemeinsam mit Ulrich Büchting im Mai 1989 mit zwanzig Autoren herausgebracht hatte: das Beck’sche Rechtsanwaltshandbuch (jetzt in der 11. Auflage). Im Hintergrund wirkte Burkhard Schulz, der Nachfolger Büchtings als Cheflektor. Er hat eine ungeheure Arbeit – vor allem bei der Koordination der vielen Autoren – in das Buch gesteckt und gezeigt, wie unverzichtbar gute Lektoren wie er, Thomas Schäfer, Christian Rosner oder Elke Schlüter (Otto Schmidt) sind. Das Buch stellt in einem Querschnitt die wichtigsten Rechtsgebiete dar und soll Anfängern wie Spezialisten dienen, die Grundzüge eines ihnen fremden Rechtsgebiets kennen zu lernen. Die erste Auflage musste 1990 dreimal nachgedruckt werden, weil das Buch in der DDR viele interessierte Leser fand.

3.13.2. Weimar

Zu ihnen gehörte auch der Richter a.D. André Tropp aus Weimar. Anfang 1990 sprach uns Ernst Burgmair, ein befreundeter Kollege aus Dachau, seinetwegen an: »Bei uns ist ein Richter aus der DDR gelandet, der hat im Juli mit seiner Tochter in Ungarn rübergemacht und will Anwalt werden. Kann der bei euch mal ein Praktikum machen?« Ich hatte in der Zwischenzeit einige DDR-Kollegen kennen gelernt, aber noch keinen ehemaligen Richter oder Staatsanwalt. Die Anwälte, denen ich begegnet war, hatten mit großem Selbstbewusstsein so getan, als sei der Inhalt ihres Berufs von jeher der gleiche wie im Westen gewesen. Diese Verdrängung und teilweise auch Verlogenheit ist nach solch großen Systembrüchen gewiss unvermeidlich. Am Anfang hat man vor allem Juristen, die gleichzeitig als Informanten des Staatssicherheitsdienstes tätig waren, die Zulassung verweigert, wenn sie es offen zugaben. Andere verschwiegen diese Zusammenarbeit, und so wurden etwa in Brandenburg 123 Rechtsanwälte zugelassen, die »stasibelastet« waren, 24 von ihnen als hauptamtliche Mitarbeiter (Presseinfo dapd vom Mai 2012). Was bedeutete es, IM gewesen zu sein? Manche wollten jeden, der mit der Staatssicherheit gesprochen hatte, die Rehabilitation verweigern, andere waren der Ansicht, es müsse jemand konkreten Schaden angerichtet haben. Wir wollten an die Arbeit der Kollegen in der DDR keine Maßstäbe anlegen, die auch wir selbst niemals hätten einhalten können. Das Bundesverfassungsgericht ist in seinen Entscheidungen dieser Linie gefolgt.154

Wir wollten in aller Unbefangenheit und ohne Vorurteile einen Beitrag zur deutschen Einheit leisten und zeigten dem Richter a.D. André Tropp (32) aus Weimar, wie ein Anwaltsbüro von innen aussieht. Er stellte sich vor und irgendjemand murmelte seitwärts: »Immerhin hat er die richtigen Schuhe an« – sie stammten offensichtlich aus Budapest. Gewagte Farbe allerdings: Bordeauxrot mit weißen Einsätzen! Er schien mir ein bisschen jung, aber da es auch bei uns Richter gibt, die nicht älter als 28 sind, fand ich es nicht außergewöhnlich. In den angloamerikanischen Ländern ist das bekanntlich anders: Da kann man nur Richter werden, wenn man ein paar Jahre Praxis als Anwalt hinter sich hat und damit auch deren Tricks kennt. Nicht alles wird veröffentlicht! Erst später lernte ich, dass Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte in der DDR an drei verschiedenen Universitäten ausgebildet wurden, damit jeder von Anfang an lernte, was seine Aufgabe ist. Richter, Notare und Rechtsanwälte durften nur in Berlin studieren, Staatsanwälte und Zollfahnder in Jena, Wirtschaftsjuristen in Halle und Leipzig. Forschung fand in der Akademie für Rechts- und Staatswissenschaft der DDR statt, wer im Staatssicherheitsdienst etwas werden wollte, musste zur Ausbildung an die Juristische Hochschule Potsdam berufen werden – ein schwieriger Ausleseprozess. Den bei uns üblichen Einheitsjuristen lehnte man ab, Berufswechsel war nicht möglich. Den mussten die Kollegen aus der DDR nun lernen und taten sich nicht ganz leicht damit, denn bis dahin waren sie bei jedem ihrer beruflichen Schritte vom Staat angeleitet worden. Man konnte nur studieren, wenn man Militärdienst geleistet hatte und/oder aus einer politisch absolut zuverlässigen Familie stammte. Dann allerdings übernahm der Staat auch die Kosten des Studentenheims usw. Das war kein großer Luxus, aber anders als im Westen, wo über 40 % der Studenten nebenbei irgendeinen Job machen müssen, wirkte das elitär. Als ich erzählte, dass ich mein Studium als Fernfahrer und später als Taxifahrer finanziert hatte, wollte Herr Tropp mir das nicht glauben. Die Arbeiterklasse kannte er nur aus den Büchern. Da war also im Westen mehr Sozialismus gewesen als zuhause!

Nach einigen Wochen verließ uns Herr Tropp, kehrte wieder nachhause zurück und bekam recht schnell die Anwaltszulassung. Dann sprach er uns wieder an: Wäre es nicht interessant, dort ein Büro aufzumachen? Ich fuhr nach Weimar und war ziemlich entsetzt. Das seit 1696 berühmte Hotel Elephant hatte es aufgegeben, die Fenster zu putzen, weil sie jeden Morgen vom gelben Dreck der Braunkohlegruben von Bitterfeld wieder zugeklebt worden waren. Die Häuser waren in jammervollem Zustand, getröstet wurde ich nur durch den Duft der Thüringer Bratwurst, der über der Innenstadt schwebte; sie hat – wie so manches – vor dem Einigungsvertrag besser geschmeckt als nachher. Unsere Steuerberater fanden die Idee gut, dort zu arbeiten, denn unter ihnen hatte es sich herumgesprochen, was für ein enormer steuerlicher Beratungsbedarf jeden Tag für die privatisierten Unternehmen entstand. Justin von Kessel entdeckte, dass seine Familie im 13. Jahrhundert in Thüringen ansässig war, und irgendjemand entdeckte unweit von Weimar das »Rittergut München«, ein vom Zahn der Zeit angenagtes, jetzt volkseigenes Gemäuer (heute mit Streichelzoo und 1. Thüringer Münchner Oktoberfestwoche).

Wer die Stadt heute besucht, kann an jeder Ecke spüren, welche Bedeutung sie seit Hunderten von Jahren für das kulturelle Leben in Deutschland hat. Das Kulturfestival Pelerinage greift immer wieder auf Traditionen zurück, die uns zeigen, wie hier nach 1790 die modernste und interessanteste Literatur Europas entstand. Nicht nur Goethe und Schiller, Wieland, Herder, und deren große Fangemeinde (unter ihnen Johanna Schopenhauer) bespielten die gesamte kulturelle Szene einschließlich der Theater in Weimar, Rudolstadt oder Jena. Musiker wie Franz von Liszt lebten hier, die Kunstschule (Böcklin, Lenbach) war berühmt, das Bauhaus hatte seine Dependance und was im Grunde das Wichtigste ist: In Weimar ist 1919 die Verfassung der ersten deutschen Republik geschrieben worden.

Das waren sympathische Hintergründe, und Axel Czarnetzki, der gerade sein zweites Examen abgeschlossen hatte, nahm die Herausforderung an. Kaum angekommen und frisch zugelassen stürzte er sich in die Akquise: Tennis spielen mit Stadträten, Besuch bei der Bayerischen Hypotheken und Wechselbank, Zweigstelle Weimar, danach Abendessen mit gierigen Maklern, Vortrag zum Erbrecht im Altersheim usw. – was man als Anwalt eben so macht, wenn man neu anfängt. Sein Spezialgebiet Computerrecht wurde noch nicht nachgefragt. Herr Tropp lernte auch das.

Hätte ich schon damals versucht, kluge Bücher über Strategie und Mandatsentwicklung zu schreiben, wäre mir aufgefallen, dass diese patriotischen Bemühungen nicht viel Sinn und Verstand hatten. Schon in 2–3 Jahren würden ortsansässige Kollegen unsere Arbeit auf gleichem Niveau gut erledigen können. Unsere Idee war zwar gut gemeint, aber strategisch führte sie ins Leere. Darüber gab es dann heiße Debatten. »Kann mir einer mal sagen, warum wir nicht auch in Wuppertal aufmachen? Das fängt auch mit W an …«. Sollten wir stattdessen über Berlin nachdenken?

3.13.3. Die Hauptstadt

Berlin hat hart darum kämpfen müssen, Hauptstadt zu werden. Die Gegend wurde seit der Steinzeit von Pruzzen, Slawen und Wenden besiedelt, dann folgten die Niederländer (»Fläming«), entwässerten die Sümpfe und kultivierten den Sand, die Askanier brachten den roten Adler mit, die Hohenzollern süddeutsches Flair. All das fand jahrhundertelang am Rand von Deutschland zum Osten statt.

Die politisch logische Hauptstadt der Dritten Republik wäre Frankfurt gewesen, nicht nur wegen ihres Beitrags beim Kampf um die Freiheit 1848, sondern weil die »Franken« seit jeher die besten politischen Tugenden der Deutschen repräsentieren – bei den Preußen ist das bekanntlich sehr umstritten. Dazu kommt Frankfurts Bedeutung und Lage mitten in Deutschland, mitten in Europa. Aber darüber durfte nicht ernsthaft debattiert werden, weil man den Berlinern fest versprochen hatte, ihre Stadt wieder zur Hauptstadt zu machen. Darum hatten sie verbissen gekämpft. Schon Goethe hat sie so eingeschätzt: »Es lebt aber, wie ich an allem merke, dort in Berlin ein so verwegener Menschenschlag beisammen, dass man mit der Delikatesse nicht weit reicht, sondern dass man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muss, um sich über Wasser zu halten.«155 Diese Fähigkeiten brauchten die Berliner, seit Napoleon 1806 die Stadt besetzt hatte. Seither war Berlin der Fußabstreifer der deutschen Geschichte: Jede Veränderung schlug sich hier in Straßenkämpfen, Vernichtung, Aufständen – und den entsprechenden Gegenreaktionen – nieder. Hier trafen die Gegensätze wild aufeinander: 1918 blickte der Bankier Fürstenberg aus seiner Bank in der Französischen Straße auf eine Horde Spartakisten, die die Straße entlangrannten, und fragte seinen Butler: »Kannst du mir sagen, was der Unsinn da soll?« »Das ist die Revolution, Herr Direktor«, sagte der Butler, »wir sind jetzt Volksgenossen, und es wäre mir sehr recht, wenn Sie künftig »Sie« zu mir sagten!« »Du bis’ ja bekloppt«, sagte der Bankier »umgekehrt wird’n Stiefel draus: Ab jetzt nennst du mir Carl!« »Sehr gern, Herr Direktor!«, sagte der Butler. Solche Szenen sollten sich in unzähligen Varianten wiederholen, bis die Stadt im Mai 1945 nur noch eine löchrige Fassade war, durch die man auf den blauen Himmel sehen konnte. Die großen Industrien waren alle zerschlagen und hatten sich im Westen angesiedelt. Die großen jüdischen Familien und ihre Vermögen waren vernichtet, vertrieben und beschlagnahmt worden. Hier und da entwickelten sich aus kleinsten Anfängen Kohlen- und Christbaumhändler zu wohlhabenden Leuten.

In der Mauerzeit galt die Stadt aus der Sicht des Westens als »Mülleimer der BRD«, wobei man die Abkürzung »BRD« nicht verwenden durfte, wollte man nicht als Kommunist angesehen werden. Der Krieg hatte alle Bilder zerstört, die man von den »Goldenen Zwanzigerjahren« Berlins im Kopf hatte.

3.13.4. Erhörte Gebete

Mit dem Bonner Beschluss, Berlin wirklich zur Hauptstadt zu machen – er fiel im Juni 1991 –, fiel den Berlinern ein Stein von der Seele. Aber er hatte auch dunkle Seiten: »Es werden mehr Tränen über erhörte Gebete vergossen als über die, die sich nicht erfüllt haben« (Theresa von Avila).

So jedenfalls haben viele Westberliner empfunden. Ihr heimatlicher Kiez änderte sich jetzt durch die vielen Westdeutschen, die seit dem Fall der Mauer ihre eigenen Kulturen mitbrachten. Viele bildeten Landsmannschaften, so vor allem die Schwaben, die ihre Maultaschen schon vorher am liebsten unter ihresgleichen verzehrten, auch wenn sie große Berlinfans sind. Schon Hegel war von den ruppigen Berlinern begeistert: »Der Berliner Witz ist besser als der Anblick einer schönen Landschaft« (er meinte damit gewiss das Neckartal bei Tübingen), und darüber waren die Berliner so gerührt, dass sie seinen Satz in einer Kupferplatte auf dem Gendarmenmarkt verewigt haben. Nun kann jeder auf diesen Gedenkstein treten. Ähnliches wollten auch die Rheinländer, die die Ständige Vertretung gründeten, aber sie ist ein reines Touristenlokal geworden. Jede Nation von Ägypten bis Zimbabwe hat hier eigene Restaurants und Clubs.

Ihnen allen muss der eingeborene Berliner zeigen, »woher der Hase weht«. Überall laufen die Lehrer des Volkes umher. Wenn man sie irrtümlich mit »grüß Gott« anredet, erfährt man: »Mach ick, wenn ick ihm sehe.« Und ist der Sprecher um die siebzig, fügt er gern hinzu: »Det dauert aba noch«! Hier wird weniger gebetet als in München.

Und es gab Arbeit für Anwälte. Seit Anfang 1990 war neben der Arbeit in Weimar immer wieder einer von uns – meist in Immobiliensachen – in der Stadt, und ich war mir sicher, auch das Computerrecht würde sich dort entwickeln. Gerade (1990) war nämlich bei C.H. Beck das Computerrechtshandbuch erschienen, das Wolfgang Kilian (Leibniz-Universität Hannover) und ich seit 1986 geplant und in wesentlichen Teilen geschrieben hatten. Ich wusste aus einer Auskunft der Industrie- und Handelskammer, dass es in Berlin nicht einen Spezialisten für das Fach gab.

Und noch ein Grund bestimmte unsere Entscheidung: Seit 1990 führten wir immer wieder Gespräche mit anderen Sozietäten, die teilweise schon Erfahrungen mit Fusionen hatten, und immer wieder merken wir: Die Hauptstadt spielte dabei eine wichtige Rolle.

4. 1992 – 1997, Berlin

4.1. Im Fusionsfieber

Berlin, Kurfürstendamm
Berlin, Kurfürstendamm

Nach den Bastille-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (Ende 1987) hatte sich eine Reihe großer Büros auf dem Hintergrund ihrer internationalen Erfahrungen Gedanken über künftige Veränderungen gemacht. Als Ende 1989 die Mauer fiel, wurden diese Überlegungen plötzlich unter erheblichen Zeitdruck gesetzt. Jedem war klar, dass die Einführung des westdeutschen Justizsystems in der früheren DDR erhebliche Kapazitäten in den Ministerien, der Justiz und bei den Anwälten brauchen würde. Entsprechend attraktiv war die Aussicht auf neue Märkte, mit denen sich in erster Linie etwa sechzig Sozietäten156 in allen großen deutschen Städten beschäftigten, die sich seit jeher auf das Wirtschaftsrecht konzentriert hatten. Die Ältesten stammten aus Hamburg: Esche Schümann Commichau war 1822 gegründet worden, Stegemann Sieveking 1840 (später Freshfields), Schön & Pflüger 1844 (später Latham & Watkins), Scherzberg & Undritz 1858 (später White & Case) – lange bevor es eine freie deutsche Anwaltschaft gab (1871).

1890 wurde Axter in Berlin gegründet, 1901 Hengeler in Düsseldorf, 1908 Boden Oppenhoff in Köln und 1919 Bruckhaus in Düsseldorf. Erst 1924 folgten Bappert in Freiburg, Ott Weiß in München, Rasor & Schiedermair in Frankfurt und 1936 ebenfalls dort Westrick & Eckholdt.

Nach 1945 gründeten sich unter anderem Hasche Albrecht in Hamburg, Mueller Weitzel in Frankfurt, Gleiss in Stuttgart, Triebel in Düsseldorf und Strobl in München. Auch in kleineren Städten entstanden Sozietäten, die später eine große Rolle spielten: Brandi Heuer in Bielefeld (1895); Göhmann, Braunschweig (1913); Redeker, Bonn (1929); Schilling Zutt, Mannheim (1931); Deringer Tessin, Bonn (1962).

4.1.1. Die ersten Zusammenschlüsse

Im Jahr 1990 sahen wir die ersten Fusionen zwischen Boden Oppenhoff, Rasor, Schneider und Schiedermair (Köln / Frankfurt), gefolgt von Pünder Volhard Weber und Axter (Frankfurt / Düsseldorf), Weiß & Hasche (München / Hamburg), Wessing, Berenberg-Gossler, Zimmermann, Lange und Gaedertz. Die ganz großen Zusammenschlüsse (Freshfields Bruckhaus) und eine Invasion mittelgroßer englischer und amerikanischer Büros sollte in den nächsten zehn Jahren erfolgen. Wie stets folgte die Rechtsprechung dieser Entwicklung mit Verspätung: Es sollte noch drei Jahre dauern, bis der Bundesgerichtshof auch offiziell seine Zustimmung gab (BGH NJW 1993, 196). Die Sozietäten, die am Anfang standen, hatten kaum ein Jahr gebraucht, um sich zu entscheiden, aber die Bereitschaft dazu war längst vorhanden, die Modelle und Verträge konnte man im Großen und Ganzen von den englischen und amerikanischen Korrespondenzanwälten übernehmen. Fragen der Strategie sind ganz gewiss besprochen und in einigen Fällen auch festgelegt worden – um wenige Monate später wieder geändert zu werden. Allen diesen Firmen kam es in erster Linie darauf an, in eine Größenordnung zu wachsen, die international wettbewerbsfähig war. Ich hatte nicht das Gefühl, dass uns das etwas anging, denn diese Sozietäten hatten lange Traditionen und waren seit Jahrzehnten in ganz anderen Mandatsstrukturen tätig.

Aber dann kam die Fusion von Beiten Burkhardt Mittl und Wegener (München / Berlin). Jürgen Burkhardt und seine Partner kannten wir gut. Er war Referendar bei der Süddeutschen Zeitung gewesen, hatte sich mit diesem Mandat und einigen anderen um 1970 selbstständig gemacht und die jüngeren Partner waren so alt wie wir. Die Sozietät Stever & Beiten war etwas älter und hatte schon früh gute Beziehungen nach den USA entwickelt, Mittl war für seine französischen Aktivitäten bekannt und Wegener (Berlin) führend in der Verkehrsunfallabwicklung, nebenbei Consigliere des ADAC und – was viel wichtiger war – in Berlin seit Jahrzehnten gut vernetzt. Burkhardt & Reissinger hatte damals 16 Anwälte, die übrigen Büros waren kleiner – zusammen kamen Beiten Burkhard Mittl & Wegener auf 35–40 Rechtsanwälte und Steuerberater. Sie hatten mit ihren drei Münchener Büros – mit Ausnahme von Wegener, der die Sozietät später verließ – eine sehr viel ertragreichere Mandatsstruktur als wir, waren aber immer noch ein gutes Stück entfernt von den großen hamburgischen und Frankfurter Sozietäten und auch von Nörr, bei denen man nichts von Fusionsideen hörte. Nörr und Beiten gehören unter den führenden Sozietäten neben Gleiss, zu den wenigen, die das Konzept, aus eigener Kraft zu wachsen, auf Dauer durchgehalten haben.

4.1.2. Die Ausgangsposition

Wir hatten Gründe, über Fusionen nachzudenken. Mit 12 Anwälten und einem Wirtschaftsprüfer kamen wir 1990 auf etwa 4,2 Millionen DM Jahresumsatz (46 % Kosten). In den siebzehn Jahren seit der Gründung hatten wir eine stabile Mandatsstruktur erreicht, die sich immer stärker auf das Wirtschaftsrecht hin bewegte. Gunther Braun hatte die einzelnen Sektoren analysiert:

  • Versicherungsrecht – 25 % (Schadensprozesse, Haftpflicht, Gesellschaftsrecht ,Vertragsrecht, Wettbewerbsrecht, Arbeitsrecht)
  • Immobilien/Bauträger/Makler – 15 %
  • Bankrecht – 10 % (Kredite, Finanzierungen, Leasing)
  • Computerrecht – 10 % (Vertriebsverträge, IT-Projekte, Lizenzverträge et cetera)
  • Steuerberatung, Wirtschaftsprüfung – 10 %
  • General Practice, auch für Privatpersonen – 30 %.

Wir hatten immer wieder Erfolg gegenüber ähnlich strukturierten Kanzleien, aber kaum eine Möglichkeit, gegenüber den sehr viel etablierteren Sozietäten Boden zu gewinnen. Um sich im Markt zu behaupten, muss man sich von anderen Anwälten durch besonderes Wissen und Erfahrung unterscheiden und für den Mandanten im Markt sichtbar sein. Diese Sichtbarkeit kann durch eine Spezialisierung sogar in relativ kleinen Nischen erreicht werden, will man aber in der ganzen Breite des Wirtschaftsrechts tätig werden, ist eine gewisse Größe unverzichtbar. Einige mittelgroße Firmen wie Pöllath, Flick, Redeker und Streck sind genau wegen solcher Spezialisierungen erfolgreich. Sie konnten sich ohne Fusionen durch konsequente Entwicklung ihres eigenen Nachwuchses im Markt behaupten. Auch ich hatte das Gefühl, dies sei der richtige Weg: Einer der Gründe, warum ich mich auf das Computerrecht konzentriert hatte, war die Chance, neue Unternehmen zu gewinnen, die noch nicht auf andere Berater festgelegt waren. Sowohl im Immobilien- wie im Versicherungsrecht gab es eine Fülle von Themen, die technisch geprägt waren. Auch die Finanzierung wird von ihnen beeinflusst. Langfristig könnten wir uns auf »Rechtsberatung in technisch geprägten Branchen« ausrichten – so meine Überlegung. Aber auch für eine Spezialisierung braucht man eine kritische Größe, die es erlaubt, Aufträge aus anderen Bereichen abzulehnen. Diese Größe hatten wir 1990 noch bei weitem nicht erreicht. Im Gegenteil: Wir drohten sie kurzfristig zu verlieren, jede Fusionswelle gefährdete unser Geschäftsmodell.

Dazu die internationale Situation: Unsere Erfahrungen in England, den USA und Japan hatten uns gezeigt, wie wichtig internationale Beziehungen sind und wie aufwändig es ist, sie zu pflegen. Ein Boutiqen-Konzept für zwölf Anwälte wäre auch deshalb nicht infrage gekommen, weil wir in allen oben genannten Sektoren weitere Rechtsgebiete (Gesellschaftsrecht/Arbeitsrecht et cetera) anbieten mussten, um die Mandanten zu binden. Über diese strategischen Fragen mussten wir schnell entscheiden: »Mir scheint der Zug im Moment schneller zu fahren, als wir laufen können. Das Wachstum der ganz großen Kanzleien ist im Verhältnis zu uns mit Sicherheit überproportional … wir müssen gezielt von uns aus aktiv werden und nicht wie bisher darauf warten, als schlafende Braut wach geküsst zu werden … Mein Schluss ist also, dass alles für die Spezialisierung spricht«, schrieb Reinhard Dallmayr in einem internen Memorandum. Eine Fusion würde uns vielleicht die Chance dazu bieten.

4.1.3. Peters & Schönberger

Als Erstes sprachen wir mit Peters & Schönberger. Reiner Ponschab kannte sie von Peat Marwick (jetzt KPMG), wo sie 1979 ausgeschieden waren und sich selbstständig gemacht hatten. Schwerpunkt: Steuerrecht. Wir verhandelten an einem gläsernen Konferenztisch im italienischen Design, der auch in unserem Büro stand (und noch steht). Wir hatten ihnen bei ihrer Gründung die Mailänder Adresse des Herstellers und auch ein paar andere nützliche Einrichtungstipps gegeben. Unsere kleine Steuer- und Wirtschaftsprüfungsabteilung hätte gut da hineingepasst und die ganze wirtschaftsrechtliche Seite hätten wir mitbringen können. Aber die Partner spürten auf beiden Seiten, dass wir zu wenig Erfahrung in der Zusammenarbeit zwischen Steuerberatern, Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern hatten. In den Gesprächen wurde uns klar, dass die Möglichkeiten für interne Empfehlungen zwischen Rechtsanwälten und Steuerberatern bei weitem nicht so einfach zu handhaben sind, wie man sich das denkt. Und irgendwann bekam ich auch eine leise Ahnung davon, dass die Frage, wie das Büro geführt werden sollte, nicht leicht zu klären war. Büros, deren Schwerpunkt im Steuerrecht liegt, haben immer klare Hierarchien, die Anwälte in den Wahnsinn treiben können. Die Tatsache, dass jemand Steuerberater und Rechtsanwalt ist, ändert daran nichts. Es kommt auf den Schwerpunkt seiner Tätigkeit an. Bei uns wurden auch die jüngeren Anwälte in die meisten Entscheidungen miteinbezogen – für einen Steuerberater undenkbar. Irgendwann sagte mal einer der Peters-Partner: »Ich will mit niemandem darüber diskutieren, welche Felgen an mein Auto kommen« – da sah man Empfindlichkeiten, die man außerhalb Münchens schwer finden kann: Hier wird genau darauf geachtet, was einer für Felgen an seinem BMW hat (Preisdifferenz zwischen 400 € und 2000 €!).

4.1.4. Bach & Langheid

Köln und München (gefolgt von Wiesbaden) sind die Hauptstädte der Versicherungsindustrie. Fast 70 % der (damals: 280) Gesellschaften hatten hier ihren Hauptsitz. Bach & Langheid, gegründet 1911, war mit sechs Anwälten halb so groß wie wir. Dr. Peter Bach, der das Büro 1978 übernommen hatte, war in der Versicherungswirtschaft auf hohem Niveau bestens vernetzt: Die Sozietät vertrat etwa 60 Versicherungsgesellschaften – ein Marktführer, der auch bundesweit bemerkt wurde. Theo Langheid war einer der bekanntesten OLG-Anwälte in Köln, ein herausragender Prozessrechtsspezialist. Reinhard Dallmayr, der bei uns die entsprechende Abteilung aufgebaut hatte, kannte beide persönlich. Wir tauschten Informationen aus und setzten uns in München zusammen.

Es war klar, dass wir nicht 75 % unseres Umsatzes aus dem Fenster werfen könnten, in der Hoffnung diesen Ausfall durch versicherungsrechtliche Mandate ausgleichen zu können. Wir setzten stattdessen auf das Branchenmodell: Ein klarer Schwerpunkt in der Versicherungsbranche würde zeigen, dass wir das nötige Hintergrundwissen hatten, und darauf könnten die einzelnen Abteilungen aufbauen: Jede Versicherung hat Computerprobleme, sie handelt mit Grundstücken, ist mit arbeitsrechtlichen Schwierigkeiten konfrontiert usw. Schrittweise könnte man so die Schwerpunkte verschieben.

Der Schwerpunkt des Kölner Umsatzes lag im Prozessrecht, und die Kölner waren pessimistisch, ob die Versicherungsgesellschaften Kompetenzen auf anderen Gebieten ernst nehmen würden. Sie kannten den inneren Aufbau der Konzerne sehr gut: Die einzelnen Schadensabteilungen operierten ganz unabhängig voneinander, der Akquisitionsweg war im Grunde genauso mühsam, als wäre man außerhalb des Versicherungsrechts tätig. Sie kannten auch ihre Konkurrenten, die die Versicherungsgesellschaften z. B. im Gesellschaftsrecht berieten. Das waren die großen Namen, die auch genügend Wissen um die Branchen hatten. Ich war viel optimistischer, aber hatte keine überzeugenden Argumente an der Hand. Etwas später führten wir noch ein Gespräch mit dem New Yorker Büro Wilson Moskovicz, die der Sozietät Bach langjährig verbunden waren, um zu sehen, wie es um Synergie-Effekte im internationalen Bereich bestellt sein könnte. Thomas Cherry erläuterte (auf Deutsch) überzeugend die Nischenpolitik, die auch dort betrieben wurde – man hat sie allerdings in den nächsten 20 Jahren aufgegeben: Heute sieht sich Wilson Elser als full-service-firm mit versicherungsrechtlichem Schwerpunkt. Cherry hob vor allem hervor, bei ihnen würden die jungen Anwälte nicht wie »Champignons« behandelt: im Dunkeln halten und immer neuen Aktenmist draufschütten! Die Unternehmenskultur hätte also gestimmt, aber der Rest eben nicht.

Reinhard Dallmayr war aus seiner Perspektive völlig zu Recht anderer Ansicht. Ende 1990 eröffnete er Bach, Langheid & Dallmayr in München, die Sozietät hat heute über hundert Anwälte in fünf Niederlassungen und gewann 2003 und 2010 den JUVE-Award für Versicherungsrecht.

Uns haben diese Gespräche intern erheblich wachgerüttelt. Hier meine abschließende Bewertung: »Wir stürzen uns auf jedes neue Rechtsgebiet und lassen es ebenso schnell wieder fallen. Wir bieten unseren Mandanten keine Produkte an, sondern rechtliche Beratung in einer ziemlich unspezifischen Form. Im Bild gesprochen: Wir bieten Mehl an, obwohl wir eigentlich Semmeln anbieten müssten …«

4.1.5. Haarmann & Hemmelrath

Die nächste Gesprächsrunde gab es im März 1991 in Bogenhausen. Haarman & Hemmelrath hatten wissen lassen, dass sie sich strategisch mit Anwälten verstärken wollten. Während Peters & Schönberger sich nicht sicher waren, ob das eine richtige Strategie ist, waren Wilhelm Haarmann (41) und Alexander Hemmelrath (37) – ihre Nachfolger bei der KPMG – fest von diesem Ansatz überzeugt. Ihr Geschäftsmodell war die Entwicklung von Steuerkonzepten für Fonds und das Design anspruchsvoller Transaktionen. Ihre Beratung drehte sich um einen Kern von definierten Beratungsprodukten, deren standardisierter Inhalt jeweils individuell angepasst werden konnte. Wenn man das mit hohen Festpreisen kombinierte, war der Ertrag erheblich größer als im herkömmlichen Modell der Stundensätze. Mit dieser Strategie hatten sie – relativ junge Leute – in nur drei Jahren ein Unternehmen mit Zweigniederlassungen in Düsseldorf und Berlin hingestellt, das sich sehen lassen konnte. Wir waren in 17 Jahren nicht so weit gekommen.

In den nächsten Jahren sollten Haarmann & Hemmelrath sich zu einer der größten Sozietäten in Deutschland entwickeln. Nach dem Abbruch unserer Gespräche waren wir auf dem Verteiler befreundeter Korrespondenzanwälte geblieben und erhielten alle sechs Monate eine Broschüre, in der die neuen Partner vorgestellt wurden. In manchen Jahren war das ein dickes Buch. Am Ende hatte das Unternehmen 650 Berufsträger, davon 350 Anwälte in Europa und Asien. Eine Handvoll Tochtergesellschaften, die sich der Unternehmensberatung usw. widmeten, arbeiteten mit ihnen zusammen.157 Kein deutsches Büro hat eine so internationale Aufstellung gewagt. 2003 betrug der Umsatz 145 Millionen €.

2004 wurde das Büro zu Unrecht mit einem Kunstfehler im Bereich der steuerlichen Gestaltung konfrontiert und auf Schadensersatz zwischen 360 Millionen und 480 Millionen € verklagt. Daraufhin verließen viele Partner das Büro, das 2005 liquidiert werden musste. Auch die Gründer trennten sich. Der Liquidator verklagte den Mandanten, der vergleichsweise im Oktober 2009 vermutlich ca. 10 Millionen € Schadensersatz wegen der falschen Anschuldigung bezahlt hat. Vermutlich gab es Probleme beim Nachweis der Kausalität zwischen der fehlerhaften Anschuldigung und dem Auseinanderbrechen der Sozietät. Sie war (auch) zu schnell gewachsen.

Diese Entwicklung konnte man 1990 nicht ahnen. Wir saßen den beiden Gründern im Gespräch gegenüber, tauschten alle nötigen Informationen aus und verabschiedeten uns freundlich. Ich bin ziemlich sicher: Unser General-Practice-Ansatz hat ihnen nicht gefallen. Wir hätten spezialisierter sein müssen, um rechtliche Beiträge in den Bereichen zu leisten, der ihren strategischen Zielen entsprach. Zu der Frage, wie man eine mittelgroße Sozietät in das Gesamtkonzept hätte einfügen sollen, sind wir nicht gekommen. Einen Staat im Staate hätten sie wohl auch nicht toll gefunden.

4.1.6. Rädler Raupach

Einige Wochen später sprachen wir mit Rädler & Raupach, ebenfalls Steuerexperten, die sich später mit Bezzenberger (Berlin) und 1995 mit Oppenhoff zusammenschlossen, dann aber trennten, als diese mit Linklaters fusionierten. Hans-Joachim Holzapfel empfahl uns immer wieder in einzelnen Sachen, die außerhalb ihrer Interessengebiete lagen. Aber auch hier blieb das Gespräch unverbindlich.

4.1.7. Pünder Volhard Weber

Pünder hatte durch seine schnelle Fusion mit Axter (Düsseldorf) gezeigt, dass dort ein großes Interesse an strategischen Entwicklungen bestand. Wir hörten, dass sie sich auch für München interessierten und wurden von befreundeten Partnern zu Gesprächen in Frankfurt eingeladen. Die Führung durch das Büro zeigte mir, dass man sich hier in allen Details an den US-amerikanischen Büro orientierte. Man fühlte sich wirklich wie in New York: Die Computer standen in klimatisierten Räumen, es gab eine Pantry für die Anwälte, wir sahen beeindruckende Bibliotheken. Die Gespräche mit den jüngeren Partnern folgten dem üblichen Schema. Dann betrat Rechtsanwalt und Notar Dolf Weber (54) den Raum. Er gehörte zu den Gründungspartnern der Sozietät (1969), die von Anfang an international aufgestellt war. 1975 hatte er große englische Immobilienfirmen, darunter Jones Lang Wootton, in den deutschen Markt begleitet und dazu gemeinsam mit Rüdiger Volhard und Wolfgang Usinger einen englischsprachigen Führer durch das deutsche Immobilien- und Steuerrecht geschrieben (»Real Estate ist ein Finanzprodukt«). Pünder dürfte an den meisten Hochhausbauten in Frankfurt beteiligt gewesen sein, die heute das Stadtbild prägen. Danach hatte Weber sich den ausländischen Märkten zugewandt: Die erste Niederlassung eines deutschen Büros in New York (1984) hat er persönlich geführt, 1985 – noch vor den Engländern – die erste Niederlassung eines europäischen Büros in Peking durchgesetzt.

Er blieb im Türrahmen stehen und sofort verstummten alle Gespräche. Dann erhob sich einer der jüngeren Partner und stellte uns vor. Erneutes Schweigen. »Aber nun sprechen Sie doch, meine Herren, damit ich wenigstens ihre Stimme höre«, sprach Weber – man fühlte sich wie unter Blinden –, aber das ermunterte keinen, bis Justin sich zusammenraffte und einen kurzen Überblick über unsere Gespräche gab. Das wäre nun wirklich Sache der Pünder-Leute gewesen, aber aus denen war kein Wort herauszuholen. Die persönliche Begegnung mit ihrem Seniorpartner hatte sie versteinert. Offenbar ein seltener Vorfall. Auch wir fuhren stumm zum Flughafen. Die Idee, das Münchner Büro auf diesen Stil einzuschwören, wollte niemand ernsthaft diskutieren. Nach der Landung in München setzte Gunther sich neben den Fahrer und gab ihm eine klare Ansage: »Rheinpfalz«.

Pünder wuchs mit großer Schnelligkeit in Größenordnungen, die wir uns bei unseren Gesprächen nicht hätten vorstellen können. Wir hatten nur eine große Sozietät für Immobilienrecht gesehen, die einen ähnlich strukturierten Standort in München hätte brauchen können. Tatsächlich waren sie aber schon damals viel breiter und internationaler aufgestellt: Erweiterungen in Düsseldorf und in Berlin folgten, dann wurde die Pünder Group gebildet (Wien, Paris, Niederlande) und schließlich folgte die Fusion mit Clifford Chance und Rogers & Wells (New York) – heute mit etwa 5000 Berufsträgern der weltweit größte Anwaltskonzern. 2004 erlosch der Name Pünder.

Nach all diesen Gesprächen war uns klar geworden: Wir mussten unseren Weg allein gehen und versuchen, ein eigenes Profil im Markt zu entwickeln, und das bedeutete als Erstes: analysieren, welches Profil wir jetzt schon hatten. Die Gespräche hatten uns nämlich deutlich gezeigt, wie unterschiedlich die jeweiligen Unternehmenskulturen und Strategien waren. Obwohl man anderen Anwälten fast täglich begegnet, hat man nur sehr selten Einblick in die inneren Strukturen einer Sozietät. Auch in unseren Gesprächen waren sie uns nicht deutlich geworden, aber die Unterschiede waren klar zu spüren.

Wir mussten uns aus München heraus in den Markt erweitern, und da wir schon einige Erfahrungen in Weimar gesammelt hatten, lag es nahe, eher nach Berlin als z. B. nach Frankfurt oder Düsseldorf zu gehen.

4.2. Anwalt in Berlin

Berliner Wasserwerk
Berliner Wasserwerk

»Das Teufelspack, es fragt nach keiner Regel wir sind so klug – und dennoch spukt’s in Tegel.«
J.W. von Goethe, zeitweise Rechtsanwalt in Frankfurt/Main
Faust I, Walpurgisnacht

Das Weimarer Büro überließen wir den dort tätigen Rechtsanwälten, die Steuerberater behielten ihre Niederlassung. Wer sollte nach Berlin gehen? Sollten wir uns mit einem örtlichen Büro zusammentun? Aus vielen Gesprächen, die ich mit Kollegen aus überörtlichen Sozietäten in der Zwischenzeit geführt hatte, war mir eines klar: Man muss in erster Linie darauf achten, die Unternehmenskultur des Hauptbüros in die Niederlassungen hinüberzuretten, sonst entstehen Differenzen, die man in einer Krise nicht mehr überbrücken kann. Das konnte nur einer der Partner machen. Die anderen Partner hatten noch Kinder in der Schule, meine beiden Töchter waren schon im Studium.

Zu den beruflichen Überlegungen kamen auch persönliche. Berliner Straßenszenen sind ein wilder Gegensatz zu der eleganten Münchner Innenstadt, in der man geradezu von der Straße essen kann. Berlin ist anders: Hier kann man weder mit seiner Herkunft, seiner Eleganz, seinem Geld oder seiner Bildung irgendwelchen Eindruck hinterlassen. Wer mit seinem Porsche-Cabrio durch Kreuzberg fahren oder dort gar parken will, kann in der nächsten Kneipe gleich vorsorglich das Schadensformular seiner Versicherung ausfüllen. Das frühere Bürgertum war aus der Stadt verschwunden, aber auch in den Zwanzigerjahren, als es den Ton angab, gehörte es zum guten Ton, zu reden wie ein Pferdekutscher. Max Liebermann pflegte diese Attitüde besonders gerne. Vermutlich konnte er Hochdeutsch sprechen, tat es aber nie und freute sich daran, seine Kunden herunterzuputzen (vielleicht ist das für Porträtmaler typisch, denn Lucian Freud leistet sich den gleichen Spaß). »Machen Sie das Bild nur recht ähnlich, lieber Meister«, sagte eines Tages eine ältere Dame, die für ihn Porträt saß. »Wenn ick det mache, erkenn’ se Ihnen nich wieda«, war die Antwort. Den Hamburgischen Bürgermeister Petersen, eine würdige Gestalt, malte er so ähnlich, dass die Familie sich weigerte, das Porträt aufzuhängen. All das fand ich sehr interessant.

Zudem hatte ich auch politische Gründe, 1992 nach Berlin zu gehen: Diese einmalige Chance, die Grenze zwischen Ost und West jeden Tag ein kleines Stück niederzureißen, wollte ich mir nicht entgehen lassen.

4.2.1. Der Berliner Anwaltsmarkt

Vom Herbst 1991 bis Mitte 1992 war ich ständig zwischen München und Berlin unterwegs. Die Wohnungssuche war nicht schwer. Schon am ersten Wochenende stießen wir auf den Getränkegroßhändler Horst »Ick koof bei« Lehmann: Der hatte als Zwölfjähriger Mineralwasser von seinem Fahrrad aus verhökert, hatte jetzt eine ordentliche LKW-Flotte am Laufen und steuerte das Ganze aus der typischen Villa im Grunewald, dem Haus auf Sylt und einer Yacht, die irgendwo im Mittelmeer dümpelte. Sie hing in Öl gemalt hinter seinem Schreibtisch. Selbstverständlich war er – wie nahezu alle Leute, die in Berlin Geschäfte machen – daneben auch in Immobilien tätig. Er bot uns eine Wohnung in der Carmerstraße an. Das war in mancher Hinsicht ein gutes Zeichen: Zum einen lag da meine alte Studentenkneipe, die Dicke Wirtin, zum anderen heißen viele Straßen in dieser Ecke nach berühmten Juristen: Der Platz hieß nach Friedrich Carl von Savigny, die Straße nach dem preußischen Justizreformer Johann Heinrich von Carmer (1720–1801), und wenn man die Beiträge Immanuel Kants zur Rechtsphilosophie betrachtet, dann gehört er auch in diese Reihe.

Anfangs führte ich einige Gespräche mit Kollegen, die wir als Korrespondenzanwälte kannten. Die Szene in Berlin kannte ich besser als in anderen Städten. Schul- und Studienfreunde wie Michael Ruland und Paul Hertin waren hier Anwälte. Gelegentlich erhielt ich in München Mandate aus dem Wirtschaftsstrafrecht, für die man einen Verteidiger brauchte, der mit der Berliner Nomenklatura nichts zu tun hatte. Es wäre unter vielen Gesichtspunkten attraktiv gewesen, eine gute Bürogemeinschaft (möglichst mit Notariat) zu finden. Aber was ich sah, konnte mich nicht überzeugen.

Die Insellage der Stadt hatte zu einer unterschiedlichen Entwicklung der einzelnen Sozietäten geführt. Hier war der Anteil der Einzelanwälte noch weit höher als im Westen, und sie mussten schon deshalb General Practice betreiben, weil sich der Markt kaum entwickeln ließ. Viele Berliner Anwälte waren gleichzeitig Notare, denn das wurde man nach zwölf Jahren, wenn man einen Antrag stellte. Die meisten taten das, aber außerhalb der Bautätigkeit und der paar Gesellschaftsgründungen und Testamente war nicht viel zu tun. Ein bayerischer Notar, der ohne weiteres tausend Urkunden im Jahr bearbeitet, betrachtete die Berliner Kollegen – von wenigen Spezialisten abgesehen – als Amateure.

Von dieser großen Masse hoben sich einige Büros ab. In Berlin amtierte das Bundeskartellamt und so entwickelten sich neben Bezzenberger einige Kartellpraxen, die GEMA zog Urheberrechtler wie Nordemann an, Peter Raue hatte einen großen Ruf in der Kunstszene, Wegener vertrat den ADAC. Aber auch diese Büros arbeiteten erheblich entspannter, als man das in Hamburg, Düsseldorf oder Frankfurt gewohnt war. Ab 17.30 Uhr der Anrufbeantworter – da geht man in Frankfurt in die Nachtschicht. Wenig Englisch. Anwälte wie Wolfgang Usinger, der für Pünder Volhard Weber 1990 als einer der Ersten von Frankfurt nach Berlin kam, brachten nicht nur ihre Mandanten, sondern auch erhebliches Know-how im Management mit. Und viele von ihnen waren Notare! Den renommierten Berliner Büros blieb schon sehr kurzfristig kaum etwas anderes übrig, als mit den Westdeutschen zu fusionieren, um so ihre Mandanten halten zu können. Nur wenige (z. B. Knauthe) sind unabhängig geblieben.

Die Suche nach einer Bürogemeinschaft erledigte sich am Ende von selbst: Als unsere Steuerberater ebenfalls in Berlin eröffneten, ergab sich die Zusammenarbeit mit ihnen von allein. Wir eröffneten gemeinsam am Gendarmenmarkt in einem Bürohaus, das früher der Ost-CDU gehörte.

4.2.2. Filz auf der Insel

Man hat der Stadt ihren Filz oft vorgeworfen, aber er hat sich ganz einfach aus der Insellage entwickelt: Alle Politiker kannten sich gegenseitig; sie waren sich schon im Kindergarten oder spätestens auf den Schulen oder in der Universität begegnet. Wer dann am Ende für welche Partei in den Ring trat, war angesichts vieler persönlicher Freundschaften ganz gleichgültig. Partner von Karl-Heinz Knauthe, einem führenden Kopf der FDP, war auch der SPD-Bausenator Klaus Riebschläger usw. Immer wieder hat man versucht, dieses Biotop mit Frischwasser aufzufüllen – in den Sozietäten und den Unternehmen ist es gelungen, auf der politischen Ebene nicht. In dieser Millionenstadt kannte sich in gewissen Branchen wirklich jeder.

Das wirkte sich vor allem in den großen Bauskandalen der Achtzigerjahre aus.158 Die Stadt übernahm unsinnige Bürgschaften für unsinnige Projekte der Architektin Sigrid Kressmann-Zschach, Baustadtrat Wolfgang Antes war von einem Bordellbetreiber mit dem schönen Namen Otto Schwanz bestochen worden, Bausenator Schwegler trat zurück, die Kommanditisten des Kudamm Karrée, des Forum Steglitz hatten zu leiden und jeder wusste: solche Bauvorhaben werden erst nach dem zweiten Konkurs stabil. Scheinblüten: Kressmann-Zschach baute ab 1962 ein Büro mit 300 Mitarbeitern auf und war 1973 insolvent. Der Steglitzer Kreisel steht heute leer und weil er asbestverseucht ist, kann man ihn nicht einmal abreißen.

Danach zog die Stadt die Zügel an und erlaubte fast gar nichts mehr, was die Berliner Traufhöhe überschritt. Ein bedeutendes Hochhaus sollte schon 1985 im Charlottenburger Kant-Dreieck entstehen, aber die Sorge vor Skandalen war so groß, dass man es nach zehn Jahren Kampf 1994 nur vier Stockwerke niedriger genehmigte. Da sieht es – eingeklemmt zwischen der S-Bahn-Linie und dem Theater des Westens – nun aus wie ein doppelbeinamputierter Hochspringer und die schöne Kleihues-Fassade hilft ihm bis heute nichts.

4.2.3. Junge Kollegen im Kollektiv

Ich hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, sehr schnell Berliner Mandanten zu finden – das würde erst mittelfristig möglich sein. Deshalb brachten wir einen Großteil der Arbeit aus München mit, überwiegend Immobilienentwickler, die begannen, hier zu investieren. Unser erstes Büro lag am Gendarmenmarkt und jeden Tag bin ich vom Westen mit der S-Bahn hoch über den Baustellen von Pollems, den holländischen Grundwasserspezialisten, gefahren, die die Fundamente des Bundeskanzleramtes legten – die »Waschmaschine«. Nach einigen Monaten suchte ich einen jungen Kollegen. Die Bewerbungen waren äußerst dürftig. Offenbar kauften die großen Büros den Markt leer. Schließlich bewarb sich ein junger Anwalt, der bisher die rechtlichen Angelegenheiten eines Bauunternehmens betreut hatte, also wenigstens Branchenkenntnisse mitbrachte. Am Donnerstag sollte er anfangen. Ich kam an diesem Tag aus München, war um 9.30 Uhr im Büro und sehe den Nachwuchs mit den Füßen auf dem leeren Schreibtisch im Tagesspiegel lesen. Er wedelte mit dem Wirtschaftsteil, um zart anzudeuten, dass er sich gerade mit der wirtschaftlichen Lage Berlins auseinandersetze. Ich ging wortlos wieder raus und bat meine Bürovorsteherin, ihm einen Stapel Akten auf den Tisch zu legen, die er selbst offenbar nicht gefunden hatte. Und dann kam er tatsächlich zwei Stunden später und fragte mich, was er in den einzelnen Sachen tun sollte. Ich sagte ihm: »Am besten nehmen Sie sich Ihre Zeitung und lesen sie zu Ende.« Mit der entsprechenden Abfindung verschwand er. Immer wieder macht man die Erfahrung: Juristen, die nicht schon sehr früh in Anwaltsbüros sozialisiert worden sind, verstehen die Art der Arbeit nicht. Anwälte bekommen keine Arbeit, sie müssen sie sich suchen. Draußen ist sie schwer zu finden, aber in jedem Anwaltsbüro liegen dutzendfach Probleme herum, von denen die Mandanten froh wären, wenn jemand sie lösen wollte. Ich dachte wehmütig an einen unserer Münchner Werkstudenten, Alexander Kraushaar, der eines Tages in der Zwangsvollstreckung aufräumen sollte. Die Sekretärin erzählte ihm, sie ärgere sich jeden Tag über die Yellow Press, in der ein prominenter Barbesitzer mit großen Sprüchen auftauche, der einer ihrer liebsten Schuldner sei: »Seit Jahren zahlt der nix, und wenn er die Hand heben soll, treibt er sich in Mallorca rum.« Am nächsten Tag blätterte der Student ihr stumm 200 DM auf den Tisch. Er war zur Happy Hour hingegangen, legte vor aller Augen eine Kopie des Titels auf den Tresen und kündigte an, er werde am nächsten Tag mit dem Mandanten und am darauf folgenden mit dem Gerichtsvollzieher herkommen, um den Fall an der Bar zu erörtern. Um auf so eine Idee zu kommen, muss man kein Brucheinser-Jurist159 sein. Vermutlich ist es sogar hinderlich.

Zwei Wochen später kündigte die Bürovorsteherin, weil sie ein wirklich gutes Angebot eines Notarkonzerns (sechs Notare – in Bayern auch nicht möglich!) erhielt, der fast das doppelte Gehalt zahlte. Es blieb die Auszubildende, eine aufgeweckte Abiturientin aus dem Osten, und ich blieb erst einmal allein und war mein eigener Chef, frei von vielen Bindungen einer größeren Sozietät. Die Freiheit des Dschungels.

Was das bedeutete, war bald zu merken: Alle meine Mitarbeiter kamen aus dem Osten (im Westen gab es wie üblich keine), und so gewöhnte ich mich als Erstes daran, jeden Morgen alle Mitarbeiter mit Handschlag zu begrüßen, wie es in den volkseigenen Betrieben üblich war. Als ich Vorschläge für die Weihnachtsfeier machte, entstand erst einmal eine bedeutungsvolle Stille und dann sprach der Dienstälteste, ein Bürobote: »Det woll’n wa ma im Kollektiv besprechen.«

Graswurzel-Politik, alles immer von unten nach oben! Ich war gerührt und erinnerte mich an einen Satz aus dem kleinen roten Buch von Mao Tse Dong, den wir Ende der Sechziger gern zitiert hatten, um die Autoritäten in ihre Schranken zu weisen: »Der General lehrt den Soldaten, der Soldat lehrt den General und jeder Soldat lehrt jeden Soldaten.« In den »Arbeitsmethoden des Parteikomitees« vom 13. März 1949 schreibt er: »Auch falsche Ansichten, die von unten kommen, muss man sich anhören; das kategorisch abzulehnen, wäre unrichtig. Man soll sich nicht schämen, Menschen niederer Stellung zu befragen und von ihnen zu lernen.« Uns hatte diese Parole damals nichts genützt, aber in Honeckers Sozialismus-Museum gab es offenbar noch Reste davon. Die Chinesen hatten sie längst vergessen.

Diese Idylle hielt einige Monate, aber dann ging ich daran, das Büro wieder professionell aufzubauen. Als Erstes brauchten wir einen Fachmann für die Computer, möglichst gleichzeitig Jurist. Markus Frank hatte beide Qualifikationen, er stand schon im Examen. Besonders wertvoll aber war, dass er den Umgang mit Computern vor seinem Studium als Pfleger auf der Intensivstation des Humboldt-Krankenhauses gelernt hatte. »Läuft das auf Medizinrecht hinaus?«, fragte ich ihn und er wehrte heftig ab: Kranke wollte er nicht mehr sehen. »Aber um die Neurotiker werden sie nicht herumkommen!«, warnte ich. Unter Anwälten wurde ihm bald klar, dass die meisten Krankheiten die Leute demütig machen, die meisten Rechtsprobleme aber aggressiv. Und dass unsere Patienten als Erstes in die helfende Hand beißen.

1993 wurde der Gendarmenmarkt zur Baustelle und versank im Schlamm. Gleichzeitig gab es mehr und mehr Arbeit. Ich erhielt Markus Schmidt als Verstärkung aus München. Um ihm die besondere Berliner Stimmung handgreiflich zu vermitteln, zeigte ich ihm die seltsame Kneipe Klo (Leibnitzstraße), wo man aus Gefäßen, die man sonst nur auf der Toilette trifft, Bier trinkt und in einer bestimmten Ecke regelmäßig einen Gummihammer auf den Kopf bekommt. Wer diesen brutalen Test aushält, ist der Stadt auch im Übrigen gewachsen. Schmidt (heute: tcilaw) blieb und zog Alexander Kraushaar nach, den er dem gleichen Test unterwarf. Später kamen noch Torsten Schein (heute: Deutsche Bahn) und Norman Müller (heute: tcilaw) dazu. Er war erst Softwareentwickler bei der DDR-Marine gewesen und hatte dann Jura studiert – für unsere computerrechtlichen Interessen eine gute Ergänzung. Heike Röder, unsere erste Auszubildende, wechselte nach ihrer Prüfung ins Jurastudium und arbeitete parallel bei uns.

Wir zogen in den Westen, zahlten unvorstellbare Mieten, und hatten so viel zu tun, dass ich mich wenig um das Management kümmern konnte. Bei der Jahresinventur entdeckte ich im Vorratsraum für Büromaterial eine halbe Tonne Toilettenpapier, die gewiss für die nächsten zwanzig Jahre gereicht hätte. Mir war das gar nicht aufgefallen. Warum so viel? »Wer weiß, wann es wieder welches gibt!«, meinte die Sekretärin, die ihre Erfahrungen aus der DDR-Zeit zu nutzen wusste – was soll man da sagen? Vielleicht hätte ein Betriebsausflug in die Lagerhallen einer Toilettenpapierfabrik in Buxtehude geholfen. Langsam veränderte sich das Büro.

4.2.4. Stuhlurteile

So war es auch bei den Gerichten. Die meisten Richter und Staatsanwälte stammten jetzt aus Westberlin, denn wer in der DDR Richter gewesen war, hatte immer wieder problematischen Entscheidungen nicht ausweichen können, die ihm jetzt vorgehalten wurden.160

Anderes änderte sich nicht: Westberlin hatte früher für jeden der großen Stadtteile ein eigenes Amtsgericht. Sie wurden jetzt auch im Osten eingerichtet und lagen weit auseinander, und wer zwei oder drei Termine bei den unterschiedlichen Gerichten hatte, war den ganzen Tag unterwegs. Deshalb saßen in den Anwaltszimmern junge oder ältere Kollegen auf Abruf. Man schickte ihnen die Akten dorthin »ins Kartell« – wie man im Rheinland sagt. Wenn man Glück hatte, warfen die Kollegen auch einen Blick hinein und ließen im Übrigen entweder »nach Sachlage« entscheiden oder vertagen. Das war in Berlin kein kleines Risiko, denn hier neigten die Richter schon im ersten Termin zu Stuhlurteilen: Es wird ohne viel Federlesens vom Stuhl weg entschieden, wenn der Richter Lücken im schlüssigen Vortrag entdeckt. Dahinter steckt die alte preußische Relationstechnik, die bis heute jede Reform des Zivilprozesses überdauert hat. Mir wurde das erst klar, als ich in einer meiner ersten Verhandlungen ein Rechtsgespräch anregte. »Worüber?«, fragte der Vorsitzende. »Über die Rechtslage«, schlug ich vor – und erntete beunruhigendes Schweigen. Der Vorsitzende sah mich an wie eine Steinlaus unter dem Mikroskop: »Noch Fragen?« Mein Berliner Kollege auf der anderen Seite wusste genau, wie die Regeln laufen, und schüttelte nur stumm den Kopf. »Dann ergeht im Namen des Volkes folgendes Urteil …«. Im Gespräch auf dem Gang erinnerte ich den Kollegen daran, dass die Richter doch gehalten seien, sich zum Fall selbst zu äußern. Anders könne man doch über Vergleiche gar nicht sprechen usw. »Bei unschlüssig jibts kein’ Vergleich«, meinte der Kollege trocken. Die Anwälte bekamen keine zweite Chance. Das war in München gemütlicher.

Entnervt ging ich in die Letzte Instanz (seit 1621), eine Kneipe, die gleich neben dem Gerichtsgebäude, der Bundesrechtsanwaltskammer und dem Deutschen Anwaltverein im Zentrum des juristischen Orkans liegt, und bestellte mir eine Verhandlungspause (Berliner Bullette + Pils) – hier schleicht sich der berühmte Berliner Witz sogar in die Speisekarte.

4.2.5. Immobilien, Treuhand, Insolvenzen

Nicht nur bei den Gerichten war das Geschäft mager und schwierig. Eine Computerindustrie gab es – von sehr wenigen Ausnahmen wie Robotron (Dresden) abgesehen – weder in Westberlin noch gar im Osten. Also kehrte ich zu meinem früheren Arbeitsgebiet, dem Immobilienrecht, zurück. Das reichte für die Auslastung des Büros, aber die wirklich schnelle Mark machten die Insolvenzverwalter und andere Anwälte, die sich bei der Treuhand als Liquidatoren bewarben. »Bis Ende Juli 1991, also dreieinhalb Monate nach dem Amtsantritt Breuels, sind 2986 Firmen für etwa 12 Milliarden Mark verkauft. Doch das Verzeichnis der Unternehmen und Immobilien, die noch loszuschlagen sind, hat 600 Seiten. 5 Milliarden Mark hat die Anstalt bereits für Sozialpläne ausgegeben, 32 Milliarden Mark Liquiditätshilfen in ihr sieches Firmenreich gepumpt. Insgesamt schließt die Treuhand etwa 38 000 Privatisierungsverträge ab.«161 Schon diese Zahlen zeigten: Da wurde viel heiße Luft bewegt und häufig von den falschen Leuten. Für die Liquidatoren gab es satte Honorare, denn sie wurden bezahlt wie die Insolvenzverwalter, weil niemand ein besserer Maßstab eingefallen war. Über die Art der Abwicklungen gab es Tausende Seiten Richtlinien, die sich zudem ständig änderten. Selbst der Direktor der Abteilung Abwicklung Ludwig M. Tränkner hatte nie einen Blick hineingeworfen: »Ich glaube, ich bin einer derjenigen, die die Richtlinien ihr Leben lang nicht gelesen haben. Dafür habe ich meine Mitarbeiter. … die sind mir zu lang und zu umfangreich. Ich weiß nicht, ob Sie sie mal gesehen haben, diese Bücher«, sagte er auf Frage des Abgeordneten Schily im Untersuchungsausschuss.162 Tränkner, ein früherer Journalist (unter anderem Bild-Zeitung), war durch Zufall an seinen Job gekommen. Eigentlich wollte er sich um die Parteizeitschriften in der DDR kümmern, aber weil der blaubärtige Mann bei seiner Vorstellung einen so energischen Eindruck hinterlassen hatte, bot man ihm einen Job an, den eigentlich ein Wirtschaftsprüfer hätte machen müssen. Zahlenmenschen dieser Art wollte man in der Treuhandanstalt aber ungern sehen. Um Tränkner scharten sich überwiegend bayerische Kollegen, die ich dort auf den Gängen des früheren Reichsluftfahrtministeriums an der Leipziger Straße traf. Einer von ihnen, auch ein Mann des Computerrechts, hatte auf die Schnelle Insolvenzrecht gelernt und in kurzer Zeit 47 Liquidationsaufträge übernommen. Das war eine Menge Arbeit, und er fand, das Honorar sei zu gering. Die Treuhandanstalt war anderer Meinung. Da holte er sich – ordnungsgemäß verbucht – zwischen Oktober 1994 und März 1998 ca. 33 Millionen DM Honorarvorschuss aus den Kassen seiner Unternehmen. Die Treuhandanstalt bemerkte es erst nach einer Sonderprüfung und erhob Anklage wegen Untreue. Seltsamerweise forderte sie aber das Geld nicht zurück. Über den Inhalt des Anspruchs wurde nie entschieden. Wohl aber folgte ein Strafurteil wegen Untreue, weil die Honorare vor formeller Fälligkeit entnommen wurden und so ein Zinsschaden von 1,7 Millionen DM entstanden war.163 Ein sauberes Ergebnis, aber was für unruhige Zeiten! Tränkner und Crew traf man abends oft im Wirtshaus Henne am Leuschnerdamm (seit 1928), da gab es Grillhuhn und fränkisches Dunkelbier wie im Augustiner, alles brechend voll – eine große Kontaktbörse. Früher sagte man, alle Berliner stammten eigentlich aus Breslau, in der Mauer-Zeit haben schwäbische Stämme sich breitgemacht, dann folgten die Rheinländer mit der Ständigen Vertretung. »Die Deutschen definieren sich immer noch über ihre Stammeszugehörigkeit, die Engländer über ihr Klassenbewusstsein«, hatte mir David Morley dieses Zusammenhocken in der Fremde erläutert. Tatsächlich konnte man beobachten, wie ein schwäbischer Ganove im Bereich der Treuhandanstalt Halle andere Schwaben nach sich zog, ein anderer aus dem Ruhrpott fand dort seine Helfer, die Thüringer standen machtlos daneben.164

Nach dem Mauerfall starteten wieder Variationen der alten Abschreibungsmodelle, die schon in den Achtzigerjahren in Westberlin für wüste Szenen zwischen Initiatoren, Vermittlern, Kommanditisten und Steuerbehörden gesorgt hatten. Der Staat öffnete erneut die alten Steuer-Schlupflöcher (die Abschreibung betrug etwa 240 % des Eigenkapitals), um danach die Anleger, die durch die Maschen liefen, für Verbrecher zu erklären, weil sie sie genutzt hatten. Das war eine neue Variante dieser klassischen Heuchelei, denn diesmal fühlten sich die Investoren durch ihren tapferen Beitrag zum Wiederaufbau moralisch gestärkt. Um das, was sie beim Start einstweilen sparen konnten (meist war es nur eine Steuerverschiebung), waren die Immobilien zu teuer. 30 % bis 40 % weiche Kosten waren die Regel: Das sind Kosten, die nichts mit der Immobilie und ihrer Substanz zu tun haben, sozusagen das Agio (zum Vergleich: Beim Kauf von Aktienfonds liegt es zwischen 1 Prozent und 5 %). Die meisten Investoren hatten minimales Eigenkapital, sie konnten also nicht finanzieren, sondern nur »eine Finanzierung darstellen«. Dieser schöne Begriff erinnert mich an eine Geschichte von Till Eulenspiegel, der den Koch eines edlen Restaurants ständig dadurch ärgert, dass er vor der Küchentür steht und dem Duft der gebratenen Filetsteaks nachschnuppert. »Das kostet einen Gulden!«, ruft der Koch und Till Eulenspiegel lässt das Geld sofort auf das Pflaster fallen und steckt es wieder in die Tasche: »Den Geruch zahle ich gern mit dem Klang des Geldes!« Diesmal waren es überwiegend westdeutsche Investoren, die in Berlin ihr Glück versuchten.

Wir begleiteten die Immobilienentwickler durch die Stadt. In der Gegend um Schönefeld pflasterten sie die Gegend mit Optionen zu, für den Fall, dass der Flughafen gebaut würde, denn keiner hätte das Geld der Stadt gehabt, die Grundstücke zu kaufen, bei anderen stellten sich die Bauern stur. Vergleichbares hatte ich schon 1972 im Büro Gritschneder erlebt, der die Gemeinde Neufahrn beim Kampf um den Münchner Flughafen vertreten hatte; und außerdem hatte ich vor Jahren im Blindflug eine Verfassungsbeschwerde um den Militärflughafen Memmingen gewonnen, weil die Lärmschutzlinien nicht richtig berechnet worden waren. Jetzt konnte ich diese alten Erfahrungen teilweise verwerten. Andere Investoren entwickelten große innerstädtische Flächen.

Es gibt eine alte Regel für Investoren: Man muss rein finanzielle Investitionen von unternehmerischen Engagements unterscheiden. Steckt man nur Geld in eine Sache, kann man es im schlimmsten Fall verlieren, den Schaden aber immer begrenzen. Tritt man als Unternehmer auf, kann man außer dem Geld auch sein Gesicht verlieren und muss sich in Krisenzeiten persönlich engagieren, vielleicht auch Geld nachschießen, denn wegen der persönlichen Haftungsrisiken, die es auch in der GmbH oder der AG gibt, kann man nicht jederzeit aus dem Projekt aussteigen. Daraus ergibt sich die zweite Regel: Bei unternehmerischen Engagements braucht man in Gesellschaften eine absolute Mehrheit der Stimmen, denn bei 50:50-Beteiligungen drohen Blockaden, und ist man Minderheitsgesellschafter, hat man das Risiko des Unternehmers, aber letztlich nichts anderes als eine finanzielle Beteiligung. Und schließlich die dritte Regel: Neue Projekte darf man nur mit Gesellschaftern machen, die man schon aus anderen Engagements kennt – sonst drohen Fehleinschätzungen und Kommunikationsprobleme!

In der Wendezeit wurden diese Regeln vergessen. Was haben sich damals für Gestalten als Unternehmer präsentiert! Wolfgang Schnur, Rechtsanwalt, Parteigründer, Kirchenfunktionär (IM Torsten), später wegen Konkursverschleppung verurteilt, versuchte sich in allen möglichen Maklergeschäften, Günther Krause, der mit Wolfgang Schäuble den Einigungsvertrag ausgehandelt hatte, war auch als Manager tätig (Offenbarungsversicherung 2001). Zu schwierigen Verhandlungen trat er mit seinen beiden riesigen Söhnen als Eskorte an – beide mit weißen Turnschuhen, und keiner wusste, warum die da rumsitzen. Die sollten vielleicht was lernen.

Als Anwalt entwickelt man einen Blick für solche Personen, noch bevor sie – wie es manchmal geschieht – in die Presse kommen. Man weiß, mit wem man arbeiten sollte und mit wem nicht. Ich traute mir diesen Blick zu, und war sehr im Zweifel, als mich eines Tages der »Vorstand einer Immobilien-AG« aus Düsseldorf um ein Gespräch bat. Ich hatte den Eindruck, er habe von seinem Geschäft keine Ahnung, und als ich ihn zur Tür begleitete, wo sein Fahrer wartete, hüllte er sich in einen bodenlangen pinkfarbenen Nerzmantel (Pelz außen!) und setzte seinen Borsalino auf. Es fehlte nur noch die Federboa. Gelegentlich zeigen sich ähnlich gekleidete Russen auf der Straße, richtige Immobilienmanager sehen anders aus. Am nächsten Tag kommt die Zeitung: Mandant und Fahrer sind nachts in ihrem Jaguar im Landwehrkanal versunken. Unweit der Stelle, an der man Rosa Luxemburg dort hineingeworfen hat. Das Lenkrad soll blockiert worden sein, da hatte vielleicht einer dran gedreht. Beide tot.

Bei professionell gemanagten Projekten gibt es solche Ereignisse nicht – dafür aber andere Überraschungen. Um große Objekte gruppierten sich Joint Ventures, die man im wahrsten Sinn des Wortes nur als gemeinsame Abenteuer betrachten kann. Schon vor der Wende war in Ostberlin ein großes Planungsgebiet, die Rote Freundschaft, ausgewiesen worden, und nun trafen sich fünf Investoren aus dem Westen, um daraus etwas zu machen. Neben meinem Mandanten traf ich auf italienische Architekten, einen Straßenbauunternehmer aus Bremen, diverse Banken, einen früheren Mitarbeiter des Senats, der die Subventionspraxis (und natürlich auch die richtigen Leute) kannte und last, but not least Artur Brauner (damals 77). Den kannte jeder, denn der Spiegel hatte ihm 1957 eine Titelgeschichte gewidmet, in der er genau erklärte, wie man mit geringen Mitteln zwanzig Filme im Jahr machen kann. Darunter ein Remake des Tigers von Eschnapur (Fritz Lang!), eine ganze Karl-May-Serie, unzählige Musikschnulzen – später aber auch Hitlerjunge Salomon. Den anspruchsvollen Filmen gehörte sein Herz, den anderen die Kasse.

In den Siebzigerjahren wurde es leise um ihn, er baute sich ein Immobilienimperium auf, überwiegend finanziert von der Bayerischen Hypotheken und Wechselbank, die nicht nur in Bayern die Risiken meist etwas lockerer sah als die Konkurrenz. Anwälte fand er nicht so gut, deshalb verhandelte er gern selber. Alle paar Monate trafen die Gesellschafter sich im Salon eines Berliner Hotels, Atze Brauner erschien unabhängig von der Jahreszeit im Hawaiihemd, um 10 Uhr wurde die Tagesordnung verlesen und ungefähr um 10.30 Uhr bekam er den ersten Wutanfall. Wegen irgendwas begann er zu brüllen. Als Maren Stötter (heute: Heuking) mich zum ersten Mal als Associate dorthin begleitete, war sie fassungslos. Wie sollte man da reagieren? Bevor die anwesenden Anwälte eine Entscheidung getroffen hatten, fing einer ihrer Mandanten an zurückzubrüllen, schon um ein Gleichgewicht herzustellen. Nach dieser Phase ging es dann ganz normal weiter. Ein Spiel eben. Wer es noch nicht kannte, verlor völlig sein Konzept, und das war das Ziel der Übung. Ich hatte wieder einmal etwas über Verhandlungstaktiken gelernt. Am Ende der Sitzung zog Atze aus seiner Aktentasche, die genauso alt sein musste wie er selbst, einen amerikanischen Strickschlips mit Silber-Dollar, legte ihn sich um den Hals und fragte alle Anwesenden freundlich lächelnd: »Chinese?« Denn im Hotel war es ihm zu teuer. Wer mitkam, durfte sich allerdings nicht eingeladen fühlen. Aber es konnte immer sehr unterhaltsam werden.

Auch aus solchen Szenen sind am Ende wider Erwarten nicht nur »beleuchtete Wiesen« – also leer stehende Infrastrukturflächen, wie wir sie heute vor allem in Spanien sehen –, sondern wirklich die blühenden Landschaften entstanden, die Helmut Kohl den DDR-Bürgern 1990 versprochen hatte. Alle hatten das als Metapher für eine aufstrebende Wirtschaft verstanden, aber das Schicksal hat Helmut Kohl wörtlich genommen: Überall, wo die Mauer oder alte Truppenübungsplätze beseitigt wurden, entstanden große Naturreservate, und gleichzeitig brach die Exportindustrie zusammen: Jetzt sollten die früheren Ostblockländer in harter D-Mark bezahlen, was früher über (halb so hohe) Verrechnungspreise (Transfer-Rubel) geregelt worden war.

Bevor sich all diese negativen Wirkungen einstellten, kauften sich die Leute das erste West-Auto, renovierten ihre Häuser und freuten sich über die nagelneuen Straßen, die sie jetzt bekamen. Alles Hardware. Die Frage, ob man sich nicht mehr der Beziehung zwischen den Menschen widmen sollte, ist nicht gestellt worden. Auch nützliche Einrichtungen, wie die Jugendklubs auf dem Lande, die ärztlichen Zentren und anderes, was als »Kollektiv« misstrauisch betrachtet wurde, ist ersatzlos verschwunden, obwohl einige dieser Ideen auch dem Westen nützlich gewesen wären.

Berlinerin, Nil Ausländer
Berlinerin, Nil Ausländer (1994)

4.2.6. Berliner als solche

Am Savignyplatz wohnten wir in einem der wenigen alten Häuser aus der Gründerzeit, verziert mit Orgien aus Stuck und einem »historischen Aufzug«, der seinem Namen Ehre machte. Dieses Haus konnte mit den schönsten Altbauten in Schwabing wetteifern. Im Erdgeschoss allerdings hatte sich die Cocktailbar Meyer Lanski’s ausgebreitet, eine Hommage an den bekannten Finanzchef der Mafia. Nur wenige Meter weiter an der Kantstraße krochen jeden Morgen Hunderte von Polen, Russen, Rumänen, dann aber auch Chinesen und Vietnamesen mit blau-weiß-roten Nylontaschen aus ihren Bussen und kauften – nein: keine Pelze, sondern Toilettenpapier und Reinigungsmittel. Sie hatten Sehnsucht nach Sauberkeit! Einige von ihnen stahlen sich allerdings an den Ku’damm zum Juwelier Sedlazek, der bald nicht nur russische Verkäuferinnen, sondern auch Bodyguards einsetzte.

Beim Radfahren am Wochenende suchte ich alte Plätze aus der Studentenzeit. Vieles hatte sich geändert. Pohlmann, eine riesige Eckkneipe an der Kantstraße, wo in den alten Zeiten die Rentner mit ihren Bierwärmern gesessen hatten (samstags Trachtenkapelle) war verschwunden – stattdessen gab es dort einen Bettenladen. Den Zwiebelfisch und die Paris Bar gab es noch und in der Rankestraße Wolfgang Gruners Kneipe, in deren Hinterzimmer die Stachelschweine ihre ersten Auftritte hatten. Am Lehniner Platz prangte jetzt die Schaubühne, berühmt durch die Arbeiten von Peter Stein und Klaus Michael Grüber. Gegenüber das Ciao, in dem sich die Berliner Immobilienmafia traf, alte Baulöwen, die da ihre Pranken auf die schlanken Beine der Asphaltgazellen legten (Straßenstrich war immer noch fast überall zugelassen), bei Heini Holl gab es in der Damaschkestraße die großen fetten Krautwickel, für Peter Scholl-Latour, den ich da bei Gelegenheit sah, offenbar eine Erholung nach den eleganten Abenden im Pariser Grand Véfour. Das sah also alles sehr vertrauenerweckend aus.

Helma, die die Stadt nicht kannte, war aufgeregt – wenn auch am Anfang nicht begeistert. Sie geriet schnell in das Wechselbad der Gefühle, in das einen Berliner Busfahrer stürzen können, wenn man versucht, da in sein Croissant zu beißen. (»Essen könn’ se draußen«). Dann wurde unser Auto, das in einem verschlossenen Charlottenburger Hinterhof stand, in einer Woche zweimal aufgebrochen und das Autoradio geklaut, das nichts wert war. Beim zweiten Mal haben die Junkies auch noch reingepisst. Da wollte sie gleich ihre Koffer packen. Aber kurz danach lehnte ein Busfahrer das Geld für die Kurzstrecke ab (»bis se det bezahlt ham, müssen se schon wieda raus«) und dann ließ ein anderer sie noch zwischen zwei Haltestellen aussteigen – Wunder über Wunder! Die Kassiererinnen an der heißen Theke bei Rogacki (seit 1928) – in der Stoßzeit mittags ein Job wie an der Walzstraße – waren nahezu immer so gütig und ausgeglichen, als hätten sie sieben Jahre an der Smaragdenen Felswand meditiert. Und schlimmstenfalls tröstete man sich ein paar Häuser weiter bei Wilhelm Höck (seit 1892) mit ein paar Bier und blickte versonnen durch den undurchdringlichen Zigarettenqualm auf die Zapfhähne, in denen bis heute die Einschusslöcher aus den letzten Kriegstagen erhalten geblieben sind. Die Berliner hatten wieder ihre Chance.

Man müsste sie wahrscheinlich unter Artenschutz stellen, denn die Stadt wird wie in alten Zeiten wieder mal von unzähligen Einflüssen überschwemmt.165 Da sind die Vietnamesen, die die Völkerfreundschaft noch 1987 nach Ostberlin getrieben hat, englische und amerikanische Anwälte, ein Haufen Lobbyisten, die polnischen Putzfrauen, Krankenpflegerinnen usw., die ganze Diplomatie aus 120 Ländern der Erde – und jede dieser Nationen hat ihre eigenen Restaurants und Laufmeilen. Die Russengegend um den Nollendorfplatz wird heute wieder von den Emigranten der Jahre 1986 besiedelt, die gleiche Gegend, in der Vladimir Nabokov 1920 gewohnt hat, nachdem die Familie aus Russland geflohen war. Die Zwanzigerjahre gelten als die große Zeit, weil die englischen und amerikanischen Einflüsse auf einmal sichtbar wurden, aber Christopher Isherwood hat sie im Wedding erlebt und hatte seine Zweifel.

4.2.7. Pflasterstrand

1992 meinten viele, die Stadt werde nur zehn Jahre brauchen, um ihre Insellage zu vergessen. Das habe ich für unrealistisch gehalten, aber jetzt, über zwanzig Jahre später, wird die Mauer von den Besuchern nicht mehr wahrgenommen. Unter den Linden und Friedrichstraße können jederzeit mit der Königsallee oder dem Kurfürstendamm mithalten (der jetzt eher ein bisschen verkommen ist). Auch die Bundesrechtsanwaltskammer und der Deutsche Anwaltverein wurden in neuen funktionsfähigen Gebäuden neben dem Landgericht in der Littenstraße (unweit des Alexanderplatzes) untergebracht. Wer noch die alten Hütten in Bonn kannte, wird kaum glauben, dass diese Institutionen auch »vor der Wende« schon funktioniert haben.

Und fährt man mit seinem Fahrrad durch die Schrebergärten, sieht man in Ost und West deutsche Fahnen, deutsche Schäferhunde und deutsche Gartenzwerge. Überall die Rasenmäher! Die amerikanische Flagge ist seltener geworden.

Diese Entwicklung sollte lange dauern. Noch 1996 gab es immer wieder skurrile Missverständnisse zwischen Ost und West. An einem schönen Sommerabend saßen wir mit Christoph Paulus, der zwei Jahre zuvor von Augsburg an die Humboldt-Universität berufen worden war, im Garten des »Pasta Basta« und waren guter Dinge. Neben uns Henriette, eine schwerhufige Feministin im Claudia-Roth-Look, die früher einmal mit einem Manager aus der Großindustrie verheiratet war – sie kannte also auch die Gegenseite! Jetzt arbeitete sie an einem »Frauentelefonbuch«: Es sollte Frauen, die für Frauen arbeiten in ihren besonderen fraulichen Kompetenzen eine hervorgehobene Plattform bieten. »Also z. B. eine Steuerberaterin, die nur Frauen als Kunden hat und mit Betriebsprüferinnen gemeinsam eine Häkelrunde veranstaltet, um das Klima zu verbessern?«, schlug ich vor – sie fand das eine interessante Idee, weil es ihr pervers erschienen wäre, darin die Gefahr einer Bestechung zu sehen: Frauen müssen unter allen Umständen zusammenhalten! Und genau in dieser Sekunde fuhr auf seinem Rennrad Bernhard Schlink vorbei, den Christoph mit beiden Händen zu uns winkte. Mit dem dicken Fahrradschloss um die Hüfte konnte man ihn in seiner Radlerkluft weder als Professor der Rechte, Kommentator des Polizeirechts oder Verfassungsrichter noch als den weltberühmten Schriftsteller identifizieren, der er seit einem Jahr auch noch war (Der Vorleser). 1992 war er aus Frankfurt / Main an die Humboldt-Universität gekommen. Er bestellte wortlos Wein, setzte sich und sprach kein Wort. Henriette, die nicht gesehen hatte, dass er auf dem Fahrrad gekommen war, musterte ihn kritisch und ruderte gewaltig, um ihn in die feministische Debatte einzubeziehen. Die Mode der Ossis fiel ihr ein, minolfarbene Anzüge bei den Männern, komische Anoraks bei den Frauen usw. »Sie müssen unter diesen schäbigen Textilien ja wahnsinnig gelitten haben!«, bemerkte sie zu Schlink, in dem sie offenbar einen Ost-Menschen sah, »gab es denn in den Intershops irgendwelche Westklamotten?« Wir alle hielten den Atem an, aber Schlink stieg blitzschnell auf das Spiel ein – für einen Schriftsteller offenbar kein großes Problem. In lebhaften Farben schilderte er nun die Tristesse der DDR in allen Fragen der Ästhetik und der Moden, wie er als Mann darunter gelitten usw. Nun wurde er auch mit dem Frauentelefonbuch vertraut gemacht und versprach, auch jenseits der Mauer auf das ambitionierte Projekt hinzuweisen.

Nicht nur in dieser Szene bildet die Mauer immer noch eine spürbare Grenze. So manche aus dem Westen machen immer noch einen Bogen um den Osten – und umgekehrt. Und von der Eleganz, die man in Städten wie Hamburg, Düsseldorf oder München findet, ist hier nicht viel zu spüren, denn jeder fünfte Berliner lebt von Hartz IV – das ist mehr als in jeder anderen deutschen Stadt. Gerade dadurch aber entsteht die Atmosphäre einer geradezu kreativen Beliebigkeit im Outfit und im Verhalten, wie man es sonst vielleicht nur aus New York kennt. Berlin ist Stadt pur. Überall die Hundescheiße. 54 Tonnen. Pro Jahr. Aber das beste Bus- und Bahnsystem Europas – wenn die S-Bahn-Züge nicht gerade in den Werkstätten stehen und die Weichen nicht vereisen. Ich war oft hin- und hergerissen:

»Ich hab es satt! Ich möchte weg sein, bloß:
noch liebe ich. Und das lässt mich nicht los.«166

4.3. Law exchange

Kunstausstellung Meran 2012
Kunstausstellung Meran 2012

Das Fusionsfieber war vorbei, der Lerneffekt gewaltig. Wir waren sensibilisiert für die Entwicklung, hatten eine gewisse Vorstellung darüber gewonnen, wie andere Büros ihre Strategie bildeten, und versuchten einstweilen, eine Strategie für uns zu finden.

4.3.1. Cambridge

1992 sprach uns Lewis Isaacs, ein älterer Partner von Hewitson Becke (Cambridge) an, ob wir Interesse daran hätten, gemeinsam mit ihnen ein europäisches und vielleicht internationales Netzwerk aufzubauen. Reiner Ponschab nahm sich der Sache an. Hewitson betrieb mit etwa achtzig Anwälten überwiegend in Südengland vier Büros außerhalb der City of London. Viele Partner waren aus größeren Firmen in London dorthin gewechselt, weil aus den großen Londoner Anwaltsbüros seit etwa 1970 Konzerne geworden waren, die dem klassischen Anwaltsbild nur noch wenig entsprachen. Es wurde gewaltig verdient, aber der Stil hatte sich vollkommen verändert. Diese Entwicklung hat sich in den folgenden Jahren noch umso mehr verstärkt, als all diese Büros nun international aufgestellt sind.

Ich hatte Gelegenheit gehabt, mit einem 56-jährigen Kollegen zu sprechen, der ein Jahr zuvor aus einer der Firmen des Magic Circle in Pension geschickt worden war. Ich fand den Zeitpunkt sehr früh, aber sollte schnell begreifen, wie das System funktionierte: »Die meisten von uns fangen mit 25 Jahren an, zehn Jahre später werden Sie Partner, in weiteren zehn Jahren erreichen Sie die Spitze der Gewinnverteilung. Würden diese hoch bezahlten Partner nicht mit 55 Jahren ausscheiden, könnte der Nachwuchs nicht mehr finanziert werden.« »Haben Sie denn genügend Rücklagen, um in der Zukunft gut durchzukommen?« »Wir rechnen damit, in diesen 20 Jahren ungefähr 5 Millionen € nach Steuern zurückzulegen, und wenn wir die vernünftig anlegen, gibt es keine Probleme«, meinte der englische Kollege cool. Freshfields hat im Jahr 2010 1,59 Millionen durchschnittlich pro Partner ausgeschüttet. Wenn nach Steuern 800.000 € überbleiben, kann man ohne weiteres 200.000 € pro Jahr sparen. Und warum sah der reiche Anwalt dann so traurig aus? Die Partner in Cambridge wussten es: »Er war völlig ausgebrannt und hat sich nie darum bemüht, sich zu überlegen, wie das Leben nach dem Tod aussieht – das soll uns nicht passieren!« Sie wollten genauso wie wir lieber 40 Jahre arbeiten.

In Cambridge hatte sich ähnlich wie in München rund um die Universität eine Vielzahl von IT-Firmen angesiedelt. IT-Recht war auch einer der Schwerpunkte von Hewitson, aber auch die anderen Probleme der Branche wurden vom Gesellschaftsrecht bis zum Arbeitsrecht abgedeckt. Es war die erste englische Firma, die eine professionelle Zwangsvollstreckung betrieb, und zwar international! Wir waren erheblich kleiner, hatten aber viel miteinander gemeinsam.

Auch ein niederländisches und ein französisches Büro, Procopio Cory Hargreaves (San Diego) und Gould & Ratner (Chicago) gehörten bereits zum Netzwerk Law Exchange. Als wir die Franzosen in Montpellier besuchten, zeigte sich ein hochmodernes, mit den besten Computern ausgestattetes Büro. Auch sie waren im IT-Recht tätig und wiederum im Dunstkreis der Universität.

Mit der Zustimmung zögerten wir nicht lange, denn auch die anderen Büros machen einen guten Eindruck. Es gab nur wenige, sehr einfache Regeln wie z. B.: Jeder konnte auch mit anderen Korrespondenzanwälten zusammenarbeiten, sollte sich aber fairerweise vorher erkundigen, ob es in den zu Law Exchange gehörenden Sozietäten nicht einen geeigneten Spezialisten gab. Diese Grundregel ist es, die Netzwerke zusammenhält: Wo immer versucht wird, eine Exklusivität zu erzwingen, die man im Interesse des Mandanten nicht akzeptieren kann, brechen sie auseinander. Wir sahen auch ein wirksames Kostenmanagement, was bei manchen Netzwerken fehlt.

Bei den britischen Büros war auf den ersten Blick zu sehen, dass sie uns in allen Managementfragen weit überlegen waren. Wir selbst waren am Anfang der Neunzigerjahre schon nicht schlecht aufgestellt, aber hier konnte man vieles sehen, was uns nützlich sein würde. Einige ältere Sozietäten in Deutschland, deren starke Mandate ihnen auch ein starkes Selbstbewusstsein verschaffte, waren allzu oft nur nach Gutsherrenart organisiert. Sie haben bei ihren Fusionen schwer gelitten, wenn die englischen Kollegen ihre Managementstrukturen über ihnen ausrollten wie eine Luftlandedivision. Immer gab es einen Kern der deutschen Partner, der das begrüßte, andere flohen und es gab große Lücken. Die Engländer schien das nicht zu kümmern. Eine Zusammenarbeit im Netzwerk würden solche Schwierigkeiten gar nicht erst entstehen lassen.

Lewis Isaacs konzentrierte sich in den nächsten Jahren mehr und mehr auf seine Aufgaben im Netzwerk. Die anderen Sozietäten halfen ihm mit Empfehlungen und Berichten über geeignete Büros im Ausland. Bald kamen Schottland, Dänemark, Griechenland und Italien dazu. Nach einer überschlägigen Schätzung hatten wir nach etwa fünf Jahren 2 % unseres Umsatzes daraus gezogen, was die Kosten bei weitem rechtfertigte. Heute reicht das Netzwerk weltweit (bis nach China, Mexiko und Australien) und umfasst 25 Sozietäten, die teilweise seit Jahrzehnten zusammenarbeiten. Wir mussten Law Exchange im Jahr 2000 verlassen, weil das internationale Anwaltsnetzwerk von PriceWaterhouseCoopers mit etwa 3000 Anwälten Exklusivität verlangte.

4.3.2. San Diego, Chicago, Washington: Gefährliche Gesetze

Bis dahin hatte ich überwiegend mit Clemens Kochinke (Berliner, Corchoran & Rowe) in Washington zusammengearbeitet. Er war nicht nur der Vertrauensanwalt der deutschen Botschaft, sondern auch ein ausgezeichneter Computerrechtler. Jetzt kamen die IT-Anwälte im Netzwerk dazu, darunter vor allem Steven J. Untiedt aus San Diego und Fred Tannenbaum aus Chicago. Jetzt sollten sich meine Erkenntnisse über die USA überraschend vertiefen.

Das bewährte sich an einem der ersten Fälle, die wir mit Gould & Ratner in die Hand nahmen. Gunter Braun beriet seit langem einen rheinischen Papierhersteller, der sich auf besonders leichte Papiere spezialisiert hatte, die in den USA nachgefragt waren. Mit seinem amerikanischen Handelsvertreter war er nicht zufrieden, kündigte ihm und schloss einen neuen Vertrag ab. Dabei wurden Briefe, Telefaxe usw. über die Grenzen mehrerer US-Staaten verschickt. Niemand wusste, dass es seit Anfang der Siebzigerjahre ein Gesetz gab, das man zur Verfolgung von Mafia und Drogenhandel erfunden hatte, den Rico-Act. Jede grenzüberschreitende Aktivität konnte als formaler Verstoß gegen dieses Gesetz gedeutet werden, wenn eine rechtswidrige Absicht dahinterstand. Das war es, was der Handelsvertreter bei einem örtlichen Staatsanwalt, der ihm wohlgesonnen war, behauptete.

Der Haftbefehl gegen den deutschen Geschäftsführer folgte sofort, denn man wusste, dass er bald eine Messe in den USA besuchen würde. Noch auf dem Flughafen wurde er verhaftet: Er sah sich nicht nur mit dem Handelsvertreter konfrontiert, sondern auch mit Zollproblemen, die plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht waren. Das waren drei extrem unerfreuliche Tage für ihn. Wir fühlten uns an die Zeit der strengen Embargobestimmungen während des Kalten Krieges erinnert, die auf den National Security Act vom 26. Juli 1947 folgten, und unsere Kollegen in Chicago mussten arbeiten wie die Teufel, um den Mann wieder freizubekommen. Solche Situationen wird es in den USA immer geben, weil im Wirtschaftskrieg dort mit allen Waffen gefochten wird, die ursprünglich für ganz andere Zwecke entwickelt worden sind. Auch der USA PATRIOT Act vom 26. Oktober 2001, der auf das Attentat vom 11. September 2001 reagierte, hat zu vielfältigen Vorsichtsmaßnahmen im Wirtschaftsrecht geführt. Es wäre aber völlig aussichtslos, Mandanten in Deutschland verlässliche Verhaltensempfehlungen für die USA zu geben. Das müssen die amerikanischen Kollegen tun.

4.3.3. Systeme und Fairness: civil law und common law

Das europäische Rechtsdenken verwirklicht sich in der Konstruktion von Systemen, die das Allgemeine vom Besonderen unterscheiden, einheitliche Begriffe verwenden, Regeln und Ausnahmen definieren und es auf diese Weise fertig bringen, auch neue und unbekannte Konflikte mit den bekannten Werkzeugen zu regeln: »Es ist die ureigenste Aufgabe des Juristen, aus scheinbar sich widersprechenden Rechtsgedanken ein System zu schaffen.« Ich zitiere hier Franz L. Neumann167 und nicht andere, noch berühmtere Rechtslehrer wie Hans Kelsen, die solche Systeme geschaffen haben, um zu zeigen, dass dieses Denken für europäische Juristen selbstverständlich ist. Es ist nach griechischen Vorläufern im Wesentlichen im klassischen Rom (ca. 100 n. Chr.) entstanden, veränderte sich dann durch Einflüsse aus dem jüdischen und christlichen Rechtsdenken und wurde durch die Berührung mit lokalen Rechten (leges barbarorum ca. 600–800 n. Chr.) verfeinert. Rechtsschulen in Bologna (1088 n. Chr.) und Paris (1200 n. Chr.) brachten Juristen hervor, die diesen Denkstil selbstverständlich benutzten. Im angloamerikanischen Rechtskreis nennt man ihn Civil Law. Der Versuch, ihn nach England zu übertragen, ist im Wesentlichen daran gescheitert, dass sich in England und Wales seit 1066 (Wilhelm der Eroberer) bereits ein königliches Gerichtssystem entwickelt hatte – und damit gleichzeitig Juristen, die damit umgehen konnten. Ausgehend von den hergebrachten Rechten der Angeln und Sachsen stützt sich das Common Law auf die Kraft der einzelnen Entscheidung, die sich als vorbildlich bewährt hat (Präjudizien). Sie sollte so lange unter allen Umständen gelten (stare decisis), bis das Gericht sie selbst ändern würde. Dabei geht es in erster Linie um die Absicherung eines fairen Verfahrens (z. B. die habeas-corpus-Regel), denn das Common Law ist sich der Relativität der Inhalte des materiellen Rechts bewusster als das Civil Law. Deshalb vermeidet es Systeme und konzentriert sich auf den Einzelfall.

Daraus können erstaunliche Differenzen zu unseren Rechtsauffassungen entstehen: In einem Wiener Fall, den wir begleiteten, hatte das Gericht ein Feststellungsurteil getroffen. Ein solches Urteil hat keinerlei vollstreckbaren Inhalt, weil es nur die Rechtslage klärt. Das hinderte den Londoner Richter nicht, darauf einen Arrest zu stützen, ohne das näher zu begründen. Der systematische Unterschied zwischen Feststellung und Verurteilung war ihm gleichgültig. Das alte Europa sucht an der Kralle den Löwen zu erkennen – das Common Law zeigt daran wenig Interesse, wenn es für den konkreten Fall ausreicht zu erkennen, wie gefährlich die Kralle ist. Logische Widersprüche werden weit großzügiger hingenommen, als wir das tolerieren würden, Nachlässigkeiten bei der Darstellung des Sachverhalts hingegen nicht. Der Kern der anwaltlichen Arbeit besteht hier im Nachweis, dass der Sachverhalt sich mit dem des Präjudizes deckt (oder mit ihm nichts zu tun hat). Ein solches System stößt in Grenzfällen auf das Problem, dass es keine faire Entscheidung ermöglicht. Also haben sich Equity-Regeln (Treu und Glauben) etabliert, die im Einzelfall Korrekturen erlauben. Auch das Gesetzesrecht gewinnt immer mehr Raum, aber weil die Handwerkszeuge für die Gesetze fehlen, kommen am Ende seltsame Dinge dabei heraus. So versucht etwa der Montana Code Annotated Auslegungsgrundsätze zu definieren, die wie folgt lauten:168

  • Niemand soll sein Ziel auf Kosten eines anderen erstreben (§ 1-3-203).
  • Niemand soll für die Handlung eines anderen büßen (§ 1-3-211).
  • Was nicht als Existenz nachgewiesen werden kann, gilt als nicht existent (§ 1-3-221).
  • Größeres schließt Geringeres ein (§ 1-3-227).
  • Eine Rechtsnorm sollte dann keine Anwendung mehr finden, wenn sie ihren Sinn verloren hat (§ 1-3-201) usw.

Für den Entwurf der Verträge hat dieses eklektische Denken erhebliche Konsequenzen. Begriffe wie letter of intent, letter of comfort, memorandum of understanding etc. können die unterschiedlichsten Bedeutungen haben.169 Deshalb werden sie in jedem Vertrag in einem eigenen Abschnitt, der die Definitionen enthält, im Einzelnen festgelegt. So entsteht erst einmal ein heftiger Kampf um Begriffe, den man sich in den deutschen und europäischen Systemen sparen kann.

4.3.4. Gelehrte Richter und Schöffen

Ein weiterer tief greifender Unterschied findet sich im Prozessrecht. In den USA kann jede Partei beantragen, dass der Rechtsstreit durch eine Jury und nicht durch den Berufsrichter entschieden werden muss. Die Geschworenen werden ebenso wie bei uns aus einer Liste ermittelt, können das Amt aber ablehnen, wenn sie schwerwiegende Gründe (zum Beispiel berufliche Nachteile) haben. Rentner, Arbeitslose, Hausfrauen usw. bilden daher die typischen Mehrheiten. Vom Wirtschaftsrecht, besonders von Lizenzen usw. haben sie keine Ahnung.170 Die Amerikaner sehen das nicht als Nachteil an – im Gegenteil. Sie sagen sich, die Art und Weise, wie das Recht Konflikte regelt, muss von jedermann und nicht nur von Fachleuten begriffen werden können.

Man sieht das Problem in einem berühmten Fall der englischen Rechtsgeschichte, jenem von William Penn, dem Gründer der Glaubensgemeinschaft der Quäker, der sich 1670 in London ereignete. Angeklagt wegen verbotener Gottdienste nahm er im Gerichtssaal wie gewohnt seinen Hut ab (er war selbst Anwalt), erhielt von dem Gerichtsbeamten aber die Weisung, ihn wieder aufzusetzen. Als der Richter ihn so sah, verurteilte er ihn wegen Respektlosigkeit nach Common Law. »Wo steht dieses Common Law?«, fragte Penn. »Du bist ein impertinenter Geselle«, sagte der Richter. »Du willst dem Gericht beibringen, was Recht ist? Das ist ›ungeschriebenes Recht‹, für das manche 30–40 Jahre Studium brauchen, und du willst mir zumuten, dir das in einer Sekunde zu erklären?« Penn: »Na, wenn das Common Law so schwierig zu verstehen ist, dann ist es von ›common‹ ziemlich weit entfernt!«171

William Penn wanderte später nach Amerika aus und sorgte als Erstes in Pennsylvania dafür, dass der Einzelrichter durch die Geschworenen ersetzt wurde. Das Geschick der Anwälte besteht bei Prozessen vor der Jury also im Wesentlichen darin, auch komplexe Sachverhalte auf diesen Kern zu reduzieren.

Die Entscheidung durch die Geschworenen hat aus amerikanischer Sicht einen zweiten Vorteil: Die Wahrscheinlichkeit, dass man Geschworene bestechen kann, ist äußerst gering. Das Vertrauen in die Unabhängigkeit des Richters war im alten England durch bekannte Bestechungsfälle untergraben. In den amerikanischen Kolonien wollte man das vermeiden. Deshalb werden in den USA die Richter in politischen Verfahren gewählt und können auch abgewählt werden. Nur beim Supreme Court werden sie lebenslang bestellt.

Wir sehen – anders als die Amerikaner – gerade darin die Möglichkeit, sich politisch willfährige Richter zu besorgen. Eine Jury kann man zwar nicht bestechen, aber durch die Medien und die Umgebungsbedingungen massiv beeinflussen.

Aus all diesen Gründen kann man von englischen oder amerikanischen Anwälten keine Prognosen darüber bekommen, wie ein Gericht eine einzelne Definition oder Vertragsklausel »im Allgemeinen« beurteilen wird. Dazu können sie nichts Vernünftiges sagen, weil es immer auf die Beurteilung im konkreten Fall ankommen wird. Besonders gilt das, wenn eine Jury bestellt ist. Wenn ich fragte, ob das Gericht unsere Position in einem Streitfall wohl akzeptieren würde, lautete der Kommentar ziemlich häufig: »God knows.« Irgendwann gab ich dann auf.

Ich fand die Idee interessant, innerhalb von Law Exchange ein Koordinationsbüro in New York aufzumachen, wie es einer unsere jungen Kollegen, Georg F. Schröder, dann 2010 tatsächlich gemacht hat. Andere, wie Christoph Rückel, der bei Rolf Bossi Strafverteidigung gelernt hat, haben noch in späteren Jahren den großen Schritt in die USA getan. Wir kennen uns gut, weil er eine Zeit lang mit uns in München in Bürogemeinschaft gearbeitet hatte. In den USA (Atlanta) konzentrierte Rückel sich auf das Wirtschaftsrecht. Irgendwann 1995 rief ich ihm zu, dass der unter dem Schutz seiner Perücke geflohene Frankfurter Ex-Baulöwe Dr. (Graz) Utz Juergen »Peanuts« Schneider in Miami verhaftet worden war. Der Grund: Er hatte sich entschlossen, die Altstadt von Leipzig zu rekonstruieren, und weil ihm dazu die Mittel fehlten, hatte er die Deutsche Bank und die Bauhandwerker betrogen. Jetzt zeigten ihn uns die Illustrierten mit kahlem Kopf in einem amerikanischen Gefängnis, wie Tom Wolfe172 es geschildert hat, und daraus befreite Christoph Rückel ihn alsbald in einen deutschen Knast hinein. In einer solchen Situation reagieren wir Anwälte wie das Zirkuspferd auf die Trompete, auch wenn die letzten Strafverteidigungen schon Jahre zurückliegen.

4.3.5. Anwälte und Mandanten in den USA

Ganz in den Anfängen hatten wir uns über jeden Mandanten sehr gefreut, der auf irgendeinem Weg aus den USA zu uns fand. An »Rigolettos Pizza« werde ich mich immer erinnern. Drei Manager löcherten Gunther und mich zwei Tage lang mit hunderten von Fragen aus ihren Checklisten, die so detailliert waren, dass man sicher sein konnte, wirkliche Fachleute vor sich zu haben. Sie wollten mit ihrem Franchisesystem den großen Sprung nach Europa wagen. Am Ende sagen sie munter: »Just send the bill« und waren wie vom Erdboden verschlungen. Die Telefonnummern auf ihren Visitenkarten gab es nicht. Geld haben wir nie gesehen. Law Exchange hat uns solche Risiken erspart. In 3–4 Stunden hatte man Auskünfte über jede Firma und jeden Begriff, der sich auf einer Visitenkarte fand, und wenn es keine Auskünfte gibt, ist das die schlechteste Auskunft! Wenn jetzt die jüngeren Partner wieder einmal stolz mit einem neuen Mandanten aus den USA anrücken, müssen sie sich fragen lassen: »Schon wieder so ein Just-send-the-bill-Typ«?

Durch die intensive Arbeit mit den US-Anwälten lernten wir besser, mit solchen Situationen umzugehen. Bisher hatten wir uns darauf beschränken müssen, den richtigen Korrespondenzanwalt auszusuchen und, wenn dessen Rechnung kommt, die Hand des Mandanten so lange zu halten, bis der Schmerz vorbei ist: Auf dieser Rechnung wird er nämlich auch die Pizza finden, die sein Anwalt nach 19 Uhr gegessen hat, wenn er wegen des Falles so lange im Büro bleiben musste! Jetzt konnten wir den amerikanischen Anwälten auf den Schreibtisch sehen, erhielten eine Fülle von Hintergrundinformationen, beobachteten sie bei der Entwicklung von Strategien und konnten in groben Zügen nachvollziehen, worauf sie ihre jeweiligen Empfehlungen stützten.

Ihre Reaktionsschnelligkeit habe ich immer bewundert, aber wenn es um rechtliche Inhalte geht, bleibt der Fall schnell stecken. Selbst einfachste Fragen, über die kein Anwalt in Europa lange nachdenken würde, wollen sie nicht sofort beantworten, und das hat einen einfachen Grund: Selbst das, was sie bis heute sicher gewusst haben, hat sich vielleicht am gleichen Tag verändert, wenn ein uraltes Präjudiz aufgehoben und durch ein neues ersetzt worden ist. Man muss es recherchieren. Dazu braucht man Überstunden und die werden oft nachts geleistet. Hier zeigt sich der große Vorteil des Zeitunterschieds zwischen München und San Diego: Wenn man abends um 20 Uhr noch eine letzte Frage auf das Telefax legte, war sie am anderen Morgen beantwortet und Steven Untiedt lag schon wieder im Bett. Nur umgekehrt ist es furchtbar: Wenn von dort eine Frage kommt und man nicht zufällig bis 12 Uhr nachts im Büro ist, müssen die US-Kollegen warten – und das tun sie nicht gern.

4.3.6. Berufswechsel

Amerikaner interessieren sich weit mehr als wir für den persönlichen Hintergrund eines Anwalts, mit dem sie zusammenarbeiten. Mich hat das immer interessiert, und so bin ich auf eine Besonderheit gestoßen, die amerikanischen Juristen in ihrem Berufsleben viel mehr Flexibilität gönnt, als wir es gewöhnt sind: Man kann zwischen den Berufen des Staatsanwalts, des Richters, des Anwalts, des Syndikus oder auch des Managers und Politikers viel einfacher und unbefangener wechseln, als das in Europa möglich wäre. In der Karriere von Christine Lagarde, die lange Jahre Partnerin und dann Managing-Partner von Baker & McKenzie war, deuten sich neue Entwicklungen an, die in den USA ihren Ursprung haben. Der langjährige Chef der CIA, Allen Dulles, war fast genauso viele Jahre Partner bei Sullivan & Cromwell, der in Deutschland in der Nachkriegszeit bekannte John McCloy Partner bei Milbank Tweed, Richard Nixon bei Mudge Rose Guthrie. Das war eine der ältesten Anwaltsfirmen der USA (gegründet 1869), die zeitweise seinen Namen (selbstverständlich an erster Stelle!) getragen hatte. Ich betrat das Büro für eine Verhandlung lange nach seinem Rücktritt. Jetzt hatte man den Namen wieder geändert, und trotzdem hielt man ihm im 34. Stock ein Eckzimmer mit beeindruckendem Blick über New York bis zur Küste offen, für den Fall, dass er einmal dort zu tun hätte. All das zeigte wie Geßlers Hut augenfällig die Aura der Macht, die auch ein gefallener Präsident noch hat. Wenige Jahre später zerbrach die Sozietät an den Meinungsverschiedenheiten ihrer Partner über die richtige Strategie.

4.3.7. Law Firm Management und das Gerichtssystem

Ich habe hier etwas weiter ausgeholt, weil man nur auf diesem Hintergrund und dem oben skizzierten System des Common Law verstehen kann, wie Rechtsanwälte in den USA arbeiten und wie rechtliche Konflikte sich dort praktisch auswirken. Es gibt in den USA bezogen auf die Bevölkerungszahl etwa viermal mehr Rechtsanwälte als bei uns – derzeit etwa 1,2 Mio. Man kann diese Zahl etwas relativieren, weil dort auch Juristen als Anwälte bezeichnet werden, die bei uns keine Zulassung brauchen, aber im Kern liegt es auf der Hand, dass ein System, in dem das geltende Recht am jeweils konkreten Fall bestimmt werden muss, sehr viel mehr Arbeit erfordert als die europäischen Systeme.

Diese Arbeit muss man gut organisieren, wenn sie Erfolg haben soll. Peter Delmonico hatte beiläufig erwähnt, die Universität von Utah unterhalte als Einzige in den USA einen eigenen Lehrstuhl für das Management von Sozietäten, und das Material, das sie wie auch die örtlichen Anwaltskammern veröffentlichten, sei jedermann zugänglich (heute gibt es an den meisten amerikanischen Universitäten Kurse in Law Firm Management). Für alle Tätigkeiten im Büro gab es Formulare, damit die Mitarbeiter ihre Tätigkeiten strukturieren und ihre Arbeit leichter kontrolliert werden konnte. Ich war beeindruckt und forderte mir alles mögliche an, darunter Sätze von Formularen und Mustern, die mit wenigen Abänderungen auch bei uns gut brauchbar waren – vor allem im Bereich des Zeitmanagements und der Kostenerfassung. Daraus entstand langsam das interne Managementhandbuch, das uns seit etwa 1990 begleitet. Und damit man bei allem Formalismus auch etwas zu lachen hatte, zeigte er mir die beste Anleitung, die ich je gesehen habe, um Honorarrechnungen zu schreiben:

Kurve der Dankbarkeit
Kurve der Dankbarkeit

4.3.8. Grundbücher für Kuba

Wenn Procopio einen Fall nicht übernehmen konnten, oder es örtlich absolut nicht passte, weil der Fall tief im Mittelwesten oder an der Ostküste spielte, empfahlen sie uns gute Büros in anderen US-Bundesstaaten. Bei dem Erbfall eines Deutschen, der in Florida seinen Lebensabend verbrachte, lernten wir auch dort Kollegen kennen. Als sie davon erfuhren, dass ich seit 1992 in Berlin tätig war, bekamen wir viel Beifall für die saubere juristische Konstruktion der Restitutionsansprüche. Sie planten, einige Spezialisten nach Berlin zu schicken, um sich die praktische Umsetzung anzusehen. Wozu das? »Wenn Castro stirbt, wird halb Miami leerstehen, weil dann die Emigranten alle nach Kuba zurückgehen. Die wollen ihre Grundstücke wiederhaben. Aber ohne unsere Hilfe werden sie sie nicht bekommen!« Vermutlich gibt es in Kuba kein Grundbuch, aber die Katasterakten werden in den USA soweit möglich für den Tag der Abrechnung rekonstruiert. So warten wir geduldig auf die Aufträge, das deutsche Grundbuchwesen in Kuba einzuführen, nachdem Griechenland diese Idee uninteressiert zurückgewiesen hat.

4.3.9. Rechtsanwälte in Europa

Durch die Kooperation mit vielen anderen Anwälten in Europa haben wir schnell gesehen, dass Rechtssysteme, die sehr nah miteinander verwandt sind, ganz unterschiedlich funktionieren. Erst so ist mir klar geworden, dass auch im weltweiten Maßstab in Deutschland, Österreich und der Schweiz am schnellsten und in Deutschland jedenfalls am kostengünstigsten prozessiert werden kann. In einem Fall hatte einer unserer Mandanten ein Hotel in Kopenhagen gekauft und den Kaufvertrag später angefochten. Wir klagten sicherheitshalber in Kopenhagen, weil wir glaubten, damit dem Problem der Zuständigkeit ausweichen zu können. Diese Strategie ging auf, aber das dänische Gericht brauchte zwei Jahre für eine Entscheidung von drei Zeilen! Offenbar gibt es dort keine wissenschaftlichen Einrichtungen wie die Max-Planck-Institute, die solche Fragen in drei Monaten beantworten können.

Ein italienischer Anwalt aus Südtirol sagte mir einmal: »Was man südlich von Rom nicht per Einstweiliger Verfügung bekommt, bekommt man gar nicht!« Die durchschnittlichen Prozesszeiten in Italien, die in jeder Instanz 3–6 Jahre betragen, lassen nicht erkennen, dass einige Verfahren ohne weiteres 10–15 Jahre dauern können.

4.3.10. Neapel

Vor allem im Strafrecht zeigen sich die erstaunlichsten Unterschiede.

»Laura ist verhaftet worden. In Neapel.« Ich erkannte kaum die Stimme eines alten Freundes aus Berlin, denn es war 4 Uhr morgens. Laura war seine Tochter, 20. Sie studierte »irgendwas mit Medien« in Berlin, lebte in einer Wohngemeinschaft, und vor wenigen Tagen war sie mit einem Typen, den der Vater natürlich nicht kannte, zu einem Kurzurlaub nach Italien gefahren. Das hatten die Mitbewohner erzählt, die Eltern sah sie nur zu den üblichen Festtagen. Am späten Nachmittag dann der Anruf aus dem Konsulat in Neapel. Ich war erst nachts nachhause gekommen und der Vater hatte eine schlaflose Nacht verbracht. Meine war jetzt auch zu Ende.

Die italienische Drogenfahndung hatte die beiden nachts im Hotel verhaftet, das Auto auseinandergenommen und 10 kg Hasch unterschiedlicher Qualität, Tabletten und ein paar Designerdrogen entdeckt. Bei so einer Menge hatte sie viele Jahre Haft zu erwarten. Ich kannte sie schon als Kind und mir wurde ziemlich flau. Dem Konsulat hatte sie gesagt, sie habe von nichts gewusst, ihr Freund auch nicht. Aber er würde wahrscheinlich die Leute kennen, die das Auto präpariert hätten. Offenbar ging sie auf Distanz. Das Konsulat hatte Patroni Griffi (62) empfohlen, Vertrauensanwalt der Botschaft, Studium in Deutschland, ein zuverlässiger Verteidiger. Am Telefon klang seine Stimme wie Sarrastro persönlich, durch nichts aus der Ruhe zu bringen in den heiligen Hallen des Tribunale, die uns erwarteten. Ich vereinbarte mit ihm ein Treffen am anderen Morgen. Die Flugverbindungen waren schlecht, ich musste den Nachtzug nehmen. Bis dahin war ich mit dem Auto nach Italien gefahren und hatte dabei nur die Zöllner fürchten gelernt. Im Zug erhielt ich die erste Lektion im italienischen Rechtssystem: In Innsbruck wurden die Pässe eingesammelt, damit wir beim Zoll nicht geweckt werden mussten, und der italienische Schaffner bat unverhohlen um ein Trinkgeld, um uns vor nächtlichen Gasangriffen zu schützen. Einige Banden hatten sich darauf spezialisiert, die Passagiere gegen Morgen mit Lachgas zu betäuben, gingen dann mit Nachschlüsseln in die Kabinen und räumten sie aus. Mit der Schutzgebühr konnte man das offenbar verhindern.

Die Einfahrt in Neapel bescherte neue Einblicke in die Hinterhöfe längs der Bahngleise. Auf dem Weg zum Taxistand kam ein junger Mann auf mich zu und stellte sich als deutscher Referendar vor. Er sollte mich abholen. Neben ihm ein kleiner Inder mit riesiger Chauffeursmütze. Ich wusste zwischenzeitlich, dass die Patroni Griffi zu den ältesten Adelsgeschlechtern Italiens zählen, das Empfangskomitee, die Mütze usw. – am Ausgang des Bahnhofes erwartete ich einen Daimler S-Klasse – und natürlich entsprechende Honorarforderungen. Wir wühlten uns durch den Bahnhofsvorplatz. Wo konnte man hier parken? Kein größeres Auto war zu sehen. Aber neben einem Fiat 500 mit abblätternder Farbe standen zwei Buben, der Chauffeur drückte ihnen zum Dank dafür, dass sie das Auto nicht geklaut hatten, einen angemessenen Betrag in die Hand und ich nahm auf dem Rücksitz Platz. Nun hat ein Fiat 500 nichts, was man als Rücksitz bezeichnen kann, dafür aber andere Vorteile: Je näher wir in die Innenstadt kamen, desto enger wurden die Straßen und am Ende passte links und rechts gerade noch eine Handbreit neben das Auto, wenn es sich langsam durch die Menschen tastete. In der Via Tribunale öffnete sich ein Tor und im Innenhof war ein wenig Platz. Der Weg zum Büro führte über eine steile Holztreppe, an deren Ende empfingen uns einige Sekretärinnen (die offenbar nichts Besseres zu tun hatten) und dann endlich trat ich in das prächtige Zimmer des Löwen von Neapel. Ein kleiner Mann mit weißen Haaren (Typ Ben Gurion), der mit Stolz auf die unter Glas gerahmten Zeitungsberichte über die Mordprozesse deutete, die er vor allem in den Fünfziger- und Sechzigerjahren erledigt hatte. Um ihn herum drei junge Anwälte, der deutscher Referendar und ein spanischer Praktikant, von denen die Hälfte sich ständig im Zimmer des Meisters aufhielt, um gemeinsam mit ihm Fälle zu besprechen oder etwas auszuarbeiten. Für alle gab es nur ein Zimmer mit winzigen Arbeitsflächen. Man arbeitete im ständigen Dialog. Auch zum Mittagessen gingen wir gemeinsam.

Es dauerte eine gewisse Zeit, bis wir über den Fall reden konnten, und diese Besprechung bestand in erster Linie aus der Schilderung der Staatsanwälte und Richter, die sich mit dem Fall beschäftigen würden. Jeder Einzelne wurde filigran porträtiert, und des Ergebnis des Falles schien sich in erster Linie danach zu richten, wer zu entscheiden hatte. Die entscheidende Frage war natürlich: Konnte man Laura Mitwisserschaft anlasten? »Das werden sie nicht versuchen«, meinte er, »sehen Sie doch das Bild – sieht sie nicht aus wie ein Engel?« Italienische Anwälte dürfen gelegentlich sentimental werden, dachte ich mir, musste ihm dann aber Recht geben: Auch in Deutschland ist Schönheit kein Argument, aber beim Urteil zählt sie doch – denn da entscheidet nicht nur der Kopf, sondern auch das Gefühl.

Aber wie würde unser Engel nach ein paar Monaten italienischer Untersuchungshaft aussehen? Und was für ein Strafmaß stand hier im Raum? Ich machte mir wirklich Sorgen. In München gab es bei der Staatsanwaltschaft die bekannte Regel »So viel macht so viel«, und so wurden für ein Kilo Heroin immer zehn Jahre »eingeschenkt«, und zwar ziemlich unabhängig davon, wie die konkreten Umstände lagen. Die türkische Drogenmafia machte es z. B. so: Sie griff sich an den Flughäfen Gastarbeiter aus Anatolien und drückte ihnen eine Plastiktüte mit Inhalt und dazu noch 500 DM in die Hand, die andere Hälfte würde der Abholer zahlen. Schmuck sei in den Päckchen für eine wichtige Hochzeit und der Post oder gar dem Zoll wolle man das wertvolle Gut nicht anvertrauen. Natürlich kann man sagen, dass so ein Bote ziemlich naiv war und den Drogenschmuggel mindestens »billigend in Kauf nahm«. Aber zehn Jahre Haft?

In der ersten Instanz wurde Laura zu drei Jahren verurteilt. Ihr Freund hatte gestanden, Hintermänner wurden festgenommen, und der Cheffahnder gab zu, dass er einen gezielten Tipp bekommen hatte, sich diese Kuriere zu packen. Das machen die Großhändler so, damit sie die wirklich großen Sendungen an anderen Stellen ohne Ärger über die Grenze bekommen.

Patroni Griffi war verärgert. Er machte Druck und erreichte eine Berufungsverhandlung nur ein Jahr nach dem ersten Urteil. Laura war erstaunlich gelassen. Als ich sie im Frauengefängnis in Caserta besuchte, war mir schnell klar, warum: Im Grunde war das eine Art Internat mit angeschlossenem Kindergarten, denn ein gutes Drittel der Frauen kam mit Kindern oder brachte sie dort zur Welt. Die Verwaltung hätte es herzlos gefunden, Mutter und Kind zu trennen: Die Zellentüren waren den ganzen Tag offen, die Besuchszeiten wurden locker gehandhabt, die Wärterinnen zeigten den Müttern, wie man Babysachen strickt. Weihnachten wurde der große Christbaum im Innenhof geschmückt und jeder erteilte jedem Sprachunterricht – Laura sprach schon sehr ordentlich Italienisch, manchmal mit der leicht brüchig klingenden Stimme einer älteren Trickdiebin, die sich ihrer angenommen hatte. Wer Geld hatte, ließ aus einem nahe gelegenen Restaurant Pizza für alle kommen, tauschte das gegen Kinderbetreuung usw. Ein lebhafter Betrieb!

Der Justizpalast in Neapel liegt mitten in der Stadt. Alt und schwarz steht er da, umflattert von Tauben, den Ratten der Lüfte. Innen drin geht es lebhaft zu. In jedem Gerichtssaal werden die Gefangenen hinter Gittern oder Glaskäfigen versteckt, damit sie nicht randalieren. Trotzdem lungert ein Haufen Carabinieri in den Gerichtssälen und auf den Gängen herum. Sie scheinen Planstellen zu besetzen, die sich in ihrer Anwesenheit erschöpfen. Gefangene werden vorbeigeschleppt, die Handschellen sind riesige Schraubzwingen, die wie Folterinstrumente aussehen. Patroni Griffi wird von drei jungen Anwälten und zwei Referendaren begleitet, zusammen sitzen wir also mit sieben »Verteidigern« auf der Bank. Staatsanwälte und Richter tragen prächtige Roben mit goldenen und silbernen Seidenkordeln. Daneben fühlte ich mich ziemlich schäbig. Und dann der Schock: Drei Richter betreten den trüben Raum, der nur durch ein Oberlicht erhellt wird – alle drei tragen Sonnenbrillen wie Al Capone und seine »Freunde der italienischen Oper« – und sie nehmen sie während der ganzen Verhandlung nicht ab!

Die Verhandlung bestand aus dem Kampf um die Bewährung. Um 13 Uhr: die heilige Siesta für alle. Wohin geht man mit sieben Leuten essen? An der Via Tribunale und ihren Seitenstraßen gibt es eine Vielzahl winziger Restaurants und Stehimbisse, die in dieser Zeit ihr Hauptgeschäft machen. Und zwar mit drei Gängen. Einige essen ihre Spaghetti Vongole im ersten Laden, das Cassata im zweiten, den Caffé im dritten usw., damit sie mit möglichst vielen Kollegen über ihre Fälle plaudern können. Auch Staatsanwälte oder Richter, die normalerweise unter sich bleiben, kreuzen gelegentlich hier auf. Patroni Griffi bestellte sich eine Schokolade, und als sie kam, wurde sie vor seinen Augen von einem der jungen Anwälte gepackt und blitzschnell ausgetrunken. Er fing meinen Blick auf, nahm mich beiseite und flüsterte: »Il Conte darf keine Schokolade trinken, er weiß das auch, aber er will sie wenigstens riechen!« Auch so wurden Beziehungskonten aufgebaut und abgeräumt. Mir war die Gelassenheit unheimlich, in der man dies und das besprach, aber dann begriff ich, dass die Anwälte untereinander mitten in der Pause tüchtig arbeiteten. Der kleine Informationsverkehr floss, die Netzwerke wurden ausgebaut und irgendwann würde das jedem nützlich sein. Trotzdem konnte ich mir die Frage nicht mehr verkneifen, wann die Verhandlung wohl fortgesetzt würde – niemand hatte das mitgeteilt. »Pian piano – ohne uns können die nicht weitermachen«, bedeutete mir einer der jungen Kollegen. Was ich nicht wusste: Um 14.15 Uhr erschien einer der Carabinieri, der vorher im Gerichtssaal umhergestanden hatte, und mahnte zum Aufbruch. »Pian piano«, sagte man ihm, klopfte ihm auf die Schulter und lud ihn zu einem Caffé ein. Genauso machten es seine Kollegen: Sie kämmten die Restaurants durch, um die Anwälte wieder einzusammeln. Darauf verlässt sich jeder. Eine Uhr braucht man nicht. Im Gerichtssaal dauert es noch eine gute Viertelstunde, bis auch die Richter wieder seufzend erschienen, um die Sache hinter sich zu bringen.

Wir hatten ein klares Ziel: Bewährung! Dazu mussten wir unter zwei Jahre kommen und für eine günstige Sozialprognose einen von der italienischen Justiz jederzeit kontrollierbaren Arbeitsplatz nachweisen. Für eine deutsche Studentin in dieser Situation unmöglich. Aber Patroni Griffi hatte die Lösung schon längst in der Hand: Er braucht Laura dringend als Dolmetscherin, erklärt er dem Gericht – er ist der Vertrauensanwalt der Botschaft und hat ständig deutsche Klienten – und er gibt ihr einen Vertrag für ein Jahr. Solange muss sie noch in Italien bleiben. Was für eine elegante Lösung! Erst später habe ich erfahren, dass auch der indische Fahrer seine Freiheit diesem erprobten Modell verdankt.

Zwei Jahre später schickte Laura mir aus Thailand einen rot-goldenen Thangka »als Dankeschön für Geduld, Optimismus und Stellenvermittlung«. Was hatte sie da zu tun? Gefährliche Gegenden schien sie zu lieben.

4.3.11. Strasbourg

Der Bürgermeister von Strasbourg lädt 2011 die deutschen Rechtsanwälte zum 62. Deutschen Anwaltstag ein, erstmals im Ausland, erstmals in Frankreich. Daniel Cohn-Bendit hält den Hauptvortrag. Er ist 1945 in Frankreich geboren, Sohn eines Rechtsanwalts, der 1933 aus Berlin fliehen musste, die Mutter Französin. Er konnte die französische Staatsbürgerschaft nicht erhalten, weil in gewissen Jahren sein Verhalten an der Universität Nanterre »nicht den guten Sitten« entsprach, wie man es in Frankreich gemäß Art. 68 Staatsangehörigkeitsgesetz von Ausländern verlangt (in Deutschland wäre so eine Vorschrift verfassungswidrig). Viele Zuhörer kennen auch seine deutsche Vergangenheit, aber all das ist vergessen, weil er die große europäische Erzählung, deren Teil er selbst ist, spannend und bewegend vorzutragen versteht. Die großen Kriege werden heraufbeschworen, das Wunder vom Rhein wird erzählt, der »heute keine Grenze mehr ist«, das Wunder der Solidarität, das Teile des früheren Ostblocks nach Europa geführt hat, wird gefeiert und am Horizont taucht schon das Wunder vom Bosporus auf, neben dem sich das Wunder vom Mittelmeer – die Rebellion in den arabischen Staaten – abzeichnet. Krisen können nur gemeinsam bewältigt werden: »Die Finanzkrise 2008 hat bewiesen, dass die normative Regulierung einer solchen Krise kein einzelner europäische Nationalstaat alleine stemmen kann.« Die Flüchtlinge von Lampedusa muss man nur richtig verteilen, von der griechischen Korruption haben die Lieferanten aus den anderen europäischen Ländern (vor allem die Waffenlieferanten) heftig profitiert – also sollen sie jetzt zahlen usw. Wir müssen Europa wollen! Rauschender Beifall.

Wenn andere Politiker uns diese Geschichte weniger elegant erzählen, hält sich der Beifall in Grenzen. Es werden Zweifel laut. Die meisten Politiker halten die europäische Idee aber nur für schlecht erklärt: »Wir müssen den Leuten sagen, was sie wollen sollen« (Claudia Roth). Ihr sollte man wirklich Brechts Empfehlung nahelegen, sich ein anderes Volk zu wählen.

Mir musste man bei meiner zweiten Begegnung mit Franzosen in Strasbourg nicht viel erklären. Fast 50 Jahre vorher (1964) war ich als Soldat der Bundeswehr in Straßburg gewesen. Ein Jahr nach dem Friedensvertrag zwischen Deutschland und Frankreich waren gemeinsame Manöver zwischen Deutschen und Franzosen auf dem nahe gelegenen Truppenübungsplatz Bitche vereinbart worden. Scharfer Lackgeruch auf den heißgelaufenen Panzern, Hitze, Dreck – der übliche Armeebetrieb. Dann das Wochenende. Die Soldaten sollten in Strasbourg in Uniform ausgehen. Man hatte eine Liste der Sehenswürdigkeiten zusammengestellt, damit sie nicht in irgendwelchen Kneipen versumpften. Ich musste als Fahnenjunker meine Gruppe entsprechend schulen und bekam als Assistenz drei französische Caporals, die ein bisschen Deutsch konnten. Der strenge Befehl lautete: die Gruppe immer geschlossen halten, sich aber gleichzeitig im Straßenbild unauffällig machen. Ich hatte mich schon als Schüler mit der europäischen Idee angefreundet. Europa auf dem Stier hing über meinem Schreibtisch. Aber diesem seltsamen Plan widersprach ich lebhaft – ohne Erfolg, denn der politische Wille drückt sich in der Armee durch Befehle aus.

Es war ein Spießrutenlaufen. Heute würde man die Straßburger mit jubelnden Pressekampagnen zur Umarmung der Fremden aufgefordert haben und der Bundespräsident hätte im vorbereitenden Interview gesagt, selbstverständlich habe die deutsche Kultur schon immer zu Frankreich gehört (was an diesem Ort sogar eine richtige Behauptung gewesen wäre). Aber damals war das noch nicht Mode. So sahen sich die Franzosen zwanzig Jahre nach dem Krieg mitten in Straßburg erneut mit deutschen Uniformen konfrontiert, sollten es nun aber als Zeichen der Völkerfreundschaft deuten.

Das war zu viel verlangt. Ständig waren unsere französischen Attachées damit beschäftigt, zu erklären, warum sie soeben mit diesen Feinden gemeinsam im Dreck gelegen hätten. Jetzt wollten sie nur auf das Münster steigen, um dort Goethes Graffiti zu bewundern, nicht aber, um einen vorgeschobenen Artilleriebeobachter einzusetzen. Von dieser ungewohnten Arbeit bekamen wir Hunger. Kaum hatten wir ein Restaurant betreten, legte sich beim Anblick unserer Uniformen entsetztes Schweigen über die Gäste. Da konnte uns auch kein Übersetzer mehr helfen. Also raus. Nur in einer Bahnhofskneipe gab es was, und ich war mit den Nerven so fertig, dass ich blind auf irgendeine Zeile in der Speisekarte deutete. Das war dann Cou d’oie farci (gefüllter Gänsehals) – kein Highlight der cuisine française.

Wie sehr Europa sich in den nächsten 40 Jahren geändert hatte, konnte man auf dem Anwaltstag in Straßburg auf den ersten Blick erkennen. Wir applaudierten Daniel Cohn-Bendit (für französische wie deutsche Anwälte ein vertrauter Mandant) gemeinsam und danach ging ich ganz selbstverständlich mit den französischen Kollegen ins Maison Kammerzell, wir stolperten freundlich in den jeweils anderen Sprachen umher und der Kellner erklärte uns dreisprachig den baeckeoffe: Der Elsässer Dialekt, den diese Franzosen bis vor kurzem nicht gern hörten, blüht wieder auf.

Zu solchen Entwicklungen haben die Bemühungen der europäischen Anwaltskammern und Anwaltvereine ebenso beigetragen wie die Aufbauarbeit von Law Exchange und vergleichbaren Netzwerken.

4.4. Der Deutsche Anwaltverein – Anwalt der Anwälte

Landsknecht um 1600
Landsknecht um 1600

Der Deutsche Anwaltverein (DAV) ist ein Dachverband, dessen Mitglieder etwa 240–250 örtliche Anwaltvereine sind. Er wirkt über seine Gesetzgebungsausschüsse und seine Publikationen – darunter vor allem das Anwaltsblatt – auf die Politik und die Parteien, in dem er sie berät oder ihnen widerspricht. Dazu holt er die Meinungen der Vereine ein und informiert sie darüber, was er plant und durchsetzt. Anwälte kämpfen wie Landsknechte für Interessen fremder Leute. Der Deutsche Anwaltverein versteht sich sehr richtig als »Anwalt der Anwälte«173 – als Landsknecht der Landsknechte.

Mitglied wird man bei dem jeweils zuständigen örtlichen Verein. Was vor Ort geschieht, ist stark vom Interesse des jeweiligen Vorstandes abhängig und gestaltet sich sehr unterschiedlich: In Flensburg, Garmisch oder Recklinghausen bildet der Verein meist einen Stammtisch, an dem sich gelegentlich auch Richter und Staatsanwälte einfinden, in Großstädten wie München spielt sich das social life anderswo ab und die Zahl der Vereinsmitglieder liegt weit unter jener der zugelassenen Anwälte. Parallel zu dieser Struktur gibt es die Arbeitsgemeinschaften, in denen sich fast 60 % der Mitglieder intensiv engagieren. Die größten unter ihnen (Familienrecht, Verkehrsrecht et cetera) haben mehrere tausend Mitglieder, aber nicht den politischen Einfluss, den sie nach ihrem Selbstbewusstsein haben sollten. Sie können nur über die Gesetzgebungsausschüsse wirken, die sie allerdings unter Kontrolle haben. Über die Deutsche Anwaltakademie ist der Verein in Ausbildung und Fortbildung stark engagiert.

Ich bin ohne viel Nachdenken zugleich mit der Zulassung in den Verein eingetreten, weil das Anwaltsblatt wichtige Informationen enthielt, die sonst nicht zu finden waren. Hin und wieder ging ich auch zu den Treffen des Münchner Anwaltvereins, denn mir lag am Erfahrungsaustausch unter Kollegen. Die meisten Anwälte glauben, die anderen Kollegen organisierten ihre Arbeit – von stilistischen Unterschieden abgesehen – genauso, wie sie selbst: Der Einzelanwalt glaubt, eine Sozietät mit hundert Anwälten bestehe letztlich aus hundert kleinen Einheiten, in der jeder seinen Umsatz genauso macht wie er selbst. Mit einer ähnlichen Vorstellung hatte ich meine Arbeit bei Ott beendet. Aber schon meine Bewerbungen führten mich wenigstens von außen in Büros, die ganz anders aussahen, und bei Gritschneder begriff ich die Unterschiede zwischen den Anwaltsunternehmen ziemlich schnell, auch wenn sie von außen schwer zu entdecken sind: Beim Einzelanwalt wie im Anwaltskonzern – überall gibt es Anwälte, die in ihrem Leben noch nie etwas akquiriert haben, weil die Dinge einfach auf sie zulaufen, andere haben sich nie weitergebildet (sie lernen nur aus ihren Fehlern), wieder andere haben nie eine Managemententscheidung getroffen; und manche sehen nach ihrer Ausbildung nie mehr wieder ein Gericht von innen. Die Kontakte im Anwaltverein sollten mir zeigen, wie es anderswo zugeht, um daraus für unser Büro zu lernen. So wurde ich auf den Rationalisierungsausschuss aufmerksam. Das war ein Gremium, das der erste Geschäftsführer Dr. Chemnitz eingerichtet hatte und immer noch engagiert betrieb.

4.4.1. Der Rationalisierungsausschuss (1959 – 1982)

Jahre später hatte ich Gelegenheit, in den Archiven des Vereins nachzulesen, wie sich diese Arbeit entwickelt hatte. Der Anwaltverein hatte zum Zeitpunkt unserer Zulassung (1973) gerade sein hundertjähriges Jubiläum hinter sich: 1871 war er beflügelt durch die neue deutsche Einheit in Hamburg gegründet worden, und zwar als Dachverband, der die vielen kleinen Anwaltvereine in Deutschland vertreten und Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen sollte. Er verstand sich als Gegengewicht zu den Kammern, befreit von den Pflichten, die eine halbstaatliche Organisation einhalten muss. Im Anwaltverein wurde frei diskutiert, und was ich an ihm immer am meisten geschätzt habe: Es wurde unabhängig von politischen Ansichten debattiert, die zwischen Anwälten immer kontrovers sind. Nach innen verstand der DAV sich als Dienstleister gegenüber seinen Kollegen, eine Aufgabe, die sich die meisten Kollegen, auf die ich getroffen bin, mit hohem Engagement geteilt haben.

Dr. Chemnitz hatte zwischen 1950 und 1970 im Bereich des Managements dafür die Maßstäbe gesetzt. In seiner Korrespondenz finden sich Dutzende von Briefen mit individuellen und konkreten Ratschlägen zu Büromaschinen, Einkaufsmöglichkeiten, Preisvergleichen etc.:

»Sehr geehrter Herr Kollege – die unter dem Namen ›Rokli‹ vertriebenen Additionsmaschinen werden von der Firma Robert Kling, Wetzlar-GmbH, Oberbiel, hergestellt. Fordern Sie von dieser Firma bitte Prospekte an. In Betracht kommen für sie wohl die S. 18 E zum Preise von DM 930,00 oder die S. 21 E zum Preise von DM 940,00. Die Maschinen rechnen auch unter Null und addieren. Möglicherweise genügt für ihre Zwecke aber auch die A 17 E zum Preise von DM 598,00 die nur bis null rechnet. – mit kollegialer Hochachtung, Dr. Jürgen Chemnitz, Geschäftsführer.«

Zugegeben: Damals gab es in ganz Deutschland vielleicht 20.000 Anwälte und heute gibt es 160.000. Auch deshalb haben wir im DAV heute nicht nur einen Geschäftsführer, sondern sechzehn, und trotzdem käme keiner von ihnen zu seiner Arbeit, wenn er solche Anfragen von Kollegen beantworten wollte.

Chemnitz aber schreibt daneben noch zur Buchführung174 oder verweist auf eine Kartei ausländischer Anwälte175. Immerhin erhält er hier und da Hilfe von interessierten Kollegen, die Tipps zur Verfügung stellen wie vor allem Dr. Bury aus Hameln, Dr. Schramm aus München und Hans-Joachim Rückert aus Wetzlar.

Andere Kollegen helfen ihm hier und da mit Ideen, wie Rechtsanwalt Steinbicker aus Bielefeld: »Mit bestem Erfolg verwende ich seit Jahren farbige Aktenschwänze in Leinen, acht Farben. Jedes Fach der laufenden Akten erhält eine Farbe. Vorteil: Es fällt sofort auf, wenn eine Akte falsch abgelegt ist!«

Aber schon kurz danach hat die Einführung der Hängeregistratur – eine ähnliche Revolution wie 1961 die IBM-Kugelkopf-Maschine – das ganze System der farbigen Schwänze wieder beseitigt, wie Rechtsanwalt Dehmer, Frankfurt, am 13.7.1962 begeistert an die Schriftleitung des Anwaltsblattes schreibt: »Diese Methode scheint mir sogar wesentlich günstiger zu sein als die Methode des Aktenschwanzes, bei welcher immer der eine Aktenschwanz von dem anderen verdeckt wurde. Nach meiner Auffassung gehört der Aktenschwanz zu den schlechtesten Organisationsmitteln.« Um viele solcher Details wurde unter den Kollegen hart gekämpft, denn Anwälte sind Individualisten und jeder hält seine eigenen Organisationsideen für die genialsten. Reinhold Other aus Herzberg im Harz hatte zum Beispiel »mit der Stoppuhr festgestellt, dass meine Lehrlinge zum Ösen der Urkunde (2 Ösen einschließlich Einlegen) etwa 10 Sekunden benötigen. Mein Personal hat mir bestätigt, dass die Methode auf alle Fälle sehr viel schneller ist als das frühere Heften mit der Heftnadel.«

Chemnitz ging diesen Hinweisen im Detail nach, verwies im konkreten Fall auf »den Nachteil, dass die Stanze zu klein ist, um durch die entstehende Öse das betreffende Schriftstück in einem Schnellhefter abzuheften«, und schickte die Briefe an die mitarbeitenden Kollegen, womit er eine heftige interne Diskussion über das Problem auslöste: Dr. Bury hatte nämlich sofort durch Überprüfung anhand eigener Akten festgestellt, dass »durch die Stärke der Metallöse eine etwa dreifache Abhefthöhe in Anspruch genommen (wird), als wenn die Heftösen außerhalb des Bügels des Schnellhefters verwendet werden«. Eine so völlige Ablehnung von Stanze und Öse wollte Dr. Chemnitz aber keinesfalls hinnehmen: »Notarielle Urkunden sind normalerweise in Anwaltsakten keine Massenerscheinungen. Wenn in einem Prozess zwei oder drei davon einmal eine Rolle spielen, dann ist das schon viel. Unter diesen Umständen kann man – glaube ich – die dreifache Abhefthöhe der Ösung der Löcher für den Schnellhefter in Kauf nehmen, wenn man damit zugleich vermeiden kann, dass die Urkunde zum Zwecke des Abheftens in der Handakte des Anwalts für die Dauer des Prozesses gelocht und damit beschädigt werden muss.«

Jede technische Neuerung wurde leidenschaftlich diskutiert und wie üblich gab es zu jedem neuen Vorschlag heftige Gegenwehr von allen Seiten. Sogar Diktiergeräte wurden abgelehnt: »Wo ist das Gerät, das eine mitdenkende Sekretärin ersetzt?«, fragt Dr. Frank aus Mosbach; »die Mädchen fühlen sich als Roboter und beklagen sich insbesondere bei Versicherungsgesellschaften über die dadurch eintretende Überbelastung«, meint Dr. Eble aus München, und ohne »lebensgetreue Tonwiedergabe« will Dr. Gloede aus Frankfurt so etwas nicht kaufen, denn »die Schreibdamen wollen die ›Stimme ihres Herrn‹ hören und nicht das Gekrächze eines heiseren Raben«.

Für Curt Daust aus Gelsenkirchen hingegen »leistet tatsächlich der Bürovorsteher zusammen mit dem Lehrling fast dasselbe, was früher fünf Angestellte geleistet haben. … Grundsatz: Die teuerste Maschine ist immer noch billiger als der billigste Mensch.« Auf den ersten Blick klingt eine solche Bemerkung nicht sehr freundlich, aber die Erfahrung hat uns gezeigt, dass Anwälte nahezu nie Mitarbeiter entlassen, sondern lediglich durch geschickte Organisation mit den gleichen Mitarbeitern immer höhere Umsätze zuwege bringen. Heute führen wir die gleiche Diskussion über die Einführung von Spracherkennungssysteme, und ich bin sicher, in fünf Jahren haben sie sich durchgesetzt.

Wer außer einem deutschen Anwalt hätte die Nerven, den Detailproblemen so tief auf den Grund zu gehen und darüber mit anderen auch noch Debatten zu führen? Die Hartnäckigkeit des DAV-Geschäftsführers in diesen Fragen wird ihm gewiss auch bei anderen Debatten zugutegekommen sein. Damals konnte er noch alles selbst machen, heute hätte er gewiss mit gleicher Konsequenz das Delegieren gelernt, so wie es seine Nachfolger Karl Peter Winters und Dierk Mattik getan haben – gerade dadurch konnten sie die großen Linien im Auge behalten!

Schon 1961 machte der Ausschuss unerfreuliche Bekanntschaft mit dem Wettbewerbsrecht: Rinck hatte im Betriebsberater 1961, 613 darauf hingewiesen, dass konkrete Produktempfehlungen durch einen Verband problematisch seien, und die Firma Hermann Wolf Kunststoff Chemie beschwerte sich darüber, dass ihre Fotokopiergeräte nicht richtig bewertet worden seien. Chemnitz war nicht beeindruckt: »Ich meine deshalb, dass wir künftig der Anwaltschaft eindeutig sagen sollten, was wir von den einzelnen auf dem Markt angebotenen Bürogeräten und deren Eignung für das Anwaltsbüro halten, da wir nur dadurch den Anwälten bei der Einrichtung ihrer Büros wirklich helfen können.176«

4.4.2. Der Ausschuss Büroorganisation und Bürotechnik (1983 – 2000)

1978–1983 übernahm Hans-Jürgen Rabe (38), ein junger Partner aus der traditionsreichen Sozietät Schön & Pflüger (Hamburg), die Präsidentschaft des DAV. Auch ein neuer Geschäftsführer trat an, Karl Peter Winters, ein hochrangiger Beamter aus dem Innenministerium. Mit diesem Personalwechsel und dem Umzug nach Bonn begann eine neue Ära des DAV. Auch deshalb erhielt der Ausschuss die neue Bezeichnung »Ausschuss für Büroorganisation und Bürotechnik (BuB)«. Der Vorsitzende Dr. Johann Tiling war ein außergewöhnlicher Anwalt, der mit seinem Bruder in Hamburg unter der sehr hanseatisch wirkenden Firmierung »Tiling Gebrüder« tätig war. Er hatte auch in Frankreich studiert, war international tätig und und lehnte sich bewusst an die Firmierung der »Coudert Brothers« an. Tiling hatte zutiefst verstanden, dass Anwälte auch Unternehmer sind, und hat diese Perspektive mit seiner Firmierung, aber auch durch ein Unternehmenslogo unmissverständlich zum Ausdruck gebracht. Das war ein Condottiere, dessen Bild auf einer Fahne vor seinem Büro flatterte und die Exlibris aller Bücher zierte. Anwälte sind Landsknechte, die für fremde Interessen kämpfen – diesen Satz hörte ich von ihm zum ersten Mal.

Ich erfuhr von der Tätigkeit des Ausschusses durch einen Anruf von Karl Peter Winters. Die notwendige Erweiterung unserer EDV-Anlage hatte mich veranlasst, die EDV-Ausstellung auf dem Anwaltstag in Augsburg zu besuchen, und darüber schrieb ich in der NJW einen Bericht.177 Winters witterte Fachkenntnisse und wollte wissen, ob ich bereit sei, in dem Ausschuss mitzuarbeiten. Außer Tiling waren da noch Manfred Brüning (Köln), Dr. Abel (Schleswig), Hans Buschbell (Düren), Michael Abels (Oppenhoff), und später stießen Siegfried Irion (Munster) und Claudia Wolf (Achern) dazu – jeder in seinem Büro mit anspruchsvollen Managementaufgaben beschäftigt. Ich überlegte nicht lange, weil ich ahnte: Hier war endlich die Plattform für den Erfahrungsaustausch, nach der ich so lange gesucht hatte. Jedes Managementproblem konnte von der großen Sozietät (Oppenhoff) bis zum Einzelanwalt (Abel) im Querschnitt analysiert werden. Hans Buschbell etwa hatte sein Büro um eine große IBM-Maschine herum organisiert, auf der er mit ca. 4000 Textbausteinen die meisten Verkehrsunfälle zwischen Köln und Aachen abwickelte. Niemand hatte Vergleichbares. Michael Abels berichtete von der Eröffnung des New Yorker Büros von Oppenhoff, Claudia Wolf von den Besonderheiten der Zusammenarbeit zwischen Anwälten, Insolvenzverwalter und Steuerberatern usw. Wir trafen uns trotz des winzigen Budgets zwei- bis dreimal im Jahr, einmal auch in London zu einem Meeting mit der Law Society. Nixdorf lud den Ausschuss ein, um seine Produkte vorzustellen. Für Gäste hatte man ein eigenes Hotel, auf dem Nachttisch lag die Bibel (Paderborn!), aber auch das Buch von Friedrich Spee wider die Hexenverfolgungen178 – schwer vorstellbar, dass die lustigen Computer-Vertriebsleute abends zum Einschlafen ihre Nase da reinsteckten. Als uns anderntags Heinz Nixdorf selbst begrüßte, kamen mir erste Zweifel, ob jemand, der für uns Zeit hatte, sich genügend Zeit für sein Unternehmen nahm. Nach seinem Tod konnte die Nixdorf AG sich nicht mehr halten.

Als ich 1987 das Beck’sche Rechtsanwaltshandbuch179 plante, gelang es mir in der ersten Auflage, ein Forum für unseren Ausschuss zu schaffen: Ein ganzes Kapitel wurde nur den Managementfragen gewidmet und fast alle haben daran mitgeschrieben. Aber nicht zu allen Themen, die ich darstellen wollte, fanden sich Autoren. Über Sozietätsverträge wusste niemand etwas. Anwälte haben im Allgemeinen nur mäßiges Interesse an den Rechtsfragen ihrer Gesellschaften, weil man damit kein Geld verdienen kann. Nur die wenigsten Sozietätsverträge sind richtig durchdacht oder werden gar jeweils der neuesten Rechtsprechung angepasst. Deshalb gehören sie zu den am besten gehüteten Geheimnissen der Rechtsanwälte. Was in manchen Formularbüchern veröffentlicht wird, ist überwiegend unbrauchbar, weil viel zu abstrakt und in der Praxis werden die meisten dieser Verträge ohnehin nicht gelebt. Immerhin gab es den Sozietätsrechtausschuss im DAV. Walter Oppenhoff (82), der ihn leitete, kannte außer seinem eigenen auch keine anderen Verträge. Selbst Alfred Gleiss (83) musste passen, den ich ebenfalls anrief: »Was wollen Sie mit Verträgen, wenn sie sich ohnehin nicht streiten können?«, fragte er und zeigte wieder den kämpferischen Sinn, der ihn immer ausgezeichnet hat: 1936 war er aus Deutschland nach Schweden geflohen, hatte sich als Arzneimittelvertreter durchgeschlagen und erst mit 45 Jahren wieder ein Anwaltsbüro gründen können. Reiner Ponschab, der zwei Jahre in seinem Büro tätig war, hatte darüber berichtet. Am Ende stellte ich einfach ein Muster unseres eigenen Vertrages ins Buch und hatte das zweifelhafte Vergnügen, mir anzuhören, was für Mängel er hatte. Geändert haben wir ihn natürlich nicht, weil wir ihn tatsächlich nie benutzt haben.

Das Interesse des DAV und seiner Mitglieder für das Thema Büroorganisation und Bürotechnik (im Klartext: überwiegend Hardware und Software) überstieg bei weitem den Aufgabenbereich, den der Ausschuss bisher ausgefüllt hatte. Der Verband wollte sich dem Thema widmen, es gleichzeitig aber in angemessenem Abstand zur Verbandsarbeit halten.

So wurde am 14.4.1983 eine GmbH mit der Bezeichnung »Institut der Anwaltschaft für Büroorganisation und Bürotechnik mbH« (IdA) gegründet, Helmut Ullrich übernahm die Geschäftsführung.

Hans-Jürgen Rabe schrieb selbst 1984 das Geleitwort zu einem Sonderheft des Anwaltsblattes, in dem diese neue Struktur im Einzelnen vorgestellt wurde. Sein Nachfolger Ludwig Koch, der sich dem Thema ebenfalls engagiert widmete, sorgte 1985 auf dem 43. Anwaltstag in Mannheim für eine große Podiumsdiskussion, in der der Ausschuss seine Arbeit erläuterte und im Anwaltsblatt 10/85 ausführlich dokumentierte. Sie gilt, wie Dr. Schiefer, Stuttgart, in seiner Festrede auf dem 44. Anwaltstag 1986 hervorhob »als Geburtsstunde einer ersten Marketing-Idee der deutschen Anwaltschaft«.180

Tatsächlich war es ein Wagnis, vor Rechtsanwälten, die sich herkömmlich als Organe der Rechtspflege und nicht als Dienstleister sahen, kommerzielle Begriffe wie »Management« oder »Marketing« zu benutzen. Bücher, die sich mit solchen Fragen beschäftigen, bleiben auch heute noch wie Blei in den Regalen liegen: Anwälte scheinen eine ganz unlogische Freude daran zu haben, sich so zu organisieren, wie es ihrem jeweiligen Charakter entspricht (also oft genug kostspielig und umständlich), und effizientes Management gilt vielen von ihnen als Beweis für fehlende Kreativität und Eigensinn – Eigenschaften, die wir aber brauchen, um unser Geld zu verdienen. Gut organisierte Mitarbeiter können in großen Büros das Schlimmste verhindern, aber Einzelanwälte bleiben mit diesen Problemen allein.

Das Institut sollte sich neben den allgemeinen Managementfragen vor allem darauf konzentrieren, geeigneten Computerlösungen auf dem Markt zum Erfolg zu verhelfen.

Dr. Thomas Graefe, Anwalt aus München und Spezialist im IT-Recht, hatte dem Vorstand dazu 1982 (Gründungsjahr von Microsoft) eine 50-seitige Ausarbeitung geschrieben, die noch heute durch ihre Präzision und Vollständigkeit beeindruckt. Im Grunde enthielt sie ein grobes Pflichtenheft für eine noch nicht geschriebene Software. Schon früher hatte es immer wieder Ansätze gegeben, sich mit der Industrie zusammenzutun, um bestimmte Produkte besonders anwaltsfreundlich zu entwickeln.

Im Bereich der Software lag die Möglichkeit dazu näher auf der Hand als in allen anderen Bereichen. So entschied man sich im Vorstand, das Institut damit zu beauftragen, in Kooperation mit geeigneten Partnern (Advodat, Modsoft) dafür zu sorgen, dass ein genau auf Anwaltskanzleien zugeschnittenes Angebot auf den Markt käme.

Die Komplexität dieser Aufgabe ist von jedem unterschätzt worden und wird immer noch unterschätzt: Trotz großer Verbreitung vieler Programme gibt es auch heute noch vielfach Umständlichkeiten in der Bedienung, unlogische Arbeitsabläufe und unfreundliche Bedieneroberflächen. Modsoft versuchte mit einer Handvoll Informatiker gegen Microsoft ein Betriebssystem im Markt zu etablieren, das den unglücklichen Namen EUMEL181 trug. Das war eine hässliche Figur aus dem Werbefernsehen, die Gardinen zerstörte, oder im allgemeinen Sprachgebrauch ein chaotischer, aber liebenswerter Mensch – so wie die meisten Softwareprogramme eben waren – ein typischer Informatiker-Scherz, bei dem aber kein anderer mitlachen konnte.

Denn schon sah der DAV sich wieder vor einer wettbewerbsrechtlichen Problematik: Andere Anbieter von Software beschwerten sich spätestens seit 1986 über die – wie behauptet einseitige – Förderung von Konkurrenten durch das Institut und den dahinterstehenden DAV. 1988 war ein kritisches Jahr für den Ausschuss. Tiling hatte persönlich den aus dem Umfeld der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (die Erfinder von EUMEL!) neu gegründeten Verein Recht und Information e.V. gefördert und damit möglicherweise Irritationen mit dem Institut der Anwaltschaft heraufbeschworen, das sich in Konkurrenz zu dem Verein fühlte. Im Ausschuss sah man das unkritisch, aber die Situation eskalierte und Tiling legte sein Amt nieder. Sein Abschiedsbrief vom 24. Mai 1988 an die Mitglieder des Ausschusses ist bemerkenswert. Dort heißt es unter anderem: »Herrn Abels danke ich für die Übernahme des dornenreichen Dezernats Basisarbeit und für seinen erfrischenden Ausspruch, dass der Ausschuss doch bitte ein Sauhaufen bleiben möge!«

1991 luden wir Artur Garke, Quedlinburg, aus den neuen Bundesländern als weiteres Ausschussmitglied ein. Er konnte von den großen Organisationsproblemen der Kollegen berichten, die sich erstmals selbstständig machten. Im »Protokoll der Sitzung vom 15. April 1991 in Berlin (Ost)«, auf der der Ausschuss noch weitere vier Kollegen aus den neuen Bundesländern gebeten hatte, über die Lage zu berichten, heißt es:

»Herr Rechtsanwalt Garke beschreibt die aktuelle Situation der Kolleginnen und Kollegen wie folgt:

Keine Erfahrungen als Freiberufler, keine technische Ausstattung, Fachwissen muss erst angeeignet werden, sämtliche Hilfsmaterialien müssen angeschafft werden, Existenzängste bei den meisten Berufseinsteigern, hohe Mieten, Raumprobleme, keine Telefonleitungen der Bundespost, Schwierigkeiten beim Telefaxen (gefaxte Schriftsätze kommen häufig verstümmelt beim Empfänger an) – Ausnahme: Telefax um 2 Uhr morgens … auch die Gerichte verfügen über keinerlei Fachliteratur … der Umgang mit Mandanten und Kanzleipersonal konnte in der Regel nicht erlernt werden … Der Konkurrenzkampf ist sehr groß.«

4.4.3. Im Vorstand des DAV

Anfang 1999 rief Michael Streck – der neue Präsident des DAV – mich an und fragte, ob ich für den Vorstand des DAV kandidieren wolle. Da könnte ich doch meine Fachkenntnisse im Bereich des Managements und der Computerisierung von Sozietäten direkt auf höchster Ebene einbringen, denn der Ausschuss für Büroorganisation und Bürotechnik existiere nur noch auf dem Papier.

Michael Streck war klar, dass er den Vereinen und Arbeitsgemeinschaften, von denen die Wahl abhing, einen politisch nicht vernetzten Quereinsteiger nur mit Berufung auf dessen Fachkenntnisse verkaufen konnte. Ich bereitete ein paar Vorschläge vor, was man in Zukunft machen könnte, wurde gewählt und dann noch einmal vier Jahre später bestätigt. Die Arbeit in diesen acht Jahren empfand ich als große Bereicherung. Wer nie einer politischen Partei angehört hat oder sonst im Vereinswesen Erfahrungen sammeln konnte, lernt eine völlig neue Welt kennen.

Ich habe sehr schnell gesehen, dass der Anwaltverein an die Aufgabe, den Gesetzgeber zu beraten und zu kritisieren, völlig anders herangeht als die Kammern. Es sieht das jeweilige Problem aus der Sicht des freien Berufs und er hat eine klare Vorstellung davon, wie das Rechtssystem gestaltet werden muss, damit die Gerechtigkeit eine Chance hat. Dass er die Anwälte dabei als wichtige Elemente betrachtet, ist selbstverständlich – der Richterbund sieht das (berechtigterweise) distanzierter. So trägt jeder seine Perspektive bei. Was mich am meisten verwundert, ist die tatsächlich gelebte politische Neutralität aller Anwälte, die sich im Anwaltverein engagieren. Mitglieder aller Parteien und Gruppierungen, Konfessionen usw. sind vertreten und können doch in den meisten Fällen ihre parteipolitische Brille absetzen und »nur noch Anwälte sein«.

Der DAV hat die deutsche Einheit im unmittelbaren Kontakt zu den Politikern und Ministerien begleitet. Schon 1990 eröffnete er neben den Hauptsitz in Bonn ein Büro in Berlin und ist im Jahr 2000 in ein neues Gebäude an der Littenstraße gezogen. Durch Zufall war der Hauptgeschäftsführer Dierk Mattik Bauingenieur, bevor er Richter in Hamburg wurde. Er hat in dieser schwierigen Zeit Bedeutendes geleistet. Dazu gehörte es vor allem, eine neue Kostenrechnung einzuführen, die brauchbare Kennzahlen für die Steuerung des Vereins liefert, und den Kostenrahmen für den Neubau einzuhalten, eine Kunst, die selten gelingt.

Erstaunlich war (und ist) das Ausmaß des ehrenamtlichen Engagements, das nicht nur die Mitglieder des Vorstandes, die Gesetzgebungsausschüsse und die Geschäftsführenden Ausschüsse der Arbeitsgemeinschaften zeigen. Wer sich ein Bild davon verschaffen will, kann die Stellungnahmen und Gutachten jetzt im Internet einsehen. Meine Zeitaufschreibung sagte mir, dass ich zwischen 120 und 280 Stunden pro Jahr investierte, aber viele andere Kollegen, vor allem die Mitglieder des Präsidiums, werden auf weit höhere Zahlen kommen. Wer den Vorstandsvorsitz übernimmt, hat einen Vollzeitjob und muss – wie Michael Streck oder Felix Busse – verständnisvolle Sozien haben, die ihn entsprechend freistellen. Ein Einzelanwalt wie Hartmut Kilger muss am Ende seines Amtes im Grunde das Büro neu aufbauen. Die Arbeit des Deutschen Anwaltvereins wird von den kleinen und mittleren Sozietäten geprägt. Ich war schon erstaunt, als ich Ludwig Koch, einen der begabtesten Redner, die ich je gehört habe, nach intensiver Arbeit auf dem Anwaltstag und vielfältigen Begegnungen mit Politikern usw. in seinen uralten Ford Kombi steigen sah, um wieder nach Köln ins Büro zu kommen, um Eilsachen zu erledigen. Politiker mit vergleichbaren Arbeitsleistungen setzen sich nach hinten.

4.4.4. Die Arbeitsgemeinschaften Anwaltsmanagement und Informationstechnologie (ab 2000)

Nach der Wahl im Mai 1999 konnte ich die Situation von innen her etwas genauer analysieren. Neben dem BuB-Ausschuss gab es im DAV auch den Ausschuss für Qualitätsmanagement (TQM) und einen anderen nur für Marketing, die auch jeweils mit dem Institut der Anwaltschaft zusammenarbeiteten. Alle drei Ausschüsse hatten sich auch mit rechtlichen Problemen des Computerrechts beschäftigt. Diese Aktivitäten sollten nun in einer neuen Arbeitsgemeinschaft zusammengefasst werden. Michael Streck, der neue Präsident des DAV, bat mich im Jahr 2000, das zu übernehmen. Ich schlug ihm eine Zweiteilung vor:

  • eine neue Arbeitsgemeinschaft Anwaltsmanagement sollte sich mit allen Fragen befassen, die in diesen Bereich gehörten,
  • eine weitere Arbeitsgemeinschaft Informationstechnologie sollte die Spezialisten des Fachs zusammenfassen und ihnen eine Plattform bieten.

Die Arbeitsgemeinschaft Anwaltsmanagement, die heute Kanzleimanagement heißt, hat nur wenige Mitglieder gefunden. In der Gründungsversammlung, zu der Dietrich Wenke vom Hamburger Anwaltverein eingeladen hatte, fanden sich 34 Kollegen, die fest davon überzeugt waren, von den 100.000 Anwälten, die es damals schon gab, müssten sich doch mindestens 10 % für ihr wirtschaftliches Überleben und damit für ihre Managementprobleme interessieren.182 Darin haben wir uns getäuscht: Zum 30. Juni 2012 gibt es 247 Mitglieder, also 0,15 % der zirka 160.000 damals zugelassenen Anwälte. Anwälte sind Einzelwesen, auch wenn sie in Sozietäten miteinander arbeiten.

Anders die Arbeitsgemeinschaft Informationstechnologie: Sie hat unter der energischen Leitung von Hans-Peter Bräutigam (Noerr), der auch die bayerischen IT-Rechtstage organisiert hat, und Astrid Auer-Reinsdorff (Berlin) nicht nur die Fachanwaltschaft Informationstechnologie durchgesetzt, sondern ein großes Netzwerk von IT-Rechtstagen und anderen Veranstaltungen geschaffen, an denen sich 60 % bis 70 % der Computerrechtsspezialist in Deutschland beteiligen.

5. 1997 – 2002, München

5.1. Heuking Kühn Lüer Heussen Wojtek

Düsseldorf, Neptun an der Königsallee
Düsseldorf, Neptun an der Königsallee

5.1.1. Mann mit Grill sucht Frau mit Kohle

In den Jahren bis 1996 haben wir nicht mehr ernsthaft an die Möglichkeit einer Fusion gedacht und uns auf eigenes Wachstum konzentriert. In München hatte André Turiaux den Bereich Umweltrecht183 etabliert, Martin Imbeck und Gabriele Fruhmann (beide früher bei Kiethe) waren im Bank- und Prozessrecht tätig, Markus Neumaier im Insolvenzrecht. In Berlin hatten wir jedes Jahr einen neuen Anwalt eingestellt und gute Nachwuchsleute. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen: Die Zahl der Anwälte in München und Berlin lag Ende 1996 bei 25, der Umsatz bei 10.271 Mio. DM: Bei einer Verdoppelung der Berufsträger hatten wir den Umsatz vervierfacht. Der Pro-Kopf-Umsatz betrug 410.840 DM. Vor allem daran war eine erhebliche Verbesserung der Mandatsstruktur abzulesen.

Unsere Ansicht zu Fusionen hatte sich in diesem Jahr nicht grundsätzlich geändert. Wir kannten viele mittelgroße Büros, die sich ein Beispiel an den Großen genommen und sich zusammengeschlossen hatten. Immer ging es um die Frage, ob die beteiligten Büros Synergie-Effekte erzielen könnten, um Sichtbarkeit und Differenzierung zu steigern und langfristig mehr Umsatz, geringere Kosten und höhere Qualität in der Arbeit zu erreichen. Fusionen und Heiratswünsche haben viel miteinander gemeinsam (»Mann mit Grill sucht Frau mit Kohle«) – auch die Illusionen sind in beiden Fällen ähnlich. Daneben gibt es wichtige Probleme, die grundsätzliche Entscheidungen erforderten. In vielen kleineren Sozietäten gab es Abfindungs- oder Pensionsregelungen: Wer sollte diese Verpflichtungen übernehmen? Häufig ist jüngeren Partnern erst bei solchen Gesprächen klar geworden, welche Risiken sie durch den Beitritt in die Sozietät übernommen hatten. In diesen Modellen lag die Pension für einen älteren Partner auf der Höhe der Ansprüche eines Senatspräsidenten beim Oberlandesgericht und seine Witwe erhielt dann noch 60 % dieses Betrages. Bei zählebigen Anwaltswitwen konnte das teuer werden. Die großen Sozietäten hatten alle diese Regelungen abgeschafft (»naked in, naked out«), und dazu gab es eine einfache Methode: Wenn die älteren Partner nicht mit einer erheblichen Reduzierung ihrer Ansprüche einverstanden waren, wanderte der umsatzstarke Mittelbau zusammen mit seinen Mandaten ab – anderswo wurden sie gern aufgenommen. Die Alten können nicht mehr gehen, die Jüngsten noch nicht, weil sie keinen Zugang zu den Mandaten haben.

Dann der Kampf um die Namensrechte auf den Briefköpfen. Nur wenige deutsche Sozietäten haben es geschafft, ihren Namen international durchzusetzen. Auch bei nationalen Fusionen verkürzt sich die Nennung des Büros häufig auf den ersten oder allenfalls die ersten beiden Namen. Der Kampf um diese Frage hat nicht nur etwas mit der Eitelkeit zu tun, sondern mit der Sogwirkung der Marke, ihrer Stabilität und vielen anderen Faktoren, die den Wert ausmachen: Wer von Quack in Berlin oder von Riesenkampff in Frankfurt sprach, redete über Kartellrecht und nichts anderes.

Und schließlich die Petitessen: Ein fast unterschriftsreifer Sozietätsvertrag scheiterte, als einer der Partner sich weigerte, einen vor einem halben Jahr neu verlegten Teppichboden herauszureißen, weil seine Farbe der neuen Corporate Identity nicht entsprach. Der Seniorpartner der anderen Seite beharrte darauf, und während man um diese Details kämpfte, enthüllte sich für die anderen Partner ein Charakter, dem sie nicht länger begegnen wollten. Firmenkultur kann man nur erfahren, man kann sie sich nicht anlesen. Selbst wenn die Prospekte usw. nicht nur die Butterseite zeigen, können sie doch nie die Zwischentöne vermitteln, die für die tägliche Zusammenarbeit entscheidend sind. Ich sammelte solche Nachrichten, um mir ein Bild zu machen, und viele Erfahrungen gewannen wir durch die internationale Zusammenarbeit und den Einblick in die sehr viel größeren Sozietäten im Ausland.

5.1.2. Heuking Kühn Lüer Wojtek

Anfang 1997 wurde Anna Maria Wessels, die das Franchiserecht betreute, von einem der früheren Partner der Sozietät Lüer (Köln) angesprochen. Hans-Jochem Lüer hatte sich kurz zuvor von seinem Partner Görg getrennt und war mit einer Reihe Partnern zu Heuking Kühn (Düsseldorf) gestoßen. Hans-Günter Heuking und Wolfgang Kühn hatten sich Anfang der Siebzigerjahre als junge Anwälte aus der Sozietät Graf von der Goltz, Wessing & Partner verabschiedet und danach mit Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern assoziiert. 1992 zerlegte sich die traditionsreiche Sozietät Ole Hansen Ewerwahn in Hamburg in zwei Teile: Unter der Führung von Ralf Wojtek schlossen sich sechs Anwälte Heuking Kühn an (die »Menschewiken«184), die anderen fusionierten mit Feddersen Laule (die »Bolschewiken«). Nun hatte man die Idee diskutiert, sich auch im Süden auszubreiten.

Wir kannten Heuking Kühn aus dem Markt als dynamische Sozietät. Sie war allgemein im Gesellschaftsrecht und Vertriebsrecht bekannt, Wolfgang Kühn darüber hinaus in der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit. Ich kannte den Medienrechtler Michael Schmittmann. Der Prospekt war nicht nur auf Deutsch und Englisch zu haben, sondern auch auf Französisch und Japanisch – Patrick Celestine und Hironaga Kaneko hatten als Muttersprachler besondere Chancen bei französischen und japanischen Kunden, zwei Auslandsschwerpunkten, für die Düsseldorf prädestiniert ist. Das Kölner Büro repräsentierte eine Reihe Versicherungsgesellschaften, Ralf Wojtek hatte in Hamburg namhafte Klienten in der Logistik. Heuking gehörte zum Netzwerk Denton International: Hier begegneten wir wieder der Sozietät, die uns 1977 in London freundlich aufgenommen hatte.

»Die ganze Geschichte von Heuking ist geprägt von Einzelinitiativen – von der Fähigkeit Einzelner, Projekte durchzuziehen«, sagte der (aus Düsseldorf stammende) Frankfurter Partner Rudolf du Mesnil im Interview mit JUVE. Die Überschrift des Berichts hatte meinen Slogan aufgenommen: »Flottille statt Schlachtschiff«. Mit diesem Bild wollte ich sagen, dass mehrere Einheiten mit genügender Entscheidungsfreiheit flexibler und dadurch erfolgreicher sein können als eine große überorganisierte Firma. Hier passten die Unternehmenskulturen beider Sozietäten gut zusammen. Bei der Gewinnverteilung allerdings, die immer den Kern der Unternehmenskultur bestimmt, weil nicht nur die Strategie, sondern auch das Verhalten jedes einzelnen Partners von ihr abhängt, gab es disparate Modelle. Es hatten sich zwei Kreise gebildet: Im »Düsseldorfer Kreis« (Düsseldorf, Hamburg, Berlin, Frankfurt, Chemnitz) wurden die Partner ergebnisorientiert vergütet, Köln verteilte nach einem Lock-Step-orientierten Punktesystem. In München gab es eine Mischform: 40 % wurden nach Lock-Step-Kriterien verteilt, weitere 40 % umsatzbezogen und die restlichen 20 % nach »weichen Kriterien«, also Beiträge zum Management, zur Fortbildung oder zur allgemeinen Akquisition. Das wäre der dritte Kreis, und daran sollte sich – jedenfalls für die ersten zwei Jahre – nichts ändern, bis ein neues Modell entstanden wäre. Wir vertrauten auf Wolfgang Kühns Alt-Düsseldorfer Weisheit: »Mer muss ooch jönne könne!«

Der Sozietätsvertrag, den man uns überließ, war kurz und knapp – ein bisschen sehr kurz, wie ich fand. »Da machen Sie sich mal keine Sorgen, in der Praxis sieht das alles ganz anders aus«, sagte mir einer der Heuking-Partner, was ich nicht unbedingt als Beruhigung empfand. Aber ich muss zugeben: In unseren eigenen Vertrag hatten wir auch schon seit Jahren nicht mehr hineingesehen, und ob er dem entsprach, wie wir uns verhielten, wollte ich lieber nicht so genau wissen. Der Beitritt würde zwei Zeilen erfordern, aber wir wussten noch nicht, wer von unseren Partnern mitgehen würde. Denn eines stand fest: Unsere alte Abfindungsregelung musste beendet werden. Wir kannten keine Pensionsansprüche, sondern hatten ein anderes Modell entwickelt: Wer Partner wurde, musste sich mit einem definierten Betrag einkaufen, der so berechnet war, dass er aus den Gewinnen der folgenden 3–5 Jahre gut bedient werden konnte. Wer ausschied, erhielt seinen Anteil wieder ausbezahlt. Der wesentliche Unterschied zu vergleichbaren Regelungen war: Der Auszahlungsanspruch war genau festgelegt, so dass es keinen Streit um seinen Wert geben konnte! Am Ende unserer Diskussion ist neben den Gründern nur Michael Ketterl zu Heuking Kühn gegangen, die anderen haben die Abfindung vorgezogen: Es war eine gute Investition, wie die Wachstumszahlen auf den ersten Blick zeigen.

Für uns Gründer war das schon eine bittere Pille, umso mehr, als wir unsere eigenen Ansprüche für die Zukunft endgültig begraben mussten. Ihr Wert war – gemessen an den Umsatzzahlen der letzten drei Jahre – erheblich. Aber sie standen nur auf dem Papier, und ob uns in 20 Jahren irgendjemand wirklich etwas zahlen oder lieber die Sozietät verlassen würde, stand in den Sternen. Wir saßen in der Rheinpfalz, tranken zwei Bier und überlegten, was zu tun ist. Viel wurde nicht gesprochen. Die Entscheidung geschah »ohne Aussprache«, war aber einstimmig: Das muss das Schiff abkönnen! Oder, wie unsere neuen Düsseldorf Partner uns wissen ließen:

»Et iss, wie et iss
Et kütt, wie et kütt
un et iss noch immer
jutjegangen.«

Berlin war ein zweites Problem. Roland Hoffmann-Theinert hatte gerade die beiden Berliner Büros von Heuking und Lüer am Kurfürstendamm zusammengeführt. Unser Büro lag kaum 100 m entfernt ums Eck in der Schlüterstraße. Ich hätte von dort parallel weiterarbeiten können (es gab eine Reihe von Sozietäten mit zwei Berliner Büros), denn meine Mannschaft gefiel mir. Im Immobilienrecht arbeitete ich mit Torsten Schein und Maren Stötter, im Computerrecht mit Markus Schmidt und Norman Müller (beide heute tci).

Am Ende entschied ich mich doch, wieder nach München zurückzugehen und die Berliner Mandate der Sozietät zu überlassen. Das waren damals ungefähr 1,5 Millionen DM, von denen ich nur einen geringen Teil von München aus weiterführen konnte. Auch die Berliner würden sie nicht ganz halten können. Maren Stötter ging zu Wellmann (die später wieder mit Heuking fusionierten), Torsten Schein zur Deutschen Bahn, Norman Müller machte sich selbstständig, Markus Frank wechselte zu Gentz & Partner, wo er heute eine Sozietät von zweiundzwanzig Anwälten und Steuerberatern führt. All diese Entwicklungsmöglichkeiten gingen verloren. Einen Ausgleich für den Goodwill gab es deshalb nicht. Der Beitrittsvertrag wurde um einige Regelungen zu Berlin ergänzt und wir vereinbarten sicherheitshalber eine außerordentliche Kündigungsfrist zum 31.12.2000. Dahinter stand von uns aus die Idee, durch den Zeitdruck eine stärkere Integrierung der Sozietät zu erreichen, und diese Anregung wurde aufgegriffen.

Mit Wirkung vom 18. Juni 1997 hieß die Sozietät Heuking Kühn Lüer Heussen Wojtek. Ich freute mich auf Düsseldorf, denn in dieser Stadt bin ich aufgewachsen. Also feierten wir in einer der alten Traditionsgaststätten der Altstadt »Zum Füchschen«; einige Monate später zog das Düsseldorfer Büro mit seinen vielen Kunstwerken und einer riesigen Bibliothek in die früheren Räume des amerikanischen Konsulats unmittelbar am Rhein. Helma hatte dort vor Jahren gearbeitet und fand ihr früheres Büro wieder, weil auch innen alles unter Denkmalschutz stand. Wir fühlten uns da heimisch. Ein halbes Jahr später erschien bei Otto Schmidt das Handbuch Vertragsverhandlungen und Vertragsmanagement, an dem ich als Herausgeber und Autor längere Zeit gearbeitet habe. Ich betrachtete es als unsere Visitenkarte und als gutes Omen für die künftige Zusammenarbeit in einem so viel größeren Rahmen, als wir ihn bisher gekannt hatten.

5.1.3. Integration

In den folgenden zwei Jahren kam es für uns alle darauf an, das Münchner Büro stabil zu halten und den Verlust der Berliner Umsätze wieder auszugleichen. In München musste ich die IT-Gruppe wieder völlig neu aufbauen. Zusätzliche Kosten teils aus der Sozietätsumlage, teils aus der Auflösung des Berliner Büros kamen auf uns zu. 1998 gab es eine kleine Rückwärtsbewegung, aber 1999 und weiter bis Mitte 2000 war wieder Wachstum angesagt – im Schnitt waren es 8 % pro Jahr. Das war verglichen mit dem unverkennbaren Boom in diesen Jahren nicht sehr viel, erklärte sich aber durch den Aufwand, den die Integration der Sozietät erforderte. Immerhin wurde bei Heuking nur samstags und immer in Düsseldorf getagt, damit die Arbeitszeit in der Woche nicht angeknabbert wurde. Aber neben den Partnerversammlungen gab es eine unendliche Korrespondenz über jeden einzelnen Punkt, der zum Management eines solchen Unternehmens gehört. Unsere Münchner IT-Landschaft war voll vernetzt und mit geeigneter Software versehen, an den anderen Standorten gab es nur Einzel-PCs und natürlich sollte das neue Netzwerk überall installiert werden. Dann die Finanzfragen: Allein die Klärung der Zuständigkeiten der beteiligten Finanzämter erforderte wochenlangen Einsatz der Steuerberater, die Versicherungen waren zu koordinieren, einheitliche Regeln für die Einstellung von Personal usw. aufzustellen. Unser Qualitätshandbuch war die Grundlage dafür, konnte aber nicht unverändert über die ganze Sozietät ausgerollt werden.

All diesen Problemen entsprachen aber auch Chancen. Unsere Mandanten waren uns ohne Ausnahme gefolgt, denn wir änderten nichts an der Honorarstruktur, konnten aber die Servicequalität erheblich erhöhen. Die Sichtbarkeit war auf einen Schlag erhöht: Wir zählten zu den 20 großen Sozietäten in Deutschland (damals Platz 13). Hier und da entwickelten sich auch zwischen den einzelnen Büros Felder für eine gemeinsame Zusammenarbeit in den Mandaten. Unsere IT-Gruppe wurde im Focus-Ranking von 1999 zu den 25 besten in Deutschland gezählt.

Aber die Gespräche über eine Vereinheitlichung der Gewinnverteilungsmodelle und anderer strategischer Fragen kamen immer wieder ins Stocken. Im Nachhinein ist mir klar, dass mein damaliger Ansatz, das Münchner Modell auf die Strukturen von Heuking zu übertragen, nicht richtig war. In dieser Größenordnung passt ein vom Lock-Step-Gedanken getragenes System nur, wenn man an allen Standorten eine sehr homogene und ertragreiche Mandatsstruktur, ein straffes Management und eine einheitliche Unternehmenskultur hat. Sozietäten, die so ein Profil aufweisen, entwickeln sich nicht von heute auf morgen. Sie brauchen jahrzehntelange Traditionen (wie Hengeler oder Gleiss), die man durch Mehrheitsentscheidungen nicht ersetzen kann. Die Partner im »Düsseldorfer Kreis« haben das intuitiv verstanden: Eine Sozietät, in der jeder Partner für sich allein verantwortlich ist (das war die prägende Unternehmenskultur), muss sich im Grunde nur mit der Frage beschäftigen, wer sich mit den Aufgaben beschäftigen soll, die keinen Umsatz bringen. Dazu gehört das gesamte Management, darunter vor allem das Finanzmanagement, die Personalentwicklung, die Markenpflege, die Know-how-Entwicklung usw.

Es sind in den meisten Sozietäten die umsatzstarken Partner, die diese Aufgaben so nebenher miterledigen und dadurch ihre Stellung in der Sozietät noch weiter stärken. So entstehen sichtbare (und auch manche unsichtbaren) Hierarchien, aber wenn die anderen Partner sich an sie gewöhnen, dann läuft der Laden.

Heussen Braun von Kessel war immer eine hierarchiefreie Zone – mit allen Vor- und Nachteilen, die so eine Grundeinstellung hat. Keiner von uns hat damals einen Weg gefunden, der für alle gangbar gewesen wäre. Über die Erfahrungen, die ich bei all dem machte, habe ich ausführlich an anderer Stelle berichtet185.

5.2. Forschung und Lehre

Erwin Wurm, Museumsquartier Wien 2011
Erwin Wurm, Museumsquartier Wien 2011

5.2.1. Wissenschaftliche Anfänge

In der wissenschaftlichen Szene trafen wir Rechtsanwälte Mitte der Achtzigerjahre auf eine bunte Mixtur zwischen Computerfreaks, die Juristen geworden waren, geflohenen Baurechtlern (wie Michael Bartsch und mir selbst), Rechtstheoretikern und Logikern (Wolfgang Kilian, Ulrich Klug) und – wie Bernd Lutterbeck186 enthüllt hat – mit Alfred Podlech und Wilhelm Steinmüller auch Theologen, eine Linie, die noch heute bis zu Thomas Hoeren (früher: Kirchenrecht, Münster) reicht. In diesem Fach lernt man früh, was Allwissenheit bedeutet, wie der gläserne Mensch aussieht und dass alle Haare auf unserem Kopf gezählt werden – Einsichten, die für das Datenschutzrecht unverzichtbar sind.

Das Computerrecht (oder EDV-Recht), das wir heute in einem umfassenden Sinn als Recht der Informationstechnologie bezeichnen, hat sich aus rechtlichen Problemstellungen heraus entwickelt, die etwas mit Verwaltungsaufgaben zu tun haben. Vor der Entwicklung von Personalcomputern gab es nur Main Frames, also mächtige Geräte, die in den Unternehmen und der Verwaltung eingesetzt wurden. Hier ging es darum, die rechtlichen Grundsätze der Verwaltung auch in einem neuen technologischen Umfeld richtig umzusetzen. Verschiedene wissenschaftliche Gesellschaften gründeten sich, so die Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (1968–2001), die Gesellschaft für Informatik (1969), die Arbeitsgemeinschaft Verwaltungs Informatik (1980) (Hans-Jürgen Garstka, Jochen Schneider, Karl-Heinz Wiegand). Auch an den Universitäten bildeten sich Forschungsgruppen um Klaus Lenk, Hans Peter Bull, Bernd Lutterbeck usw.

1986 fusionierten der anwaltlich geprägte Weiße Verein (DGIR) und die Gesellschaft für Recht- und Verwaltungs-Informatik zur neuen DGRI (Deutsche Gesellschaft für Recht und Informatik), in der nun die anwaltliche Seite wie die Seite der Verwaltungsrechtler und der Wissenschaftler ausgewogen vertreten sind und seit Jahren eine stabile Plattform haben (im Jahr 2012: 670 Mitglieder). Damals lernte ich Michael Bartsch, Jochen Schneider, Frank A. Koch und manche anderen Kollegen kennen, die die anwaltlichen Grundsteine des Computerrechts gelegt haben.

Im wissenschaftlichen Bereich waren es zunächst die Rechtstheoretiker, die sich mit der Frage auseinandersetzten, ob der Einsatz von Computern verbesserte Ergebnisse bei der Rechtsanwendung bringen könnte. Fritjof Haft, Wolfgang Kilian, Bernhard Schlink und andere gingen diesen Fragen nach. Man versuchte es unter anderem mit dem § 142 StGB – der Unfallflucht im Straßenverkehr. Hier waren die Tatbestandsmerkmale so scharf definiert, dass man hoffen konnte, mit mathematischen Modellen einheitliche Ergebnisse zu erreichen. Das Ergebnis war aus verschiedenen Gründen negativ. Einer der wesentlichen Gründe liegt darin, dass die Rechtsanwendung – anders als viele Juristen und vor allem Laien annehmen – nicht nur den Gesetzen der Logik folgt (wie das letzte Kapitel im Einzelnen zeigt). Ein weiteres Argument kommt hinzu: Recht regelt Konflikte im sozialen Leben zwischen Menschen und die Beurteilung solcher Konflikte können wir aus grundsätzlichen Erwägungen nicht den Maschinen überlassen. Sie müssen uns dienen, nicht umgekehrt – jedenfalls so lange, bis wir die Maschinen von uns noch unterscheiden können.

Nicht jedem sind diese Erkenntnisse geläufig, wie jüngere Entwicklungen in China zeigen. »Computer ohne Gefühle und Bedürfnisse sind bei ihren Entscheidungen unbeeinflusst von äußeren Faktoren«, meint der Vizepräsident der Politik- und Rechtsuniversität Chinas, Zhang Baosheng187 (2006). Sieht man darin die verborgene Behauptung, rechtliche Urteile müssten frei von Gefühlslagen sein, wäre das nicht richtig. Die Entscheidung für ein bestimmtes Urteil ist immer von Gefühlen beeinflusst. Die Aufgabe der Richter ist es, sich dessen bewusst zu sein, und das bedeutet: Tatsachen und Meinungen unterscheiden und den Fall aus jeder zugänglichen Perspektive heraus zu betrachten. Aber vermutlich zielte die Bemerkung nur auf die Forderung, den chinesischen Richtern die Möglichkeit zu geben, auch die Urteile anderer Kollegen kennen zu lernen, damit ihre Entscheidungen nicht im luftleeren Raum hängen bleiben. Denn diese chinesischen Programme sind in erster Linie Datenbanken, in denen Urteile zu finden sind, über die ein Richter sonst mangels Veröffentlichung gar nichts wissen könnte. In Europa entnehmen wir das aus unseren allgemein zugänglichen Datenbanken und wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Computer sind in China wie bei uns nützlich, wenn es darum geht, Informationen zusammenzutragen, aber die Arbeit am Vergleich können sie uns (jedenfalls derzeit) nicht abnehmen. Erstaunlich scheint mir, dass die Such-Algorithmen, die in juristischen Datenbanken verwendet werden, verglichen mit Google geradezu unbeholfen erscheinen. In den Google-Algorithmen steckt die einfache Idee, das für wichtig zu erklären, wonach am häufigsten gefragt und was am häufigsten zitiert wird. Google hat diese Idee nicht erfunden. Sie entspricht einer uralten Grundregel medizinischer Diagnostik: »Häufiges ist häufig, Seltenes ist selten.« In der wissenschaftlichen Recherche ist sie lange vor den Computern verwendet worden. Schon in dem Fünfzigerjahren entwickelte Eugene Garfield (* New York 1925) den Science Citation Index (SCI), damals ein gedrucktes Nachschlagewerk, heute eine Datenbank in der tagesaktuell angegeben wird, in welchen Publikationen einzelne Werke zitiert werden. Daraus ergibt sich gleichzeitig, wer nicht zitiert, also totgeschwiegen wird. Zitierkartelle werden aufgedeckt. Karl Marx, die Bibel und der Koran führten in den Fünfzigerjahren die Liste der meistzitierten Werke an, dann folgten Mao Tse Dong und sogar Stalin. Heute hat sich das Bild kaum geändert. Das beweist: Heute werden diese Bücher zitiert, um sie zu kritisieren, früher, um ihnen zuzustimmen. Bis heute gibt es kein juristisches Datenbankprogramm, das häufig zitierte Urteile an die Spitze stellt, obwohl das für uns sehr nützlich wäre.

1973 wurden die ersten Lehrbefugnisse für Rechtsinformatik vergeben (Hopt in München, Kilian in Frankfurt). Wolfgang Kilian verband seinen Ruf nach Hannover mit der Gründung des Instituts für Rechtsinformatik (IRI), aus dem er später europaweit den Eulisp-Studiengang (LLM) entwickelte. Seit 2006 kann man sich als Fachanwalt für Informationstechnologierecht qualifizieren (2012: ca. 300).

Das Recht der Informationstechnologie hat sich im Lauf der Zeit als riesige Querschnittsmaterie herausgestellt, die vom Verfassungsrecht bis zum Strafrecht jedes Rechtsgebiet erfasst – mindestens im Bereich des Datenschutzes. Vermutlich deshalb konnte es sich an den Universitäten und in den Märkten nicht so verfestigen wie besser abtrennbare Rechtsgebiete (Wettbewerbsrecht, Versicherungsrecht et cetera). Im Grunde erfordert es eine Spezialisierung neben anderen Schwerpunkten. Wer es in seiner ganzen Bandbreite beherrschen will, darf sich nicht zu eng aufstellen.

5.2.2. München 1988 – Ingenieure und Anwälte

Als mich eines Tages ein Anruf der Technischen Universität München, Institut für Integrierte Schaltungen, erreichte, konnte ich damit wenig anfangen. Professor Ingolf Ruge erläuterte mir, dass es da um das Herzstück des Computers geht. Als Berater der Bayerischen Landesregierung war er es gewöhnt, Leuten ohne Fachkenntnisse etwas zu erklären. Und das – so schlug er vor – könnte ich doch auch bei seinen Studenten machen: Viele von ihnen gingen zu großen Unternehmen oder machten sich selbstständig und hätten keine Ahnung davon, welche Basis-Rechtskenntnisse sie in der Welt der Wirtschaft brauchen würden. In den USA wusste man das seit Mitte der Siebzigerjahre, jetzt war das Thema auch in Deutschland angekommen.

Ich sagte gern zu und dann sprach ich zwei Semester lang über Patentrechte, Lizenzverträge, den rechtlichen Schutz von Softwareentwicklung usw. Den Kulturschock, der die Studenten und mich gleichzeitig traf, hatte ich nicht vorausgesehen. Sie sahen sehr viel improvisierter aus (wenn man das höflich ausdrücken will), als man das von Jurastudenten gewöhnt ist. Lange Haare waren damals noch üblich, aber Pferdeschwänze, Jesus-Latschen und Ökoaufkleber in allen Formen und Farben eher nicht. Trotzdem saßen sie fromm und gottesfürchtig da, weil sie dachten, dass auch die rechtlichen Gesetze Naturgesetze sein müssten, die man zwar kennen, aber nicht weiter diskutieren kann. Das erinnerte mich an meine ersten beiden Semester. Dass ein Amtsrichter anderer Ansicht sein konnte, als das ihm übergeordnete Oberlandesgericht, wollte ich damals genauso wenig glauben, wie die Ingenieurstudenten. Dass man sich stets (!) fragen müsse, ob das von einem Parlament erlassene Gesetz auch wirklich der Verfassung entspreche, weil sonst die Gewaltenteilung nicht funktioniere, war eine noch aufregendere Botschaft. Die Ingenieurstudenten hielten solche Gedanken für chaotisch. Der Apfel fällt vom Baum, weil die Schwerkraft ihn nach unten zieht und nicht, weil die Erde gerade in diesem Augenblick zwei Meter nach oben hüpft – da kann ein Verfassungsgericht erklären, was es will. Nur wer Newtons Erkenntnisse durch eigene Experimente widerlegen kann, wird in dieser Welt ernst genommen. In der Welt der Juristen ist zersetzender Zweifel erforderlich, um den Humus zu bilden, auf dem das Recht wächst. Naturwissenschaftlern, vor allem Ingenieuren, ist das schwer zu vermitteln.

Denn zu allem Überfluss weiß man nie, was Ingenieure oder Naturwissenschaftler denken. Sie hören still zu, reden nicht dazwischen und haben selten Fragen. Sie zeichnen lieber Schemata, arbeiten mit Formeln und denken sich ihr Teil. Aus Sicht eines Juristen haben sie geradezu autistische Züge und Ingenieure, die gut reden können, werden von ihren Kollegen eher kritisch gesehen. Wer als Anwalt mit ihnen umgehen will, sollte sich daran erinnern, dass auch wir gewöhnt sind, mit Prüfungsschemata zu arbeiten, dass die Strukturen von Gesetzen – jedenfalls auf der Oberfläche auch grafisch darstellbar sind188 und man Interessenkonflikte mit einer Mindmap schneller erläutern kann als mit seitenlangen Texten. Der einfachste Weg, Ingenieurstudenten das Recht zu erklären, ist es, sie mitarbeiten zu lassen und keine Vorträge zu halten. Bei der Erklärung, was Patentrechte von Urheberrechten unterscheidet und diese wiederum vom Know-how-Schutz, kam mir die glückliche Idee, zu fragen, wann wohl der erste Erfindung gemacht worden sei, auf die der Erfinder (oder die Erfinderin) ein Patent hätte beanspruchen können, wenn es ein Patentrecht damals schon gegeben hätte. Da gab es Rätselraten und weiter zurück als ins 17. Jahrhundert (Erfindung des Porzellans in Sachsen, in China einige Jahrhunderte früher) wollte keiner gehen. Aber die erste wirklich revolutionäre Erfindung war ganz sicher die Idee, wie man Feuer transportieren kann (Weidenkorb flechten, mit Lehm auspolstern und dann die brennenden Äste hineinstapeln). Sie muss irgendwann zwischen 50.000 – 30.000 v. Chr. gemacht worden sein, vermutlich von einer Frau, weil sie die Hüterin des Feuers war und beim Wechsel der Lagerstätte immer wieder mühevoll neues Feuer machen musste189. Darauf hätte es zweifellos ein Patent gegeben und ebenso ein Urheberrecht für die Höhlenmaler von Lascaux.

5.2.3. Das Computerrechtshandbuch

Anfang 1986 sprach mich Michael Abels (damals und jetzt wieder: Oppenhoff Köln) im DAV-Ausschuss Büroorganisation an, in dem wir beide ehrenamtlich tätig waren. Er hatte das Kapitel »Gewährleistung« in dem von Wolfgang Kilian bei C.H. Beck geplanten Computerrechtshandbuch übernommen und fand keine Zeit, sich der Aufgabe zu widmen. Meine strategische Entscheidung, mich dem Computerrecht als Schwerpunkt zu widmen, war längst gefallen. Auch die Mitarbeit in dem Ausschuss brachte mir nicht nur neue Erkenntnisse auf dem Gebiet des Computereinsatzes im Anwaltsbüro, sondern auch den Erfahrungsaustausch mit anderen Mitgliedern, die sich mit den gleichen Rechtsproblemen herumschlagen mussten wie wir.

Es war eine große Herausforderung, eine solche Aufgabe zu übernehmen, für die mancher Autor aus der ersten Generation der Computerrechtler gewiss qualifizierter gewesen wäre. Intuitiv habe ich den Rat des Zeichners Paul Flora beherzigt: »Nachdenken und Schnaps bringt nichts. Du musst einfach anfangen190

Unsere Erfahrungen mit dem Einsatz von Checklisten bei Computerprojekten hatten uns gezeigt, wie wirkungsvoll dieses Instrument war und so wollte ich es auch den Fachleuten vorstellen. Das kurz zuvor erschienene Handbuch von Werner / Pastor über den Bauprozess, in dem ein ähnlicher Ansatz versucht wurde, empfand ich als vorbildlich. Vielleicht hätte ich mir das Ganze noch einmal überlegt, wenn ich geahnt hätte, wie schwierig es war, andere Autoren zu finden. Der Themenkreis des Buches erweiterte sich mit jeder Besprechung um neue Rechtsgebiete.191 An das Produkthaftungsrecht hatten wir am Anfang gar nicht gedacht, es fand sich auch kein Autor, also musste ich das Kapitel in den ersten Auflagen selbst schreiben. Wolfgang Kilian lud mich darauf hin ein, als zweiter Herausgeber die anwaltlichen Perspektiven zu vertreten. Auch beim Steuerrecht war es nicht einfach. Aber für wichtige Gebiete wie den Gewerblichen Rechtsschutz fanden wir hoch qualifizierte Autoren, unter ihnen vor allem Henning Harte-Bavendamm (Hamburg).

Die Redaktion der Leser auf meinem umfangreichen Beitrag zur Gewährleistung im Computerrechtshandbuch, der sich auch mit den oben skizzierten Themen beschäftigte, war ernüchternd. Die Darstellung in Checklisten und Übersichten wich drastisch von dem üblichen Stil rechtlicher Kommentierungen ab, und der Nutzen erschien den Lesern offenbar fraglich. Tatsächlich nützt es nichts, in Checklisten herumzublättern, man muss mit ihnen am Fall arbeiten und wird feststellen, dass sie sich dann durch eigene Praxis erheblich verändern. In einem Handbuch kann man immer nur die erste Variante zeigen. Also habe ich nach der dritten Auflage meine Checklisten wieder eingesammelt und Hans-Werner Moritz gebeten, in unser Team einzutreten, denn er hatte als Erster zu diesem Thema geschrieben und offensichtlich Erfolg gehabt. Später hat Markus Junker die Idee mit dem Checklisten wieder ins Buch eingeführt.

Dem Computerrechtshandbuch folgte ein Jahr später Jochen Schneiders Handbuch bei Otto Schmidt, dann Bücher von Frank A. Koch und so entwickelte sich eine breite Literatur, der dann langsam auch die Rechtsprechung folgte. Die Arbeit als Mitherausgeber hat mich immer wieder auf interessante Fragen gestoßen, die teilweise auch für die Praxis relevant waren.

Das Buch erschien Ende 1990 und erlebt gerade die 32. Auflage. Während meiner Arbeit als Herausgeber bin ich auf einige Probleme gestoßen, zu deren Lösung mir etwas Neues eingefallen ist.

5.2.4. Software und Semmeln

Software ist keine Sache.192 Sie wird allerdings gewährleistungsrechtlich (richtigerweise) wie eine Sache behandelt,193 in der rechtlichen Diskussion freut man sich an diesem Streit um Begriffe, und so ist er heute noch aktuell.194

Wenn Sie wissen wollen, wer recht hat, beißen sie einfach einmal in einen Datenträger und versuchen Sie, die Software herauszuschmecken. Auch gebrauchte Software muss man weitergeben dürfen wie jeden anderen gekauften Gegenstand: Das hat der Europäische Gerichtshof Mitte 2012 auf Vorlage des Bundesgerichtshofs grundsätzlich und richtig entschieden (RS, C-128/11).

5.2.5. Die Gutenberg-Galaxis

Solche Probleme lassen sich durch geeignete Analogien lösen, aber auf anderen Gebieten gibt es keine vergleichbaren Brücken: Der Streit, den die Piraten seit 2011 verstärkt gegen Urheber und Verwertungsgesellschaften führen, wird auf der Gegenseite immer von der falschen Metapher begleitet, schließlich müsse man auch seine Semmeln zahlen, warum dann nicht auch die Software? Der Unterschied liegt darin, dass Software durch Kopieren keine Substanz verliert! Das Problem des Urheberschutzes besteht darin, einen flüchtigen Gegenstand rechtlich und tatsächlich genauso zu sichern, wie etwas, das man anfassen kann.

»Wenn wir über Welt sprechen, sprechen wir über Information«, sagt Anton Zeilinger, Quantenphysiker aus Wien. Wenn man Informationen kostenlos erhalten kann, verändern sich die Welten.

Software ist wie jede kreative Leistung unter fast allen Aspekten durchwirkt von den Rechten, die Schöpfern und Verwertern für begrenzte Zeit zustehen. Dadurch unterscheiden sich kreative Leistungen von anderen Gegenständen, die von solchen Rechten nicht mehr belastet sind. Diese Unterschiede drücken sich in vielen unterschiedlichen Gesetzen aus. Es wäre übersichtlicher gewesen, ein Sonderrecht für sie zu schaffen, etwa in der Art, in der man im römischen Recht zwischen Mobilien und Immobilien unterschieden hat. Aber aus historischen und politischen Gründen ist es so nicht gekommen. Das ändert aber an den Unterschieden nichts. Marshall McLuhan fand dafür den richtigen Begriff der »Gutenberg-Galaxis«, in der wir seither leben. Allerdings sind wir gerade dabei, sie zu verlassen und in der Cloud-Galaxis weiterzufliegen.

5.2.6. Der Fehlersumpf

Wer jemals mit Softwareentwicklern gesprochen hat, weiß, dass bestimmte Softwarefehler technisch unvermeidlich sind. In der zig millionenfach verbreiteten Textverarbeitungs-Software von Microsoft finden sich in jeder Version mindestens 300–400 Fehler. Sie wirken sich aber technisch sehr selten aus und vor allem: Sie sind nicht reproduzierbar. Daher kann ein Sachverständiger die Fehlerhaftigkeit gar nicht feststellen. Über diesem »Fehlersumpf« schwebt der überwiegend funktionsfähige Teil der Programme. Der rechtliche Streit darüber, ob Softwarefehler vermeidbar sind, ist also nur ein Streit um die Verantwortung. 1988 hatte ich in einem großen Aufsatz und später im Computerrechtshandbuch erläutert, dass es keine fehlerfreien Computerprogramme geben kann.195 Aber in der Literatur und gelegentlich in der Rechtsprechung wird auch heute noch völlige Fehlerfreiheit gefordert, weil sich in vielen Fällen noch kein Standard gebildet hat, an dem man sich wie an einer DIN-Norm orientieren kann.

Die Schuldrechtsreform hat 2002 den Herstellern eine Entlastungsmöglichkeit verschafft, die früher umstritten war. Aber auch wenn ein Fehler feststeht, ist immer noch die Frage zu beantworten, ob der Fehler im konkreten Benutzungszusammenhang gefährlicher als hinnehmbar ist.196 Ein Programm im Bereich der Medizintechnik muss fehlerfreier sein als ein Programm für Softwarespiele. Der Maßstab lässt sich nicht generell festlegen. Anstatt das anzuerkennen, werden immer noch alle möglichen Aufsätze über die Frage geschrieben, ob auch für technisch unvermeidbare Fehler gehaftet werden muss. Die Lösung ist sehr pragmatisch: im einen Fall ja, im anderen nein. Juristen können damit umgehen, die technischen Fachleute tun sich schwer damit.

5.2.7. Open Source und Sachenrecht

Schließlich stieß ich auf die interessante Frage, wie Open Source Software in Deutschland rechtlich zu behandeln ist. Open Source ist ein Entwicklungs- und Vertriebsmodell. Bei diesen Modellen wird Software zusammen mit der Entwicklungsdokumentation verschenkt, und die Leute, die das tun, um wegen ihrer Leistungen und ihrer Großzügigkeit berühmt zu werden, sagen ausdrücklich, dass sie mit niemandem Verträge schließen wollen. Im deutschen Recht nützt ihnen das nichts, hier soll auch der geschenkte Gaul ein prächtiges Gebiss haben – es soll also eine Gewährleistung geben, die durch das AGB-Recht noch verschärft wird.197 Ich bin anderer Meinung: Verschenkte Software kann doch nicht schlechter behandelt werden als Sperrmüll: Wer Software ins Netz stellt, will sie loswerden, will sie einschließlich aller ihrer Fehler öffentlich machen, wenn auch in der Hoffnung, dass andere sich trotzdem dafür interessieren. Anders als sonst im Urheberrecht gibt der Autor bewusst die Kontrolle aus der Hand, und alle, die die Software benutzen, wissen das auch! Wer solche Software einsetzt, muss also wohl die Gefahren tragen, die entstehen, wenn er den Gegenstand nicht für seine konkreten Zwecke untersucht und gegebenenfalls tauglich macht.

Um es einmal in der Fachsprache zu sagen – es ist ein sachenrechtliches und kein vertragsrechtliches Problem. Über den Aufsatz allerdings, in dem ich das geschrieben habe,198 hat sich nicht einmal die Open-Source-Gemeinde gefreut, und noch schlimmer: Bis heute gibt es keine Gegenstimme! Lieber wird man falsch kritisiert als überhaupt nicht.

5.2.8. Berlin 1994 – Humboldt-Universität

In dieser Zeit beschäftigte ich mich mit den ersten Vorstudien zu einer Theorie der Verhandlungspraxis. Es gab unendlich viele praktische Ratgeber zu diesem Thema, einige Bücher erklärten auch psychologische Mechanismen, aber es fehlte eine Projekt-Ablaufplanung, wie ich sie bei Softwareentwicklern und Projektmanagern als selbstverständliche Werkzeuge kennen gelernt hatte. Dazu gehörten Checklisten, ein modularer Aufbau der Werkzeuge, eine Zusammenstellung der Argumente pro und contra, ein strukturierter Vertragsaufbau, der auch Kommentare (im Hintergrund) zulässt, ein Leitfaden, der einen auch durch schwierige Verhandlungssituationen führt, und nicht zuletzt ein belastbares Controlling der Ergebnisse. »Niemand würde es riskieren, ein Flugzeug zu besteigen, das der Pilot und seine Crew nicht mithilfe ihrer Checklisten startklar gemeldet hätten«, erklärte mir ein Mandant, als er mir seine Checklisten zeigte, mit denen er die Qualität von Software prüfte. Diesen Gedanken wollte ich auf die Welt des Rechts übertragen. Juristische Forschung war das nicht, aber ein – wie ich fand wichtiger – Beitrag zur Theorie der Verhandlungspraxis, die bessere, verständlichere und gut kontrollierbare Verträge bringen sollte.

Christoph Paulus, bei dessen Vater ich in München Zivilprozessrecht gehört hatte, war 1994 gerade von Augsburg an die Humboldt-Universität berufen worden. Hier unterrichtete er Römisches Recht, Zivilprozessrecht und schrieb über Computerrecht (heute ist er im internationalen Insolvenzrecht bekannt). Er war immer am praktischen Wert der Ausbildung interessiert, und wir sprachen darüber, wie man den Studierenden die Welt der Verträge an praktischen Beispielen nahebringen könne. Aus diesem Gespräch entstand anhand eines einheitlichen Szenarios eine Mischung aus Übung und Workshop, den ich fast drei Jahre lang mit durchschnittlich 20 Studenten durchgeführt habe. Das machte eine Menge Arbeit. Filmkameras wurden eingesetzt. Den Abschluss bildete ein Wochenend-Workshop in einem früheren Jugendheim auf dem flachen Land, wo es manchmal schlammig und kalt war. Aber ich war begeistert zu sehen, wie wenig es braucht, um jungen Leuten, die manchmal an der verqueren Logik rechtlicher Argumente verzweifeln, zu zeigen, dass das nur eine Seite des Berufes ist.

Parallel dazu befasste ich mich mit den unterschiedlichsten theoretischen Grundlagen von Vertragsverhandlungen und Vertragsmanagement und entwickelte ein allgemein gültiges Schema für die Gliederung von Austauschverträgen und Gesellschaftsverträgen. Mir war aufgefallen, dass das Aufbaugerüst eines IT-Projektvertrages genau das Gleiche sein kann wie das eines Dienstvertrages mit dem Vorstand der Gesellschaft. Den meisten Kollegen, mit denen ich darüber sprach, erschien das abwegig. Und tatsächlich wird dieses Schema bis heute nur von Anwälten verwendet, denen ich es einmal persönlich erklärt habe. Zusammen mit meinen Erfahrungen aus diesen ersten Workshops ist aus alldem mein drittes großes Buch199 entstanden.

Es vermittelt im Wesentlichen die Erkenntnis, dass man weltweit – ohne Rücksicht auf einzelne Rechtsordnungen – nur zwei Vertragstypen findet, nämlich Austauschverträge (Zeitungskauf usw.) und Gesellschaftsverträge (GmbH usw.). Sie werden in der Praxis auf unterschiedlichste Weise aufgebaut. Dieser Aufbau lässt sich auf sechs Kernmodule reduzieren: Der Vertrag mit einem Geschäftsführer eines Unternehmens kann genauso aufgebaut werden wie ein Lizenzvertrag über Software. Beide haben dieselbe »Statik«, obwohl sie vollkommen unterschiedliche Inhalte haben. Die einheitliche Struktur hat in der praktischen Handhabung unzählige Vorteile. Aber die Idee hat sich bisher nicht durchgesetzt. Vermutlich ist sie zu einfach.

Die juristische Fakultät der Humboldt-Universität befindet sich in einem der schönsten Gebäude Berlins, der früheren Gelehrtenbibliothek neben der Staatsoper Unter den Linden. Seltsamerweise heißt es »Kommode« und gehört zum klassischen Bestand der 1810 gegründeten Universität. Ihre Adresse »Bebel-Platz« zeigt das historische Spannungsverhältnis: Hier fand am 10. Mai 1933 auf dem früheren Opernplatz die erste Bücherverbrennung statt, an die ein Denkmal erinnert.

Das unmittelbar daneben liegende Hotel de Rome sieht heute neben dieser prächtigen Fassade und ihren Göttern auf dem Dach unscheinbar aus. 1994 war das noch völlig anders. Die Fassade war offenbar noch die gleiche wie am 1. Mai 1945, die Fenster hatte man jahrzehntelang nicht geöffnet, innen drin watete man durch Bauschutt, es roch nach Farben, und die Bibliothek war ein einziger Trümmerhaufen: Was zum DDR-Recht gehört hatte, brauchte niemand und für neue Bücher war kein Geld da. Nur den Hausmeister hatte man behalten, der aber konnte keine Auskunft geben, weil alle Professoren, Assistenten usw. ständig die Zimmer wechselten, wenn wieder mal im laufenden Betrieb gestrichen wurde. Mit viel gutem Willen war in diesem Gebäude Lehre möglich, Forschung aber wohl kaum. Die neu berufenen Professoren, darunter Christian Kirchner, Michael Klöpfer, Christian Tomuschat und Bernhard Schlink, mussten viel Fantasie mitbringen und vor allem fünfzehn Jahre lang Zeit haben, um sich den Lohn für ihre Pionierleistungen abholen zu dürfen.

Die Studenten – die im Zuge korrekter Sprachregelungen jetzt auch hier Studierende genannt werden sollten – stammten überwiegend aus dem früheren Ostberlin. In der DDR wurden an dieser Universität nur Richter und Rechtsanwälte (ohne Wirtschaftsjuristen) und Notare ausgebildet, in Jena Staatsanwälte und Zollfahnder, in Halle und Leipzig die Wirtschaftsjuristen. Völlig getrennt davon arbeitete die Juristische Hochschule (JHS200) des Ministeriums für Staatssicherheit in Potsdam, wo man vermutlich nur lernen konnte, warum das Recht keine Rolle spielen darf. Diese Hochschulen waren ausschließlich der Lehre gewidmet. Einige Professoren unterrichteten auch nach der Wende, unter ihnen der anerkannte Urheber- und Medienrechtler Artur-Axel Wandtke. Der hatte 1964 als Balletttänzer angefangen, dann Jura studiert und seine künstlerischen Interessen als Justiziar der Komischen Oper unterbringen können.

Forschung fand nur an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften »Walter Ulbricht« (ASR) statt, die nach 1990 abgewickelt wurde. Diese Forschung ist nicht in Bausch und Bogen zu verwerfen. Auch auf dem Boden des Grundgesetzes lassen sich verschiedene Varianten des Zivilrechts, des Strafrechts und des öffentlichen Rechts denken, in denen auch andere Ideen Platz haben könnten als gerade die, die wir im Westen – auch hier unter historischen Zwängen – entwickelt haben. Gute Beispiele sind die Alternativkommentar zum Strafrecht (Rudolf Wassermann und andere 1990) und die Ökonomische Analyse des Rechts (in den USA: Richard Posner, in Deutschland: Schäfer, Ott, Kirstein u. a.). Vielleicht wird man später auf einige Ansätze zurückkommen, die Rainer Schröder zusammenfassend beschrieben hat.201

Diese Strukturen waren den jungen Leuten vermutlich nicht mehr bekannt, aber sie hatten auch keine klare Vorstellung, wohin das Jurastudium führen sollte. Meine Studierenden waren meist im fünften oder sechsten Semester, hatten sich also auf das Abitur in den Schulen der DDR vorbereitet. Das Recht spielte dort – übrigens genauso wie bei uns – nur eine untergeordnete Rolle, und nur wenige werden in ihrem persönlichen Umfeld Gelegenheit gehabt haben, einen Juristen zu treffen – dafür gab es viel zu wenige. Sie alle hatten keine klaren Berufsbilder vor Augen und diesen Mangel teilen sie bis heute mit allen Jurastudenten in Deutschland: Was ein Mediziner macht, weiß man schon als Kind, weil man irgendwann einem Arzt begegnet ist und unter ihm gelitten hat. In die Gerichtssäle aber treibt es nicht jeden, und was ein Staatsanwalt oder Ministerialbeamter tun, bleibt ewiges Geheimnis, bis man selbst Teil der Maschinen wird, die sie bedienen.

Die Workshops zur Verhandlungstechnik waren für die Studierenden eine willkommene Unterbrechung des üblichen Lehrplans, weil es die ersten Versuche waren, Schlüsselqualifikationen zu unterrichten und hier und da ein Bild der Praxis zu vermitteln. Heute gehört das zu den Pflichtfächern, aber die Erkenntnis, es sei notwendig, auch solche Bestandteile in die Lehre aufzunehmen, hat sich erst in solchen Versuchen entwickelt.

5.2.9. Kyoto

Auch in Japan wurden die neueren Entwicklungen des Computerrechts genau verfolgt. Das Lebenswerk eines typischen japanischen Rechtsprofessors kann daraus bestehen, die Veröffentlichungen eines deutschen Rechtswissenschaftlers wie Larenz, Roxin oder Welzel zu übersetzen. Häufig existieren mehrere Übersetzungen parallel. Als deutscher Professor – und weil die so selten sind, auch als Anwalt – schwimmt man in Japan auf einer Woge der Zuneigung. Aber es kann auch zu seltsamen Missverständnissen kommen.

Christoph Paulus empfahl mich an Zentaro Kitagawa, um Ideen des Computerrechts an der Universität von Kyoto (Kodai) vorzutragen. Ich nahm mein Manuskript nur auf Englisch mit, weil ich annahm, das sei nun auch in Japan die Wissenschaftssprache. Nicht unter Juristen! Ich sollte lieber auf Deutsch vortragen, wurde mir gesagt, denn das verstünden die meisten und für die anderen würde übersetzt. Ein Englisch-Dolmetscher stehe nicht zur Verfügung. Ich quälte mich eine Viertelstunde lang damit herum, mein Manuskript aus dem englischen ad hoc zurückzuübersetzen – bis mir dann ein japanischer Kollege wortlos ein Exemplar der GRUR (Zeitschrift für Gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht) in die Hand drückte. Ich sollte einfach meinen eigenen Aufsatz auf Deutsch vorlesen. Das empfand ich als sinnlos, da die Anwesenden ihn offenbar alle schon kannten. Der Sinn solcher Einladungen besteht aber darin, dem Gast den Status des Insiders (Abteilung »Freunde«) zu geben. Dafür muss man ihn persönlich kennen lernen, mit ihm gesprochen und vor allem abends gegessen, getrunken und in den Karaoke-Bars Lieder aus Heidelberg gesungen haben. Das sind Initiationsriten, ohne die ein Gast seine Rolle nie verlassen könnte. So las ich also vor, was alle schon kannten, und lernte an diesem Abend ein paar Studentenkneipen kennen, in denen es in Japan genauso zugeht wie bei uns, denn da dürfen sich auch die Professoren gehen lassen. Am anderen Morgen ist alles wieder vergessen.

Durch die gemeinsame Arbeit am Computerrechtshandbuch hatte ich Wolfgang Kilian kennen gelernt. Er hatte sich schon sehr früh für die Rechtsinformatik interessiert und in seiner Habilitationsschrift 1974 einige Grundsatzfragen geklärt.202 Im gleichen Jahr übernahm er den ersten Lehrstuhl in Deutschland für Zivilrecht, Wirtschaftsrecht, Rechtstheorie und Rechtsinformatik in Hannover. Diese Stadt ist wegen ihres historischen Bezugs zu Gottfried Wilhelm Leibniz, der Jurist und Mathematiker war und einen der ersten Computer erfunden hat, für die Rechtsinformatik besonders geeignet. Es hat aber Jahrzehnte gebraucht, um diesen Schwerpunkt ins Blickfeld zu heben.

Neben seinen Forschungslinien hatte Wolfgang Kilian immer einen Blick für die Praxis. Das zeigte sich schon 1977, als er zu den Initiatoren der Gesellschaft für Recht und Verwaltungs-Informatik gehörte, deren langjähriger Präsident er war, und mehr noch beim Computerrechts-Handbuch, das wir als Herausgeber gemeinsam entwickelten. 1983 gründete er das Institut für Rechtsinformatik (IRI), das erste dieser Art in Deutschland. Daraus ergab sich geradezu notwendig der Fokus auf das europäische Recht und die aufregende Idee: In ganz Europa sollte es einen Post-Graduate-Kurs (LLM) geben, bei dem die Teilnehmer ein halbes Jahr in Deutschland und die zweite Hälfte in einem Land ihrer Wahl nach demselben Curriculum ausgebildet werden sollten. Seine wesentliche – und bis heute nicht wiederholte – Leistung bestand in der Koordination von elf Fakultäten nicht nur in London und Zaragoza, sondern auch in Oslo, Wien, Rovaniemi und anderen Plätzen.

Er hatte von meinem Berliner Kurs gehört, kannte das Verhandlungsbuch und meinte, so etwas könne man gebrauchen, wenn das Drehbuch, an dem wir entlang verhandeln wollten, aus der Welt der Informationstechnologie stammte. Das war nicht besonders schwer einzurichten, wir haben bis heute etwa dreihundert Post-Graduate-Studenten ausgebildet, und die meisten von ihnen sind gleichzeitig Fachanwälte geworden, seit es auch diese Ausbildung gibt. Die Leitung des Kurses hat er an Nikolaus Forgò übertragen, aber wir beide unterrichten immer noch, solange unsere Erfahrungen etwas Wert sind. Vor allem der Beitrag zur europäischen Idee ist mir in diesem Zusammenhang wertvoll geworden.

Hier war ich nun nach vielen Jahrzehnten wieder mitten in der Universität angekommen – dachte ich, tatsächlich stand ich aber mit vielen anderen eher am Rande. Schon bald fiel mir auf, dass außer den Kollegen, mit denen ich im Institut unmittelbar zusammenarbeitete, niemand von einem Lehrbeauftragten besonders Kenntnis nimmt. Das ändert sich auch nicht, wenn man Honorarprofessor wird (dann fällt nur das Honorar weg). Universitäten haben zu ihren Lehrbeauftragten und Honorarprofessoren, ja vielleicht zu allen, die nicht Inhaber von Lehrstühlen und Direktoren von Instituten sind, ein gespaltenes Verhältnis. Ob das von Humboldt geschilderte Ideal der Einheit von Forschung und Lehre jemals funktioniert hat, kann man bezweifeln. Für die Juristen ist es schon deshalb fragwürdig, weil sie keine Berufschancen haben, wenn sie sich nicht auf die Staatsprüfungen konzentrieren. Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) war stolz genug, den ehrenvollen Ruf von Landshut nach Berlin davon abhängig zu machen, dass er das Allgemeine Preußische Landrecht nicht unterrichten müsse. Mit Studenten, die die gültigen Gesetze nicht beherrschen, konnte der preußische Staat aber wenig anfangen.

So entwickelte sich das System der Staatsprüfungen, auf die die Repetitoren und nicht die Universität vorbereitete, ein System, das sich langsam ändert. Denn jetzt widmen sich viele Lehrkräfte mit unterschiedlicher Zielrichtung und Befähigung der Ausbildung. Schlüsselqualifikationen werden von Psychologen und Rhetorikern unterrichtet usw. Es ist ein eigenes Dekanat für die Lehre eingerichtet und doch läuft das Ganze nicht in allen Universitäten rund. Man sieht es auf den Webseiten: In einigen Universitäten gibt es Sparten für die einzelnen Berufsgruppen, andere nennen sie gar nicht, wieder andere führen das gesamte wissenschaftliche Personal auf, ohne Rücksicht auf den Status – auch das ist eine Aussage, die man positiv sehen kann, aber ob das der Realität entspricht, wird jeder nur in der konkreten Situation vor Ort erfahren können.

Ich bin immer gern nach Hannover gefahren, denn das war ein ungewohntes Kontrastprogramm sowohl zu München wie zu Berlin. Die Taxifahrer in diesen beiden Großstädten bedürfen keiner besonderen Beschreibung – sie sind schon Legende. Das Lob der Taxifahrer von Hannover ist noch nicht gesungen worden. Deshalb: Hier spricht man Deutsch! Und zwar Bühnendeutsch oder Schriftdeutsch. Drei Sätze über die heutige Wetterlage vermitteln dem Fahrgast das Gefühl, er spreche mit einem mehrfach promovierten Menschen, und da Hannover stets genügend politischen Gesprächsstoff bietet (Gerhard Schröder, Christian Wulff, Ernst August von Hannover usw.) glaubt man, mit Politikwissenschaftlern zu sprechen. Einige sind es tatsächlich, wie so manche Taxifahrer in Hochschul-Städten.

Die meisten Leute an der Universität glauben, dass Rechtsanwälte, die auch Honorarprofessoren sind, allein deswegen die ungewöhnlichsten und tollsten Mandate bekommen. Die zudem auch noch besonders toll bezahlt werden. Nichts davon trifft zu. Die wirklich guten Aufträge geben die Mandanten an Anwälte, die sie schon sehr lange kennen und deren Qualität sie genau einschätzen können. Ob sie auch wissenschaftlich etwas leisten, ist ohne Belang. Oft genug wird nur Beharrlichkeit gebraucht, und die hält man besser durch, wenn einem nichts Aufregendes einfällt.

Die akademischen Titel fallen (außer in Österreich und Italien) den meisten Managern nicht auf. In den angloamerikanischen Ländern und in Frankreich wird man mit seinem Doktortitel als Mediziner verspottet und es gilt als taktlos, den Titel vor dem Namen und nicht (wenn überhaupt) dahinter zu führen. Henry Kissinger war schon mit Mitte dreißig Professor, aber seinen politischen Einfluss gewann er nicht über Vorlesungen, sondern über die Ausbildung von Politikern in den Sommerkursen in Harvard, Einrichtungen, die bei uns unbekannt sind. Vielleicht ist es bei Professor Dr. h. c. Lothar Späth oder Professor Dr. h. c. (mult.) Jürgen Schrempp anders, denn in Baden-Württemberg bekommt man Ehrenprofessuren vom Staat und muss sich an der Universität nicht sehen lassen.

5.3. Fünf Richter

Shimatsu Yoshihiro, Daimyo und Richter
Shimatsu Yoshihiro, Daimyo und Richter (1535 – 1619)

In England und Wales gibt es nur etwa zweitausend Richter, in Deutschland ca. 20.000.203 Das liegt an den unterschiedlichen Rechtssystemen. Die englischen Richter sind zu Beginn ihrer Laufbahn älter als in Deutschland, denn sie werden in ihr Amt erst berufen, wenn sie vorher jahrelang als Anwälte tätig waren. In den Siebzigerjahren, als die Justiz eine Vielzahl Stellen zu besetzen hatte, konnte es vorkommen, dass man einem Referendar, mit dem ich gemeinsam die Kurse besuchte, schon 2–3 Jahre nach dem Examen als Richter begegnete. Mir selbst war klar, was ich alles noch zu lernen hatte, und meinen Freunden auf der Richterbank wird es nicht anders gegangen sein. In einem Kollegialgericht kann man solche Lücken schnell auffüllen, da mischen sich Wissen und Erfahrung. Aber ein Einzelrichter? Der konnte Akzeptanzprobleme bekommen. Auch in Deutschland wäre es ohne weiteres möglich, die Richterstellen allein aus der Anwaltschaft heraus zu besetzen, denn auch Anwälte, die viel verdienen, würden dieser Aufgabe Reiz abgewinnen, die sich so sehr von unserer Praxis unterscheidet. Aber unser erheblich perfekter konstruiertes Rechtssystem käme mit der Zahl der Richter bei weitem nicht aus, die in England tätig sind.

Anwälte und Richter müssen den Fall aus mindestens drei Perspektiven sehen: der des Klägers, der des Gegners und der des Gesetzes. Aber die Perspektive der Richter unterscheidet sich völlig von derjenigen der Anwälte: Man sieht nicht nur beide Seiten gleichzeitig vor sich, man muss auch die Wirkung eines Urteils auf das Rechtssystem und die Öffentlichkeit bedenken – die Entwicklung von Präjudizien ist eines der zentralen Anliegen der Rechtssicherheit. Der Anwalt ist (im Rahmen der Gesetze) nur an die Interessen seines Mandanten und damit an die Gerechtigkeit im Einzelfall gebunden. Im Zentrum der richterlichen Arbeit stehen die Interessen aller Beteiligten und der Blick auf die Stabilität des Systems.

Die vornehmste Pflicht des Richters ist es, ein rechtsförmiges Verfahren zu sichern. Warum muss der Richter für Ruhe sorgen? Würde es im Gericht so zugehen wie auf dem Marktplatz, könnte man weder die Tatsachen richtig konstruieren noch die Rechtsregeln ausfindig machen oder anwenden. Man würde sich immer wahllos nach der einen oder anderen Seite hingerissen fühlen. Logik gedeiht nicht im Kampfgetümmel. Der Richter muss cool bleiben und seine Gefühle erziehen. Nur dann wirkt er auf andere. Das Common Law hebt diesen Aspekt noch weit mehr hervor als die Rechtssysteme des europäischen Festlandes. Deshalb hat der Richter dort eine stärkere Stellung als bei uns und er macht oft von ihr mit kräftigen Worten Gebrauch. Die Anwälte werden wegen Missachtung des Gerichts früh zur Rechenschaft gezogen und können wegen eines Verhaltens, das bei uns nur eine Rüge auslöst, ihre Zulassung verlieren.

Anders bei uns, wo man sich den Richter eher als logische Maschine vorstellt. Aber das Bild »des ganz neutralen, unvoreingenommenen, völlig objektiven, entpersönlichten Richters geht ganz und gar an der Wirklichkeit vorbei204«. Wir werden im letzten Kapitel noch sehen, dass so eine Richterfigur gar nicht Recht sprechen könnte. In Deutschland darf der Richter sich seine emotionale Lage weit weniger anmerken lassen als in den angloamerikanischen Systemen. Das führt bei einigen zur absoluten Gefühlskälte, andere packt der heilige Zorn. Bei manchen geschieht das erst beim Schreiben des Urteils, weil sie wissen: Zu diesem Zeitpunkt sind keine Befangenheitsanträge mehr möglich. Hier ein Beispiel aus einem Strafprozess, bei dem das Gericht dem Zeugen nicht geglaubt hat:

»Pfälzer sind Menschen von, wie man meinen könnte, heiterer Gemütsart und jovialen Umgangsformen, dabei jedoch mit einer geradezu extremen Antriebsarmut, deren chronischer Unfleiß sich naturgemäß erschwerend auf ihr berufliches Fortkommen auswirkt. Da sie jedoch auf ein gewisses träges Wohlleben nicht verzichten können – sie müßten ja dann hart arbeiten –, versuchen sie sich ›durchzuwursteln‹ und bei jeder Gelegenheit durch irgendwelche Tricks Pekuniäres für sich herauszuschlagen. Wehe jedoch, wenn man ihnen dann etwas streitig machen will! Dann tun sie alles, um das einmal Erlangte nicht wieder herausgeben zu müssen, und scheuen auch nicht davor zurück, notfalls jemanden ›in die Pfanne zu hauen‹, und dies mit dem freundlichsten Gesicht. Auf einen solchen Zeugen, noch dazu als einzigem Beweismittel, kann verständlicherweise eine Verurteilung nicht aufgebaut werden.«205

Die Freiheit einer solchen Entscheidung hat der Richter, aber er kann sie nur treffen, wenn die Anwälte dafür sorgen, dass nicht der Müll irrelevanter Tatsachen und ungefilterter Meinungen vor ihm ausgekippt wird, den ihre Mandanten ihnen vor die Füße werfen. Nicht alle schaffen das, aber es gibt auch nicht viele Richter, die das wissen und den Anwälten dafür dankbar sind. Diese Unterschiede lernt man erst nach langen Jahren der Praxis und man kann die gelernten Rollen nicht von einem auf den anderen Tag wechseln. Richter werden anders sozialisiert als Anwälte. Das sollte ich erst als Schiedsrichter wirklich verstehen. Ich habe Dutzende von Richtern erlebt und fünf von ihnen haben mir ganz unterschiedliche Aspekte dieses Berufs gezeigt.

5.3.1. Thomas / Putzo

Im Herbst 1978 hatte ich mir gerade die Urkunde abgeholt, mit der ich beim Oberlandesgericht München zugelassen wurde, als mir Heinz Thomas (58) und Hans Putzo (52) auf dem Gang entgegenkamen, der eine klein, sportlich und manchmal bärbeißig, der andere groß und lebhaft – ein Mann mit Adlerblick (und Meister des Fliegenfischens). Es dürfte kaum einen Juristen in Deutschland geben, der ihren Kommentar zur Zivilprozessordnung nicht jahrelang benutzt hat. Heinz Thomas hatte ihn 1963 nach zehnjähriger Arbeit aus Unterrichtsmaterial entwickelt, das er als Leiter der ZPO-Arbeitsgemeinschaft zusammengestellt hatte. Später stieß Putzo als Koautor dazu. Beide waren seit 1974 Honorarprofessoren und jetzt Senatsvorsitzende.

Obwohl sie seit Jahren eng zusammenarbeiteten, kann man sich den Stil, in dem sie ihre Senate und die Prozesse führten, nicht unterschiedlich genug vorstellen. Wenn man bei Putzo in die Berufung ging, musste man sich fest anschnallen. Schon wenige Tage nach dem Austausch der ersten Schriftsätze erhielt man einen mehrseitigen Schrieb, in dem der Vorsitzende den Anwälten ziemlich unverblümt sagte, was von dieser Berufung und den gewechselten Schriftsätzen zu halten war. Das war nicht ganz ungefährlich für ihn, aber Putzo wusste, dass es in Zivilprozessen nahezu praktisch unmöglich ist, einen Richter abzulehnen, nur weil der eine dezidierte Rechtsmeinung geäußert hatte. Der kleine Fallschirm (»ohne Vorbesprechung im Senat«), der seine Analysen einleitete, hätte ihn trotzdem in manchen Fällen kaum retten können. Manche Anwälte reagierten sensibel auf diese Hinweise und legten anschließend umfangreiche Schriftsätze vor. Das war oft genug eine Fehlinvestition, denn Putzo änderte seine Meinung spätestens in der Sitzung erheblich: Zum einen hatten seine Senatsmitglieder häufig eigene Ideen, und außerdem brillierte er darin, sich selbst zu widerlegen, wenn man ihm hier und da einen Köder hinlegte. Er hat diese Neigung, die viele herausragende Juristen kennzeichnet, selbst nie bemerkt. Mit dem Bundesgerichtshof durfte man ihm nicht kommen, denn er wusste, wie man revisionssichere Urteile schreibt: Das Argument muss aus den Tatsachen und ihrer Bewertung kommen, die das Revisionsgericht nicht mehr antasten darf.

In der Sitzung war er schwierig. Ein Schnelldenker wie er wollte es lebhaft haben und forderte zum Florettfechten auf. Aber dann stieß er hin und wieder auf einen schlagfertigen »Pointen-Tiger« (wie man witzige Schauspieler gelegentlich nennt), spürte sofort die Konkurrenz und wurde missmutig. Nachdenkliche Anwälte fühlten sich dadurch oft irritiert. In Beweisaufnahmen konnte er allein durch seine Körpersprache Zeugen so einschüchtern, dass sie gar nichts mehr sagten. Manchmal hatte das den Vorteil, dass die Zeugen vergaßen, was sie ursprünglich hatten sagen wollen. Daraus konnte man als Anwalt fast immer etwas machen. In jedem Fall musste man seine Zeugen auf solche Szenarien vorbereiten. Berufsrechtlich ist das nicht unproblematisch, weil die Grenze zur Zeugenbeeinflussung nicht immer leicht zu erkennen ist. Ich habe mir manchmal gedacht, die erste Standardfrage an einen Zeugen müsse lauten: »Kennen Sie einen der Anwälte hier im Raum?« Und wenn ja, müsste er sagen, ob der Anwalt seine Aussage mit ihm besprochen hat und ob er versucht hat, ihn zu beeinflussen. Viele Zeugenaussagen würden dabei in sich zusammenfallen. Ich habe die Idee nie verwirklicht, denn ich war mir sicher, in der nächsten Runde würde der Gegenanwalt es genauso machen und dann stünden wir letztlich wieder pari. Vielleicht sieht man aus diesen Gründen in den meisten Prozessrechten der USA die gezielte Vorbereitung eines Zeugen nicht als kritisch an – der Gegenanwalt kann und wird ihn immer ins Kreuzverhör nehmen.

Abstrakte Erörterungen waren Hans Putzo zuwider, »da höre ich in der Universität genug davon«. Er wollte gemeinsam mit den Anwälten um den Fall kreisen wie die Geier, um zu testen, wer am Ende schneller an die Beute kam. Die bestand aus einer klaren Entscheidung, und wer als Anwalt nicht bereit war, Risiken in Kauf zu nehmen oder sich gar hinter seinen Mandanten zurückzog, hatte schlechte Karten. »Ihr Mandant kann seine Situation gar nicht beurteilen«, sagte Putzo – wenn man nur an die Rechtsprobleme dachte, konnte man kaum widersprechen – und erwartete als Ergebnis des Rechtsgesprächs eine klare Meinung.

Bei Heinz Thomas lief das alles ganz anders. Ich kannte ihn seit 1970, als er mich eingeladen hatte, in seinem Klausurenkurs für Referendare bei den Korrekturen zu assistieren. Seine Geduld beim Unterricht war nahezu unerschöpflich. Anders als bei Putzo gab es bei ihm viel zu lachen. Ich war deshalb sehr zufrieden, als ich mit einer meiner ersten Berufungen in seinem Senat landete. Die Sache war nämlich wirklich schwierig, nicht zuletzt, weil Peter de Vigne, den ich vertrat, gegenüber Richtern einen partiellen Verfolgungswahn entwickelt hatte: Er war nämlich selbst Richter am Patentgericht, also ein Ingenieur, dem man juristisches Basiswissen beigebracht hatte. Daraus wird in der Zusammenarbeit mit den so genannten Volljuristen eine explosive Mischung: Die juristischen Begriffe werden nur halb verstanden, die daraus gezogenen (meist fehlerhaften) Schlüsse aber bis aufs Blut verteidigt. Patentanwälte, Gewerbeoberlehrer, Oberstudienräte für Geschichte und Parlamentarier aller Art gehören zu den gefürchteten Mandanten, weil sie sich nie als Dienstleister sozialisiert haben und über Gott und die Welt genau Bescheid wissen. So entwickeln sie leicht die Staublunge der Rechthaberei – die klassische Juristenkrankheit.

Peter de Vigne betreute im Patentgericht die Abteilung für Schuhe und Pantoffeln. Ich war überrascht zu hören, dass weltweit unendlich viele Patente für diese einfachen Bekleidungsstücke beantragt und tatsächlich erteilt werden. Der Patentrichter hatte – gestützt auf seine Erfahrungen – in stillen Nächten einen Schuh entwickelt, der von der Idee ausging, dass der Mensch in früheren Urzeiten den Fuß nicht vom Ballen auf die Spitze abgerollt habe, sondern umgekehrt – in einer Art Moonwalk – gegangen sei. »Alle Rückenprobleme dieser Welt beruhen auf dem falschen Gang«, sagte er, schrieb er, veröffentlichte er, denn mit dem Schuh musste man ganz neu gehen lernen, um die Welt und sich selbst wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Tatsächlich erteilten ihm seine Kollegen für diese Idee ein Patent. Auf einer Messe gelang ihm der Abschluss eines Lizenzvertrages, eine bescheidene Produktion war in Gang gekommen, dann hatte es Krach wegen der Abrechnung gegeben und Peter de Vigne hatte voller Ärger den gesamten Vertrag angefochten. Nun wollte er Schadensersatz in Lizenz-Analogie um die 30.000 DM. In erster Instanz hatte er mehrfach die Anwälte gewechselt, um am Ende eine Klageabweisung zu erhalten, die genau eine Seite lang war: Eine etwaige Anfechtung war verspätet, und da seine Anwälte es versäumt hatten, die behaupteten Lizenzansprüche hilfsweise vertragsgerecht zu errechnen, gab es keinen hinreichend klaren Betrag, den das Gericht hätte zusprechen können. Diese Anwälte sollte ich verklagen und dann selbstverständlich die Berufung gewinnen. Der hagere Hugenotte sah mich mit großen Augen an: »Sie sind meine letzte Rettung, ältere Anwälte engagieren sich gar nicht mehr, das sehe ich am Patentgericht jeden Tag«, versuchte er mich zu motivieren.

Ich ahnte, dass diesem Hosianna recht bald ein »Kreuzige ihn« folgen musste. Also rief ich den Gegenanwalt an, der ohne viel Umstände die Bereitschaft zeigte, sich mit uns auf etwa 20.000 DM zu vergleichen, wenn der Kläger die bisherigen Kosten übernehmen würde, denn dieses Angebot hatte man ihm schon häufiger gemacht. Das lehnte der Erfinder kategorisch ab. Ich konnte ihm nicht vermitteln, dass eine Neuberechnung im Berufungsverfahren als verspätet zurückgewiesen werden würde. Eine neue Klage war unumgänglich, denn seine früheren Anwälte würden ihm zurecht entgegenhalten, das Unterlassen und den Schaden nicht gemindert zu haben. Vermutlich wäre schon die Zurückweisung des Vergleichs ein Fehler, der ihm entgegengehalten werden konnte. Alles vergeblich.

Die härteste Arbeit in der Berufung bestand darin, die Schriftsatz-Entwürfe des Mandanten, die er sich aus Formularbüchern und Akten alter Patentstreitigkeiten zusammengestellt hatte, für unzureichend zu erklären und darum zu kämpfen, dass meine Schriftsätze akzeptiert wurden. »Ich erspare Ihnen doch nur Arbeit mit meinen Recherchen«, hielt der verzweifelte Mandant mir vor, ohne zu erkennen, dass seine Arbeit völlig am Thema vorbeiging. Es gab ein paar versteckte Ansätze, aus denen man vielleicht schließen konnte, dass das relevante Datum für die Anfechtung später lag, als das Landgericht angenommen hatte. Mit diesem Argument würden wir uns wenigstens nicht blamieren.

Anders als bei Putzo gab es im Senat von Heinz Thomas keine umfangreichen rechtlichen Einschätzungen der Rechtsmittelchancen. Gelegentlich schrieb er den Parteien ein paar Zeilen, worauf es »nach Vorbesprechung im Senat« vermutlich nicht ankommen würde. Damit ersparte er sich und uns einen Papierkrieg, den die Anwälte in erster Linie entfesseln müssen, um ihre Haftungsrisiken zu vermindern: Wenn sie nicht zu allem und jedem, was auch nur entfernt eine Rolle spielen könnte, irgendetwas zum Besten geben, hält man ihnen mit Sicherheit vor, mit diesem Argument hätten sie das Verfahren gewinnen können. Das muss man vermeiden.

Zum Termin lud er grundsätzlich beide Parteien persönlich (auch den Bauern vom Lande), denn er interessierte sich für Menschen und ihre Konflikte. Die wollte er an den Hörnern packen, während Putzo sich eher für interessante Rechtsprobleme erwärmen konnte. Er war ein Meister des Vergleichs, aber hatte auch ein sicheres Gespür, wann die Anwälte eine Grundsatzentscheidung brauchten.

»Nun sagen Sie uns doch ganz einfach, warum Sie das Urteil des Landgerichts nicht akzeptieren wollen«, sagte er zu Peter de Vigne, nachdem er eine kurze Einführung in den Sachstand gegeben hatte. Mir wurde schlecht, denn ich wusste, was jetzt folgen würde: eine ausführliche Schilderung der Ansprüche, ein sinnloses Agieren gegen das Urteil des Landgerichts, Zitate von Hermann Staub, die Positive Vertragsverletzung betreffend, eine Erläuterung der Grundsätze der Freirechtsbewegung und ihr Einfluss auf die Lizenzanalogie, und ein Appell an die Menschenrechte – der ganze Schlamm, durch den ich mich schon einmal gekämpft hatte. Thomas hörte sich das Durcheinander ungerührt an. Er wollte wissen, wen er vor sich hatte. Konflikte fallen nicht einfach vom Himmel. Ob sie entstehen und wie sie sich weiterentwickeln, hängt ausschließlich von den Menschen ab, die an ihnen beteiligt sind. Ihm war klar, dass der Erfinder sein Problem weder verstanden hatte noch je würde verstehen können. Mich streifte ein mitleidiger Seitenblick. »Tragen Sie die Schuhe, die Sie entwickelt haben, selbst?« Diese Frage brachte Peter de Vigne zum Schweigen. »Nicht heute, nicht im Gericht«, sagte er verwirrt. »Ich stelle mir vor, wenn man darin geht, sieht das aus wie bei Michael Jackson«, sagte Thomas, »beim Sport ist das ein Zusatztraining für die Muskeln« und dachte dann laut darüber nach, ob man so einen Schuh wohl mit Gewinn beim Bergwandern einsetzen könne – jedenfalls bergab. Das war sein Lieblingssport. »Wo kann man Ihre Schuhe in München denn kaufen?« Nun stellte sich heraus, dass Eduard Meyer sie abgelehnt, Sport-Scheck sich aber interessiert hatte, und mitten in dieses Gespräch, an dem sich nun auch die übrigen Senatsmitglieder beteiligten, trat Thomas plötzlich auf die Bremse: »Wie viel Geld kriegt der Herr de Vigne denn Ihrer Meinung nach von Ihnen?«, wandte er sich an den Geschäftsführer der Schuhfabrik. »20.000 DM könnt’ er schon haben.« »Aber abzüglich aller Kosten!«, rief der Gegenanwalt, wenigstens um sich bemerkbar zu machen. »Ja und warum nehmen sie das Geld nicht? Ich tät’s nehmen, mehr wird’s wohl nicht!«, sagte Thomas mit einem langen und nachdenklichen Blick auf den Kläger. Er sah aus wie der Stierkämpfer Juan Belmonte – den eben gefällten Stier zu Füßen – auf dem Bild, das Hemingway von ihm im »Tod am Nachmittag« gezeigt hat. Da hat er Tod und Leben gleichzeitig im Blick.

Auf dem Weg nach draußen konnte ich mir die Frage an meinen Mandanten nicht verkneifen, warum er den Vergleich, der ihm vorher genau so angeboten worden war, nicht früher akzeptiert hatte. »Sie haben mir ja nie richtig zugehört. Hätten Sie mir meinen Fall so gut erklärt wie Herr Thomas, wäre das doch selbstverständlich gewesen – il y a de juges à Munich«, sagte Peter de Vigne.

5.3.2. Herbert Rosendorfer

Heinz Thomas konnte »sinnlich denken« – zwei Begriffe, die auf widersprüchliche Weise miteinander verbunden sind. Auch für Herbert Rosendorfer war das selbstverständlich. Gerechtigkeit hat »mehr mit der juristischen Fantasie zu tun als mit der juristischen Dogmatik«, meint er in einem Interview,206 und bestätigt damit auch die Erfahrung, die ich oben geschildert habe. Seine Urteile lassen das erahnen:

»Das Gericht war in seiner bisherigen Praxis schon mit ca. 2000 Straßenverkehrsunfällen beschäftigt und hat es noch niemals erlebt, daß jemals einer der beteiligten Fahrer schuld gewesen wäre. Es war vielmehr immer so, daß jeweils natürlich der andere schuld gewesen ist. Bekanntlich sind Autofahrer ein Menschenschlag, dem Fehler grundsätzlich nie passieren, und wenn tatsächlich einmal ein Fehler passiert, dann war man es natürlich nicht selbst, sondern es war grundsätzlich der andere.

Das Gericht hat auch noch nie erlebt, daß jemals ein Fahrer, der als Zeuge oder Partei vernommen wurde, eigenes Fehlverhalten eingeräumt oder zugestanden hätte. Wenn dies einmal tatsächlich passieren sollte, dann müßte man schlicht und einfach von einem Wunder sprechen. Wunder kommen aber in der Regel nur in Lourdes vor, wenn beispielsweise ein Blinder wieder sehen kann oder ein Lahmer wieder gehen kann, oder aber in Fatima, wenn sich während der Papstmesse eine weiße Taube auf den Kopf des Papstes setzt, und sogar in den dortigen Gegenden sind Wunder ziemlich selten, in deutschen Gerichtssälen passieren sie so gut wie nie, am allerwenigsten in den Sitzungssälen des AG München. Jedenfalls ist in Justiz- und Anwaltskreisen nichts davon bekannt, daß in der Pacellistr. 2 in München schon jemals ein Wunder geschehen wäre. Möglicherweise liegt das daran, dass der liebe Gott, wenn er sich zum Wirken eines Wunders entschließt, gleich Nägel mit Köpfen macht und sich nicht mit einem banalen Verkehrsunfall beschäftigt. Vielleicht liegt aber die Tatsache, daß trotz der Unfehlbarkeit aller Autofahrer gleichwohl so viele Verkehrsunfälle passieren, schlicht und einfach daran, daß unsere Gesetze so schlecht sind. Dies hinwiederum wäre allerdings kein Wunder. Aus dem vorstehend Gesagten vermag nun der unbefangene Leser des Urteils schon unschwer zu erkennen, was die Zeugenaussage eines Fahrers eines unfallbeteiligten Fahrzeuges vor Gericht wert ist: nämlich gar nichts.«

Das war wohl zu viel des sinnlichen Denkens. Hans Putzo war entsetzt. Er kommentierte das Urteil207 unter Hinweis auf zwei Urteile aus Köln, die im Karnevalston abgefasst worden waren:208 »Was das Urteil des AG München angeht, muß ich in meiner Eigenschaft als Bayer mit Bedauern feststellen, daß es sich nicht einmal in den Grenzen des gewöhnlichen Geschmacks hält.« Den rheinischen Richtern empfahl er, ihre Fähigkeit zur Satire »in der Bütt« auszutoben, was in Bayern leider nicht möglich sei. Man wird ihm sicher gesagt haben, dass Herbert Rosendorfer (53) dieses Urteil geschrieben hatte, und vielleicht kannte er auch seinen Bestseller »Ballmanns Leiden« (1981), eine Satire auf den Justizbetrieb.

Rosendorfer hat seine These von der Unglaubwürdigkeit des Zeugen209, der im Auto sitzt, gegen alle Kritik aufrechterhalten, auch wenn er die herrschende Meinung gegen sich sah, denn häufig wurde die Berufungssumme nicht erreicht, und nicht immer wurden Rechtsmittel eingelegt. Das Thema wird bis heute kontrovers aufgegriffen, denn auch der Amtsrichter sieht gelegentlich den blauen Himmel über sich, genauso wie die Richter am Bundesgerichtshof.

Diese Einschätzung hat er uns auch in der Praxis vermittelt. Ich vertrat den Fahrer in einer Unfallsache, Hubert Danzl den Geschädigten. Jeder hatte nur Zeugen, die im Auto gesessen hatten, und die eine Mannschaft behauptete, die Ampel sei grün gewesen, die andere: »Die war rot, ich schwör’s bei allen Heiligen!« Als ich die Terminverfügung sah und merkte, dass wir an Rosendorfer geraten waren, griff ich zum Telefon: »Grüß Gott Herr Kolleg’.« Man musste damals sorgfältig darauf achten, einen anderen Anwalt immer mit »Herr Kollege« anzusprechen. Diese Lektion hatte mir der Kollege Dr. Sondermeyer beigebracht, als er der Kammer schrieb, ich hätte durch die unverzierte Anrede »Herr Sondermeyer« »die Kollegialität verletzt«. Solche Briefe blieben natürlich unbeantwortet, aber lästig waren sie doch. Außerdem hatte ich als Immigrant aus Düsseldorf verschärfte Pflichten, mich den örtlichen Gepflogenheiten anzupassen.

Danzl war kein Freund der kurzen Telefonate. Erst einmal erklärte er mir, dass die Hühner gut legten, die im Hintergrund neben dem Rauschen der S-Bahn zu hören waren – Danzl hatte Büro und Wohnung in Neuaubing, an der Grenze zum Dachauer Land. Dann kam er zur Sache. Lästig war es, sich vom Stadtrand ins Amtsgericht zu begeben, nur um zu hören, dass der Richter die aufgebotenen Zeugen für ganz und gar unglaubwürdig erklären würde. Dann entschied eben die Beweislast, die hat der Geschädigte, für ein Gutachten ist der Schaden zu gering, »und was mach ma jezz«? Er wusste natürlich, dass die Sache für ihn schlecht stand, weil sein Mandant als Geschädigter die Beweislast hatte. Ich wiederum hätte mit der Versicherung streiten müssen, wenn ich mich auf deren Kosten vergleichen wollte. Also beschlossen wir beide, den beteiligten Haftpflichtversicherern den Fall Rosendorfer zu erklären, damit sie eine akzeptable Quotenteilung akzeptierten.

In seinen autobiografischen Skizzen210 erfährt man, wie dieser vielfältig begabte Richter sich entwickelt hat. Seine Familie ging von Südtirol nach Bayern, als ihre Heimat Kriegsbeute der Italiener wurde. Seine künstlerische Begabung zeigte sich erst als Zeichner, und seit er die juristische Arbeit verlassen hat, blüht ihm diese Kunst wieder auf.211 Dann begann er zu komponieren, aber den Besuch der Kunstakademie in München hat er abgebrochen, weil er sich auch für Jura interessierte und sich für keines der Fächer allein entscheiden wollte. Schon sein erstes Buch »Bayreuth für Anfänger« hatte er sich angesichts des öden Dienstes in der grenznahen Kleinstadt als Staatsanwalt von der Seele geschrieben – wer Wagner verstehen will, sollte damit anfangen. Sein Roman »Briefe in die chinesische Vergangenheit« (1983) hat über eine Million Exemplare verkauft und wurde häufig übersetzt – ein ganz ungewöhnlicher Erfolg, um den er sowohl von seinen Kollegen wie von anderen Schriftstellern beneidet wurde: »Zu gewissen Zeiten haben meine Schuhe mehr gekostet als das Auto des Gerichtspräsidenten212.« Da wird Bayern aus der Perspektive eines chinesischen Kannitverstaan aus der Song-Dynastie betrachtet, den eine Zeitreise nach München verschlagen hat. Rosendorfer verdankte diese Idee der Lektüre von Montesquieus Persischen Briefen (1725). Sie gibt ihm vielfältig Gelegenheit, zum Vergnügen seiner Leser die bayerische Moderne kritisch zu betrachten. Wenn man berücksichtigt, wie umfangreich sein sonstiges Werk ist, fragt man sich, warum er trotzdem immer gleichzeitig (nicht: nebenbei) als Richter tätig war. Er wollte nicht hinter Verlagen herlaufen und sich dem Chaos des Kunstbetriebs anpassen: »Jeder (soll), bevor er zu dichten anfängt, einen ordentlichen Beruf lernen und ausüben (Goethe war Jurist, Schiller war Arzt), und zweitens: was die andere Künste anbetrifft, gibt es, meine ich, inzwischen genug Bilder und Musikstücke. Der Vorrat reicht.«213 Das ist auch dem Kammergerichtsrat E.T.A. Hoffmann (1766–1822) so ergangen, mit dem ihn die Idee, dass man die Welt, vor allem, wenn man sie aus der Perspektive des Rechts betrachtet, nur mithilfe der Kunst ertragen kann: »Ich glaube schon an das Gute im Menschen, aber es ist verdammt selten zu finden. Um Nestroy zu zitieren: ›Es gibt viele gute Menschen, aber grundschlechte Leut’214‹.« Juristen sind Ruinenbaumeister – so der Titel seines ersten großen Romans (1969). Sie müssen ihre Gebäude – notwendig lückenhaft – in die Vergangenheit hinein konstruieren.

Rosendorfer schrieb historische Arbeiten, ist 1990 an der Universität München Honorarprofessor für Bayerische Literaturgeschichte geworden, und arbeitete auf unzähligen weiteren Baustellen. Am Ende wurde er – halb widerwillig – 1993 doch zum Richter am Oberlandesgericht Naumburg befördert. Von den Erfahrungen in der Ex-DDR berichtet sein chinesischer Held erneut Unterhaltsames (Die Große Umwendung, 1997).

Neben dem oben wiedergegebenen Urteil ist ihm der Satz »Zwei Fiktionen sind eine Fiktion zu viel« zu verdanken. Damit lehnte er die Forderung eines Geschädigten ab, der seinen Blechschaden nicht reparieren lassen wollte, sondern stattdessen den fiktiven Schadensersatz und zuzüglich die fiktive Mehrwertsteuer verlangte.215 Auch diese These wurde heftig kritisiert, aber immer wieder kehrte sein Gedanke in die Diskussion zurück und die Rechtsprechung wechselte wieder.

Im Mai 2012 besuchte ich ihn in Südtirol216. Mich interessierte sein Bild von Anwälten: »Den Staranwälten bin ich nicht begegnet, aber zwei Typen kann man glasklar voneinander unterscheiden: die Genies und die Peniblen. Die Peniblen erkennt man leicht daran, dass ihre Schriftsätze sauber aussehen und keine ausgefransten Ränder haben. Bei den Genies ist das oft ein Wortsalat, aber irgendwo mittendrin steht der entscheidende Gedanke – man muss ihn bloß finden und oft wissen nicht einmal die Genies, wo er steht.«

Rosendorfer hatte eine hohe Vergleichsquote – vielleicht war sie auf diese Weise zu Stande gekommen. Er war Jurist »und trotzdem nicht ohne weiterführende Gedanken«, wie er einmal selbst gesagt hat. Deshalb saß er zwischen zwei Stühlen: Er hat nicht nur Literatur und Urteile geschrieben, sondern den Literaturbetrieb und die Welt des Rechts scharf beobachtet. (»Im ganzen Schönfelder kommt das Wort Gerechtigkeit nicht vor.«) Das kann man nur, wenn man nicht (ganz) Teil der jeweiligen Szene ist, die man beurteilt. Auch als Zeichner war er hochbegabt.217

5.3.3. Drogen

Eine jüngere Umfrage unter Strafrichtern, auf die ich im letzten Kapitel ausführlicher eingehe, stellt dar, wie ein Richter das »richtige« Strafmaß ermittelt. Viele Richter versuchen, sich vorzustellen, wie sie selbst als Angeklagte auf das Urteil reagieren würden und ob sie es als angemessen akzeptieren könnten. Das Problem: Nur wenige Straftäter schaffen es auf den Richterstuhl und deshalb bleiben solche Überlegungen allzu theoretisch.

Für einen Münchner Drogenrichter war es aber praktisch geworden. Er gehörte zu den härtesten seines Referats. Man wusste von keinem Fall, in dem er je die Regelstrafe gemildert hätte. Was für einen Fürsten der Unterwelt vielleicht angemessen war, verhängte er genauso über den naiven türkischen Bauersmann aus Semipalatinsk, den seine Hintermänner mit zwei Plastiktüten Heroin über die Grenze geschickt und dann bei der Polizei verpfiffen hatten, um von den großen Transportwegen abzulenken. Niemand merkte, dass sein Richter jahrelang schwer betrunken war – auch wenn er auf der Richterbank saß. Er war ein Pegeltrinker. Ich kannte ihn als sensiblen Menschen und vermutlich ist er im Lauf der Jahre immer dünnhäutiger geworden. Den Ausweg ins Grundbuchamt oder eine andere, eher verwaltende Tätigkeit hat er nicht gefunden.

Eines Abends wurde er betrunken im Auto von einer Polizeistreife aufgegriffen und musste den Führerschein abgeben. Als das ein Jahr später zum zweiten Mal geschah, hat er sich umgebracht.

5.3.4. Ein Unbekannter

Auf dem kurzen Stück der Ludwigstraße zwischen der Bayerischen Staatsbibliothek und der Universität findet man jeden Tag Tausende Studenten, Assistenten, Professoren und ganz normale Leute, nicht zuletzt die Autohändler, die – jedenfalls in den Siebzigerjahren – dort einen lebhaften Handel betrieben. Es dauerte einige Zeit, bis ich einen Mann bemerkte, der, auch im Sommer mit einem Mantel bekleidet, mit wirren Haaren und heruntergerutschten Socken im Portal der Staatsbibliothek verschwand und Stunden später offenbar geistesabwesend mit einer Plastiktüte an der Hand wieder nach Norden trottete. Nachdem er mir einmal aufgefallen war, schien er zu den unterschiedlichsten Tageszeiten zum Straßenbild zu gehören. Irgendwann erzählte ich abends von ihm und einer aus der Runde kannte seine Geschichte.

»Das ist ein früherer Richter – aber das ist zehn Jahre her«, begann die Geschichte, die mich noch heute tief berührt. »Er hatte ein ganz normales Referat für »Blech und Liebe« – das sind Verkehrsunfälle und Scheidungen, und nichts an ihm war auffällig, außer seiner Sorgfalt. Er brauchte lange für seine Sachen und vergleichen konnte er nicht sehr gut, denn wenn die Parteien nach der ersten freundlichen Ansprache die Köpfe schüttelten, fasste er nie nach, sondern schrieb lieber sein Urteil. Eines Tages stritten die Parteien um das Besuchsrecht, und es wurden Zeugen vernommen, ob es dem Vater endgültig entzogen werden solle. Das Jugendamt hatte nicht diesen Eindruck, und drei Zeugen wussten nichts Negatives zu berichten. Nur die Schwiegermutter schüttete einen Haufen der ekelhaftesten Behauptungen über ihn aus. Die meisten Zeugen lernen, dass ihre Aussage glaubwürdiger ist, wenn sie nicht herumgeifern, aber dafür reichte es hier nicht. Der Richter hielt ihr vor, dass ihre Aussage allein im Raum stünde, und kündigte an, sie zu vereidigen, was im Zivilprozess nahezu nie stattfindet. Ein ernsteres Warnzeichen konnte er nicht geben. Und die Alte wiederholt tatsächlich alles, was sie gesagt hat und hebt zitternd den Finger. Aber da unterbricht sie der Richter, schließt die Sitzung noch bevor sie alles falsch beschwören kann, und zieht seine Robe aus. Er hat sie nie wieder angezogen.«

»Und was macht er jetzt?« »Er liest die Korrekturen wissenschaftlicher Bücher und in der Staatsbibliothek hat er die meiste Ruhe.« Anwälte argumentieren, Richter entscheiden – ihre Arbeit ist auch nicht ohne Risiko!

5.4. Konfliktmanagement

Graffito, Berlin-Kreuzberg, 2011
Graffito, Berlin-Kreuzberg, 2011

»Der Krieg führt zusammen
und Recht ist Streit
und alles Leben entsteht
durch Streit und Notwendigkeit.«
218

5.4.1. Die Entstehung der Streitkultur

Dieses Fragment Heraklits ist wie sein Satz »Der Krieg ist der Vater aller Dinge«219 wohl die erste Bemerkung über die Streitkultur, die wir kennen.

Drei Aspekte sind es, die sie für uns besonders interessant machen:

  • »Der Krieg führt zusammen« – die Parteien kommen sich, wenn auch in feindlicher Absicht, näher,
  • das »Recht ist Streit« – also nicht Harmonie
  • und schließlich entsteht das Leben aus »Streit und Notwendigkeit«, also nicht aus Konfliktscheu und Überfluss.220

Es ist das Spiel mit den Gegensätzen, das dieses Fragment auszeichnet. Die Entwicklung solcher Spannungsbögen, die auch Form und Inhalt miteinander verbinden, ist eine hohe, bis heute wirkende Kulturleistung, denn ob wir mit Rudolf von Jhering vom »Kampf ums Recht« oder mit Heraklit vom Recht als Streit reden, ist kein großer Unterschied. Man kann kaum abschätzen, wie viele tausend Jahre es gebraucht hat, um von den Anfängen der Sprachkultur bis zur Streitkultur vorzudringen, die schon vor 2.500 Jahren in voller Blüte vor uns steht.

Heraklits dunkle Bemerkung vom Krieg als Vater aller Dinge lässt sich gewiss so deuten: Ganz am Anfang müssen wir sprachlos und blind über uns hergefallen sein und uns gegenseitig erschlagen haben, wenn wir uns nicht ausweichen konnten. Im Krieg gibt es keine Gesetze221 und es wird Gewalt angewendet. Streit hingegen läuft auch dann nach Regeln ab, wenn man sie vorher nicht vereinbart hat, denn sie sind Teil der allgemeinen Kommunikationskultur.

5.4.2. Rechtssysteme und andere Streitkulturen

Aus diesen Rahmenbedingungen der Streitkultur sind in Europa und Amerika die Rechtssysteme entstanden, die wir auf der Universität und später in der Praxis zu beherrschen gelernt haben. In ihnen sind vielfältige Gerichte eingerichtet, die bei Scheitern von Verhandlungen tätig werden können, Urteile sprechen und später vollstrecken. Viele Jahre meiner anwaltlichen Praxis habe ich nichts anderes gesehen.

Im Osten haben sich ganz andere Streitkulturen entwickelt. Nicht nur die streitenden Parteien – die ganze Gemeinschaft, in der sie leben, tritt zusammen, um gemeinsam nach den Wurzeln von Konflikten graben (und dabei den Gefühlen freien Lauf lassen), um so – »djugaruru« zu finden – den »geraden Weg«, wie die australischen Ureinwohner ihre Rechtsvorstellung bezeichnen.222 In langen, nicht enden wollenden Gesprächen wird der Konflikt durchgearbeitet, es ist längst alles gesagt worden, aber noch nicht von allen, aber das ist wichtig, denn erst beim Sprechen jedes Einzelnen ändern sich seine Gefühle und so auch seine Perspektive. Dieses Verfahren des Palavers ist vor allem in Afrika seit Urzeiten so, findet sich aber bei allen Naturvölkern in ähnlicher Form.223 Auch eine Hochkultur wie die ägyptische kennt letztlich keine andere inhaltliche Aussage: In ma’at, Tochter des Ra, einer geflügelten Frauenfigur mit Straußenfedern auf dem Kopf, symbolisieren sich Gerechtigkeit und Wahrheit, die in diesen Frühformen symbiotisch gesehen werden; Tatsachen und Bewertung fallen noch nicht auseinander.224

Diese Grundauffassung darüber, wie Konflikte zu regeln seien, sind außerhalb Europas auch in moderneren Formen noch erhalten geblieben, wie ich im Kapitel über Japan gezeigt habe. Verhandlungen über widerstreitende Gegensätze heißen dort nemawashi – »gemeinsam die Wurzeln freilegen«.

Vor aller Augen steht dabei das Bild einer Arbeitsgruppe, die die unterschiedlichen Interessen freilegt, um aus ihnen dann etwas Gemeinsames entstehen zu lassen. Die Gemeinsamkeit dieser Kommunikationstechniken mit Habermas’ Modellen idealer Kommunikation springt ins Auge.225 Habermas ist häufig dafür kritisiert worden, er zeichne ein unerreichbares Idealbild. Das ist gewiss richtig, aber nur so erhalten wir einen Maßstab, an dem wir uns orientieren können. Schwerstarbeit ist es, und es mag auch Streit hier und da aufflammen, aber das gemeinsame Verständnis ist Arbeit und nicht Auseinandersetzung. Auch für Heraklit entsteht »… aus dem Unstimmigen die schönste Harmonie226«. Er findet also das gleiche Ergebnis wie die asiatischen Kulturen, in denen Harmonie und Ausgleich die maßgebende Rolle spielen (chinesisch: Li, japanisch: giri). Kommt es bei dieser Arbeit zu offenen Auseinandersetzungen, verzichtet man eher auf Rechtsansprüche, ehe man dabei sein Gesicht verliert. Das chinesische Zeichen für »Gesicht« bedeutet auch »Beziehungen«. Wer sein Gesicht verliert, verliert seine Beziehungen. Diese Beziehungsnetze sind in den asiatischen Kulturen aber viel wichtiger als bei uns, denn dort ist die Gruppe das tragende Element und nicht der Einzelne. Guanxi ist der Zentralbegriff für diese Netzwerke in China und in Japan wird immer wieder der Unterschied zwischen uchi (wir unter uns) und soto (das sind die anderen) unterschieden. Wahrscheinlich steht Indien genau in der Mitte zwischen der westlichen und der östlichen Auffassung: Die Göttin Kali verkörpert gleichzeitig Streit und Zerstörung, aber auch Erneuerung und mütterlichen Schutz.

Kurz: Es gibt gewiss in den östlichen Kulturen nicht weniger Konflikte als bei uns, aber sie werden dort in viel größerem Umfang außerhalb der Rechtssysteme ausgetragen und geregelt. Nicht nur die Entscheidung eines Gerichts wird als endgültig akzeptiert, sondern auch der Hinweis auf Konventionen, angemessenes Gruppenverhalten, drohende Beziehungsverluste etc.

5.4.3. Schiedsverfahren

Schiedsverfahren scheinen die Vorteile westlicher wie östlicher Traditionen miteinander zu verbinden. Es gibt sie in Europa parallel zu den staatlichen Verfahren schon sehr früh. Schon das Reichskammergericht hatte die Möglichkeit, ein Verfahren an örtliche Schiedsrichter zu überweisen, die geeigneter waren, den Fall zu entscheiden227. Heute wie damals verzichtet man im kaufmännischen Verkehr teilweise bewusst auf Juristen im Schiedsgericht: auf der Bremer Baumwollbörse oder bei den ad hoc Schiedsgerichten, die innerhalb von Stunden über die Qualität von Importen auf Gemüsemärkten entscheiden müssen, sind Qualitätsprüfer tätig, die die wenigen – meist offensichtlichen – Rechtsfragen besser beherrschen, als ein nicht spezialisierter Jurist.

Staatliche Gerichte müssen aus verfassungsrechtlichen Gründen – von wenigen Ausnahmen abgesehen – öffentlich verhandeln. Schiedsgerichte tagen vertraulich in Konferenzräumen oder, wenn ein Schiedsrichter Rechtsanwalt ist, in dessen Büro. Vor allem bei gesellschaftsrechtlichen Auseinandersetzungen ist das ein großer Vorteil. Noch größer sind die Vorteile im internationalen Rechtsverkehr. Wenn zwei sehr unterschiedliche Rechtssysteme wie etwa das deutsche und eines der nordamerikanischen aufeinanderstoßen, kann man kaum erwarten, dass ein Urteil von der Qualität herauskommt, wie man das in den jeweiligen Ländern für sich erwarten würde. Hat man aber ein Statut (z. B. American Arbitration Association – AAA) vereinbart, wissen beide Seiten, in welchen prozessualen Umfeld sie sich bewegen.

Meinem ersten Schiedsverfahren bin ich Mitte der Achtzigerjahre begegnet. Es entstand aus einem deutsch-spanischen Firmenkauf, und die einzige neue Aufgabe, die ich lösen musste, war die Berufung eines der drei Schiedsrichter, denn ein bestimmtes Prozessstatut war nicht vereinbart. Da wir einen deutschen Gerichtsstand hatten, ging das Verfahren also nach der Zivilprozessordnung (ZPO). Der Mandant wollte einen deutschen Schiedsrichter (möglichst Rechtsanwalt) mit spanischen Sprachkenntnissen, der aber auch Branchenkenntnisse im Bereich des Maschinenbaus haben sollte. Weil Schiedsverfahren so geheim sind, weiß natürlich keiner, welcher Kollege Erfahrungen auf diesem Gebiet hat. Es dauerte einige Zeit, bis ich über Rückfragen bei einigen Kollegen und Richtern endlich die Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit ermittelt hatte, die da helfen konnte. Heute sind alle diese Dinge offenkundig, weil es überall Register und Rankings gibt.

Glücklicherweise hatte ich in der Zwischenzeit Richard Kreindler kennen gelernt, der damals bei White & Case als junger Anwalt arbeitete. Er war auf Schiedsverfahren spezialisiert, ging dann nach Paris zu Jones Day und schließlich nach Frankfurt zu Shearman & Sterling (daneben ist er Honorarprofessor in Münster). Ihn kann man wirklich alles fragen, weil er in allen großen Rechtssystemen zuhause war und mindestens drei Sprachen fließend spricht.

Viele Jahre lang bin ich in Schiedsverfahren immer nur als Anwalt aufgetreten, seit 2004 auch als Mitglied des Schiedsgerichts, gelegentlich als Vorsitzender. Der Wechsel in die Rolle des Richters gehört zu den tragenden Erfahrungen meines Berufslebens. Erst jetzt habe ich verstanden, worauf viele Schwierigkeiten beruhten, die wir als Anwälte mit unseren Richtern hatten. Beide Berufe sind völlig anders sozialisiert. In Deutschland wird das allzu oft geleugnet, weil man ein fiktives Bild vom Einheitsjuristen hat. In den angloamerikanischen Ländern hingegen, in denen die Richter aus der Anwaltschaft berufen werden, haben sie die Welt lange Jahre aus deren Perspektive betrachtet und lernen dann eine neue Rolle. Wie ich aus eigener Erfahrung weiß, braucht das Zeit. Als Richter bin ich eher vom Typ »Hans Putzo«, den ich oben skizziert habe. Manchmal wäre ich lieber »Heinz Thomas« gewesen.

Jedenfalls merkte ich bald, dass Schiedsverfahren, die ursprünglich als Ort für ein schnelles Gentleman’s Agreement gedacht waren, sich mehr und mehr zu einem Kampfplatz entwickelten, der die staatlichen Verfahren teilweise noch übertrifft, weil er viel komplexer ist.

In den ersten Jahren erlebte ich in mindestens der Hälfte aller Fälle einen Vergleich im ersten Termin. Wenn der Vorsitzende die Parteien angehört hatte, sagte er ihnen eine klare rechtliche Meinung, und weil alle wussten, dass es keine Berufung gibt, haben sie den Prozess so beendet, wie das Gericht es vorschlug: Wenn drei unbefangene Beobachter sich eine Meinung über die Lösung bilden, dann wird sie schon richtig sein. Aus diesen Erfahrungen stammt der Satz, Schiedsverfahren seien schneller und billiger als staatliche. Er ist aber nur dann richtig, wenn beide Parteien das Verfahren so verstehen.

Man kann aus einem Schiedsverfahren stattdessen einen wirklich aufwändigen Prozess machen, dessen Ergebnis man jahrzehntelang offenhalten kann. Man beginnt damit, die Zuständigkeit des Schiedsgerichts zu bestreiten, und eröffnet (möglichst in einem anderen Land) parallel ein staatliches Verfahren. Zur Klärung dieser Frage brauchen die staatlichen Gerichte drei Instanzen. Dann wird die Berufung der einzelnen Richter verzögert oder durch Vorwürfe der Befangenheit verhindert, man kann sich weigern, Vorschüsse zu zahlen, Beweise vorzulegen oder Zeugen zu stellen (dann müssen jeweils staatliche Gerichte eingeschaltet werden), und schafft Situationen, in denen der Vorwurf der Verletzung des rechtlichen Gehörs naheliegt (damit kommt man bis zum Bundesverfassungsgericht), und wenn das alles auch noch im Ausland stattfindet, findet man noch viele Möglichkeiten, Sand ins Getriebe zu werfen. Die Informationen über die wenigen bekannten Schiedsverfahren sind in dieser Hinsicht nicht sehr ermutigend: Das Verfahren über das Mautsystem Toll Collect dauert 2012 schon acht Jahre und hat bisher um die 100 Millionen € gekostet,228 der Vorsitzende musste aus Krankheitsgründen zurücktreten, und wenn es je einen Schiedsspruch gibt, wird das Anerkennungsverfahren noch Jahre dauern, dann kommt die Revision, dann das Verfassungsgericht und am Ende der Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Dabei läuft der Vertrag schon jetzt aus und wird neu ausgeschrieben. Das kann sich im staatlichen Verfahren genauso entwickeln, aber da sind die prozessualen Mittel griffiger.

Im internationalen Rechtsverkehr sind Schiedsverfahren trotzdem unvermeidlich: Die (vermutlich nie vollstreckbaren) Urteile eines Schiedsgerichts aus Nigeria oder Kamerun kann man sich gleich hinter den Spiegel stecken. Ich habe deshalb vielen Mandanten den Rat gegeben, beim Auftauchen solcher Streitigkeiten eigene Forderungen sofort abzuschreiben oder für gegnerische entsprechende Rückstellungen zu bilden und das Verfahren in dem Jahr zu beenden, in dem es sich steuerlich lohnt. Aber solche Ratschläge sind unwillkommen: Im Fall Toll Collect hat die Industrie nicht einen Euro zurückgestellt, obgleich sie 7 Milliarden € Schadensersatz zahlen soll. Das kann man Selbstbewusstsein nennen.

5.4.4. Mediation

Den Begriff Mediation habe ich erstmals 1998 gehört, als Reiner Ponschab mich nach einem Besuch in Harvard fragte, ob ich mit ihm einen gemeinnützigen Verein gründen wolle: Die Gesellschaft für Wirtschaftsmediation (GWMK, heute EUCON) sollte den Gedanken einer außergerichtlichen Einigung auf neuen Wegen in Deutschland populär machen. Reiner war als Prozessanwalt ein harter Hund, in den USA hätte man ihn einen hard-nosed litigator genannt. Er hat viele große Verfahren durchgestritten, und ich fragte mich, ob er wohl irgendwo ein Paulus-Erlebnis gehabt hatte oder seine Initiative auf einer beginnenden Altersmilde beruhte.

Das war nicht der Fall. Das Harvard-Konzept, auf das er mich aufmerksam machte und das ich in der Folgezeit intensiv studiert und angewendet habe, dient nicht einer falsch verstandenen Appeasement-Politik, es predigt nicht vermeidbare Kompromisse um des lieben Friedens willen und niemand wird gezwungen, auch nur die linke Backe hinzuhalten, wenn er dazu keine Lust hat. Drei Harvard-Professoren229 haben es im Auftrag der Regierung anlässlich der Geiselnahme amerikanischer Diplomaten im Iran 1980 als Mittel entwickelt, gemeinsam mit der Gegenseite rationale und akzeptable Lösungen zu erarbeiten. Keiner von ihnen hat sich je auf die oben skizzierten asiatischen Modelle bezogen, sie aber intuitiv richtig und für das westliche Verständnis begreifbar umgesetzt.

In der Folgezeit griffen US-Anwälte die Idee auf und veränderten sie zu einem flexiblen System von Regeln (Mediationstechniken), bildeten Mediatoren aus und etablierten so die Kernidee der Mediation: Ein Mediator hat die Fähigkeit, beide Parteien darin zu motivieren, die tieferen Gründe des Konflikts herauszufinden, sich Gedanken über das zu machen, was im Kopf der anderen Beteiligten vorgeht, und gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten, die nicht nur einer Partei einseitig Vorteile bringt. Diese Ideen erreichten ihren Durchbruch im US-Staat Florida, in dem per Gesetz angeordnet wurde, jedes staatliche Gericht könne den Fall zwangsweise an die Mediatoren verweisen, bevor er gerichtlich entschieden würde. Wie oben erwähnt ist auch das Reichskammergericht vor 500 Jahren so vorgegangen.

Aufgrund meiner eigenen Erfahrungen in den USA war mir klar, dass dieses Modell ein wichtiges Werkzeug für das Konfliktmanagement werden würde. Trotzdem war es gar nicht so einfach, die anderen fünf Gründer für den Verein zu finden. Der Beginn war zähflüssig, aber einige Syndici aus der Industrie begriffen den Wert der Idee und so ist EUCON heute die wichtigste Institution für viele Formen des Konfliktmanagements in Deutschland geworden.

Daneben hat die Mediation als Idee vor allem auf zwei Gebieten Erfolg: im Familienrecht und im Arbeitsrecht. Hier sind auch Psychologen unterwegs, was den Anwälten oft nicht recht ist. Man muss aber anerkennen, dass in diesen Arbeitsfeldern die völlige Abwesenheit von Rechtskenntnissen geradezu eine Voraussetzung dafür ist, dass die Parteien die Arbeit des Mediators anerkennen. Das ist keine ironische Bemerkung: Von einem juristisch gebildeten Mediator werden die Parteien vermuten, dass er eine Vorstellung von einem »juristisch richtigen« Ergebnis hat, und sie werden seine Verfahrensvorschläge deshalb misstrauischer beobachten.

5.4.5. Ein Haus mit vielen Türen

Inzwischen gibt es Dutzende von Verfahren, die außergerichtliche Lösungen je nach der Situation erlauben, in der man sich befindet. In dem einen Fall kann ein Schlichtungsgespräch richtig sein, im anderen die Mediation, hier braucht man ein Schiedsverfahren und dort die staatlichen Gerichte und je nachdem einige dieser Modelle hinter den anderen.230 Das Recht wird in einem Haus mit vielen Türen231 gesucht, und manche fragen sich, ob man innerhalb dieser vielen Varianten die Gerechtigkeit noch finden kann. Tatsächlich wird es außerhalb der staatlichen Gerichte nie ein »gerechtes Urteil« geben. Alle anderen Verfahren sind letztlich nichts anderes als unterschiedliche Verhandlungstechniken, die situationsgerecht eingesetzt werden. Sie können natürlich in einem vollstreckbaren Vergleich enden, der in seiner Wirkung einem Urteil gleichkommt. Aber es ist eben keine Entscheidung durch einen vom Staat eingesetzten Richter, der das Gewaltmonopol zu seiner Verfügung hat. Trotzdem haben alternative Konfliktregelungen erfahrungsgemäß viel Erfolg und werden von den Parteien als gerechte Lösung anerkannt. Spätestens an dieser Stelle erkennen wir, dass Gerechtigkeit ein vieldeutiger Begriff ist.

6. 2002 – 2012, Berlin

6.1. PriceWaterhouseCoopersVeltins

Neon-Skulpturen, Berlin 2012
Neon-Skulpturen, Berlin 2012

6.1.1. One-Stop-Shop

Mitte der Neunzigerjahre wurde in den großen Wirtschaftsprüfungskonzernen über die Frage diskutiert, ob man auch Rechtsdienstleistungen anbieten sollte. Zwischen Rechtsanwälten und Steuerberatern wurde eine Sozietät nicht mehr infrage gestellt, bei den Wirtschaftsprüfern sah man das anders, weil sie nicht reine Interessenvertreter sind. Der Bundesgerichtshof hatte gegen die Möglichkeit entschieden, aber – wie in allen berufsrechtlich umstrittenen Fragen – das Bundesverfassungsgericht öffnete diese Grenzen232.

Die Wirtschaftsprüfer hatten in den Jahren zuvor erleben müssen, wie sich das Verhältnis von Umsatz und Kosten schrittweise negativ verschob. Die erhebliche Ausweitung ihrer Tätigkeit im Rahmen der Compliance-Regeln, die etwa ab dem Jahr 2000 zu beobachten ist, steckte damals erst in den Anfängen. Zudem gab es Stimmen, die Wirtschaftsprüfer müssten ihre Consulting-Abteilungen von ihrer übrigen Tätigkeit trennen. Arthur Andersen handelte als Erster und gliederte die Berater in die Firma Accenture aus. Wie groß die Märkte sind, die den Wirtschaftsprüfern hier verloren gingen, zeigen die jüngsten Zahlen von 2012: 246.000 Mitarbeiter sind heute für Accenture in 53 Ländern tätig. Ähnlich sah es bei den anderen Gesellschaften aus. Die Idee war: Diese verlorenen Umsätze könnten vielleicht auf dem Feld der Rechtsberatung ausgeglichen werden.

In den Jahren seit 1989 hatte sich in Deutschland eine Anwaltsszene entwickelt, die bis heute – vor allem unter dem Einfluss englisch-amerikanischer Firmen – eine klare Schichtung in drei Segmente zeigt:

  • Die Internationalen Konzerne wurden von internationalen Anwaltskonzernen beraten – in Deutschland sind das heute 15–20 Büros zwischen 200 und 500 Anwälten.
  • Große nationale und mittelständische Firmen (über 1 Milliarde € Umsatz) trennen ihre Mandate nach internationalen und anderen Aspekten und beziehen in diesem Bereich weitere hundert auf das Wirtschaftsrecht spezialisierte Sozietäten ein.
  • Der breite Mittelstand (bis 1 Milliarde € Umsatz) hält sich – nicht zuletzt aus Kostengründen – an wirtschaftsrechtlich tätige Büros, kleinere Sozietäten und Einzelanwälte.

Diese Märkte konnten die Wirtschaftsprüfer sich erschließen. Es liegt auf der Hand, dass PriceWaterhouseCoopers als größter Wirtschaftsprüfungskonzern der Welt sich auf das erste Segment fokussieren wollte. Die Liste seiner Auftraggeber umfasst nahezu alle DAX-Konzerne und unzählige internationale Unternehmen. Zu den englischen und amerikanischen fügten sich nach 1989 auch große Firmen aus den früheren Ostblockstaaten (z. B. Yukos). Sie alle müssen international koordinierte Abschlüsse vorlegen. Ein amerikanischer Kunde interessiert sich nicht dafür, ob seine malaiische oder luxemburgische Tochtergesellschaft einen Wirtschaftsprüfer hat, der ihm gefällt. Die dortigen Niederlassungen der internationalen WP-Konzerne übernehmen diese Arbeit.

Diese Tendenz sieht man auch im Bereich der Rechtsberatung. Große Konzerne neigen seit Jahren weltweit dazu, nur noch 2–3 Sozietäten zu beauftragen, auch wenn diese in einem bestimmten Land keine Niederlassungen haben – das Prinzip des One-Stop-Shop. Wir haben z. B. viele Jahre lang neben anderen Sozietäten Oracle in lokal relevanten Fragen betreut, bis dieses neue Raster aufgezogen wurde: Jetzt ist allein eine weltweit tätige amerikanische Sozietät im Spiel. Selbst eine größere Firma wie Heuking hätte nur eine geringe Chance, berücksichtigt zu werden. Noch mehr gilt dieses Prinzip bei anspruchsvollen Aufgaben, wie sie im Bereich der Steuerplanung, der Transaktionen oder der Kapitalmärkte zu erledigen sind. Sie erfordern eine sehr enge Zusammenarbeit von Rechtsanwälten, Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern, wie sie ein Wirtschaftsprüfungskonzern international anbieten kann. Eine mittelständische Sozietät, die in ein internationales Netzwerk eingebunden ist, könnte in manchen Fällen auch solche Aufträge übernehmen. Aber sie wird nicht eingeschaltet, weil die Rechtsabteilung oder der Vorstand sich nicht dem Vorwurf aussetzen will, nicht die größten Büros beauftragt zu haben. Über die Honorare wird dann nicht lange verhandelt.

6.1.2. Strategien

So jedenfalls hoffte man bei PWC. Die Gesellschaft war 1998 gerade erst durch eine Fusion zwischen PriceWaterhouse und Coopers & Lybrandt entstanden. In Deutschland waren 800 Partner und 8000 Mitarbeiter tätig. Im Bereich der Rechtsberatung setzte man auch auf das internationale Netzwerk: Das waren fast 3000 Anwälte, die in 42 Ländern bereits in enger Kooperation mit PWC tätig waren. Erst vor kurzem hatte man sie unter der gemeinsamen Firmierung »Landwell« als Dachorganisation zusammengefasst. Nun sollten sie auch auf der Arbeitsebene integriert werden.

Dazu gab es zwei Wege: In vielen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften sind Steuerberater und Wirtschaftsprüfer tätig, die gleichzeitig als Anwälte zugelassen sind. Sie sahen sich allerdings vor einem berufsrechtlichen Problem: Wenn sich bei der Erstellung einer Bilanz herausstellte, dass gesellschaftsrechtliche Fragen z. B. im Rahmen einer Umstrukturierung zu lösen waren, konnten sie ohne weiteres auch rechtlich beraten, waren aber Testamente zu fertigen oder Lieferverträge zu überprüfen, gab es berufsrechtliche Zweifel. Solche Mandate konnte man im Zweifel nur in einer unabhängigen Anwaltsgesellschaft übernehmen, die allerdings nahe mit den Wirtschaftsprüfern und Steuerberatern zusammenarbeiten sollte.

1998 wurde in Frankfurt die PriceWaterhouseCoopersVeltins Rechtsanwalts GmbH gegründet und war sofort Mitglied bei Landwell. Die Vorgabe lautete: In fünf Jahren, also 2003, sollten zwischen 350 und 500 Anwälte an den großen Niederlassungen von PWC tätig sein und den Marktführern (Bruckhaus, Clifford, Hengeler, Gleiss, CMS usw.) sowie anderen englischen und amerikanischen Sozietäten, die Niederlassungen in Deutschland hatten, auf Augenhöhe entgegentreten.

Im März 2000 rief Michael Schmittmann mich an und teilte mir mit, dass er und einige andere Kollegen aus Düsseldorf die Sozietät Heuking Kühn verlassen und zu PWC Veltins gehen würden. Er konnte nicht wissen, dass wir seit Ende 1999 über unseren Kündigungstermin nachdachten: Wenn wir Ende 2000 ausscheiden wollten, mussten wir spätestens zum 30. Juni kündigen.

Unsere internen Diskussionen waren in erster Linie von der Frage bestimmt, was bei der Fortsetzung der Sozietät geschehen würde. Bis dahin waren wir in München eine wirtschaftlich geschlossene Einheit, die ihre Angelegenheiten im Wesentlichen selbst entscheiden konnte. Das würde sich am 1. Januar 2001 grundsätzlich ändern. Manche Privilegien der Standorte, die Heuking Kühn eher zu einer Art Netzwerk gemacht hatten, sollten dann fallen. Die konkreten Auswirkungen konnten wir nicht voraussehen, weil darüber ständige Gespräche stattfanden. Sie entwickeln sich aber nicht unbedingt in die Richtung, die uns vorschwebte. Ein weiteres und vielleicht wichtigeres Problem war das Drängen von Denton Hall, mit Heuking Kühn voll zu fusionieren. Die Mehrheit der Partner war klar dagegen, aber es gab andere Strömungen, und man wusste nicht, ob sie sich durchsetzen würden. Den Engländern wurde jedenfalls immer auch eine freundliche Seite gezeigt, nicht zuletzt, um sich die Mandatsempfehlungen zu erhalten.

Niemand konnte sagen, ob wir nicht in einem Jahr auf einmal eine englische Sozietät wären – das Kündigungsrecht hatten wir jedenfalls dann verloren.

6.1.3. Alternativen

Wir durchdachten die denkbaren Alternativen und sahen uns auch in den USA um: Unsere enge Zusammenarbeit bei Law Exchange, die wir auch unter Heuking weiter aufrechterhalten hatten, hatte uns gezeigt, dass die Engländer – anders als die Amerikaner – häufig zum Durchregieren neigen. Vielleicht war ein amerikanisches Büro die Alternative? Law Exchange wollte sich vergrößern, und immer wieder begleitete einer unserer Partner einen englischen Kollegen bei einer Reise in die USA, um nach geeigneten Büros an der Ostküste Ausschau zu halten.

1997 besuchte ich gemeinsam mit Richard Ingram einige Büros in Boston. Wir erfuhren da Interessantes über die strategischen Pläne mittelgroßer US-Sozietäten. Einige von ihnen hatten sich bereits in Deutschland niedergelassen, andere analysierten den Markt. Christian Weinheimer (später Geschäftsführer von HEUSSEN), brachte uns mit seinem Bruder Titus in New York zusammen, der bei Dorsey & Whitney tätig war. Dorsey (Hauptniederlassung: Minneapolis) gehörte damals zu den 25 großen Firmen in den USA mit 282 Partnern und mehreren Standorten, auch im Ausland. Das Büro in Palo Alto – im Silicon Valley stark mit IT-Recht beschäftigt – war ungefähr so groß wie wir. Die Sozietät war mittelständisch geprägt, auch wenn sie ein Büro in New York unterhielt und nach internationalen Kontakten suchte. Die Beziehungen zu europäischen Firmen liefen im Wesentlichen über Robert Wessely, verwandt mit der Schauspielerdynastie aus Wien. Die Schilderungen seiner vielen Querverbindungen zu Europa klangen spannend und wir trafen uns mit dem Managing-Partner in München. Der Chef des Londoner Büros, Peter Kohl, begleitete ihn und der war offensichtlich nicht begeistert. Beide Seiten zeigten große Zurückhaltung – zu viel hätte schiefgehen können. Also verfolgten wir die Idee nicht weiter. Mit Robert Wessely habe ich seither freundschaftlichen Kontakt, und er hat uns mit einigen Beziehungen und Ideen geholfen, als unser jüngerer Partner Georg Schröder 2010 die New Yorker Repräsentanz für HEUSSEN aufmachte.

Also rief ich Michael Schmittmann wieder an, der sich von PWC Veltins begeistert zeigte. Wir sahen vor uns ein mittelgroßes Büro mit 55 Anwälten in verschiedenen Standorten, das offenbar eng mit einer großen WP-Gesellschaft verbunden war. Wenn wir mit 25 Anwälten und einem Umsatz von 12,8 Millionen DM dazukämen, wären wir der größte Standort und gewiss von Einfluss auf die weiteren Entscheidungen. Mich interessierte am meisten der integrierte Beratungsansatz, den ich schon seit Jahren in Kooperation mit einzelnen Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern verfolgt hatte. Die »Rechtliche Strukturberatung« musste zu den Konzepten von PWC passen. Auch alle anderen Fachgruppen fanden sich in der geplanten Matrix wieder.

Meine ersten Gespräche mit Michael Veltins bestätigten das. Wir hatten ein relativ enges Zeitfenster für unsere Verhandlungen, weil sie spätestens am 30.6.2000 abgeschlossen sein mussten.

6.1.4. Entscheidungen

Wir waren damals sieben Partner und ein achter, Ralf Busch, hatte eine feste Zusage. Da gab es bestimmte Probleme mit PWC-Richtlinien, die zu überwinden waren, natürlich spielten auch Gehälter und Boni eine Rolle, aber erstaunlicherweise hat keiner von uns einen wirklich tiefen Widerstand gegen die Idee gehabt, künftig der Angestellte eines Konzerns zu sein. Der Entschluss, auch unsere jahrzehntelange Firmierung zu opfern, hat ähnlich wie bei den Abfindungsansprüchen keine zehn Minuten gedauert. Die jüngeren Anwälte und Mitarbeiter fühlten sich auch im Konzern gut aufgehoben, einige verfolgten eigene Pläne, wie Matthias Wohlfahrt, der nach Spanien ging.

Vor allem daran habe ich gemerkt, dass die großen Verwerfungen am Markt uns mehr beeindruckt haben, als wir uns wohl zugeben wollten. Ein Unternehmen mit monatlichen Kosten von ungefähr einer halben Million DM zu führen, kann einem schon Sorgen machen. Vor allem dann, wenn man um sich herum fähige Konkurrenten sieht, zu deren Ideen einem nicht immer etwas Besseres einfällt. PWC zeigte sich in vielen Punkten großzügig. Unser Internationales Netzwerk Law Exchange mussten wir allerdings aufgeben. Wir haben dafür unsere Münchner Kollegen Zirngiebel Langwieser empfohlen. Bei der Fusion mit Heuking hatten wir die Flottille gewählt, jetzt war eine klare Mehrheit für das Schlachtschiff. Also haben wir unterschrieben und bei Heuking gekündigt. Die Fragen, die dort zu klären waren, habe ich mit Ralf Wojtek in bestem Einvernehmen klären können. Am Anfang reagierte die Sozietät verständlicherweise betroffen, aber die weitere Entwicklung von Heuking Kühn zeigte, dass die Trennung richtig war. Die Diskussionen mit Denton endeten damit, dass sich Denton International in kurzer Zeit auflöste. Denton fusionierte mit Wilde Sapte und wuchs unter dem Druck des englischen Marktes als SNR Denton weltweit in ganz neue Größenordnungen. So bekam Heuking seine volle Gestaltungsfreiheit wieder und hat sie genutzt, um eine Vielzahl neuer Partner zu gewinnen, die das Konzept der individuellen Initiative jedes einzelnen Partners und der Unabhängigkeit innerhalb der internationalen Märkte bevorzugen. Dieses Wachstum hat automatisch zu höheren Qualitätsstandard im Bereich des Managements geführt. Und manche unserer Vorschläge sind auch in diese Umstrukturierung eingeflossen.

Kurze Zeit nach uns verhandelte Beiten Burkhard mit der KPMG und hat vermutlich eine vergleichbare Lösung ausgehandelt. Ernst & Young verbündete sich mit der Sozietät Luther, Deloitte mit Raupach Wollert Ellmendorf. Wir kannten Partner aus allen diesen Sozietäten, die wir sehr schätzten. Wenn sie sich für dieselbe Strategie entschieden hatten wie wir, konnte sie nicht ganz falsch sein.

6.1.5. Cross Selling in Berlin

Am Anfang sah alles sehr gut aus. Michael Schmittmann war Chef der IT/IP-Gruppe geworden, die er zügig ausbaute. Auch in den anderen Referaten kamen ständig neue Leute hinzu: Nach etwa 18 Monaten wurden 155 Anwälte gezählt, auch wenn keine weitere Sozietät sich anschloss. Es waren teils erfahrene Leute als Quereinsteiger, teils Anwälte aus dem PWC-Verbund.

Ich hatte in München eine Menge zu tun, um die dort tätigen PWC-Veltins-Anwälte in unser Büro zu integrieren. Wir arbeiteten zunächst an zwei Standorten, dann einige Anwälte in der PWC-Niederlassung. Die Anfänge waren nicht einfach, der bisherige Standortleiter Klaus Großmann ging zu einem amerikanischen Büro, aber Christoph Schmidt (später Geschäftsführer von HEUSSEN) und Dirk von dem Knesebeck sind geblieben und haben seither führende Positionen in unserer Sozietät. Ebenso wie Hermann Waldhauser, der die IT/IP-Gruppe übernahm, denn ich ging zurück nach Berlin.

Das dortige Büro war anders als in München voll in den PWC-Standort integriert – das bot die besten Voraussetzungen für die multi-disziplinäre Zusammenarbeit, die mir vorschwebte. In und um Berlin gab es damals 14 Forschungszentren, einige, wie Adlershof, hatten bedeutende Ausmaße. Das interessierte mich wegen des Technologierechts. Nicht nur hier, sondern auch bei anderen großen Firmen war PWC eine eingeführte Marke. Ich arbeitete ein großes Strategiepapier aus, in dem alle Möglichkeiten des Cross-Selling im Detail aufgelistet waren, und ging damit zu allen Partnern, die es hätte interessieren können.

Aber ein Konzern dieser Größenordnung arbeitet nach seinen eigenen Gesetzen. Einige lernt man schneller, als einem lieb ist. Schon bald erreichte mich ein Anruf des Compliance-Centers aus Frankfurt mit der Bitte, mich in eine Datenbank in den USA einzuloggen und sämtliche Aktien aufzulisten, die ich hätte. Nicht nur ich, sondern auch meine Frau, ja die gesamte Familie sollte das tun. Warum das? Kein Wirtschaftsprüfer darf Aktien von Unternehmen halten, die er prüft – eine sinnvolle Maßnahme, um Interessenkonflikte und Schlimmeres zu verhindern. Wer also Aktien kaufte, vergewisserte sich vorher in dieser Datenbank, ob sie für den Erwerb gesperrt waren. Daran mussten sich alle Partner halten, auch die Anwälte. Der Hinweis auf den Datenschutz ist in solchen Fällen nichts Wert und vielleicht auch unberechtigt. Sicher ist sicher. Ich erwähne dieses winzige Detail nur deshalb, weil man sich vorstellen kann, dass fast keine Woche ohne eine vergleichbare Maßnahme verging, mit der man lernen musste umzugehen.

Und dann die Größe! Die erste Partnerversammlung, an der wir teilnahmen, sollte in den Düsseldorfer Rheinterrassen stattfinden. Die braucht man auch für 600 Leute, die dort den ganzen Tag verbrachten. Sie saßen da, hörten sich die von einem Managementkomitee abgestimmten Vorträge an und hoben ihre Stimmkarten. Die Zustimmungsquoten lagen irgendwo bei 90 %. Das war eine ganz andere Unternehmenskultur, als wir sie bis dahin kannten. Anwälte sind es gewohnt zu streiten, und vor allem unter Kollegen merken sie oft gar nicht, wie das von außen betrachtet wirken mag. Bei einer unserer Strategiedebatten hatten wir den Chef der Steuerabteilung, Dieter Endres (auch Mitglied des Vorstandes), eingeladen, um mit uns zu diskutieren. Er hörte sich das Ganze an, beteiligte sich aber mit keinem Wort. Ich fragte ihn später, wie ihm die Diskussion gefallen habe. »Entsetzlich«, sagte er, »wie können sie sich am andern Tag in die Augen sehen, wenn sie in dieser Form übereinander herfallen?« Ich hatte nichts Besonderes bemerkt – keiner hatte mit Stühlen geworfen!

Auch die Prüfung der Interessenkonflikte bei Mandatsübernahmen war erheblich schärfer, als wir es gewohnt waren. Das entscheidende Kriterium, dass der Konflikt »in derselben Sache« stattfinden muss, ist aus unterschiedlichen Gründen nur außerhalb des Wirtschaftsrechts brauchbar. Niemand wird gegen einen Mandanten auftreten, den er in anderer Sache schon einmal beraten hat. Aber auch die Kern-Klientel von PWC konnten wir nur beraten, wenn vorher der zuständige Partner zustimmte. Viele von ihnen arbeiteten seit langem mit anderen Büros zur völligen Zufriedenheit und sahen keinen Grund zum Wechsel. Andere hatten die naheliegende Sorge, wir könnten vielleicht etwas falsch machen, und sagten in manchen Fällen nein. Diese und viele andere Probleme, die beim Cross-Selling auftauchen, haben wir im Detail kennen gelernt. Andererseits hatten wir genügend mittelständische Mandanten, die mit dem Dunstkreis großer Konzerne nicht in Berührung kommen, und haben weitere hinzugewonnen. Trotzdem war nicht zu verkennen: Die Zahl der Anwälte wuchs, die Zahl der Mandate weit weniger.

6.1.6. Zahlen

PriceWaterhouseCoopersVeltins war zwei Jahre nach seiner Gründung im JUVE-Handbuch 2000/2001 zu den 25 großen Büros in Deutschland gezählt worden. 105 Rechtsanwälte, davon 27 Partner in sieben Büros, und ein Umsatz von 33 Millionen € (218.000 € pro Berufsträger) rechtfertigten das. Erstmals waren solche Zahlen in Deutschland veröffentlicht worden. Die Schnelligkeit dieser Entwicklung erklärt sich einfach: Der Kern der Sozietät setzte sich aus langjährig bestehenden Sozietäten zusammen, die vor allem auf dem Hintergrund der Zugehörigkeit zu PriceWaterhouseCoopers recht schnell Wachstum anzog. Ein Jahr später meldete die Gesellschaft an Juve für das Jahr 2002 155 Berufsträger mit 212.000 € Umsatz. Auch das Verhältnis von Equity-Partnern zu Mitarbeitern (155/18), war in einem Jahr von 2,7 auf 7,6 gestiegen: Das zeigte ein explosives Wachstum an Personal, dem aber kein Umsatzwachstum entsprach. Es waren wiederum 33 Millionen €.

Trotzdem war ich optimistisch und startete Ende 2002 ein Buchprojekt bei C.H. Beck, das Unternehmerhandbuch. Ein Steuerpartner, Ralph E. Korf und ein Partner aus der Unternehmensberatung, Theo Weber betreuten als Mitherausgeber ihre jeweiligen PWC-Fachgebiete, mein jüngerer Kollege Georg Schröder aus München koordinierte das Ganze. 42 Autoren begleiteten das Start-up-Unternehmen von der Idee und Planung bis zum Exit anhand von Checklisten und praxisnahen Hinweisen. Der Ideenaustausch unter den Autoren war für alle eine große Bereicherung. Als das Buch 2005 erschien, war die Begeisterung vorbei – die Sozietät war auseinandergefallen. Auch das Buch ist über die Erstauflage nie hinweggekommen.

6.1.7. Sarbanes Oxley

Die Idee, den führenden Sozietäten unter den Rahmenbedingungen eines Konzerns Marktanteile abzujagen, konnte man nicht in wenigen Jahren verwirklichen. Die Zeit, es vielleicht mit neuen Ideen und anderen Mitteln zu versuchen, hat die Gesellschaft nicht gehabt. 2002 brach überraschend der älteste Wirtschaftsprüfungskonzern der Welt, Arthur Andersen (gegründet 1913), zusammen. Sie hatten ENRON geprüft und offenbar Unregelmäßigkeiten nicht in ihren Berichten erwähnt, die den Verdacht einer Bilanzfälschung nahelegten. Als ENRON insolvent wurde, gaben der Niederlassungsleiter in Houston David Duncan und die Firmenjuristin Nancy Temple angesichts einer drohenden SEC-Untersuchung die Anweisung, Prüfungsunterlagen zu vernichten. Es wurde nie aufgeklärt, was Arthur Andersen wirklich hätte vorgeworfen werden können. Allein die Untersuchungsmaßnahmen der SEC, die sich sofort über diesen Vorfall stürzten, genügten vielen Mandanten, die Prüfungsaufträge außerordentlich zu kündigen, und ihnen folgten weltweit viele Partner in wenigen Monaten, die sich den anderen Beratungskonzernen anschlossen. Arthur Andersen wurde liquidiert. Aus den Big Five waren nun Big Four geworden (PriceWaterhouseCoopers/KPMG/Ernst & Young/ Deloitte Touche). Der Flügelschlag des Schmetterlings hatte den Orkan ausgelöst.

Dieser Vorfall veranlasste die US-Abgeordneten Paul Sarbanes und Michael Oxley, am 25. Juni 2002 ein Gesetz in den Kongress zu bringen, in dem verschärfte Anforderungen an das Verhalten von Wirtschaftsprüfern enthalten waren. Es wurde im Eilverfahren durchgewinkt. Die internationalen Auswirkungen hatte – wie in den USA üblich – niemand durchdacht.

Nun wurden nämlich alle Verhaltensmaßnahmen, die in den USA gültig waren, automatisch auf alle Länder der Welt ausgerollt. Schon vorher gab es strikte Vorschriften zu Interessenkollisionen, jetzt wurden die Chinese Walls oder ausdrücklichen Verbote, Mandate anzunehmen, verschärft, und das wirkte sich unmittelbar auf die Zusammenarbeit mit den Rechtsanwälten aus. Die vor wenigen Jahren erst formulierte Strategie der Öffnung zu multi-disziplinären Partnerschaften brach in wenigen Monaten zusammen.

Im ersten Schock über diese Entwicklung sahen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaften problematische Szenarien auf sich zu rollen:

  • Bei großen internationalen Konzernen war klar, dass die Prüfungstätigkeit es gleichzeitig verbot, sie in anderen Bereichen auch juristisch zu beraten, und zwar selbst dann, wenn die Prüfungstätigkeit zum Beispiel nur die USA umfasste, nicht aber ausländische Tochtergesellschaften.
  • Bei Gesellschaften, die nur auf nationalen Märkten tätig, aber im Export engagiert waren, musste man das Gleiche befürchten, denn wie hätte man »Chinesische Mauern« errichten sollen, um die jeweiligen Bereiche voneinander zu trennen?
  • Übrig blieben also nur Prüfungsmandanten, die »prüfungsnahen« Beratungsbedarf hatten. Mit diesen Abgrenzungen war man seit einigen Jahren vertraut, denn dort bestand auch unternehmerischer Beratungsbedarf. Es wäre aber strategisch nicht sinnvoll gewesen, ihn durch eine selbstständige Anwaltsgesellschaft zu bedienen, die man nur indirekt kontrollieren konnte.

Diese Überlegungen führten letztlich dazu, dass man wieder auf jene Alternative zurückkam, die man schon vor der Gründung von PriceWaterhouseCoopersVeltins erwogen hatte: den Aufbau von Legal Services innerhalb von PWC. Wie stets machte PriceWaterhouseCoopers den Vorreiter, Ernst & Young, die KPMG und Deloitte folgten im gebührenden Abstand.

Für uns Anwälte ergab sich daraus wie später für die Kollegen von Beiten Burkhart (KPMG) und Luther (Ernst & Young) eine wirklich schwierige Situation. Wir hatten in den letzten zwei Jahren genug damit zu tun gehabt, mit den von PWC hinzugekommenen Kollegen eine gemeinsame Unternehmenskultur zu finden. Das war vergeblich gewesen. Nun musste sich jeder entscheiden, ob er sich an einem Management-Buy-out beteiligen wollte oder andere Alternativen für sich suchen.

6.2. Sinkflug

Flughafen München
Flughafen München, 2004

»Die Zirbelente sprach gedämpft
ich hab mein Leben lang gekämpft
nun sollen auch mal andere ran,
zum Beispiel dieser Karajan.«

Robert Gernhardt

6.2.1. Management-Buy-out

Ende 2002 trat Michael Veltins überraschend als Geschäftsführer von PWCV zurück. Eine kleine Gruppe gewählter Partner verhandelte über den Management-Buy-out.

Die Gespräche darüber, die ein Frankfurter Kollege, Bedo Panner, im Auftrag von PWC mit den Partnern führte, verliefen an den einzelnen Standorten unterschiedlich, häufig konstruktiv, manchmal stürmisch. Vor allem im Gesellschaftsrecht, im Steuerrecht und im Arbeitsrecht gab es greifbare Schwierigkeiten.

Viele Partner waren zuvor in anderen Sozietäten gewesen oder hatten sie – wie wir selbst – gegründet. Sie wussten, dass die bisherige wirtschaftliche Entwicklung sich nach einem Management-Buy-out nicht fortsetzen konnte – im Gegenteil waren Umsatzeinbußen zu erwarten. Aber irgendeine Art der Konsolidierung würde es ohnehin geben müssen. Und wir hatten die Aussichten, sie selbst steuern zu können: In München waren uns mehr als 80 % der Mandanten persönlich bekannt, einige mit uns verbunden und nur weniges stammte aus dem Konzernbereich, den wir voraussichtlich verlieren würden. In den anderen Standorten wird es – mit Ausnahme Frankfurts – ähnlich gewesen sein. Ein Management-Buy-out ist nichts anderes als eine Neugründung – wenn man ehrlich ist, unter günstigeren Bedingungen, als wenn man auf der grünen Wiese anfangen muss. So kam es in kurzer Zeit zu einem Vertragsabschluss zwischen PriceWaterhouseCoopers und Partnern aus allen Standorten von PWC Veltins.

Die neue Gesellschaft umfasste an den vier Standorten München, Berlin, Frankfurt und Stuttgart nur etwa 60 % der Berufsträger, die unter der Firmierung PWC Veltins tätig gewesen waren. Partner, die früher schon bei PWC gewesen waren, kehrten dorthin zurück, einige schlossen sich anderen Gesellschaften an, Mütze & Korsch gründeten eine eigene Sozietät in Düsseldorf.

Die Entscheidung, ob ich (damals 59) an dem Projekt teilnehmen solle, ist mir schwer gefallen. Die Rahmenbedingungen, die PWC in den Raum stellte, waren absolut fair, die Risiken überschaubar. Allerdings war absehbar, dass die nächsten fünf Jahre viel Konzentration auf das Management bedeuten würden, manche interne Krise war zu erwarten, das sagte mir die Erfahrung. Und das würde meinen wissenschaftlichen Arbeitsplan und viele andere Interessen beeinträchtigen, denen ich mich widmen wollte. Thomas Mann hat einmal wie nebenbei geschrieben: »Er arbeitete nicht, wie jemand, der arbeitet, um zu leben, sondern wie einer, der nichts will als arbeiten, weil er sich als lebender Mensch für nichts achtet, nur als Schaffender in Betracht zu kommen wünscht und im übrigen grau und unauffällig einhergeht wie ein abgeschminkter Schauspieler, der nichts ist, solange er nichts darzustellen hat.«233 – Wenn es Druck gibt – und den gibt es fast immer – leben Anwälte (und Politiker) wochenlang wie »der Tintenfisch in der Garage234« und erst gegen Ende der Berufsjahre hat man die Chance, solche Situationen einigermaßen zu steuern. In diesen Wochen habe ich – wie schon früher so oft – bestätigt gefunden: Im Kopf entwickelt sich auf logische Weise das kalte Buffet der Alternativen, aber erst der Heißhunger zeigt einem, wohin man greifen soll. Der entwickelt sich manchmal nur, wenn man Appetit auf Risiko hat. Auch Neugier und Furcht dürfen nicht ganz erloschen sein. Bis dahin war ich noch nie Einzelanwalt gewesen, und diese Erfahrung – frei von den Bindungen, die jede Sozietät einem auferlegt – hat mich gereizt. In den letzten Jahrzehnten hatte ich ausreichend Gelegenheit gehabt, auf dem Klavier der Macht zu spielen. Neue Partituren waren nicht in Sicht. Alleine arbeiten? Über Einzelanwälte hatte ich immer wieder gesagt: »Die können keine fremden Götter neben sich ertragen«, und jetzt bekam ich plötzlich Lust darauf, diese Freiheit selbst zu erfahren.

6.2.2. Of Counsel

Beim Abschluss unserer Verträge mit PriceWaterhouseCoopers waren wir Älteren davon ausgegangen, spätestens 2009 als Partner auszuscheiden. Eine konkrete Of-Counsel-Lösung war nicht vereinbart, weil niemand voraussehen konnte, wie die Situation der Sozietät dann sein würde. Aber erfahrungsgemäß würde sich irgendeine Lösung finden. Bei einer Besprechung in der Münchner Sozietät Rothe Senninger war ich vor Jahren auf dem Flur einem älteren Herrn begegnet, erkennbar über achtzig Jahre alt, der mit flinken Schritten zu seinem Büro ging. »Das ist unser früherer Seniorpartner, Herr Dr. Rothe«, sagte Senninger, »er ist unser Financial Controller, und wenn wir uns mal streiten, dann schlichtet er das in kürzester Zeit. Mit Mandanten will er nichts mehr zu tun haben!« Vielleicht würden wir unseren jüngeren Partnern eine ähnliche Idee vermitteln können. Und wenn nicht, gab es andere Alternativen.

Also habe ich mich am Ende dafür entschieden, mich an dem Management-Buy-out-Projekt nicht mehr zu beteiligen. Die Entscheidung wurde dadurch erleichtert, dass die Kollegen sich freuten, mich als Of-Counsel neben sich zu sehen. Ich führte die Mandate, die mich interessierten, als Einzelanwalt weiter, jedoch stets in enger Kooperation mit Partnern der Sozietät, damit die Qualitätsstandards, die eine größere Sozietät gewährleistet, unter allen Umständen eingehalten werden. Neben der Projektarbeit in IT-Sachen und Beratungsmandaten hatte ich viel Arbeit in Schiedsverfahren gefunden, hauptsächlich über die Deutsche Institution für Schiedsgerichtsbarkeit und die ICC Paris. Erstmals war ich in Schiedssachen als Richter tätig: Das hat mir viele neue Einsichten verschafft. Daneben konzentrierte ich mich auf wissenschaftliche Arbeit.

Im Umfeld einer größeren Sozietät ermöglichen heute leistungsfähige Computernetze und Kommunikationstechnologien eine Arbeit über große Distanzen mit allen Fachleuten, die ich in meine Mandate einbinde. Das wäre noch vor zehn Jahren nicht möglich gewesen. Ich bin sicher, dass sich auch in den größeren Sozietäten daraus eine Parallelwelt virtueller Büros entwickeln wird. Es gibt die unterschiedlichsten Motive dafür: junge Kollegen, die sich noch wissenschaftlich qualifizieren wollen und nur eine Halbtagsstelle besetzen können, junge Mütter und Väter, die Zeit für ihre Familien brauchen, Rechtsanwälte, die nebenbei wirtschaftliche Interessen haben und dafür Zeit brauchen, und nicht zuletzt ältere Partner, die dem Büro auf ihre Weise verbunden bleiben wollen. So kann eine Sozietät um den Kern der Partner, die die jeweiligen Strategien umsetzen, ein Netzwerk bilden, das nicht nur ihren Ruf verstärkt, sondern auch ihrem Ertrag nützlich ist.

Justin von Kessel konzentrierte sich auf seine Aufgaben als Aufsichtsrat und Treuhänder, Reiner Ponschab, Präsident der Gesellschaft für Wirtschaftsmediation (heute: EUCON), hatte dort neue Interessen gefunden, beide sind der Sozietät ebenfalls als Of-Counsel verbunden. Gunther Braun blieb noch fünf Jahre und widmete sich bevorzugt dem Thema Neue Energien. In diesem Bereich ist er heute als Manager tätig.

6.2.3. HEUSSEN Rechtsanwaltsgesellschaft GmbH

Im Oktober 2003 wurde die HEUSSEN Rechtsanwaltsgesellschaft in der Presse angekündigt. In der Umsatzstatistik dieses Jahres findet sie sich allerdings nicht mehr: Wie bei den Michelin-Sternen warteten die Tester erst einmal ab, wie die Dinge sich entwickeln.

Tatsächlich gab es zahlreiche Veränderungen. Die IT-Gruppe zerlegte sich geradezu: Michael Schmittmann (jetzt auch Lehrbeauftragter in Hannover), Lothar Ende, Dirk Stolz und Dominik Eickemeier, alles starke Partner, gingen zu Heuking. Ich habe das gut verstanden, denn zwischenzeitlich hatte sich bei Heuking eine ganze Menge getan. Eine Vielzahl von Vorschlägen, die wir vor allem im Bereich des Managements gemacht hatten, waren nach unserem Weggang realisiert worden. Die Grundidee, die Eigeninitiative eines Partners besonders in der Gewinnverteilung stark zu fördern (merit-based), ist geblieben. Vielleicht hätten wir uns im Jahr 2000 auf dieser Schiene treffen können – aber keiner hat die Möglichkeiten gesehen.

Die Brüder Nägele gründeten jeweils eigene Büros und nahezu der gesamte Frankfurter Standort verabschiedete sich teils in andere Büros, teils unter der Führung des Geschäftsführers der Gesellschaft, Karl Maria Walter zu Faegre Benson. Die schlossen aber dann ihr deutsches Büro und sie wanderten weiter zu Squire Sanders. In München blieben die Verluste gering.

Das waren dramatische Entwicklungen, die allerdings die Substanz der Gesellschaft nie gefährdet haben. Trotzdem hat es mich beruhigt, dass die Partner die Rechtsform der GmbH beibehalten haben (bereits aus steuerlichen Gründen lag das nahe). Bei überörtlichen Sozietäten halte ich sie für unverzichtbar, wenn man nicht eine englische Gesellschaft wählen will, deren Risiken englische Partner bewerten und die sie von dort managen können. Die üblichen Haftungsrisiken für Kunstfehler mag man in anderen Formen in den Griff bekommen, aber wie man an den großen Insolvenzen (Dewey & LeBoeuf) sehen kann, ist es ab einer gewissen Größe der Sozietät nicht mehr möglich, sich aller Risiken zu vergewissern, die das Management eingeht. Deshalb fühlt man sich als Of-Counsel mit einer GmbH komfortabler als in der Scheinsozietät mit einer Partnerschaft.

Nach zwei Jahren hatte die Situation sich stabilisiert. Die für mich besonders wichtige IT-Gruppe hatte sich unter der Führung von Hermann Waldhauser wieder stabilisiert. Markus Junker und Georg Schröder ergänzten sie mit unterschiedlichen Spezialisierungen. Ab 2005 sah die Gesellschaft sich wieder bei JUVE unter Nr. 42 gelistet: 17,8 Millionen € Umsatz, 55 Rechtsanwälte und Steuerberater und einen Pro-Kopf-Umsatz von 324.000 €. Die Folgejahre zeigen eine kontinuierliche Entwicklung. 2011 beträgt der Jahresumsatz 27,10 Millionen € (+ 18,7 %) und das ergibt für die entscheidende Maßzahl des Umsatzes pro Berufsträger einen Wert von 399.000 € (+ 6,5 %)235. Für das Jahr 2012 wird sich diese Entwicklung fortsetzen, weil nun die frühere Sozietät Wahlert in Stuttgart dazugestoßen ist.

Diese Entwicklung beruht auf einer konsequenten Suche nach Anwälten, die sich auf die Beratung mittelständischer Unternehmen mit bestimmten Branchenschwerpunkten konzentrieren wollen und eine integrierte Zusammenarbeit anstreben. Wir sind unter vielen Aspekten wieder nahe an der Unternehmenskultur von Heussen Braun von Kessel. Auf ihrer Basis ist die Sozietät an allen Standorten gewachsen. In Frankfurt schlossen sich Michael Naab, Gründungspartner von SNP als Of-Counsel, und die Partner Norbert Pahl und Wolfgang Trautner (auch Notare) mit ihrem Schwerpunkt im Bank- und Kapitalmarktrecht an. Reinhold Kopp (Arbeitsrecht und Compliance), nach einer politischen Karriere als Wirtschaftsminister des Saarlandes langjährig in der Industrie tätig, hat die Führung des Berliner Büros übernommen, Thomas Miller (Immobilienbereich) und Markus Hotze (IT/IP) sind dazugestoßen. In Stuttgart kamen Marcus Schriefers, danach die Partner der früheren Sozietät Wahlert, Horst Teller, Sven Hoffmann, Pascal Schulz dazu. Damit gehört die Niederlassung zu den zehn größten Stuttgarter Büros. Sie brachten auch zwei weitere Internationale Netzwerke mit (Multilaw und Gesica).

In München kamen Johannes Weidelener und Georg Anders (M & A) dazu, später noch weitere Kollegen aus dem Büro Sibeth (Norbert Huber, Cornelia Weber). Die Trennung von PWC ermöglichte jetzt auch den Aufbau einer eigenen Steuerberatung: Rupert Klar und Martin Grasser (Steuerberater/Wirtschaftsprüfer) sind mit ihrem Büro zu HEUSSEN gekommen.

Eine strategisch interessante Entscheidung ist seit 2010 der Schwerpunkt im Recht der Neuen Energien (Jan Dittmann). Die Sozietät finanziert dazu einen Stiftungs-Lehrstuhl an der EBS Universität in Wiesbaden, an der Renate Dendorfer als Honorarprofessorin tätig ist.

Im Ausland kooperiert das Unternehmen mit zwei Sozietäten in den Niederlanden und in Italien, die beide die Firmierung HEUSSEN übernommen haben. Dazu kommen zwei Repräsentationsbüros in Brüssel und New York und Länderschwerpunkte für China (Frankfurt), Lateinamerika (München) und Frankreich (Stuttgart).

Das sieht alles ganz erfreulich aus, aber man muss diese Anstrengungen und Erfolge auf dem Hintergrund einer Marktsegmentierung sehen, die es vor 40 Jahren nicht gegeben hat. Sie wird unterschiedlich beschrieben.

Christoph Vaagt unterscheidet vier Segmente:236 Konzern Kanzleien/Mittelstandskanzleien/Kanzlei für kleine und mittlere Unternehmen/Kanzleien für Privatmandanten. Das ist ein Teilsegment des Gesamtmarktes von anwaltlichen Dienstleistungen in einer Höhe von knapp 4 Milliarden €, der in Deutschland im Jahr 2012 etwa 18 Milliarden € ausmacht. Nur knapp 10.000 Anwälte erzielen ihn im Verhältnis zu den etwa 140.000 Anwälten, die die restlichen 14 Milliarden € erarbeiten.

JUVE237 definiert anders:

  • 16 deutsche Regionalkanzleien (von Beiten Burkhart bis SKW Schwarz, darunter auch HEUSSEN)
  • 7 deutsche Premiumkanzleien (von Flick Gocke Schaumburg bis SZA Schilling Zutt & Anschütz)
  • 12 internationale Finanz – und Transaktionskanzleien (von Allen & Overy bis White & Case)
  • 13 internationale Industriekanzleien (von Baker & McKenzie bis WilmerHale).

Der Wechsel von der einen in die andere Gruppe lässt sich nicht allein durch eine Ausweitung der Umsätze erreichen, es geht nur über eine klare Verbesserung der Mandatsstrukturen, die sich in jedem Segment anders darstellen. Vor allem der Einstieg in die internationale Szene ist schwierig. So ergibt sich bereits eine harte Konkurrenz unter den Sozietäten, die in den einzelnen Segmenten gegeneinander antreten, aber noch höher sind die Zugangshürden bei dem Versuch, in einem höheren Segment Fuß zu fassen. Es ist wie in den Fußball-Bundesligen. Man könnte den Mut verlieren, wenn man alle Pressemeldungen ernst nehmen würde, die man gelegentlich zu lesen bekommt, so etwa in der FAZ im Juli 2012:

»Dieses Projekt macht aus uns plötzlich eine international anerkannte Kanzlei, zeigt potentiellen Kunden, dass wir internationale Großprojekte richtig begleiten können. Hier können wir unsere gesamte Palette der rechtlichen Arbeit demonstrieren. Das positioniert uns im Markt neu und motiviert unsere Mitarbeiter.« Das sagt Tim Jones, der mit 40 Anwälten bei Freshfields die Olympiade 2012 in London rechtlich kostenlos begleitet. Für ein Büro dieser Größenordnung ist es erstaunlich zu hören, dass Freshfields »plötzlich« internationale Anerkennung sucht. Aus unserer Sicht hat es die schon seit langer Zeit. Warum will dieses weltweit führende Büro sich »neu im Markt positionieren«?

Wenn diese Leute sich so viel Mühe geben müssen, wie schwierig wird es dann für ein mittelgroßes Büro, das nicht einmal zwei Anwälte monatelang kostenlos arbeiten lassen könnte. So viel können wir für unsere Sichtbarkeit nicht tun. Wir können nur durch Leistung überzeugen. Intelligente Mandanten, die die richtigen Auswahlkriterien anwenden, werden uns im Markt schon finden, wenn wir schnell, zuverlässig und engagiert arbeiten.

PriceWaterhouseCoopers hat in der gleichen Zeit eine neue Anwaltsgesellschaft, die PWC Legal AG, gegründet, die sich so entwickelt hat, wie PWC Veltins sich hätte entwickeln sollen: Die Sozietät ist an 21 PWC-Standorten präsent. Auch die Umsätze stimmen, wie die jüngsten Zahlen für 2011 bei JUVE ausweisen: 186 Rechtsanwälte erarbeiten 48 Millionen €. Dafür braucht man nur 17 Partner, eine leverage von 9,9. (Zum Vergleich: Bei Hengeler Mueller liegt sie bei 1,8!) PWC hat sich damit – und diesmal erfolgreich – für die erste der beiden möglichen Alternativen entschieden, die 1998 verworfen worden war: Man konzentriert sich auf die Arbeiten, die die eigenen Mandanten bisher fremd vergeben haben. Dieser Strategie folgten – wie üblich – in zeitlichem Abstand die KPMG, Ernst & Young und am Ende auch Deloitte.

Wie ist das mit den strengen US-amerikanischen Regeln zu vereinbaren, die die Zusammenarbeit von Rechtsanwälten und Wirtschaftsprüfern verbieten? Die Antwort ist ziemlich einfach: Eine Vielzahl von PWC-Partnern ist nicht nur Steuerberater und/oder Wirtschaftsprüfer, sondern auch Rechtsanwalt. Diese Kollegen stoßen in ihrer täglichen Arbeit auf unzählige Rechtsprobleme, die sie für den Mandanten lösen können. Die amerikanischen Regeln hindern sie nur daran, als Klienten US-amerikanische Unternehmen (und ihre Tochtergesellschaften) zu beraten, sofern sie an der Börse notiert sind. Bei genauer Analyse sind das keine erheblichen Einschränkungen, und der verbleibende – vor allem nationale – Markt ist groß genug, um interessant zu sein. Hier zeigt sich eine ähnliche Entwicklung wie bei der Unternehmensberatung: Alle Wirtschaftsprüfungskonzerne haben nach 2000 ihre Unternehmensberatungen verkauft oder integriert, weil die »prüfungsferne« Beratung wegen der Gefahr von Interessenkollisionen immer wieder in die Kritik geraten ist. Mit der verbleibenden »prüfungsnahen« Beratung, die nicht in einer ausgelagerten Gesellschaft vorgenommen werden muss, hat man mehr Freude.

So sind am Ende die Rechtsanwälte auf der einen Seite und die Wirtschaftsprüfer/Steuerberater auf der anderen, jeder auf seine Art wieder glücklich.

6.2.5. Sinkflug

Start und Landung sind beim Fliegen die kritischsten Phasen. Ganz ähnlich ist es auch bei der Gründung eines Unternehmens und seiner Übergabe an die nächsten Generationen.

Für die angloamerikanischen Sozietäten ist das Denken in mehreren Generationen schon immer selbstverständlich gewesen. In Deutschland fand man es fast nur in Hamburg, einer Stadt, die einen Blick für solche Traditionen entwickelt. Die meisten Anwälte gingen bis vor wenigen Jahren davon aus, dass sie zwar in gewissen Phasen ihres beruflichen Lebens angestellte Anwälte haben würden, hier und da vielleicht auch Partner, aber mit den Verwerfungen und Änderungen der Märkte würde sich auch das jeweils ändern. Jeder dachte nur an seine eigenen Mandanten, nicht aber an das Ganze, nicht in der Form, in der man an ein »Unternehmen« zu denken gewöhnt ist.

Die tiefen Einblicke in Unternehmensstrukturen, die vor allem durch die Rechtsberatung (und nicht so sehr durch die Prozessführung) entstehen, haben auch den Anwälten gezeigt, dass sie Unternehmer sind. Die obersten beiden Segmente der Anwaltsunternehmen, die stark auch im internationalen Geschäft tätig sind, bestehen ausschließlich aus Sozietäten, die sich über mehrere Generationen hinweg entwickelt haben (mit einer Ausnahme: Pöllath + Partners). Ob es HEUSSEN und anderen Sozietäten in den beiden anderen Segmenten gelingt, die Denkweise des Unternehmers mit jener des individuellen Rechtsberaters zu verbinden, wird die Zukunft zeigen.

6.3. Skizzen aus Asien

Göttin der Cham, Museum Da Nang
Göttin der Cham, Museum Da Nang

»Durch Nichthandeln bleibt nichts ungeordnet.«
Lao Tse

6.3.1. Ho-Chi-Minh-Stadt und Da Nang

Die asiatischen Volksrepubliken werden trotz vieler politischer Verwerfungen anders als die Staaten des europäischen Ostblocks immer noch überwiegend von ihren kommunistischen Parteien gesteuert. Ökonomisch verhalten sie sich aber wie in einer mehr oder weniger freien Marktwirtschaft. Für den internationalen Handel ist dabei die Mitgliedschaft in der Word Trade Organization (WTO) unverzichtbar. Vietnam erreichte die Mitgliedschaft im November 2006. Der Prozess, der dahin führte, war langwierig und setzt das Verständnis westlicher Marktstrukturen und westlicher Mentalitäten voraus.

Vietnamesische Ministerien und Behörden sind dabei von deutschen Institutionen intensiv beraten und gefördert worden. Dazu gehörte auch INWENT, eine Nachfolgerin der Carl Duisberg Gesellschaft, die heute in die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) integriert ist.

Im August 2004 erhielt ich von dort einen Anruf, ob ich zusammen mit anderen Experten interkulturelle Verhandlungsstrategien, insbesondere das Harvard-Konzept, unterrichten wolle. Ich empfand das als herausfordernde Aufgabe, aber sie war nahe an den Unterrichtsinhalten in Hannover. Ein Europa-Beamter widmete sich der Darstellung von Kartellen und Monopolen, eine Trainerin den Kommunikationstechniken, ein englischer Professor internationalen Rechtsfragen. Daneben gab es zahlreiche vergleichbare Wochenkurse, die in Ho-Chi-Minh-Stadt und Da Nang stattfinden sollten.

Untereinander sprachen wir nur politisch korrekt von Ho-Chi-Minh-Stadt, und ich war deshalb sehr überrascht, dass in der Stadt selbst nahezu überall das Wort Saigon zu lesen war. Wir tagten im ehrwürdigen Hotel Continental, in dem die Geister alter Kriegsreporter wie Peter Scholl-Latour durch die Gänge schwebten. Im Mai 1975 hatte Nordvietnam den Krieg gewonnen – gleichzeitig fielen die letzten Dominosteine in Kambodscha und Laos. Südostasien war kommunistisch. Viele Einwohner von Saigon wurden zur »Umerziehung« in Lager geschleppt.

30 Jahre später war davon nichts mehr zu sehen. Die Stadt blühte wie zur französischen Kolonialzeit. Nicht zuletzt durch einen boomenden Tourismus aus den USA: Die Veteranen wollten die Kriegsschauplätze sehen, die sie überlebt hatten. Mit Frauen und Kindern besetzten sie auch unser Hotel und berichteten beim Frühstück über die alten Zeiten. Dann holte ein Bus sie ab, um das bis an die Stadt geführte Tunnelsystem des Vietcong zu erkunden. Es war überwiegend nachgebaut, damit die Veteranen überhaupt hineinpassten: Die Leute des Vietcong brachten kaum mehr als 50 Kilo auf die Waage und brauchten sehr viel weniger Platz als ihre früheren Feinde, die nun in den erweiterten Erdlöchern und Fluchtwegen herumkrochen. Am Ende das »Kriegsopfermuseum«, in dem nur die USA, nicht aber Vietnam oder andere Kriegsbeteiligte angeprangert wurden. Ich sah da die Ikonen der Kriegsfotografie der späten Sechzigerjahre, deren Wirkung so dramatisch war, dass man sagt, allein durch sie sei der Krieg beendet worden: das Mädchen, das vom Napalm verbrannt mit erhobenen Händen über die Straße läuft, der General, der einen Gefangenen durch Kopfschuss tötet, und dann ein Foto, das so verstörend wirkt, dass es möglicherweise noch nie veröffentlicht worden ist: Ein nicht mehr junger US-Major in frisch gebügelter Uniform steht mit seinen Stiefeln tief im Sumpf der Reisfelder. Mit der rechten Hand hält er einen toten Vietnamesen triumphierend an den Haaren hoch. Dessen Füße stecken wie seine eigenen im Schlamm. Die Mitte des Körpers ist leer – eine Granate ist mitten hindurchgefahren und durch das Loch sieht man die blauen Berge im Hintergrund.

Unsere Zuhörer waren ältere Beamte, deren Englischkenntnisse unklar blieben, weil sie nie etwas sagten. Aber sie machten sich Notizen und waren dankbar für das Material. Von zwei oder drei Teilnehmern erhielt ich Visitenkarten, die sie als Anwälte auswiesen. Die Anwaltschaft hatte damals gerade einmal 30 Jahre Zeit gehabt, sich zu entwickeln. Es gibt nach der letzten Statistik (2011) 6500 von ihnen und etwa 4000 Richter. Vietnam hat etwa die gleiche Bevölkerungszahl wie Deutschland, also ist diese Zahl verschwindend gering. Die meisten Leute werden also ohne Anwalt vor Gericht stehen. Die Rechtsstandards sind in keiner Hinsicht vergleichbar: Das Rechtssystem ist eine bunte Mischung aus älteren französischen Elementen und kommunistischen Ideen, aber auch buddhistische Morallehren sind nicht fern, und wie das alles in der Praxis funktioniert, war nicht auszumachen.

Ähnliche Szenen in Da Nang. Hier in der Nähe (bei Hoi An) war einer der vielen Endpunkte der Seidenstraße, die jahrtausendelang für den Transport von Waren und kulturellen Ideen zwischen Arabien und Asien sorgte. Der örtliche Stamm der Cham hatte buddhistische Ideen aufgegriffen und künstlerisch umgesetzt. Ein von den Franzosen begründetes Museum zeigt diese einzigartigen Skulpturen. An seinen Mauern erkennt man den Beschuss durch Granaten, denn es stand mitten in der Kriegszone: 1965 wurde hier der erste bedeutende Kriegsflughafen in den Sand betoniert. Die An- und Abflüge der donnernden Helikopter hat Francis Ford Coppola in Apokalypse Now mit Wagners Ritt der Walküren unterlegt und dadurch unsterblich gemacht. Jetzt ist auf dem Strand nichts mehr zu sehen außer den geflochtenen runden Fischerbooten, die auf den Wellen tanzen oder kieloben als große Schildkröten auf dem Sand liegen. Nach den Kursen wurden wir abends von einer der örtlichen Universitäten (ein weiter Begriff) eingeladen. Es gibt eine Handvoll davon in dieser großen Stadt. Bis spät in die Abendstunden sah man beleuchtete Klassen, in denen der Lehrer nicht nur im Unterricht für Anfänger einen englischen Satz spricht, den die ganze Klasse dann im Chor wiederholt. Auch andere Fächer werden hier – wie in ganz Asien, auch in Japan (!) – auf ähnliche Weise unterrichtet. Irgendwas bleibt hängen, aber man weiß nie was. Verständliches Englisch sprechen nur Leute, die bereits im Ausland waren. Aber der Fleiß und der Wille, etwas zu lernen, und die Härte, die die Schüler gegen sich selbst richten müssen, ist beeindruckend. Außerhalb der Sprachlehre funktioniert das System offenbar besser.

Der Dekan für Maschinenbau an der Technischen Universität, unser Gastgeber, war Anfang fünfzig, und damit man richtig feiern konnte, wozu in Asien immer eine Menge Leute gehören, brachte er eine Reihe Assistenten und Mitarbeiter ins Freiluft-Restaurant, viel Tiger Beer wurde serviert. Wer die Budgets kennt, die an einer deutschen Universität für die Bewirtung ausländischer Gäste zur Verfügung stehen (in der Regel: keine), wundert sich über das Ausmaß der Großzügigkeit, das hier herrscht. Wir begannen um 18 Uhr, und als Erstes mussten wir die richtigen Trinkregeln lernen: Man trinkt mit der linken Hand (wer es mit der Rechten tut, gilt als Säufer, weil er offenbar keine Zeit hat, die Essstäbchen wegzulegen) und man trinkt nur, wenn der Ranghöchste dazu auffordert. Das tat der Dekan erstaunlich oft und deutete recht bald an, man müsse auch ex trinken. Er selbst tat es mit Fleiß. Damit man die Wirkung sah, schwankte er bei seinen Trinksprüchen ein wenig, die Krawatte saß schief, und er begann, gelegentlich zu kichern. Um 19.30 Uhr jedoch stand er ziemlich abrupt auf, brachte den letzten Toast aus, rückte die Krawatte zurecht und ging völlig nüchtern von dannen.

Dieses Rätsel erklärte mir einer seiner Assistenten: »Der Gastgeber muss den Gästen zeigen, dass er ein bisschen betrunken ist, damit sie Mut fassen, sich auch gehen zu lassen! Wenn er nicht viel trinkt und die Krawatte anbehält, traut sich keiner der Gäste. Richtig gemütlich ist es bei uns nur, wenn alles ein bisschen schlampig wird, denn normalerweise achten wir sehr auf Etikette. Der Gastgeber muss uns zeigen, wie weit wir darauf verzichten können. Er könnte sogar sein Hemd ausziehen, aber nicht, wenn er Dekan an der Universität ist. Da müsste er schon irgendeine Firma haben. Oder wenn Gastwirte sich treffen – raue Sitten dort, da würde ich an Ihrer Stelle nicht hingehen.« »Aber wieso war der Dekan beim Aufstehen dann plötzlich wieder nüchtern?«, wollte ich wissen. »Dass er mal schwankte? – Das war nur gespielt. Sein Assistent hat immer Mineralwasser ins Bier gegossen. Das haben Sie nur nicht bemerkt, weil Sie selbst immer ex getrunken haben.« Erst jetzt fiel mir auf, dass jedes leere Glas sofort wieder gefüllt worden war, so dass ich selbst gar nicht hätte schummeln können. Eine perfekte Inszenierung! Nachts im Hotel gab es an der Bar nichts mehr zu trinken. Nur eine grüne Flasche war als Sarg für eine Schlange vorgesehen, die mit giftigen Augen aus dem Schnaps guckte. Die Möglichkeit, abends in Da Nang nach solchen Erlebnissen der Schlange den Schnaps wegzutrinken, hat uns über die letzten Tage geholfen.

6.3.2. Peking

Ein Jahr später kam eine ähnliche Einladung aus Peking. Wir sollten in gleicher Besetzung antreten. Das tat ich gerne, denn in China war ich noch nie gewesen. Anders als Reiner Ponschab: Er war in der Nähe der deutschen Botschaft in Peking geboren und floh bei Kriegsende mit seinen Eltern über die Mongolei nach Bayern. Dort musste er sich immer darüber ärgern, dass in der Schule sein Geburtsort mit »Pöcking« notiert wurde. Jetzt unterrichtet er bei Gelegenheit an der China University of Political Science and Law in Peking.

China war seit 2001 Mitglied der WTO und hatte ein anderes Unterrichtsziel: Wir sollten erläutern, wie chinesische Beamten auf Embargobestimmungen der EU reagieren sollten, mit denen man sie konfrontierte. Unterrichtet wurde in einem ministeriellen Schulungszentrum 50 km nördlich von Peking nahe der Chinesischen Mauer. Peking liegt ähnlich wie München vor einer malerischen Bergkette, die man von dort aus sehen könnte, wenn es der Smog zuließe.

Das Schulungscenter mit Gästehaus und allen Annehmlichkeiten lag direkt neben einem Universitätscampus. Im weiteren Umfeld wurden Stadtvillen und ziemlich luxuriöse Bauten hochgezogen. Am Eingang ein Triumphbogen mitten aus Rom hierher kopiert mit Löwen, Adlern und kühn blickenden Jungfrauen. Die Gegend galt als »Sommerfrische« – tatsächlich liegt das Gelände nahe am Gebirge ähnlich wie Bad Tölz, aber der Smog wollte sich nur selten auflösen. Wir mussten ständig husten. China ist wirtschaftlich ein Riese, dessen Husten noch die harmloseste der Krankheiten ist, die ihm Sorgen machen müssen.

Der Empfang war herzlich, die eingeteilten Dolmetscher konnten Englisch, wir fanden italienische Badezimmer und neben dem traditionellen Frühstück einige Elemente des English Breakfast – eine Freude für unseren englischen Dozenten, dem es morgens schwer fiel, Tofu zu essen. Unsere Zuhörer waren erheblich jünger als jene in Vietnam, coole End-Zwanziger, viele sprachen sehr gut Englisch, weil sie einige Jahre als Diplomaten im Ausland verbracht hatten, und die Diskussion war lebhaft. Die japanische Förmlichkeit fehlte vollständig, und ich verstand sofort das – auch bei uns gültige – chinesische Sprichwort: »Wenn du dein Gesicht nicht verlieren willst, solltest du seinen unteren Teil festbinden.«

Auch hier waren einige Zuhörer dabei, die eine Anwaltszulassung hatten. Entweder waren sie wieder Beamte geworden oder durften die Zulassung neben ihrer – häufig diplomatischen – Tätigkeit behalten. Vermutlich wird der Unterschied zwischen Beamten und Anwälten in China weniger wichtig genommen als bei uns. Das spricht für die häufig gehörte These, dass auch die Gewaltenteilung nicht so recht verstanden wird. Nach der jüngsten Statistik (2011) gibt es 200.000 Rechtsanwälte in China, also ebenfalls nur eine Handvoll für 1,3 Milliarden Menschen. Selbst die hohe Zahl von 6,4 Millionen Fällen, die die All-China Lawyers-Association 2011 vor Gericht gezählt hat, verschwindet in der Menge.

Die Anwälte bestätigten mir ein Gerücht, das ich schon vorher gehört hatte: Viele chinesische Richter sind pensionierte Offiziere, die man mit einem Schnellkurs auf ihre Aufgabe vorbereitet hat. Sie besteht daraus, einen lebenserfahrenen und würdigen Eindruck zu machen. In zivilrechtlichen Fällen genügt das häufig, um eine Schlichtung zu erreichen, im Strafrecht bevorzugt man das Geständnis, das mit milden Strafen belohnt wird. Verwaltungsrecht – also der Streit mit dem Staat – scheint theoretisch möglich, führt aber zu nichts. Muss streitig entschieden werden, holen die Richter sich gelegentlich Rat von außen. Es ist ein großer Vorteil, wenn man in einem Land so eine – auch nur anekdotische – »Feldforschung« betreiben kann und es nicht nur als Tourist besichtigt: Unter der Oberfläche zeigten sich sofort die großen Unterschiede zwischen den einzelnen asiatischen Staaten. Sprach man über Vietnam, war Zurückhaltung spürbar – ich wusste bis dahin nicht, dass die Vietnamesen sich über zweitausend Jahre gegen die Übermacht des chinesischen Einflusses gewehrt hatten. Die kommunistische Waffenbrüderschaft war für beide Seiten eine neue Erfahrung gewesen. Vielleicht haben die Chinesen weniger Dankbarkeit bekommen als erwartet.

An einem freien Nachmittag fuhr der Fahrer uns nach Peking. Der leere Kaiserpalast, Maos gütiger Blick auf den Platz des Himmlischen Friedens (der das ganze Ensemble als Karikatur erscheinen lässt), Reste der alten Stadthäuser. Der Gang durch die Stadt zeigte mir nicht jenen Unterschied, den mir ein Manager einmal in London erklärt hatte, als ich mich außer Stande sah, Japaner und Chinesen optisch voneinander zu unterscheiden. »Sie werden es spätestens im Aufzug merken: Da drehen sich die Japaner sofort mit dem Gesicht zur Tür, damit sie niemand anderen ansehen müssen, weil ihnen das peinlich wäre. Chinesen hingegen betrachten sich die Fremden immer interessiert, und Kinder berühren Sie manchmal heimlich, um zu sehen, ob bei den Weißen die Farbe abgeht.« Vielleicht ist das heute in China auf dem Land noch so. In der Großstadt wird man genauso ignoriert wie in Tokio.

Dann ein Stand mit gegrillten Heuschrecken direkt neben Gucci und Prada. Wir aßen stattdessen Pekingente in einem Restaurant, in das die Regierung jahrzehntelang ihre Gäste ausgeführt hatte. Henry Kissinger bestätigt es mit seinem Foto. Die Ente war bemerkenswert, aber nicht so weit entfernt von jener im Restaurant Good Friends an der Kantstraße in Berlin, das auch von »Kommunisten« betrieben wird – da hängen sie auch dunkelbraun lackiert im Schaufenster und der Service ist genauso muffig wie in Peking. Denn das, was man (z. B. in Japan und wohl auch in Vietnam) unter Gemütlichkeit versteht, ist in China nicht zu bemerken. Der Saal des Restaurants war so hoch wie eine Bahnhofshalle, ein ständiges Kommen und Gehen mit und ohne Kinderwagen, Servicewagen im Kantinenstil fuhren herum, die Schwarzspülerinnen hasteten durch die Gänge, und wenn jemand den Fehler machte, sich Bordeaux zu bestellen, war der genauso warm, wie die Suppe hätte sein sollen. Die steht nämlich auf dem großen Drehteller mit hundert anderen Sachen, die man nicht alle gleichzeitig essen kann (und auch nicht soll). Chinesen interpretieren ihr Essen, sobald es das Lebensnotwendige überschreitet, nach medizinischen Gesichtspunkten. Es wird nach ganz anderen Kategorien eingeteilt als bei uns und die Zusammenstellung muss harmonische Ausgewogenheit zeigen. Viele Zutaten könnte man auch in einer Apotheke kaufen.

Ginseng ist eine schmackhafte Wurzel mit heilenden Eigenschaften und wird in den Apotheken zu hohen Preisen gehandelt. Auf meine Frage, ob man mir einiges nach Europa schicken könne, hörte ich: »Our customers prefer to visit us« – wieder mal eine neue Lektion in chinesischer Höflichkeit, denn die so verkleidete Botschaft lautete: Die Menge, die wir haben, reicht gerade für die Laufkundschaft.

Es gibt elegante Shoppingcenters in Peking, in denen man alles finden kann, was auch in Paris, Mailand und München zu haben ist. Ich hatte darin nichts zu suchen, beobachtete aber am nächsten Tag eine große Gruppe afrikanischer Ladys von ihrem Einkaufsbummel aus Peking zurückkehren: Alle großen Labels waren auf den Tragetaschen vertreten. Die Damen wohnten mit ihren Begleitern im Gästehaus. Sie waren (auf Kosten ihrer Regierungen?) zum Einkaufen nach China gereist. Beim Frühstück saß die Fraktion der französisch sprechenden Kolonialländer getrennt von den englischsprachigen, und wenn die Kurse begannen, sah man chinesische Lehrer dort als Kursleiter. Sie gaben wohl das Wissen weiter, das sie gerade von uns bezogen hatten. Entwicklungszusammenarbeit dieser Art, die man nicht mehr Entwicklungshilfe nennen darf, wird fragwürdig, wenn es letztlich um nichts anderes geht als die politische Einflussnahme, die hier offensichtlich war.

6.4. Schräge Fälle

Impressionen aus Nizza
Impressionen aus Nizza

»Leben ist Problemlösen.«
Karl Popper

Rechtliche Konflikte entstehen aus dem Zusammenprall zwischen Menschen und ihren Interessen. Die Standardfälle kennt man mit der Zeit, und man weiß über die Jahre auch, wie die schrägen Fälle zustandekommen: Immer beruht es auf den Menschen, auf der Art und Weise, wie sie mit ihren Konflikten umgehen, und wenn zwei Menschen aufeinandertreffen, die mit dem Standard nichts zu tun haben, dann schlagen die Steine Funken. Natürlich sind solche Mandanten Freaks, sie wissen, dass sie ihre Anwälte an die Leistungsgrenze bringen, denn sie haben in den seltsamsten Konstellationen wirklich Recht und zwingen uns zum Nachdenken. Und einige Fälle passen tatsächlich nicht ins Rechtssystem und müssen trotzdem entschieden werden. Hier eine kleine Auswahl.

6.4.1. Die letzten Scheidungen

Scheidungssachen gehen einem näher als die meisten anderen Fälle. Ich habe einmal Theo Rhaban, der nur als Scheidungsanwalt tätig ist, gefragt, wie er das emotional durchsteht: Immer weint irgendeiner, die Kinder springen ahnungslos im Wartezimmer herum, alte Rechnungen werden beglichen (Warum? Wieso?), die eigenen Fehler den anderen in die Schuhe geschoben usw. »Ich denk’ mir immer: Da sitzt nur Fleisch!«, sagte Theo und ich muss ihn ziemlich seltsam angesehen haben. »Fleisch?« »Ja – eben nur Fleisch. Irgendwo gibt es ein Problem. Wenn ich dieses Problem allzu sehr mit einem konkreten Menschen in Verbindung bringe, komme ich selbst in Schwierigkeiten. Ich muss das völlig trennen können, sonst kann ich keine richtige Strategie entwickeln. Ich mach das wie mein Bruder, der Chirurg ist: Der hat nur den Vorteil, dass die Leute ihm ohnmächtig reingeschoben werden und er sie danach nie mehr zu sehen bekommt – wenn er Glück hat«.

Ich merkte schon bald, dass ich es zu dieser Haltung nie bringen würde. Aber die Idee, einzelne Rechtsgebiete, für die man nicht begabt ist, einfach links liegen zu lassen, ist keinem von uns gekommen. Man weiß am Anfang nicht, was einem liegt, man muss vieles ausprobieren, bevor man spürt, worin man wirklich gut sein kann. Wir arbeiten ja anders als die Ärzte: Unsere schlimmsten Fehler werden von den Gerichten und den Haftpflichtversicherungen ausgebügelt und es geht ums Geld und nicht um Blut und Leben. Den meisten Mandanten, die mit jungen Anwälten arbeiten, ist das klar, und man kann vollkommen offen mit ihnen darüber reden: »Wir haben noch keine Routine in diesen Sachen, aber wir werden uns mehr Mühe geben als alle anderen« ist ein gutes Argument und man muss es dann nur tatsächlich so machen.

Also gab ich mir Mühe und hatte manches zu leiden, aber gelegentlich auch was zu lachen, denn was die »einrissigen Gegenkollegen« hier und da zu Papier bringen, ist bühnenreif. Luc Feydeau, ein Elsässer, den es nach München verschlagen hatte, schrieb im Auftrag seines Mandanten, der seine Frau in sein Geschäft aufgenommen und die ihn dann im Streit herausgeworfen hatte:

»Wie die Araber sagen: Gib dem Kamel im Zelt für die Nacht den Platz – dass der Kopf des Kamels Ruhe bekommt – in zwei Wochen ist das Kamel im Zelt und der Araber draußen. Das passierte auch hier … aus der Gesellschaft wird er herausgedrängt und dann beginnt der Tanz ums Goldene Kalb: So sieht die Zelt-Situation des arabischen Kamels aus. So sieht die Schuld der Klägerin von der Warte des Beklagten aus. Beweis: Parteieinvernahme. Nichtsdestoweniger ist der Kläger der Meinung, dass auch diese Ehefrau das Recht auf Entfaltung ihrer Persönlichkeit hat: Sie kann weiterhin ihren Kopf ins Zelt stecken – aber mehr nicht. Und dafür werden fachkundige und unabhängige Gerichte sorgen. Aber die Schuld vom kranken Kopf auf den gesunden herüberzuschieben – dazu ist ein Ehescheidungsprozess nicht da.«

Und so ging das Seite um Seite. Luc Feydeau hatte mit der deutschen Sprache gelegentlich Probleme, aber plädieren konnte er! Er stand noch ganz in der Tradition der französischen Anwälte, die bei ihren Examen noch bis 1950 einen Vortrag über jedes beliebige Thema – auch ohne jeden rechtlichen Bezug – halten durften, und sie erhielten gute Noten, wenn nur die Prüfer von ihren Worten zutiefst erschüttert waren.

Von Ehescheidungen verstand er offenbar noch weniger als ich, er war eher bei grenzüberschreitenden Transaktionen tätig, darunter folgender: Arbeitslose südfranzösische Kunsthistoriker waren auf die Idee gekommen, alte Meister zu fälschen, und hatten ein Schloss ausfindig gemacht, in dem sie diese Werke präsentierten. Allein die Umgebung war das Echtheitszertifikat. Der Standard-Vertragsentwurf stammte von Feydeau. Als die Staatsanwaltschaft das erfuhr, packte sie ihn mitten in einer Verhandlung, aber die Verdachtslage war völlig unzureichend: Der Ermittlungsrichter ließ ihn sofort frei; und später stellte sich heraus, dass die Bande ihn auch noch ums Honorar betrogen hatte. Was einige Kollegen, die er vermutlich mit vergleichbaren Schriftsätzen malträtiert hatte, noch Wochen später auf den Gängen des Justizpalastes vor aller Augen zu dem ermunternden Ausruf veranlasste: »Ja grüß Gott Herr Kolleg’ – wieder in Freiheit?«

Auch Dr. Zeno Stampferl hatte tief aufgeatmet, als er vor über zwanzig Jahren dem Noviziat der Dominikaner entfliehen konnte. Jetzt war er Deutschlehrer und Gymnasialdirektor, Vater von sechs Kindern, die ihre Mutter Julia (ein Nordlicht) nach Stade mitgenommen hatte, als sie ihren Mann verließ. »Sie sagen immer ›mitgenommen‹, Herr Doktor (er legte Wert auf diesen Titel und wollte ihn mir unter keinen Umständen vorenthalten), »aber das hier ist eine Entführung, ein Bruch der heiligsten Rechte, der ihr pathologisch anmutendes Verhalten offensichtlich macht. Ich sage Ihnen im Vertrauen: Sie hat mir verschwiegen, dass ihr Vater 1939 beim Ariernachweis herausgefunden hat, dass eine ihrer Ahnen im 15. Jahrhundert unter der Anklage der Hexerei stand. Natürlich war das alles Unsinn, aber sie hätte es offenbaren müssen! Nach kanonischem Recht kann ich diese Ehe annullieren lassen … ob wir das wohl vortragen sollen? Muss das Familiengericht darauf nicht reagieren? Überhaupt wüsste ich gern mehr über das Verhältnis zwischen kanonischem Recht und weltlichem Recht … Und jetzt diese absonderlichen Vernichtungsbestrebungen gegen mich!«

Offenbar hatte ihn seine Vergangenheit wieder eingeholt. Wir waren schon im neuen Scheidungsrecht angekommen, so dass wir uns mit der Schuldfrage (Gott sei Dank) nicht mehr beschäftigen mussten. Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, welchen Beitrag die Familienrechts-Reform 1978 zur Rechtskultur geleistet hat. In den Scheidungsfällen davor, die nicht einvernehmlich geregelt werden konnten, wurde die ganze Bandbreite menschlichen Unvermögens auf den Richtertisch gelegt – allein das ein ausreichender Beweis für die Zerrüttung der Beziehung. Heute sind das Besuchsrecht und der Kindesunterhalt die einzigen Bereiche, in denen diese Motive noch wirken können, auch wenn sie sorgfältig vertuscht werden.

Ich war nur Korrespondenzanwalt in dieser Sache, denn damals waren wir noch auf den Zulassungsort beschränkt und die Sache wurde in Augsburg, dem letzten Wohnsitz, verhandelt. Es gab unzählige Verhandlungen. Jede wurde gründlich vorbereitet, und wenn Dr. Stampferl mir am Ende eines Telefonats ein aufmunterndes »Also: morgen in Augsburg!« zurief, wusste ich, dass er Thomas Bernhard zitierte – einen seiner Hausgötter.

Im dritten Prozessjahr kamen wir einem Vergleich immer näher. Die Anwälte hatten sich im Lauf der Jahre gegenseitig lieben gelernt und hofften, den Fall endlich vom Tisch zu bekommen. Und wie es im Leben so geht, neigte auch Herr Dr. Stampferl eher zu einem Vergleich, weil er eine jüngere Assessorin »ernsthaft in Betracht zog«, wie er den Zustand äußerster Verliebtheit bezeichnete. Aber er schwankte, und als ich ihm das voll ausgearbeitete Dokument zur Unterschrift vorlegte, lehnte er ab. Ich war vor den Kopf geschlagen: »Sie lieben diesen Streit mehr als ihre neue Freundin«, sagte ich ihm ungehalten. Woraufhin er mich schmerzerfüllt anblickte, seinen goldgehämmerten Montblanc-Füller wortlos aus der Tasche zog und unterschrieb. Danach habe ich nie mehr einen Scheidungsfall übernommen, außer meinem eigenen.

6.4.2. Herzlose Leute

Seit Jahren ein Liebespaar: der Privatgelehrte und Handschriftensammler René Krull (40) und sein Freund Hans, ein Boxpromotor mit einigem Vermögen. Der Gelehrte hatte ein kleines Einkommen als Kurator und Gutachter und lebte sehr bescheiden, denn er brachte es nicht übers Herz, aus seiner Sammlung auch nur ein Blatt zu veräußern – er tauschte allerdings Duplikate. In der Nachkriegszeit konnte man Autographen der berühmtesten Leute für wenig Geld erwerben und jetzt lagen da wirkliche Werte im Tresor. Ein Museum sollte nach seinem Tod daraus werden. Aus einer bald fehlgeschlagenen Beziehung hatte er ein uneheliches Kind. Die Mutter hatte ihm verboten, den Sohn je zu sehen. »Auch meine Eltern, die mich hassen, werden ewig leben. Die hocken schon jetzt da wie die Geier und schielen auf das Erbe. Warum kann ich Hans nicht alles geben? Er hat versprochen, sich zu kümmern und eine Stiftung daraus zu machen, wenn mir mal etwas passiert.« Wir waren noch gut zehn Jahre vom Partnerschaftsgesetz und ähnlichen rechtlichen Konstruktionen entfernt und sprachen über Alternativen. Jedenfalls sollten die beiden sich testamentarisch zum Erben einsetzen, um die Pflichtteile müsste man sich kümmern. Die beiden fuhren nach Hause, um nachzudenken, es gab keinen aktuellen Entscheidungsdruck.

Drei Wochen später war Hans am Telefon. Er weinte und berichtete, dass sein Freund vor einer Woche auf der Intensivstation gestorben war. Ein Verkehrsunfall. Ein Testamentsentwurf aus früherer Zeit war da, aber nicht unterschrieben. An der Beerdigung hatte er nicht teilnehmen dürfen, im Krankenhaus schnitten ihn auch die Krankenschwestern, seine privaten Sachen aus Renées Wohnung wurden in einem blauen Müllsack vor seinem Büro abgestellt. Jetzt hatte er einen Anwaltsbrief bekommen: Innerhalb von drei Tagen sollte er die Schlüssel zum Banktresor rausrücken, unberechtigter Erbschaftsbesitz wurde ihm vorgeworfen, einstweilige Verfügung angedroht usw. Er war völlig mit den Nerven fertig. Es gab ein paar rechtliche Anhaltspunkte, die den Fall nicht so einfach machten, wie die Verwandten sich das wohl gedacht hatten. Aber zu der Einsicht, die Lebensentscheidungen ihres Sohnes zu respektieren, sind die Eltern nie gekommen.

Ich habe diesen Fall immer im Hinterkopf gehabt, wenn über Lebenspartnerschaften gesprochen wurde. Da liegt viel Tragik versteckt und noch mehr Heuchelei.

6.4.3. Die Erleuchtung

Der Fall stand in der Zeitung: William Karsunke (34) war in Dahlem aufgewachsen, der Vater ein schwarzer First Sergeant der US-Armee, die Mutter Sängerin im Offiziersclub. Da lernte er als Balljunge gehobene Umgangsformen, half während des Studiums in der Offiziersmesse aus, übte, die Smokingschleife zu binden und dazu die richtigen Schuhe zu tragen. Schnell war er Vertriebsmann einer großen deutsch-amerikanischen Fond-Vertriebsgesellschaft geworden (auf der Karte stand: Vice-President), bis ein neues Produkt, das seine Firma in den Markt drücken wollte, ihn in Schwierigkeiten brachte. Die in Amerika schon eingeführte Idee war es, langfristige Sparpläne mit monatlichen Sparleistungen von ca. 2000 € an wohlhabende Leute zu verkaufen, die mit Aktienfonds abgesichert werden sollten. Deren Erträge würden dann in 30 Jahren zu einem Millionenvermögen führen. Wenn die ersten drei Monatsraten bezahlt waren, erhielt William die Provision für das Gesamtvolumen. Sie lag je nach Volumen zwischen 30.000 und 100.000 €.

Er fand nur selten Kunden. Er hatte alle möglichen Schulungen hinter sich, die neurolinguistische Programmierung war ihm völlig vertraut, Bibliotheken von Self-Help-Büchern hatte er verschlungen, aber die Kunden brachen Gespräche mit ihm früher ab als bei seinen Kollegen. Vielleicht war Berlin nicht der beste Platz für so ein Produkt, die Leute hier hatten zu wenig Geld. Sein bester Freund im Golfclub, Dr. Jens Macker, war Filialchef einer Bank, und irgendwann ließ er sich breitschlagen, Konten für Anleger einzurichten, die es nicht gab. Irgendwelche Personalausweise wurden kopiert, mit anderem Namen versehen und die ersten Monatsraten einbezahlt. Dafür bekamen die Karteileichen persönliche Überziehungskredite bis zum Limit. Wenn Geld fehlte, bekam auch William jede Menge persönliche Darlehen ohne Sicherheiten. Sobald er seine Provision bekommen hatte, zahlte er immer wieder kleinere Teilbeträge zurück, damit die Sache nicht gleich auffiel. Es musste ihm klar sein, dass die Revisionen die Sache bald aufdecken würden. Aber vorerst lief das Geschäft nicht schlecht. Zwei Jahre lang war er der beste Vertriebsmann in Deutschland. Dann fiel die hohe Stornoquote auf und die Sache wurde in wenigen Tagen aufgedeckt. Schaden: 12 Millionen €. Jens Macker legte sofort ein Geständnis ab, Karsunke nicht. Beide gingen in Untersuchungshaft.

Als ich die Tür zur Besprechungszimmer öffnete, trat ein ganz anderer Mann ein als der, den ich erwartet hatte. Der übergewichtige Catcher, dessen Foto ich aus der Ermittlungsakte kannte, hatte nichts mit dem Asketen zu tun, der jetzt mit strahlenden Augen auf mich zu trat. Nur die Glatze war geblieben. »Sie kennen ja die Akte – und es ist kein Wort wahr!«, rief er mir zu und begann, lebhaft jeden einzelnen Kunden zu beschreiben, den er geworben hatte. »Ich verstehe nicht, warum sich meine Kunden verleugnen lassen. Natürlich gibt es sie, der eine oder andere wird umgezogen sein, aber das lässt sich doch ohne weiteres ermitteln. Jeder von ihnen wird für mich aussagen! Ja – es sind hier und da ein paar Raten nicht geleistet worden, aber bei so langen Laufzeiten kommt das vor. Die Leute sind nicht immer liquide. Aber hier: Sehen Sie – das ist ein Brauereibesitzer mit großem Vermögen, der kann das jederzeit nachzahlen, was etwa offen ist.« Dabei zeigte er mir ein Kontoblatt, auf dem all diese Daten richtig vermerkt waren. Nur wusste ich, dass diese Person nirgends zu finden gewesen war. »Er war Mitglied in meinem Golfclub und einer meiner wichtigsten Kunden!«, beteuerte William, und es dauerte Stunden, bis wir alle zweihundert »Anleger« auf diese Weise identifiziert und durchgesprochen hatten.

Ich holte mir die Aussagen von Dr. Macker. Nicht eine Einzige wollte er stützen. Er schilderte, wie sie abends im Golfclub gesessen hatten, die Lebensdaten erfunden, Fotos aus dem Internet geladen, alles auf den Kopierer gelegt usw. Ich sprach mit seinem Anwalt und es ergab sich kein anderes Bild. Danach mit dem Oberstaatsanwalt. Das war ein harter Hund, der es irgendwann aufgegeben hatte, sich als Teil der »objektivsten Behörde der Welt« zu sehen, wie die Staatsanwaltschaft sich früher gern bezeichnet hat. Von ihm war der Satz überliefert: »Wenn ick morgens ins Büro gehe und nich’ mehr sagen kann: Heute fließt die Spree ma andersrum, fehlt mir was.« Sein Angebot war großzügig: »Bei 12 Millionen jibts normalaweise acht Jahre und Jeständnisrabatt; wenn er früh die Hosen runtalässt, vielleicht drei Jahre – aba höchstens.« Das war ein eindeutiges Ergebnis. Ich konnte es Karsunke nicht vermitteln. Die Verhandlung war kurz. Jens Macker lieferte sein Geständnis ab, das bis in die Details mit der Aktenlage übereinstimmte, und William Karsunke begann, für sich selbst zu plädieren, wovor ich ihn dringend gewarnt hatte. Er geriet völlig außer sich, als der Richter versuchte, ihm ein Ende seiner Ausführungen nahezulegen. Ich zog die Notbremse: »Ich stelle folgenden Beweisantrag: ›Einholung eines Sachverständigengutachtens über die Tatsache, dass der Angeklagte unzurechnungsfähig ist‹.« Der Tumult, der dann folgte, ist schwer zu schildern. Der Angeklagte schrie und beschwor, völlig gesund zu sein, das Gericht lehnte meinen Antrag ab und verurteilte den Filialchef zu fünf, Karsunke zu neun Jahren.

Ein Jahr später erhielt ich einen Brief auf aufwändig gestaltetem Briefpapier (Prägedruck usw.), dessen Adresse mich stutzig machte, denn es war die Deckadresse der Haftanstalt von Moabit. William Karsunke, der als intelligenter Mensch sofort in der Setzerei beschäftigt worden war, schrieb mir, er habe endlich eingesehen, dass er völlig zu Recht verurteilt worden sei, aber ein jetzt von ihm mit höherer Hilfe entwickeltes Vertriebssystem sei wie schon damals eine Garantie für großen Reichtum. Denn ein großer Geist sei über ihn gekommen, der ihm seinen ewigen Segen versprochen habe, und jeder, der bereit sei, diesem Geist zu huldigen, würde unfassbar reich werden. Voraussetzung sei allerdings die spirituelle Bereitschaft jedes Adepten. Die Gier müsse ihn völlig verlassen haben: »Nur so sehen sie die Wahrheit, Weisheit, Reinheit, Liebe … lassen Sie sich nicht von diesen fratzenhaften ›Masken‹ täuschen, denn hinter diesen ›Masken‹ steckt in Wirklichkeit zumeist eine sehr unbewusste Seele oder ISTHEIT, die wirklich sehr unter dieser ›Unbewusstheit‹ zu leiden hat. Und damit sie alles erfassen können, sollten Sie sich im Schweigen oder Zuhören üben. … Leben sie vor allem im ewigen Jetzt oder Ist. … Mein Ich ist wunschlos, sorglos, gewaltlos, furchtlos. Das sind wahre und wirkungsvolle Gebete oder Meditationen und damit werden Sie Berge versetzen« – usw. usw. Er habe gerade einen Fond gegründet mit einer Bank auf den Bahamas – hier seine Kontonummer – und mit einem Mindestbetrag von 50.000 DM bekäme ich Sonderkonditionen ohne Agio. Er betrachte das als notwendige Sühne für alle Menschen, die er früher geschädigt habe.

Ich hatte kaum ausgelesen, als mich der Staatsanwalt anrief: »Ick hab’ da ein’ erstaunlichen Brief bekommen, soll ick ma vorlesen?«, fragte er. »Das kann ich Ihnen abnehmen«, sagte ich, und dann stellte sich heraus, dass nicht nur der Richter, sondern auch alle anderen Prozessbeteiligten so einen Brief bekommen hatten. »Da brauche ich jetzt Schmerzensgeld«, sagte ich dem Staatsanwalt, »wenn Sie meinem Beweisantrag zugestimmt hätten, wäre der Fall anders ausgegangen, und jetzt hab’ ich die Arbeit mit dem Wiederaufnahmeantrag.« »Det soll nich sein«, sagte der Staatsanwalt, »ick hab’ sowas in meiner janzen Praxis noch nie jemacht: ein’ Wiederaufnahmeantrag zu Junsten des Angeklagten wejen erwiesener Unzurechnungsfähigkeit, aber det muss jetzt sein« – und dazu konnte ich nur nicken. Auch von der Strafverteidigung hatte ich jetzt genug.

6.4.4. Und schließlich: geheime Passwörter

Nicht lange danach erlosch auch mein Interesse am Arbeitsrecht. Arbeitsrecht polarisiert. Ganz zu Beginn habe ich völlig arglos Kündigungsschutzklagen eingereicht und wenige Minuten später einen Arbeitgeber gegen eine solche Klage vertreten. Manchmal vor derselben Kammer. Diese Art Schizophrenie hält man nicht lange aus. Am schärfsten sind die Zeugnisklagen. Da wird um jedes Wort gekämpft, aber die Personalabteilungen verstehen, zwischen den Zeilen zu lesen, egal was da im Zeugnis steht. Umso absurder die teils monatelangen Gefechte um die Frage, ob jemand »außerordentliche« oder »weit überdurchschnittliche« Fähigkeiten in der englischen Sprache besitzt usw. Erst als jemand verlangte, sein Zeugnis müsse ihm ungeknickt in verstärktem Umschlag (DIN A4) überreicht werden, haben die Gerichte Mitleid mit den Arbeitgebern entwickelt. Hier der Leitsatz:238

»Der Arbeitgeber erfüllt den Anspruch des Arbeitnehmers auf Erteilung eines Arbeitszeugnisses auch mit einem Zeugnis, dass er zweimal gefaltet hat, um den Zeugnisbogen in einen Geschäftsumschlag üblicher Größe unterzubringen, wenn das Originalzeugnis kopierfähig ist und die Knicke im Zeugnisbogen sich nicht auf den Kopien abzeichnen, z. B. durch Schwärzungen.«

Seither wird in den Personalabteilungen das Knicken von Zeugnissen geübt, man legt Testserien auf, um zu sehen, wie die Knicke sich auf kopierte Dokumente auswirken, ändert die Handbücher und im Zuge des totalen Qualitätsmanagements (TQM) werden Feedback und Kontrolle eingerichtet. An solchen Details zeigt sich, dass das deutsche Arbeitsrecht grundsätzlich auf der Seite der Arbeitnehmer steht, auch wenn diese Machtverteilung in allen möglichen offiziellen Darstellungen abgestritten wird. Wie stets wird über die wirklich wichtigen Dinge im Leben – hier: die Machtverteilung – genauso wenig offen gesprochen wie über Sex und Geld.

Die Bevorzugung der Arbeitnehmerseite beruht auf einem politischen Willen, der sich nicht auf die SPD oder linke Gruppierungen beschränkt. Auch die anderen Parteien haben das System zu keinem Zeitpunkt ernsthaft infrage gestellt, denn dahinter steht die Erkenntnis: Wenn der Arbeitgeber weiß, dass er vor Gericht in der Regel geringere Chancen hat als der Arbeitnehmer, wird er sich intern mehr darum bemühen, Betriebsfrieden zu halten, sich mit den Gewerkschaften zu verstehen und auch die Position einzelner Arbeitnehmer ernst zu nehmen. Im kollektiven Arbeitsrecht, wo es um die Tarifverträge et cetera geht, trägt das zum wirtschaftlichen Erfolg der Bundesrepublik bei. Man sieht das im Vergleich mit Frankreich: Dort sind es die Gewerkschaften, die ein Modell wie die Mitbestimmung ablehnen, weil sie sich dann mit den Arbeitnehmern wenigstens so weit verstehen müssten, als es jeweils vereinbart worden ist. Lieber fackeln sie da die Fabriken ab.

Viele Anwälte haben die Schwäche, sich für die Schwachen zu engagieren. Also entschloss ich mich irgendwann, nur noch auf der Arbeitgeberseite aufzutreten. Auf der Gegenseite traf ich oft die Kollegen von Kanz & Hans, die nur Arbeitnehmer und Gewerkschaften vertraten. Mit Wolfgang Kanz und Heidrun Hans waren wir gut befreundet und trafen uns gelegentlich auch privat. Das machte die Auseinandersetzung vor Gericht nur spannender. Wolfgang Kanz hat Rechtsgeschichte geschrieben: In langjährigen Prozessen konnte er es durchsetzen, dass viele freie Mitarbeiter in Rundfunk und Fernsehen fest angestellt werden mussten. Unbegründbare Kettenverträge wurden danach auf breiter Front abgelehnt.239 Man kann das als Pyrrhussieg bezeichnen, weil viele Kreative danach bis heute nur geringe Chancen haben, eine Tätigkeit zu finden, und sich diese Rechtsprechung ziemlich schnell durch alle Branchen zog.

Aber ein Sieg war es doch, genau wie in jenem Fall, in dem er einen dreisprachigen Klavierlehrer vertrat, der gleichzeitig als Spion beim Bundesnachrichtendienst beschäftigt war. Die »Bundesvermögensverwaltung« verschaffte ihm einen Job als Pianist in einem der großen internationalen Hotels in Beirut. Da saß er Abend für Abend, hörte den Gesprächen der unterschiedlichsten Leute zu und verschlüsselte seine Berichte, indem er »moderne Musik« auf Notenblätter schrieb (b-a-c-h usw.). Wie bei Jackson Pollocks Zufallskunst konnte man das Ergebnis auch als Konzertstück genießen. Dann wurde er gekündigt. Das Argument, die Idee mit der Pianobar sei verbraucht und der Mann anderswo nicht einsatzfähig, hat das Gericht nicht ernst genommen.

So ein Urteil konnte man aus Gründen des Staatsschutzes natürlich nicht veröffentlichen, dafür machte ein anderer Fall in München die Runde: Einer ziemlich fragwürdigen Sekretärin wurde von ihrem Ministerium vorgeworfen, gelegentlich zu spät zum Dienst zu erscheinen, über ihre Kollegen herzuziehen, sich unbegründet krank zu melden, zur Unzeit schwanger zu werden usw. Einem Unternehmen kann man als Anwalt mit der Zeit beibringen, was ein »Kündigungsdrehbuch« ist, und irgendwann lernt die Personalabteilung, dass ohne genaue Dokumentation, Beweise und Abmahnungen keine Kündigung Erfolg haben kann. Aber bei Ministerien ist das anders. Sie glauben oft genug, dass es ausreicht, das Verhalten eines Mitarbeiters als »unerhört« zu bezeichnen, um den Richter zu beeindrucken. Also wurde erst einmal der Personalrat nicht eingeschaltet, dann verspätet, dann unvollständig informiert und die jedes Mal verfrüht eingereichte Kündigungsklage musste immer wieder zurückgezogen werden. Anwälte waren den Ministerien zu teuer, da mussten die Bordmittel reichen. Beim dritten Anlauf seufzte der Sitzungsvertreter völlig entnervt: »Aber irgendwie muss man so jemandem doch kündigen können!« Worauf Wolfgang Kanz erwiderte: »Wer nicht kündigen kann, kann nicht kündigen« – ein Satz, der zum Standardzitat Münchner Arbeitsrechtler geworden ist.

So fühlen sich die Arbeitnehmer von den Gesetzen wie in einem warmen Gewächshaus beschützt. Bei Einzelnen führt das zu übermütigen Haltungen, die wie Sumpfblüten hervorschießen. Ingenieurinnen sind dafür anfälliger als andere Menschen. Wie allen technisch begabten Leuten fällt es ihnen schwer, sich vorzustellen, dass es für ein Problem nicht nur eine – die optimale – Lösung gibt. Ermessensspielräume sind ihnen verdächtig. Und als Frauen in früheren Männerberufen haben sie gelernt, dass Eindeutigkeit nötig ist, um sich durchzusetzen.

Bei Shigematsu Digital Systems hatte die Softwareingenieurin Marianne Mattiopolos gekündigt, sich aber mit der Personalabteilung noch um eine Urlaubsabgeltung gestritten. Ich riet zur Auszahlung um des lieben Friedens willen, der Geschäftsführer verlangte aber die Herausgabe der Passwörter, die sie für ihre Zugänge angelegt hatte. Die Reaktion war erstaunlich: Sie muss einige Nächte am Bildschirm verbracht haben, um die Liste der Verfehlungen zusammenzustellen, die der Arbeitgeber mit dieser Forderung verwirklicht hatte. Die Verletzung der Datenschutzvorschriften war noch das wenigste, all das war auch strafrechtlich relevant, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wurde ruiniert und die Ungeheuerlichkeit dieses Vorgehens hatte sie aufs Krankenlager geworfen. Folge: Schmerzensgeld. Bis in die letzte mündliche Verhandlung behauptete sie, der Geschäftsführer habe sich allein durch seine Forderung, das Passwort herauszugeben, wegen Nötigung strafbar gemacht. Warnende Hinweise des Gerichts wollte sie nicht hören.

Wir brauchten zwei Sachverständigengutachten, um das Gericht davon zu überzeugen, dass Passwörter zum Schutz des Unternehmens und nicht zum Schutz der Persönlichkeitsrechte des Mitarbeiters eingerichtet werden. Aber dann hat es doch geklappt. Schmerzensgeld haben wir aber nicht bekommen. Am Ende dachte ich mir: Das Arbeitsrecht musst du künftig den Spezialisten überlassen. Die sehen da vielleicht nur Fleisch.

6.4.5. Was man aus alldem schließen kann

Je deutlicher und mehrdimensionaler ich die Anwälte und ihre Rolle in der Gesellschaft sehe, desto klarer wird mir, wie absolut unersetzlich die Aufgabe ist, anderen Menschen, die das auf gar keine Weise können, zu ihrem Recht zu verhelfen (was das ist, zeigt das letzte Kapitel).

Ihr Kern besteht darin, die Position einer Partei zutiefst zu verstehen und, was noch wichtiger ist, zu versuchen, sie mit allen legalen Mitteln durchzusetzen, auch wenn man sie nicht teilt.

Das erste Problem sind schon die »legalen Mittel«: Ich schätze, in fast der Hälfte aller Fälle verlangen unsere Mandanten ganz selbstverständlich, dass wir ihnen helfen, den Sachverhalt zu fälschen und Szenarien zu entwickeln, wie es im besten Fall gewesen sein könnte. Viele wollen darüber hinaus auch noch, dass wir aktiv (also nicht nur durch Verschweigen) für sie lügen, und die Straftäter bitten darum, dass man ihnen ein Seil ins Gefängnis bringt, damit sie sich abseilen können. (Das hat ein Münchener Anwalt für den Gold-Betrüger Baldau in München tatsächlich getan, obwohl er damals schon weit über 50 Jahre alt war und es wirklich nicht mehr nötig hatte.) Selbst wenn man all diese Ansinnen ablehnt, was fast nur in den oberen Etagen des Wirtschaftsrechts möglich ist (und ganz oben auch schon wieder nicht mehr), muss man ein Stück von sich selbst opfern, wie es bei allen Stellvertretungen so ist. (Ob es den Psychotherapeuten anders ergeht?)

Das zweite Problem besteht darin, dass man ständig die Perspektiven wechseln muss. Hat man in dem einen Fall ein Stück von sich selbst abgegeben, muss man nun ein anderes herausreißen. Man sieht das daran, wie aggressiv Strafverteidiger gegen einen Angeklagten auftreten, wenn sie einen Nebenkläger vertreten. Würden sie den Angeklagten verteidigen, verhielten sie sich genau andersherum. Es ist auch zu beobachten, dass ältere Strafverteidiger zum Teil sehr konservative staatsanwaltschaftliche Perspektiven entwickeln, vermutlich deshalb, weil sie nun die Verbrecher wirklich ganz genau kennen. Und zwar besser als der Staatsanwalt! Otto Schily dürfte so ein Fall sein.

Deshalb hat Heinrich Heine die Anwälte höhnisch als »Bratenwender der Gesetze« bezeichnet. Da er nie praktiziert hat, wusste er nicht, wie notwendig die Fähigkeit ist, eine Sache aus allen Perspektiven betrachten zu können, wenn man dem nahekommen will, was die Allgemeinheit in ihrer Naivität als »Wahrheit« bezeichnet. Das ändert aber nichts daran, dass einige Anwälte sich während ihres ganzen Berufslebens dieser Spannung bewusst sind und darunter leiden. Einigen wird immerhin durch die Marktmechanismen geholfen, auf Dauer nur eine Seite zu vertreten, also zum Beispiel den Arbeitgeber, den Vermieter, die Versicherung usw., und damit löst sich dieser Konflikt für sie. Er verschwindet so aber nicht aus der Welt.

Jeder Blick in die Boulevardpresse und jeder Besuch des Kriminalgerichts Moabit zeigt uns »schräge Fälle«, die das Publikum verstehen und mit eigenen Erfahrungen vergleichen kann. Da werden die Wertmaßstäbe, die im Alltag allen bekannt sind, offensichtlich verletzt (oder nicht) und das kann jeder mehr oder weniger richtig beurteilen.

Der Blick in den Wirtschaftsteil hingegen sieht auf den ersten Blick wenig spektakulär aus. Geht es aber hier um Rechtsverletzungen, so sind sie sehr oft grundsätzlicher Natur, sie gefährden wichtige Strukturen unserer politischen und wirtschaftlichen Ordnung und unser Bauchgefühl hilft uns in diesen Fällen wenig weiter.

Schräg sind sie trotzdem. Nehmen wir zum Beispiel den Verkauf der Anteile von Energie Baden-Württemberg (EnBW) durch den französischen Mitgesellschafter. Der sichere Weg wäre es gewesen, das Ergebnis auszuhandeln und dem Parlament zur Genehmigung vorzulegen. Warum ist Stefan Mappus ihn nicht gegangen? Er sagt, die Franzosen hätten dann nicht verkaufen wollen. Es hätte alles geheim bleiben und sehr schnell gehen müssen. Allein der Gedanke, welche Funktion Parlamente in einer Demokratie haben und dass wirtschaftliche Erwägungen uns nicht einfach veranlassen können, sie zu übergehen, hätte ihm eine andere Entscheidung nahegelegt. Ob man sein Verhalten als Untreue bezeichnen kann, ist dabei eher von zweitrangiger Bedeutung. Wir müssen die Grundfragen stellen, wenn wir in schwieriges Fahrwasser kommen und wenn es so aussieht, als hätten wir keine Zeit dazu, dann ist es umso wichtiger, an diesem Grundsatz festzuhalten.

6.5. Auf der Suche nach der Gerechtigkeit

Medusa, Mosaik Stella Rheni
Medusa, Mosaik Stella Rheni, 1893

»Absolute Gerechtigkeit ist ein irrationales Ideal.«
Hans Kelsen

»Man muss rational mit dem Irrationalen rechnen.«
Winfried Hassemer

6.5.1. Die allgegenwärtige Gerechtigkeit

Die Suche nach der Gerechtigkeit durchzieht große Teile unseres sozialen Lebens. Sie ist ein Vergleichsmaßstab für die unterschiedlichsten sozialen und moralischen Konzepte. Dabei spricht man von der Gerechtigkeit, obwohl jeder weiß, dass seine eigenen Vorstellungen von ihr sich mit jenen der anderen nicht immer decken – jedes Geschworenengericht erfährt das in den ersten Minuten der Diskussion. Plädiert der Staatsanwaltschaft später für eine Haftstrafe von zehn Jahren, der Verteidiger hingegen auf Freispruch und verurteilt das Gericht zu drei Jahren – auf welcher Seite liegt die Gerechtigkeit? Nicht immer können sich Mehrheiten bilden und dann verharrt jeder bei seiner eigenen Auffassung (the hung jury). Die Frage wird noch spannender, wenn das Berufungsgericht das erste Urteil aufhebt und dann seinerseits vom Revisionsgericht aufgehoben wird usw. Unzählige Kommentatoren befassen sich mit solchen Fällen und jeder hat eine andere Vorstellung vom Ergebnis. Wenn solche Unsicherheiten schon innerhalb verfahrensrechtlich genau geregelter Bereiche vorkommen, kann man sich vorstellen, wie umkämpft der Begriff in anderen Feldern des sozialen Lebens ist.

Als Anwalt sollte man am Ende seines Berufslebens wissen, was unter Gerechtigkeit zu verstehen ist. Das Thema hat mich schon früh interessiert. Zu den ersten Büchern meiner kleinen Bibliothek gehörte 1962 neben Hemingways Tod am Nachmittag (auch ein Text zu Recht und Unrecht) eine Sammlung von Vorträgen mit dem Titel Naturrecht oder Rechtspositivismus?240 Ich scheiterte schon an den einfacheren Aufsätzen und ahnte: Wenn ich versuchen würde, die Gerechtigkeit ohne rechtliches Handwerkszeug zu finden, würde ich allenfalls einen Zufallsfund machen. Juristen können immerhin den Weg nachvollziehen, den sie gegangen sind. Wenn ich mich aber unter meinen Kollegen umhöre, ist die Meinungsvielfalt kaum geringer als unter anderen Leuten. Die Juristen sehen gewiss weit mehr Varianten der Gerechtigkeit als die Laien, aber vielleicht fällt es Ihnen gerade deshalb besonders schwer, klare Ansichten zu entwickeln. Das folgende Kapitel beschreibt meine eigenen Überlegungen auf dieser Suche, ich beschreibe den Weg des Anwalts, der nicht nur den Schrei nach Gerechtigkeit in der Öffentlichkeit hört, sondern auch das Flüstern von Mandanten, deren Stimme sonst niemand vernimmt. Die Mühe, die wir uns dabei geben, wird selten gedankt.241

Viele suchen nach der Gerechtigkeit wie nach einem verborgenen Schatz, den man mit genügend Mühe schon finden wird. Diese Metapher führt aber in die Irre. Schon Plato hat erkannt, dass die Gerechtigkeit kein Fixstern ist, nach dem man sich unabhängig von Raum, Zeit und Wetterlage orientieren kann, für ihn war sie ein scheues Wild – ein Igel würde Ronald Dworkin242 sagen: »Wir müssen wie Jäger den Busch rings umstellen, dass uns die Gerechtigkeit nicht etwa entschlüpfe und dann, wenn sie einmal verschwunden ist, nicht wieder zum Vorschein komme. Denn offenbar ist sie hier irgendwo.«243 Aber auch diese Metapher vermittelt uns noch den Eindruck, als könnten wir die Gerechtigkeit erjagen, wenn wir uns nur genügend anstrengten. Das bekannte Symbol der Justitia zeigt uns, dass es anders ist. In der linken Hand hält sie die Waage, um die Ausgewogenheit des Ergebnisses festzustellen, in der Rechten das Schwert, um dieses Ergebnis durchzusetzen. Ihre Augen sind verbunden, weil sie gegenüber ihren eigenen Interessen blind sein muss – deshalb kann sie nur hören, wie die Beteiligten auf ihre Entscheidung reagieren. Sie braucht Stabilität in ihren eigenen Systemen und muss teilweise ignorant bleiben. Über die Qualität ihrer Entscheidung kann sie kein höheres Wissen haben als wir selbst. Wir können Urteile sprechen, aber wir werden nie wissen, ob wir damit die »Seele der Gerechtigkeit« erfasst haben. Allerdings können wir die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass die Gerechtigkeit eine Chance hat.

Die Suche nach ihnen zeigt uns auf den ersten Blick, wie sehr sie von Zeit, Raum, kulturellen Auffassungen, Ritualen und unzähligen anderen Faktoren abhängen. Deshalb ist der Begriff unscharf und die Regeln der Gerechtigkeit haben keinen Ewigkeitswert: Noch vor 200 Jahren gab es weltweit eine völlig einheitliche Auffassung darüber, dass die Todesstrafe die richtige Reaktion auf bestimmte Taten sei, und in vielen Ländern, die sonst hohe Anforderungen an die Menschenwürde stellen (z. B. die USA) ist das auch heute noch so. Parallel dazu haben sich ganz andere Auffassungen darüber entwickelt. Ich will im Folgenden wenigstens die Umrisse des Begriffs im Bereich der Rechtssysteme, der Verteilung sozialer Güter und der politischen Willensbildung nachzeichnen. Seltsam, dass ein einheitlicher Begriff wie »Gerechtigkeit« so unterschiedliche Perspektiven abdeckt. Irgendetwas muss diese drei Felder miteinander verbinden.

6.5.2. Recht, Macht, Gerechigkeit – eine paradoxe Beziehung

Das Bindeglied zwischen diesen Bedeutungen bildet die Macht, also »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht« (Max Weber244). Wo immer über Gerechtigkeit gestritten wird, geht es um den Ausgleich von Interessen- und Machtdifferenzen, die mithilfe dieses Maßstabes in fairer Weise ausgeglichen werden sollen. Sie darf keine stählerne Messlatte, aber auch keine Fahne im Wind sein. Der Begriff muss Flexibilität und Stabilität gleichermaßen verwirklichen. Das kann nur gelingen, wenn Logik und Gefühl in festgelegten Verfahren aufeinander reagieren, damit jeder Einzelfall mit Standardmodulen wie Rechtssicherheit, Gleichheit, Fairness usw. in Beziehung gesetzt werden kann.

Die Macht hat zwei Gesichter: Das Recht zeigt uns ihre Ordnungsfunktion, die Willkür ihre Zerstörungskraft. Wer wie Hammurapi245 oder Ashoka246 als Herrscher ein Gesetz öffentlich macht, bindet nicht nur die anderen, sondern auch sich selbst daran, sobald es ans Licht tritt. Er beschränkt seine Willkür. So entsteht das unvermeidbare Paradox, dass nur das Gesetz uns Freiheit (vor der Willkür) geben kann, wie Goethe einmal in Bezug auf Inhalt und Form künstlerischer Werke bemerkt hat. Wer asiatische Denkstrukturen (Yin/Yang) kennt, wird das ohne weiteres verstehen. In Europa denkt man anders: Jherings Slogan vom »Kampf ums Recht« entsteht auf dem Hintergrund eines antagonistischen Bildes, bei dem einmal die Macht und ein anderes Mal das Recht »gewinnt«. Tatsächlich ist es aber ein Null-Summen-Spiel. Sehr früh erkennt die Macht, dass sie sich in das Gewand des Rechts kleiden kann, um ihre Willkür zu verstecken.

Die Gerechtigkeit ist der einzige Maßstab, den wir haben, um die Grenzen zwischen beiden zu erkennen. »Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut« (Lord Acton). Wer – wie der tugendhafte Robespierre – absolute Macht anstrebt, um absolute Werte durchzusetzen, wird zum Schlächter. Gelegentlich sind die Machtlinien allerdings schwer zu erkennen, denn im Militär nehmen sie völlig andere Formen an wie im Theater; im Bereich der sozialen Verteilung oder gar der politischen Willensbildung gibt es andere Verhältnisse als in Rechtssystemen.

An ihnen können wir allerdings die Grundprinzipien am klarsten erkennen: Ein Rechtssystem, das die Macht nicht in ein Verhältnis zur Gerechtigkeit setzen und damit jeden Absolutheitsanspruch verhindern will, ist weder akzeptabel noch funktionsfähig: »Man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.«247 Wie soll ein Gericht auf »ungerechte Gesetze« reagieren? Mit dieser Frage ist einer der tiefsten Konflikte angesprochen, dem kein Rechtssystem ausweichen kann: Ohne Gesetze als Maßstäbe kann es nicht funktionieren, aber wenn die Gesetze unfair sind oder sich gar gegen das System selbst richten, muss ein Richter die Möglichkeit haben, das Gesetz anders zu interpretieren als gewohnt oder es ganz zu verwerfen. Im englischen Rechtssystem ist dieses Spannungsverhältnis besonders klar zu bemerken. Der Fall wird zunächst nach den gesetzlich festgelegten Regeln des common law beurteilt, und wenn diese Entscheidung nicht fair erscheint, kann sie nach den Regeln der equity korrigiert werden. Anders als in den vom römischen Recht geprägten Systemen spielt der Richter dabei eine viel größere Rolle. Nicht ohne Grund nennt man noch heute die höchsten Richter in den angelsächsischen Systemen »Justice«, um damit anzudeuten, sie selbst verkörperten die Gerechtigkeit.

In Deutschland finden wir dieses System von Check and Balance nicht. Hier schwankte man immer zwischen verschiedenen Extremen. Man kann für die ersten Jahre des NS-Regimes wohl davon ausgehen, dass eine klar erkennbare Mehrheit der Deutschen die zwischen 1933 und dem Kriegsbeginn aufgestellten willkürlichen Anordnungen – vor allem gegen die Juden – gebilligt hat. Sie haben sie als ausgewogen und gut betrachtet (»Du bist nichts, dein Volk ist alles«) und bezeichneten jede Abweichung vom »gesunden Volksempfinden« als rechtswidrig. So verschwanden die Interessen des Einzelnen insgesamt – eine offensichtliche Ungerechtigkeit. Das damals vorherrschende rechtspositivistische Denken konnte diese Entwicklung nicht steuern, im Gegenteil: Hans Kelsen248 hatte 1934 in seiner Reinen Rechtslehre gesagt: »Jeder beliebige Inhalt (kann) Recht sein«, also auch ein Rechtssatz, der sich gegen das Recht selbst richtet. Dahinter steht der berühmte Satz von Thomas Hobbes: »Auctoritas, non veritas facit legem« (Die Autorität und nicht die Wahrheit macht die Gesetze).

Dagegen ist nichts zu sagen, wenn man den Begriff der Gesetze nicht mit jenem der Gerechtigkeit gleichsetzt und die Vorstellung akzeptiert, dass es ungerechte Gesetze geben kann. Gesetze sind stets der Spielball politischer Interessen, die sich zwar – wie wir aus Erfahrung wissen – aus nahezu jeder Position auf die Gerechtigkeit berufen, sie aber gerade deshalb allzu oft verfehlen. Alle einseitigen Regeln, die auf rassistischen, religiösen oder sonstigen ideologischen Gründen basieren, verweigern sich der angemessenen Abwägung einzelner Interessen. Kelsen kam zu seiner Auffassung, weil ihm bewusst war, wie unterschiedlich die Wertvorstellungen in einzelnen Kulturen über Raum und Zeit stets gewesen sind. So entschied er sich für ein formales, aber sicheres Kriterium, um den Begriff überhaupt fixieren zu können. Die Tragik seines Lebens besteht darin, dass er auf der Basis seiner eigenen Theorien aus dem Land vertrieben worden ist.

Das entscheidende Paradox ist: Obwohl der Begriff Gerechtigkeit eine mehrheitliche Tendenz nachzeichnet, ist die Entscheidung im Einzelfall nicht mehrheitsfähig: Oft weiß nur eine Minderheit, was in der konkreten Situation wirklich gerecht ist. Deshalb rechtfertigt auch eine eindeutige Mehrheit für eine bestimmte gesetzliche Regel nicht ihren Inhalt, wenn er den Maßstäben für die Gerechtigkeit nicht standhält.

6.5.3. Die Bedeutung des Rechtsgefühls

Diese Maßstäbe ergeben sich nicht allein aus der juristischen Logik oder abstrakten Prinzipien, sondern aus einem Werturteil, an dem die Gefühle beteiligt sind. Jeder Konflikt stürzt Menschen in emotionale Verwirrung der widersprüchlichsten Art. Nimmt er formale rechtliche Formen an (Schreiben von Behörden, Anwaltsbriefe, gerichtliche Verfügungen et cetera), entwickeln sich in Sekunden gleichzeitig Angst und Aggression, und zwar unabhängig davon, ob jemand angreift oder sich verteidigen muss. Wenn wir in Rechtssystemen leben, die gleichzeitig das Gewaltmonopol des Staates absolut durchsetzen, ist die Situation fast verwirrender, als wenn man die Gewissheit hat, dass man notfalls selbst zur Waffe greifen kann (wie etwa in den USA): Wir anderen wissen, dass uns die Hände gebunden sind, mit denen wir angreifen wollen, und daraus entwickeln sich Angst, Unterlegenheitsgefühle, Abwehrhaltungen und teils überspannte Anforderungen an die Kräfte des Rechts und der Justiz. Ihr wesentlicher Beitrag zur Bewältigung des Konflikts ist es, ihre eigene Rolle innerhalb des unauflösbaren Netzwerks der Argumente und Emotionen aller Beteiligten zu verstehen. Nach der Soester Gerichtsordnung gelingt das, wenn der Richter mit übergeschlagenen Beinen wie ein »griesz-grimmiger Löwe« dasitzt und – wie es in einem anderen Dokument heißt – »Scheltworte … verbietet und dass niemand ohne seine Erlaubnis das Wort ergreifen darf«.249

Auch die Anwälte dürfen sich nicht von den Gefühlen ihrer Mandanten oder Gegner überwältigen lassen. Sie haben zwar einen größeren Spielraum, weil ihre Aufgabe die Interessenvertretung ist, so dass sie sich nicht auf die neutrale Position des Richters zurückziehen dürfen. Aber nach vielen Jahren Berufserfahrung wissen sie, dass sie den Erwartungen ihrer Mandanten am Ende nie entsprechen können (»der schlimmste Feind des Anwalts ist der Mandant«) und sie leben in einer ständigen Spannung zwischen den Anforderungen der Macht, die sie haben, den Grenzen, die das Rechtssystem ihnen zieht, ihren Qualitätsansprüchen und der Berufsethik, der sie folgen müssen.

6.5.4. Denken, Fühlen und Entscheiden

Bis Anfang des letzten Jahrhunderts waren die meisten Juristen sich sicher, dass die strenge Berufung auf die Logik der Rechtssysteme sie davor bewahren könne, in den Strudel der Gefühle gerissen zu werden, der die Parteien verwirrte. Man war überzeugt, dass auch in Bereichen, in denen der Richter ein Ermessen hat, sich (in geeigneten Fällen) dieses »Ermessen auf null reduzieren« lasse. In der angloamerikanischen Rechtstradition kannte man schon längst den sense of justice, als Riezler250 1921 erstmals das Rechtsgefühl beschrieb. Er verstand darunter »das Gefühl für das, was Recht ist« oder »… dass nur das dem Recht Entsprechende geschehen soll« – Leerformeln, die allerdings erstmals deutlich genug auf das Problem hingewiesen haben, mit dem wir uns hier beschäftigen. Michael Bihler kam 1979 einen erheblichen Schritt weiter.251 »Das Rechtsgefühl ist die spontane Stellungnahme in einem juristischen Konflikt auf der Seite eines oder mehrerer Beteiligter. … Die Legitimierung der Gerechtigkeitsaussage durch ihre Verbindung mit als evident angesehenen rechtlichen Begründungen stellt eine Rationalisierung des Gefühls dar und ermöglicht die Berufung auf das Gefühl in der öffentlichen Diskussion um die erfolgte Stellungnahme.« Hier sehen wir die Funktion des Rechtsgefühls im Verfahren: Es soll für die Akzeptanz juristischer Entscheidungen durch die am Konflikt Beteiligten und die Allgemeinheit sorgen. Das Rechtsgefühl weiß nichts besser als der Verstand, aber es sorgt für kreative Unruhe, wenn die Differenz zwischen dem Rechtssystem und dem Gefühl der Allgemeinheit allzu groß wird.

Das war ein Schritt in die richtige Richtung, den wir im Folgenden – beschränkt auf die Entscheidungsvorgänge innerhalb des Gerichts – näher betrachten wollen. Die jüngere neurobiologische Forschung zeigt uns, dass bereits das Erfassen der Wirklichkeit, aber auch alle Arten von logischen Schlüssen eng mit unserer Gefühlswelt zusammenhängen. Wir können also nicht, wie man sich das laienhaft denkt, zunächst gefühllos denken und dann emotional handeln – beides ist vielmehr von Anfang an ebenso untrennbar miteinander verbunden252 wie Denken und Sprechen miteinander verwoben sind. Das ist auch von außen bemerkbar; jede logische Argumentation, die sich nicht mit den Gefühlen des Sprechenden deckt, wird von den Zuhörern als Phrase erlebt: »Du kannst von dem, was Du nicht fühlst, nicht reden.«253 Absolut unmöglich ist es aber, ohne Gefühle Entscheidungen zu treffen.254

6.5.5. Der hin- und herwandernde Blick

Gleichzeitig spüren wir, dass auch kein Richter ein Urteil fällen könnte, wenn er nur in der Welt der juristischen Logik verbliebe: »Verleih Deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er Dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden verstehe« bittet Salomon (1 Buch der Könige 3,9). Die Vorstellung, dass der Verstand nichts entscheiden kann, wenn nicht auch das Herz – der Sitz der Gefühle – auf das Ergebnis einwirkt, ist in diesem einfachen Satz bereits voll ausgebildet.

Im Verfahren der Rechtsgewinnung, dass wir unten noch im Detail betrachten werden, wechselt der Blick ständig von den Tatsachen zu den Rechtsfolgen, von Zweifel an der Glaubwürdigkeit von Parteien und Zeugen zu Fragen der Beweislast, vom eigenen technischen Verständnis zur Kritik daran durch Sachverständige usw. Als Schiedsrichter habe ich oft bemerkt, dass ich mir zunächst anhand von Gesetz und Rechtsprechung einen logisch richtigen Lösungsweg erarbeitet habe, ihn aber inhaltlich veränderte, sobald ich merkte, dass das Ergebnis nicht zu den Tatsachen passen wollte, die im Verfahren ermittelt worden waren. Als Richter passt man (bewusst oder unbewusst) die Logik dem Gefühl an: »Gerechtigkeit hat mehr mit der juristischen Fantasie zu tun als mit der juristischen Dogmatik.«255 Das ist so lange in Ordnung, als man sich dieser Tatsachen bewusst und fähig ist, auch den umgekehrten Weg zu gehen, die Gefühle wieder durch die juristische Logik zu korrigieren, und am Schluss die Durchsetzungskraft behält, eine Entscheidung zu treffen. Dazu eine Story, die Richter unter sich erzählen: Der Kläger trägt vor und der Richter sagt: »Sie haben vollkommen recht.« Dann folgt der Beklagte. »Das klingt sehr überzeugend.« Da steht hinten im Zuhörerraum einer auf: »Aber Sie können doch nicht dem Kläger und dem Beklagten gleichzeitig Recht geben!« »Da kann ich Ihnen kaum widersprechen«, sagte der Richter.256 Der Prozess entfaltet vor aller Augen eine Vielzahl von Landschaften, zwischen denen der juristische Blick wie bei einem Zeichner zwischen seinem Gegenstand und seinem Entwurf ständig »hin und her wandern« (Karl Engisch257) muss, und so entsteht in den Jahren der Praxis ein immer klarer werdender Sinn für das, was gerecht und ungerecht ist.

Viel schwieriger ist es für Schöffen und Geschworene, die keine juristischen Fachkenntnisse haben und nur in einem einzigen Fall entscheiden. Sie bilden im weltweiten Vergleich auch heute noch eine bedeutende zahlenmäßige Mehrheit gegenüber den Berufsrichtern. Wir sind geneigt, darauf einen kritischen Blick zu werfen, übersehen dabei aber, dass der gelehrte Richter, wie wir ihn kennen, erst in der Moderne als Folge einer konsequent durchgehaltenen Gewaltenteilung entstehen konnte. In den USA sind die Geschworenengerichte im 17. Jahrhundert aus der Sorge entstanden, staatliche Richter könnten leichter bestochen werden. Heute werden sie aus tieferen Gründen aufrechterhalten: Die angelsächsischen Systeme vertrauen darauf, dass ein Urteil die Gerechtigkeit besser abbildet, wenn Menschen, die keine Rechtskenntnisse haben, das Ergebnis bestimmen. Liegt ihre Entscheidung weit ab von der Logik der Systeme, können die Berufungsgerichte sie korrigieren. Aber für den ersten Zugriff soll das Rechtsgefühl der Allgemeinheit den Ausschlag geben.

Auch in den Europäischen Gerichtshof werden viele Richter ohne jede gerichtliche Erfahrung berufen, die zuvor als Wissenschaftler oder Politiker tätig waren. Man will gerade diese Erfahrungen im Gremium haben (eine Ansicht, die in Deutschland nicht geteilt wird). Ihre Kollegen und Assistenten müssen ihr fehlendes Fachwissen ersetzen – ein schönes Beispiel für die stets fließenden Grenzen zwischen rechtlichen und politischen Maßstäben: Wer ein Richteramt übernimmt, muss wissen, dass ab jetzt seine Unabhängigkeit die zentrale Forderung darstellt.

Es wäre vermutlich besser, wie in der angelsächsischen Tradition vom Gerechtigkeitssinn (sense of justice) zu sprechen, statt vom Rechtsgefühl, denn damit wäre gleichzeitig gesagt, dass es ein Gefühl ist, das nicht unabhängig von rechtlichen Regeln entsteht, sondern sich erst im Angesicht des Falles konkret entwickelt und keinen abstrakten Inhalt haben kann.

6.5.6. Die Wirkungen des Gerechtigkeitssinns

Es hängt von der Ausgestaltung des jeweiligen Rechtssystems ab, welchen Einfluss Gefühle auf ein Urteil nehmen können. Wo Entscheidungen im Rahmen rechtsstaatlicher Bedingungen erfolgen, überwiegt die Logik der Systeme, und dem Gefühl ist nur die Rolle zugewiesen, das Ergebnis anhand vergleichbarer Fälle und der Lebenserfahrung der Beteiligten daraufhin zu überprüfen, ob ihr Empfinden der Logik völlig widerstreitet. Naturrechtliche und religiöse Strukturen bieten ebenfalls Einbruchsstellen für eine gefühlte Zustimmung.258 Im Grundgesetz deutet sich das an der einen oder anderen Stelle an, aber die überwiegende Meinung hat diese Versuche zurückgewiesen. Als Leitlinie diente stattdessen die »Radbruchsche Formel: dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als »unrichtiges Recht« der Gerechtigkeit zu weichen hat.«259 Der hier angesprochene Maßstab der Unerträglichkeit ist nur im Gefühl verknüpft, nicht im Verstand, denn logische Fehler kann man beseitigen, sie werden nicht als unerträglich empfunden. Werturteile sind nach rechtspositivistischer Auffassung nur emotionale Bewegungen, die im Rechtssystem keine Funktion haben dürfen.

Man sieht es deutlich an dem Begriff der Menschenwürde260, den Kant als unveräußerliches Gut jedes Einzelnen bezeichnet hat. Er ist unscharf, man kann ihn nur von Fall zu Fall unter den jeweiligen Raum/Zeit/Kultur-Bedingungen präzisieren, in denen er verwendet wird. Das zeigt uns die Diskussion über seinen Inhalt, die seit langem zwischen Europa und Asien geführt wird. Bei uns versteht man darunter eine Garantie des Staates, dass jeder Einzelne sich individuell so entwickeln kann, wie er dies (im Rahmen der Gesetze) für sich entscheidet, die asiatischen Kulturen hingegen heben hervor, »dass die Quelle menschlicher Stärke in einer harmonischen Integration in die eigene Gruppe liegt und dass die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft das fundamentale menschliche Bedürfnis ist … nur ein Mensch, der wahrhaft zu solch einer Gemeinschaft gehört, (kann) natürlich und unbewusst eine erfülltes, spontanes Leben führen261«. Im Westen empfinden die meisten Menschen eine solche Sicht auf die Welt als romantisch und unrealistisch. Sie können schwer verstehen, dass der Inhalt des »Angemessenen und Guten« in Asien in erster Linie in dem Beitrag des Einzelnen zur harmonischen Stabilität des Ganzen gesehen wird, während man dort keinen Sinn darin sieht, die Idee der Selbstverwirklichung eines Einzelnen zu unterstützen, wenn dadurch die Harmonie des Ganzen irritiert wird. Solche Vorstellungen von »Harmonie« fordern einen hohen Preis auf der Seite der Individualität. Auch heute noch werden in Asien viele Ehen durch die beteiligten Familien arrangiert, unseren kritischen Begriff »Zwangsehe« für diesen Vorgang hält man für völlig unangemessen. Die Folge: Bereits politische Diskussionen werden als Störung der Harmonie empfunden, geschweige denn künstlerische Aktivitäten, die den allgemeinen ästhetischen Vorstellungen nicht entsprechen. Anders als bei uns genießt Kunst keinen Sonderschutz. So kommt es, dass selbst Künstler wie der Literatur-Nobelpreisträger (2012) Mo Yan sich mit staatlicher Zensur einverstanden erklären, sofern einzelne politische Äußerungen sich gegen den Mainstream richten.

Eine solche Entwicklung kann in Ländern nicht eintreten, in deren Verfassung das Recht auf freie politische Meinungsäußerung und die Freiheit von Kunst und Wissenschaft fest verankert ist. Aber wir dürfen unsere Maßstäbe nicht ungeprüft an andere Rahmenbedingungen anlegen.

6.5.7. Logik und Sehnsucht

Die Mittel des Rechtssystems sind vermutlich deshalb so beschränkt, weil eine gerechte Entscheidung nur entstehen kann, wenn Logik und Gefühl in der ideal gedachten Sekunde der Entscheidung zusammenpassen. Es liegt auf der Hand, dass ein unlogisches Rechtssystem bald zusammenbrechen müsste. Die Grundregeln der Logik sind den Juristen selbstverständlich, weil ihre Arbeitsweise sie Schritt für Schritt nachvollzieht. Deshalb reflektieren sie selten darüber. Mein zweites juristisches Buch, das ich 1965 in Berlin kaufte, war Egon Schneiders gerade erschienene »Logik für Juristen«262. Ich dachte, das gehört in den Tornister jedes Rechtsstudenten. Aber außer mir besaß es niemand und in der Bibliothek wurde es nicht ausgeliehen. Keiner wollte den »Modus Barbara« lernen. Wir hatten ihn nämlich alle schon im Kopf, weil wir die Technik der Subsumtion beherrschten, in denen die Wichtigsten dieser Denkgesetze praktisch angewendet werden. So lernt man genug über die vier Wurzeln des Satzes vom zureichenden Grund oder den Satz vom Widerspruch, ohne dass man sie theoretisch darstellen könnte. Juristen müssen sich an die allgemeinen Denkgesetze halten, weil ihre Urteile sonst keinen Bestand hätten. Aber jeder spürt auch, dass das Rechtssystem nicht allein in der Logik verankert sein kann. Kein logisches System kann zugleich vollständig und widerspruchsfrei sein (Kurt Gödel) und trotzdem müssen wir über unsere Konflikte eine Entscheidung treffen.

Alle Versuche, mithilfe von Computerprogrammen rechtliche Entscheidungen zu treffen, sind gescheitert.263 Außerhalb der juristischen Welt wissen selbst die Kinder instinktiv, dass es sich so verhält. Der Philosoph Karl Heinz Bohrer schreibt, wie er mit zwölf Jahren darüber gedacht hat: »Er … kam darauf, dass alles Leben, so auch der Grund für das Todesurteil, aus einer höheren und aus einer niederen Gerechtigkeit bestehe. Die höhere Gerechtigkeit aus dem Gefühl, die niedrige aus der Vernunft. Man müsse etwas Gutes oder Gerechtes tun, nicht nur weil das Gesetz es vorschreibt, sondern weil das innere Gefühl dabei beteiligt sei. Das sei die höhere Gerechtigkeit.«264

Ingolf Toll-Ebel265 ist der Frage nachgegangen, ob es ein Grundgefühl gibt, eine Art Generalbass, der die vielfältigen Melodien der Gefühle von Zorn, Schmerz, Ohnmacht usw. im Allgemeinen (und damit natürlich auch bei rechtlichen Auseinandersetzungen) strukturiert und ihnen Rhythmus verleiht. Er hat die »Sehnsucht« vorgeschlagen, einen Antriebsmotor, der ohne jeden Zweifel alle denkbaren Motivationen beschreibt, die uns erfassen und die mit logischen Strukturen nicht begriffen werden können.

Die meisten Menschen vermissen im Rechtssystem die Abbildung solcher Gedanken und halten ein Urteil, das ihrem Rechtsgefühl nicht entspricht, für grausam und falsch. Sie übersehen dabei, dass wir niemals einen unmittelbaren Zugang zu den Gefühlen anderer Menschen haben können: Gefühle kann man nicht logisch vergleichen! Also muss das Recht sich darauf beschränken, in jedem Verfahren, das es entwirft, über vielfältige Schnittstellen die rechtliche Logik, die Sehnsucht nach der Gerechtigkeit und die sie umgebenden widerstreitenden Gefühle miteinander zu verknüpfen. Diese winzigen Brücken sind von außen nicht leicht erkennbar.

6.5.8. Verfahrensgerechtigkeit

Die Gerechtigkeit kann ihre Chancen nur realisieren, wenn wir das Handwerk der Rechtsdurchsetzung266 richtig betreiben. Es besteht in erster Linie aus den Verfahren, also selbsttragenden Systemen, deren »Ablauf unabhängig ist von den Unterschieden unter den Handelnden, die es in Gang setzen267«. Sie müssen wie die Inhalte den Anforderungen der Gerechtigkeit standhalten. Ein Verfahren ersetzt – wie jede Planung – den Zufall zwar oft genug nur durch Irrtum, aber nur so werden Systeme steuerbar, weil sie nach geraumer Zeit wenigstens ihrer eigenen Logik folgen. »Die Wahrheit ergibt sich eher aus Irrtum, als aus Verwirrung« (Francis Bacon268).

Verfahren findet man überall: im Bereich der Politik, der Sozialsysteme und der Rechtsysteme. Wenn sie nicht oder nur in schwachen Formen existieren, gibt es nur geringe Chancen für gerechte Entscheidungen. Schon in den Verfahrensregeln muss sich der Ausgleich der Interessen zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft ausdrücken, sie dürfen nicht wertneutral sein. Deshalb können anarchistische Modelle, die Verfahren verachten, nie für Gerechtigkeit sorgen. Verfahren sind stabiler und wichtiger als Inhalte: »Freiheitssicherung liegt zu einem guten Teil in Formen und Verfahren, weit mehr als in materiellen Gewährleistungen«,269 oder wie es im englischen Rechtssystem heißt: »remedies precede rights.« Ein Parlament, eine Verwaltungsbehörde, ein Gericht kann unter sehr wechselvollen Rahmenbedingungen funktionsfähig bleiben.

6.5.9. Verfahren im Bereich der Rechtssysteme

In Rechtssystemen – vor allem vor Gericht – rekonstruieren wir die Realität, die zum Konflikt geführt hat, wie auf einer Theaterbühne mit verteilten Rollen und hoffen, dass sich aus dieser Darstellung Einsichten ergeben, die uns eine gerechte Lösung ermöglichen. Hier befinden wir uns in der Situation von Schauspielern, die ihren Autor suchen und ihn sich – ohne es zu merken – erst erfinden (Pirandello hat das beschrieben). Im Verfahren entwickeln alle Beteiligten einschließlich der Richter die Gerechtigkeit konkret in jedem Einzelfall – wobei nur wenige Fälle sich völlig gleichen. Dazu brauchen wir unverzichtbare Verfahrensbedingungen, ohne die ein gerechtes Urteil nicht entstehen kann. Jede Einzelne steht unter der Grundregel der Fairness:

  • Alle Elemente eines Rechtssystems müssen in einem Verhältnis von Check and Balance zueinander stehen, die Initiative muss Kontrolle dulden, die Kräfte müssen sich ausbalancieren.
  • Alle Entscheidungen, die Verfahren begründen oder ausführen, müssen hinter dem »Schleier des Nichtwissens« getroffen werden, dürfen also nicht dem konkreten Nutzen derjenigen dienen, die die Entscheidung treffen.
  • Alle Entscheidungen müssen hinreichend konkret sein, bekannt gemacht und überprüfbar sein.
  • Jedermann muss sie beachten, solange sich die Normen nicht selbst gegen die Rahmenbedingungen über Inhalte und Verfahren richten, unter denen Gerechtigkeit entstehen kann.
  • Die Unabhängigkeit der Richter muss absolut gesichert werden. Der Richter darf sich nicht von den Machtverhältnissen außerhalb des Verfahrens (Politik, Medien, Bestechung et cetera) beeinflussen lassen und darf nur ein Urteil sprechen, dessen Inhalt er – aus der Sicht eines Dritten – auch für und gegen sich selbst akzeptieren müsste.
  • Ziel jedes Verfahrens muss die Ermittlung der Tatsachen sein, soweit sie sich in zumutbarer Weise (Zeit/Kosten/Beweisregeln et cetera) ermitteln lassen (die prozessuale Wahrheit).
  • Das Verfahren muss die Rechte und Pflichten aller Beteiligten definieren und Rechtsmittel enthalten.
  • Es muss stabil sein, also vor allem viele kleine Fehler tolerieren und verarbeiten können.270
  • Staatliche Verfahren müssen (mit begründeten Ausnahmen im Bereich von Politik und Verwaltung) öffentlich sein, die Urteile ohne Ausnahme veröffentlicht werden, damit jedermann sich auf sie berufen kann.
  • Jeder muss in angemessenem Umfang sprechen dürfen: Keine der Perspektiven, die jemand einnimmt, darf unterdrückt werden.
  • Gerichtliche Entscheidungen müssen mit staatlicher Gewalt wirksam durchgesetzt werden.

6.5.10. Politische Rahmenbedingungen

Auf den ersten Blick wirken diese Regeln jedenfalls aus der Sicht westlicher Rechtsysteme geradezu selbstverständlich: Gesetze werden in den meisten Kulturstaaten von Parlamenten verabschiedet, von unabhängigen Richtern beurteilt und bei inneren Widersprüchen immer an der Verfassung ausgerichtet usw. Wir identifizieren Rechtsstaatlichkeit regelmäßig mit dem uns bekannten verfassungsrechtlichen System, insbesondere der Demokratie, dem uns bekannten Katalog der Grundrechte und anderen Elementen der Staatsverfassung, die in engen Wechselwirkungen aufeinander reagieren. Aber nicht nur unter diesen günstigen Bedingungen hat die Gerechtigkeit eine Chance. Wäre es anders, dann hätten die Menschen vor tausenden von Jahren, als es solche Rahmenbedingungen noch nicht gab, keine Gerechtigkeit erreichen können. Sie haben den Begriff aber schon früh geprägt, und hinter ihm steht eine Erfahrung, die uns zeigt, dass auch in Monarchien (wie z. B. Saudi-Arabien) oder in Oligarchien (Russland, China usw.) Gerechtigkeit eine Chance hat – vermutlich nur seltener als unter anderen Bedingungen. Aber auch wir leben nicht auf der Insel der Seligen: Wir waten geradezu in verfassungswidrigen Gesetzen, die allein deshalb noch gelten, weil über sie noch nicht entschieden worden ist (wo kein Kläger, da kein Richter).

Betrachten wir im Folgenden die wichtigsten Elemente rechtlicher Verfahren.

6.5.11. Die prozessuale Wahrheit

Am Anfang jedes Verfahrens steht die Ermittlung der Wahrheit. Ohne sie kann es keine Gerechtigkeit geben, denn auf dem Boden der Lüge wird sie nie entstehen. Lüge ist jede Aussage, die der Sprechende aus seiner eigenen Perspektive für falsch halten muss. Aber was ist Wahrheit? Der Richter Pilatus hat diese Frage nicht als Erster und nicht als Letzter aufgeworfen. Wir müssen ihn für die Radikalität, in der er sie vor 2000 Jahren gestellt hat, bewundern,271 denn auch heute können wir sie nicht beantworten: Wahrheit ist von Tatsachen abhängig, und über diese Tatsachen können wir uns nur in wenigen sehr einfach gelagerten Standardfällen einigen. Wer versucht, eine Antwort zu finden, die von allen zu jeder Zeit unter allen Umständen akzeptiert werden kann, wird in die Irre gehen. »Es gibt keine genaue Unterscheidung zwischen der Wirklichkeit und dem Unwirklichen. Auch nicht zwischen dem, was Wahrheit und Irrtum ist. Eine Sache ist nicht notwendigerweise wahr oder unwahr, sie kann das eine und zugleich das andere sein.«272

Die Antwort ist immer das Ergebnis eines offenen Verfahrens, in dem die von jedem Einzelnen »konstruierten« Wahrheiten erkannt, koordiniert und gegeneinander abgewogen werden.

Diese Verfahren unterliegen notwendig vielen Beschränkungen, die man nicht überwinden kann: Der wichtigste Zeuge ist tot, man findet keinen Sachverständigen, Verwandte und Priester haben Zeugnisverweigerungsrechte usw. Die Parteien tragen ihre jeweiligen Perspektiven vor, Zeugen und Sachverständige steuern das Ihrige bei, und auch die Richter haben ein Vorverständnis aus anderen Fällen, aus ihrer Lebenserfahrung oder aus der schrittweisen Meinungsbildung, die sie durchlaufen. Im Prozess finden wir nicht die Wahrheit des Geschehenen, sondern erhöhen nur (hoffentlich) die Wahrscheinlichkeit, sie herauszufinden. Am Ende finden wir nur die Wahrheit, die der Prozess uns zu sehen erlaubt. Diese prozessuale Wahrheit ist das Ergebnis all dieser Elemente unter Berücksichtigung ihrer Beschränkungen, von denen einige auch zur Manipulation verwendet werden können. Aber sie liefert innerhalb der Grenzen des Systems immerhin mehr als die Summe der subjektiven Perspektiven, die Einzelne zu dem Verfahren beigetragen haben.

6.5.12. Unbefangene Richter

Gerechtigkeit hat nur eine Chance, wenn die Richter alle diese Konstruktionen durchschauen (einschließlich ihrer eigenen Befangenheiten) und Rahmenbedingungen vorfinden, die ihre Neutralität sichern. Von Richtern stammt die Selbsterkenntnis: »Hier bekommen Sie keine Gerechtigkeit, sondern nur ein Urteil.« Der Satz wird meist negativ interpretiert, sagt aber nichts anderes, als dass Gerechtigkeit nur im Verfahren geboren werden kann und gleichzeitig durch das Verfahren beschränkt wird. Die Unabhängigkeit des Richters ist dabei das entscheidende Element. Sie hat eine lange geschichtliche Entwicklung hinter sich. Der alte griechische Prozess (um 400 v. Chr.) wurde von allen stimmberechtigten Bürgern entschieden: In privaten Angelegenheiten waren Gruppen von 51–401 Geschworenen tätig, in politischen 500–6000,273 die sich in einem Stadion versammelten und alles andere als eine neutrale Auffassung zu den jeweiligen Konflikten hatten. Rechtliche und politische Auseinandersetzungen wurden nicht klar unterschieden, viele Schauprozesse waren reine Machtkämpfe. Die offensichtliche Befangenheit der Richter wurde nur durch das ebenso offene Verfahren einigermaßen austariert. 1600 Jahre später war das Problem aber schon in aller Klarheit erkannt. Die erste schweizerische Verfassung (Bundesbrief) der Urkantone Uri, Schwyz und Unterwalden (1291) sagt:

»Wir haben auch einhellig gelobt und festgesetzt, dass wir in den Tälern durchaus keinen Richter, der das Amt irgendwie um Geld oder Geldeswert erworben hat oder nicht unser Einwohner oder Landmann ist, annehmen sollen.«

6.5.13. Rechtliches Gehör

Die Fairness gebietet es, dass jeder, der an einem Konflikt beteiligt ist, seine Ansichten vortragen kann, wie abwegig sie auch sein mögen. Wenn Konflikte nicht in einem gerichtlichen Verfahren, sondern im Palaver geregelt werden, besteht der Kern dieses Verfahrens aus nichts anderem als dem Vortrag unterschiedlicher Auffassungen. Das rechtliche Gehör ist also älter als förmliche Verfahren und wir finden es schon in den ersten Anfängen des griechischen Prozesses. Dort zeigte sich aber auch, dass die Fähigkeit der Menschen, sich anderen gegenüber verständlich zu machen, sehr unterschiedlich ist. Also boten rhetorisch erfahrene Leute ihre Dienste an und der Kläger lernte seinen Vortrag auswendig. Sehr schnell haben alle begriffen, dass das Unsinn ist – der Beruf des Rechtsanwalts (dikigoros) wurde erfunden. Rechtliches Gehör ohne Beistand ist nichts wert.

6.5.14. Zwangsvollstreckung

Wenn ein Rechtssystem nur ein Urteil garantierte, die Vollstreckung aber wieder den Parteien überließe, wäre schon das Urteil nichts weiter als wertloses Spiel. Hier berührt sich jedes Rechtssystem mit der Art und Weise, wie in einem Staat die Gewaltverhältnisse verteilt sind. Steht das staatliche Gewaltmonopol nur auf dem Papier, wird auch das Rechtssystem bald in sich zusammenfallen. Auf dieses Kriterium reagieren alle besonders sensibel.

6.5.15. Rechtssicherheit, gesetzliches Recht und Präjudizien

Die Qualität eines Rechtssystems hängt davon ab, inwieweit es die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass gerechte Entscheidungen getroffen werden. Die Grundlagen dazu schafft notfalls der Richter selbst: »Da mihi facta, dabo tibi ius« – gib mir die Tatsachen und ich gebe dir das Recht. Unter ius hat das römische Recht nicht nur die Entscheidung des Richters, sondern – einen Schritt früher – die Definition des möglichen Anspruchs (actio) verstanden. Der Leitsatz zeigt daher den Weg zur Gerechtigkeit sogar dann, wenn es weder Gesetze noch Präjudizien gibt. In den angloamerikanischen Rechtssystemen ist dieser Gedanke selbstverständlich: In England gibt es keine geschriebene Verfassung, und in den USA ist das statutory law weit lückenhafter, als wir es gewöhnt sind. In diesen Systemen »stolpert man in die Weisheit«.274 Und das gibt der Gerechtigkeit nur Chancen, wenn die einzelnen Schritte die Rechtssicherheit verbessern. Diese Idee ist zusammen mit dem geschichtlichen Denken entstanden, mit der Forderung nach Kontinuität, nach Bewahrung des Bewährten. Das Verhalten jedes Einzelnen soll sich nach Regeln richten, die unter vergleichbaren Umständen vergleichbar verstanden werden können. Das Präjudiz entsteht aus einer Kette von Entscheidungen über gleiche oder ähnliche Fälle – es ist die Mutter der Gesetze, denn erst wenn Regeln erkannt werden, kann man sie in Worte fassen. Die Idee der Rechtssicherheit unterscheidet moderne Rechtssysteme von früheren. Nur sie ermöglicht es, das Ziel der Gleichheit zu erreichen.

Aber auch in Deutschland, Österreich oder der Schweiz, die die technisch besten Rechtssysteme der Welt haben, entstehen auf einmal im Internet, im Umweltschutz, im Datenschutz völlig neue Welten, die rechtlich noch nicht durchdacht sind. Trotzdem müssen die Konflikte vor den Gerichten ausgetragen werden, und das hat Folgen: Die Urteile werden voneinander divergieren, der Ruf nach Einheitlichkeit wird laut, all diese Unsicherheiten führen zu parlamentarischen Reaktionen, dann zu gesetzlichen Regelungen und schließlich zu immer sicherer werdenden Urteilen.

6.5.16. Verfahren bei der Verteilung sozialer Güter

Im Bereich der sozialen Systeme gelten alle diese Regeln nur mit erheblichen Veränderungen. Hier gibt es viel freies Ermessen, das es erlaubt, die Verteilung einmal so und einmal anders vorzunehmen. Die Logik ist nicht mehr zwingend, mit der Folge, dass auch der Begriff an Schärfe verliert.

Die Auffassung, jemand habe einen rechtlich durchsetzbaren Anspruch auf soziale Güter, ja, er könne sie sogar gerichtlich durchsetzen, ist in Deutschland erst in den Sechzigerjahren selbstverständlich geworden. In anderen Ländern herrscht noch heute eine weit größere Beliebigkeit nicht zuletzt in den Ermessensspielräumen, die hier auch breit genug sein müssen, damit die Verwaltung funktionieren kann. Auch an die Tatsachenermittlung, die Öffentlichkeit von Verfahren oder das Controlling können nicht die gleichen Ansprüche gestellt werden, wie sie bei Rechtssystemen berechtigt sind.

6.5.17. Verfahren im Bereich der Politik

Politische Entscheidungen finden im Rahmen von Institutionen (Parlamenten, Ausschüssen, Wahlen et cetera) in den dort festgesetzten und häufig von der Verfassung vorgegebenen Verfahren statt. Diese Verfahren dienen der Verteilung von Macht und dem Ausgleich von Machtdifferenzen. Schon daraus ergibt sich, dass nur Kernbestandteile der Fairness eine Rolle spielen können. Der Gleichheitssatz kann nur formal gelten (z. B. durch die Einrichtung einer Frauenquote), und trotzdem sehen wir im Bereich der Politik ein seltsames Paradox: Nirgendwo wird mehr Gerechtigkeit gefordert als gerade hier und ist weniger davon praktisch möglich.

6.5.18. Das Verfahren der Rechtsgewinnung

Die Umsetzung dieser einzelnen Elemente in einem geordneten prozessualen Ablauf ist in den jeweiligen Rechtssystemen sehr unterschiedlich gestaltet. In den USA ist sehr oft eine Art Beweisermittlungsverfahren vorgeschrieben, in dem die Parteien den Prozessstoff unter Aufsicht des Gerichts zusammentragen müssen, bei uns wird erwartet, dass schon die ersten Schriftsätze alles Relevante vollständig ausbreiten. Jedes Verfahren hat dabei tragende Elemente, die wir in jedem Rechtssystem finden. Arthur Kaufmann hat festgestellt, dass es in jedem Fall vier Phasen gibt:275

  • Zunächst werden die Tatsachen ermittelt und eine Hypothese aufgestellt, welche denkbaren Alternativen ein Urteil annehmen kann (z. B. Verurteilung oder Freispruch: Abduktion).
  • Nun werden Gesetze, Präjudizien, Auslegungsgrundsätze et cetera zusammengetragen, die zu den jeweiligen Alternativen passen (Ermittlung der Norm: Induktion).
  • Dann wird der Fall mit den denkbaren Entscheidungsalternativen verglichen (Analogie).
  • Und schließlich werden diese Erkenntnisse wieder in der logischen Frage zusammengeführt, aus welcher Tatsache sich welche Alternative und welche Norm – und damit eine bestimmte Entscheidung ergibt (Subsumtion/Deduktion).

Die ersten beiden Schritte folgen den Gesetzen der Logik mit mehr oder weniger »problematischen« Ergebnissen, sind aber keinesfalls frei von Gefühlen, denn ob man eine Tatsache für erwiesen oder widerlegt hält, setzt eine Entscheidung voraus, die sich dem Einfluss des Gefühls nicht entziehen kann. Die Prozessordnungen sorgen bewusst dafür, Einbruchstellen für die Gefühle zu sichern. Zwei Beispiele:

  • Im Strafprozess hat der Angeklagte das letzte Wort, eine überragende Chance, den Richtern sein persönliches Schicksal vor Augen zu führen und sie damit zu beeindrucken.
  • Testamente, die in allen möglichen freien und strengen Formen abgefasst werden können, sind immer so auszulegen, dass der Wille des Sterbenden, so wie er ihn in seinen letzten Stunden zum Ausdruck gebracht hat, sich gegenüber anderen Interessen durchsetzen kann,276 auch wenn er unlogisch oder unfair erscheint.

6.5.19. Analogie ist unlogisch

Noch stärker ist der Einfluss der Emotionen in der Phase der Analogie, die jeder rechtlichen Entscheidung in der dritten Phase zugrunde liegt. Sie besteht aus dem Vergleich zweier (oder mehrerer) Sachverhalte und/oder Ideen, die man mit einem vereinbarten Maßstab (z. B. einem gültigen Präjudiz) vergleichen und dann als mehr oder weniger identisch bezeichnen kann. Logisch gesehen ist sie ein Zirkelschluss, denn von entscheidender Bedeutung sind die Gefühle der Beteiligten, die sich bei der Arbeit am Vergleich entwickeln.277 Sie geben letztlich den Ausschlag dafür, ob man den einen Sachverhalt im Verhältnis zu einem anderen als gleich oder ungleich bezeichnet. Man kann keinen Fall einfach »fotografieren«, er kann unendlich viele Dimensionen haben und so entstehen auch bei relativ übersichtlichen Situationen Bilder von großer Komplexität. Urteile entstehen in einem Meer von Zweifeln, die nicht logisch, sondern nur emotional überwunden und in die Überzeugung des Richters verwandelt werden können. Die Analogie enthält auch starke ästhetische Elemente: Die ausgewogenen Schalen der Gerechtigkeit bilden ein symmetrisches Bild, an dem wir uns unbewusst stets orientieren. Die Gefahr dabei: Ein Richter darf nicht in einer emotionalen Falle stecken bleiben, wie es den meisten Menschen ergeht, die versuchen, einen Konflikt außerhalb eines rechtlichen Systems zu entscheiden.

Um die Gefahr in den Griff zu bekommen, schließt sich die vierte Phase an, in der das Ergebnis, zu dem sein Rechtsgefühl den Richter drängt, wieder an Maßstäben gemessen werden muss, die den Gesetzen der Logik standhalten müssen. Erst in diesem vierten Schritt, der Subsumtion/Deduktion, werden die Erkenntnisse aus den früheren drei Stufen mit logischen Mitteln wieder zusammengeführt.

Betrachten wir die entscheidende dritte Phase – die Analogie – etwas genauer. Wir spüren, dass wir mehr über sie wissen sollten, begreifen aber auch, dass unsere Werkzeuge uns dabei nicht helfen können. Karl Engisch278 sprach anschaulich vom »hin- und herwandernden Blick«, also dem schrittweisen Versuch, Regel und Fall in immer weiteren Details miteinander in Beziehung zu setzen. Dieses Verfahren folgt den Gesetzen des Wissens, aber nicht ihnen allein, sondern auch den Gesetzen der Erfahrung und der Ästhetik. In dieser Phase wird ein Verstoß gegen die Logik nicht deshalb berücksichtigt, weil er gegen die Denkgesetze verstößt, sondern weil das Gefühl sich dagegen wehrt. Der Richter muss nicht nur die »Anstrengung des Begriffs« (Hegel) aushalten, sondern auch »die Erziehung des Gefühls« (Flaubert) verarbeiten – Anwälte haben es in beiderlei Hinsicht leichter.

Das ist der Kern des Rechtsgewinnungsverfahrens. Dieser Kern entwickelt sich aus einem Zusammenspiel der bis dahin gewonnenen logischen Erkenntnisse und dem Gefühl dafür, ob der Fall, der zu entscheiden ist, demjenigen gleicht, den das Gesetz im Auge gehabt hat, oder so ähnlich schon einmal unter anderen Umständen entschieden worden ist. Hier berühren sich Recht und Macht unmittelbar: Die Möglichkeit zu behaupten, ein Gegenstand sei einem anderen gleich oder ungleich, hängt von den Machtverhältnissen ab279 (manche sind gleicher als andere – George Orwell). Robert Gernhardt280 zeigt die Probleme:

DAS GLEICHNIS
Wie wenn da einer, und er hielte
ein frühgereiftes Kind, das schielte,
hoch in den Himmel und er bäte:
»Du hörst jetzt auf den Namen Käthe!« –
Wär’ dieser nicht dem Elch vergleichbar,
der tief im Sumpf und unerreichbar
nach Wurzeln, Halmen, Stauden sucht
und dabei stumm den Tag verflucht,
an dem er dieser Erde Licht …
Nein? Nicht vergleichbar? Na, dann nicht!

Die Analogie ist auch das Feld, auf dem sich Ästhetik und Moral miteinander verbinden: Man braucht einen Blick für ästhetische Zusammenhänge, um festzustellen, ob ein Fall oder eine Alternative einer anderen gleicht, und man muss seine ganze moralische Kraft aufwenden, um diesen Vergleich unbefangen und unbeeinflusst von den Machtverhältnissen vorzunehmen. Das gelingt nur, wenn ein Richter die innere Größe hat, sein Urteil so zu fassen, dass er es auch gegen seine eigenen Interessen akzeptieren müsste, wenn er Partei wäre. Wie eine jüngere Studie zeigt, stellen 47 % der Richter sich diese Frage, und 30 % schließen nicht aus, dass sie unbewusst von ihr bewegt werden.281 Nicht nur die Gesetze, auch die Urteile müssen »hinter dem Schleier des Nichtwissens« geschrieben werden. John Rawls Formulierung findet hier ein wichtiges Anwendungsfeld: Ein Richter, der selbst Mieter ist, muss die moralische Stärke aufbringen, sich bei seiner Entscheidung über die Klage des Mieters nicht mehr mit ihm zu identifizieren als mit dem Vermieter. Rudolf Gerhardt u. a. zeigen in ihrer Studie auch, dass 70 % der Richter gelegentlich eine Divergenz wahrnehmen zwischen dem Urteil, das sie nach Recht und Gesetz sprechen müssen, und ihrem eigenen Rechtsempfinden. Sie haben aber keine Chance, dieses Problem »wissenschaftlich« zu lösen, weil es in jedem Einzelfall in anderem Gewand erscheint.

Schon heute kann man mit Programmen, die näher an der Oberfläche liegen (Fuzzy-Logic), auch Abläufe abbilden, die nicht streng an der Logik haften müssen. Aber die entscheidende Frage ist, wie viele Parameter man erfassen muss, um zwei Fälle miteinander vergleichen zu können. Wird das Gefühl – das ein Computer (noch) nicht abbilden kann – im Verfahren der Rechtsgewinnung als wirksames Element anerkannt, wird es sich seiner Ergebnisse immer sicherer: Der Blick des Richters wandert zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen, von der Logik zur Analogie, von den Tatsachen zu den Meinungen. Nur das Gefühl wird dem Richter die Richtung zeigen können, wenn die Entscheidung auf Messers Schneide steht. Unsere Verfahrensordnungen sorgen dafür, dass diese Einbruchsstellen immer offen gehalten werden: Im Plädoyer des Anwalts (das es auch in Zivilverfahren gibt) und dem letzten Wort des Angeklagten werden sie am Schluss des Verfahrens genutzt, genau an jener Schnittstelle, an der Logik und Gefühl zusammenfließen müssen.

Die entscheidende Rolle der Gefühle im Rechtssystem sieht man am Recht des Angeklagten, das letzte Wort zu sprechen. Wenn alle Tatsachen auf dem Tisch liegen und alle Argumente ausgetauscht sind, kann er mit seinen Worten als Letzter an das Gefühl der Richter appellieren, die sich dann zur Beratung zurückziehen. Sie sollen das letzte Wort als letzten Eindruck in die Beratung mitnehmen. In diese Beratung treten sie stets mit gemischten Gefühlen und werden sich oft nicht einigen können. Dann wird das Urteil nur durch Abstimmung ermittelt – der beste Beweis, dass Gerechtigkeit nur einen relativen Wert darstellt.

Als Anwalt und später als Schiedsrichter habe ich – wie jeder von uns – in jeder Phase des Verfahrens gespürt, dass Recht nicht nur aus System und Logik besteht. Der Richter ist kein gefühlloser Entscheidungsautomat, wie manche Leute ihn sich vorstellen. Jede der Reportagen, die sich in diesem Buch finden, belegt das. Heute können wir uns mit der Bedeutung der Gefühle, die unsere Entscheidungen lenken, beschäftigen, weil wir sie experimentell erforschen.

6.5.20. Die Inhalte der Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist ein relativer Begriff

Gerechtigkeit entsteht durch Entscheidungen, die getroffen werden müssen und die deshalb den unvermeidbaren Begrenzungen und Irrtümern unterliegen, die die jeweiligen Rahmenbedingungen von Raum, Zeit, Kultur et cetera ihnen setzen. Sie entsteht nicht organisch (sie ist kein Teil der Natur), wir versuchen vielmehr sie in bestimmten Verfahren zu erreichen, deren Ausgang nichts darüber besagt, ob wir das Ziel wirklich getroffen haben: Wird gegen ein falsches Urteil kein Rechtsmittel ergriffen, kann man die Fehler der letzten Instanz nicht mehr korrigieren, oder versteht das Gericht den Fall nicht, kann es kein »richtiges« Urteil sprechen.282 Fehlurteile gefährden aber die Gerechtigkeit nicht, denn wir halten uns immer innerhalb eines Systems von Versuch und Irrtum auf.

Deshalb können wir in den Verfahren, die wir einrichten, Fehler und Widersprüche nicht vermeiden. Im naiven Verständnis der Gerechtigkeit hingegen bewertet jeder eine bestimmte Entscheidung nach seinen eigenen absoluten Wertmaßstäben, ohne sich die Mühe zu machen, auch die Positionen der anderen Beteiligten zu ermitteln und in ihrer jeweiligen Subjektivität zu verstehen. Ob ein Ergebnis gerecht ist, hängt aber wesentlich davon ab, wie es in den Augen aller beteiligten Betrachter gespiegelt wird. Das bedeutet keinen Zwang zu Kompromissen, wohl aber gespannte Aufmerksamkeit für alle relevanten Perspektiven und die moralische Fähigkeit, Ergebnisse zu akzeptieren, die man nicht teilt.

Es ist für uns nicht schwer, zu akzeptieren, dass in früheren Zeiten andere Auffassungen von Gerechtigkeit geherrscht haben, als es heute der Fall ist. Majestätsbeleidigung und Homosexualität sind heute nur noch in wenigen Ländern strafbar, offenbar bewegen die Systeme sich aufeinander zu. Deshalb ist es schwierig, zu akzeptieren, dass nicht schon heute (geschweige denn in der Zukunft) weltweit einheitliche Auffassungen über den Inhalt der Gerechtigkeit erreicht werden können: Sind wir uns nicht alle einig, dass es keine Folter mehr geben kann oder dass man die Todesstrafe – wenn es sie denn gibt – wenigstens human vollstrecken soll?

Bevor diese Fragen in den Rechtssystemen beantwortet werden, müssen sie politische Prozesse durchlaufen und die Gesetze müssen in den meisten Fällen verfassungsrechtlichen Maßstäben genügen. Die Bandbreite, in der sie sich entfalten können, ist absolut und ausschließlich von den Machtverhältnissen abhängig, die zum Zeitpunkt der Entscheidung herrschen. Wer sie ändern will, muss die Machtverhältnisse ändern, und wer das tun will, muss Krieg entfesseln. Tatsächlich geschieht das gelegentlich (Libyen 2011; Mali 2013), und ebenso auffällig ist, dass es in anderen Fällen (Syrien 2012) nicht geschieht. Wenn wir unseren Blick nicht nur über einige Kernländer Europas, sondern weltweit schweifen lassen, liegt die Antwort auf der Hand: Es gibt keine einheitlichen Regeln. Und wenn es sie gibt, werden sie unterschiedlich praktiziert: Indische Anwälte haben sich 2013 geweigert, Vergewaltiger zu verteidigen, weil die Tat, die mit dem Tod des Opfers endete, so unvorstellbar grausam sei, dass die Täter keine Verteidigung verdienten (um die Verteidigung von Saddam Hussein bewarben sich über 1000 Anwälte!).

6.5.21. Inhaltliche Regeln

Die inhaltlichen Regeln bestehen im Kern aus der Forderung: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde« (Immanuel Kant). Aus diesem Grundsatz lassen sich weitere Details entwickeln:

  • Der Inhalt jeder Entscheidung muss »hinter dem Schleier des Nichtwissens« getroffen werden, er darf nicht den konkreten Interessen dessen nützen, der entscheidet.
  • Alle erkennbaren und relevanten Interessen müssen berücksichtigt oder begründet verworfen werden.
  • Die Interessen des Einzelnen sind gegen die Interessen anderer und die Rechtssicherheit abzuwägen, aber: Die Würde jedes einzelnen Menschen ist unantastbar.
  • Gleiches muss gleich, Ungleiches ungleich behandelt werden: Was aber »gleich« oder »ungleich« ist, bestimmt sich – wie bei den Verfahrensregeln – nach der Spiegelung der Perspektiven aller Beteiligten gegeneinander.
  • Gleichheit und Freiheit müssen in einem ausgewogenen Verhältnis stehen.
  • Wer Schaden verursacht hat, muss ihn – differenziert nach bloßer Gefährdung und der Art des Verschuldens – ausgleichen.
  • Wer etwas haben will, muss etwas zurückgeben, zu dem er fähig ist (das Grundgesetz unseres sozialen Zusammenlebens).

Dieser Katalog ist kleiner als jener, der die Verfahren betrifft, und auch er legt keine bestimmte Lösung fest. So hilft etwa die abstrakte Formel »Jedem das seine« nicht weiter, wie schon Hans Kelsen erkannt hat, der sie als inhaltsleer bezeichnete. Deshalb finden wir sie nicht nur im Gleichnis vom Weinberg, sondern auch auf den Toren der Konzentrationslager.

Gerechtigkeit ist immer das (relative) Produkt eines Spannungsverhältnisses zwischen den Interessen eines Einzelnen (oder einer Gruppe) und den Interessen anderer Einzelner (oder Gruppen). Sie beschreibt eine Machtdifferenz, was manchmal gelingt und manchmal misslingt. Deshalb ist jeder der hier genannten Begriffe nur innerhalb seines konkreten politischen/kulturellen/sozialen et cetera Umfelds durch Menschen zu definieren, die die Macht haben, über den Konflikt zu entscheiden (der menschliche Faktor). Die jeweiligen Kriterien, die die Prinzipien ausfüllen sollen, ändern sich abhängig von den jeweiligen kulturellen Rahmenbedingungen und Machtverhältnissen. Der Einzelne will »sein« Recht (Einzelfallgerechtigkeit), die Allgemeinheit kann es ihm aber nur auf einem Niveau geben, das für alle gleich ist und mit hoher Wahrscheinlichkeit stabil bleiben wird (Rechtssicherheit); oder: Wer versucht, so tolerant zu sein, dass er auch den Angriff auf die Toleranz hinnimmt, wird alles verlieren (das Paradox der Freiheit283). Und schließlich: Strafe muss im Verhältnis zur Schwere der Tat stehen, aber diese Regel kann uns heute nicht mehr zum Talionsprinzip führen (»Auge um Auge, Zahn um Zahn«).

Man sucht bis heute immer wieder nach einer »Grundnorm« (Kelsen), die alle Fallgestaltungen abstrakt erfassen könnte, aber man kann sie nicht finden, weil die Machtverhältnisse, die die kulturellen und sozialen Maßstäbe bestimmen, sich ständig ändern. Sind z. B. die Ressourcen in den Händen weniger, die Monopole bilden können, dann findet der Kampf um die Monopole vielleicht nur zwischen ihnen statt (der Kampf der Oligarchen), sind die Güter breit verteilt, geht es um soziale Konzepte, das richtige Verhalten im Wettbewerb usw. Die Zeit und die Kultur, in der wir leben, stellen immer neue Fragen. Popper ist mit seinem Satz »Alles Leben ist Problemlösen« auf der richtigen Fährte.284 Trotzdem haben wir die Chance, innerhalb bestimmter Bandbreiten die Gerechtigkeit zu finden, denn wir können abstrakte inhaltliche Regeln aufstellen, die uns dabei helfen werden, im konkreten Fall ein richtiges Ergebnis zu finden.

Diese Macht kann nur durch faire Verfahren eingegrenzt und gelenkt werden. Auf diese Weise sind Inhalt und Verfahren engstens miteinander verbunden. Unsere Überlegungen führen zu folgender Definition:

Gerechtigkeit ist die faire Chance, Konflikte in einem ergebnisoffenen und überprüfbaren Verfahren so zu lösen und das Ergebnis durchzusetzen, dass es von den Beteiligten jedenfalls dann anerkannt werden kann, wenn sie fähig sind, es auch aus der Perspektive der anderen zu betrachten.

Diese Definition legt im Unterschied zu anderen Versionen besonderen Wert auf einen Punkt: Eine gerechte Entscheidung kann man nur treffen, wenn man sich bewusst ist, dass die eigene Sicht auf die Dinge sich von derjenigen anderer nahezu in jeder Hinsicht unterscheiden kann. Man muss wissen, dass diese Widersprüche nicht auflösbar sind, braucht aber gleichzeitig die moralische Stärke, andere Perspektiven nicht zu verachten und die eigenen Entscheidungen immer wieder an ihnen zu messen und mit ihnen zu vergleichen. Auch wer nur innerhalb des Systems, in dem er sich befindet, entscheiden kann, muss es von außen betrachten können.

6.5.22. Fairness

Der zentrale Begriff der Definition beruht auf dem Begriff der Fairness.285 John Rawls sah ihren Dreh- und Angelpunkt darin, dass alle Entscheidungen nur mit einem »Schleier des Nichtwissens« vor Augen getroffen werden sollten, der es verhinderte, die Auswirkungen der Entscheidung auf die eigenen Interessen wahrzunehmen. Diese Grundidee wirkt sich aus der Perspektive eines Gesetzgebers, der in die Zukunft blickt, anders aus als aus der Perspektive des Richters, der zurückblickt. Der Richter kennt zwar nicht die absolute, wohl aber die prozessuale Wahrheit, und seine moralische Anstrengung besteht im Wesentlichen darin, die Unabhängigkeit seines Blicks zu sichern, soweit deren Gefährdung ihm bewusst wird. Wie so viele Begriffe, die wir im Umfeld der Gerechtigkeit finden – so vor allem die Gleichheit und die Ungleichheit – ist auch die Fairness eine Konstruktion, die in sich leerläuft, wenn man versucht, sie mit abstrakten Begriffen zu fassen. Nur der konkrete Weg ist gangbar und er ist sehr komplex: Die Gerechtigkeit hat nur dann eine faire Chance, wenn die Entscheidung über einen konkreten Konflikt anhand der Maßstäbe für Inhalt und Verfahren entwickelt wird, die oben skizziert worden sind. Das kann sehr schwierig werden, denn der Weg zur Gerechtigkeit ist mit Widersprüchen gepflastert, die wir in den beiden Katalogen über Verfahren und Inhalte auf den ersten Blick entdecken. (Wurde rechtliches Gehör gegeben? Ist die Strafe angemessen?) In einigen Fällen kann man sie auflösen, in anderen muss man sie wie den Gordischen Knoten durchschlagen. Ebenso wie das Geld ist die Gerechtigkeit ein Maßstab für Wertdifferenzen. Sie ist eine soziale Währung, deren Verteilung die einen als richtig, die anderen als falsch beurteilen und empfinden. Er setzt sich aus vielen einzelnen Werten zusammen, die jeder nach Absolutheit streben und deshalb ständig von der »Tyrannei der Werte«286 bedroht sind.

6.5.23. Gleichheit und Schönheit kunstvoll abwägen

Vielen Sprachen (so dem Englischen) fehlt ein Begriff für »Recht«, aber die Begriffe »Gerechtigkeit« (justice) und »Gesetz« (law) sind stets vorhanden. Bei dem australischen Jägervolk der Walbiri spricht man von dem »geraden« oder »richtigen Weg«287, bei den Römern von der »Kunst des Ausgewogenen und Guten« (ars aequi et boni)288, in modernen Terminologien von Fairness289. Was ist da auszuwiegen, wie trennt man Gut und Böse, wie unterscheidet man gerade und ungerade? Seit den frühesten Anfängen, in denen Aristoteles versuchte, in seiner Ethik geeignete Formen zu finden, sind zwar immer neue Begriffe entstanden, aber sie alle erschöpfen sich letztlich darin, die Auffassungen wiederzugeben, die in dem jeweiligen Raum, der Zeit und den kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen, unter denen man sie definiert, allgemein anerkannt werden. Nur, wenn wir sie finden, hat die Gerechtigkeit eine Chance, sich zu entfalten.

6.5.24. Gleichheit

Die wichtigste Voraussetzung dazu ist die Fähigkeit, Gleiches vom Ungleichen zu unterscheiden. Wir erwerben sie mit sehr wenigen Ausnahmen bereits in der frühen Kindheit, wie der Psychologe Jean Piaget nachgewiesen hat290. Nur so ist es erklärbar, dass wir uns relativ einfach über die Begriffe einigen können, mit denen wir Gerechtigkeit beschreiben wollen (auch wenn die Inhalte, die damit gemeint sind, sehr unterschiedlich sein können). Die Ausgewogenheit unserer Beziehungen zueinander ist gleichzeitig ein soziales Grundgesetz: Die ethnologische Forschung291 konnte zeigen, dass ein gleichgewichtiges Geben und Nehmen für den sozialen Zusammenhalt einer Gruppe so wichtig ist, dass es als Ritual sogar dann gepflegt wird, wenn beide Seiten bei dem Austausch weder etwas zu gewinnen noch zu verlieren haben. Die Sozialpsychologie292 hat innerhalb ihrer Suchraster das Gleiche gefunden. Das Problem ist allerdings: Jeder Mensch hat seinen eigenen Maßstab für Gleichheit oder Ungleichheit und muss ihn mit anderen Menschen abstimmen. Die jüngere neurobiologische Forschung lässt vermuten, dass wir – anders als die Primaten – schon in den ersten Lebensmonaten die Fähigkeit dazu entwickeln.293 Damit ist zweierlei gemeint:

  • Wir tauschen im Alltag unendlich oft alle möglichen Gegenstände (Sachen, Informationen et cetera), ohne jedes Mal einen Rechenvorgang darüber anzustellen, ob uns das nutzt oder schadet. Allein der Abschluss dieser unsichtbaren Verträge ist emotional befriedigend,
  • wenn nur alle Beteiligten darauf achten, dass das Grundgesetz der Gleichheit nicht verletzt wird.

Der Vorgang des Austausches und das Gefühl von Gleichheit/Ungleichheit hängen also eng miteinander zusammen. Vielleicht beruht das auf einem genetischen Quantensprung im Verhältnis zu Tieren, der uns die mentalen und emotionalen Fähigkeiten verleiht, Zusammenhänge über den Augenblick hinaus zu erkennen. Menschen können Hoffnung auf Gegenleistung entwickeln und haben die Fähigkeit, die Lusterfüllung hinauszuschieben, gewiss verstärkt (oder allein verursacht) durch die Interaktionen mit anderen Menschen.

Aus solchen einfachen Anfängen haben sich unendlich komplexe Formen des Gebens und Nehmens entwickelt, ohne die das moderne Wirtschaftssystem nicht aktionsfähig wäre. Ihr tragendes Gerüst sind die Verträge, mit denen man entweder Leistungen aller Art austauscht (Austauschverträge) oder in denen man sich zur Erreichung bestimmter Ziele zusammenschließt (Gesellschaftsverträge), was wiederum voraussetzt, dass (intern) gleichartige Beiträge ausgetauscht werden. Verträge haben das Ziel, die Beteiligten zu binden, einseitige Entscheidungen zu verhindern, die das Ziel des Austausches oder der gemeinsamen Anstrengung etwa gefährden könnten, vereinbarte Beiträge zu erzwingen, Sanktionen zu ermitteln usw.

Im Lauf der Jahrtausende sind eine Reihe von Formeln entstanden, in deren Zentrum die Forderung nach gleicher Beurteilung vergleichbarer Sachverhalte steht. Versucht man, sie abstrakt (z. B. allein nach logischen Regeln) zu lösen, entstehen nichts als Zirkelschlüsse. Das Ziel der Gleichheit hat ein natürliches Spannungsverhältnis zu dem der Freiheit. Die naive Hoffnung der Französischen Revolution, man könne beides gleichzeitig haben, ist durch Erfahrung widerlegt. Man muss lernen, beide Werte in der jeweiligen Situation in ein angemessenes Verhältnis zu bringen.294 Dasselbe gilt für das Verhältnis von der Gerechtigkeit im Einzelfall und der Rechtssicherheit. Gerechtigkeitsfanatiker295 vermögen es schwer einzusehen, dass eine verpasste Berufungsfrist auch einen berechtigten Anspruch vernichtet. Wäre es anders, könnte man kein Verfahren mehr planen – aber wir brauchen diese Planungssicherheit, um die Gerechtigkeit im Einzelfall realisieren zu können.

6.5.25. Schönheit und Glück

Die römische Definition (ars aequi et boni) zeigt uns zwei weitere Aspekte des Begriffs der Gerechtigkeit: Mit den Begriffen »angemessen und gut« werden auch Ästhetik und Moral miteinander verknüpft, und im Begriff der Kunst (ars) verbinden sich Logik und Gefühl, weil Inhalt und Form miteinander in Beziehung treten. Ihr Mischungsverhältnis ist für die einzelnen Anwendungsfelder der Gerechtigkeit sehr unterschiedlich, aber – wie wir sehen werden – für ihren Inhalt von ausschlaggebender Bedeutung. Recht hat seine eigene Ästhetik (die Ausgewogenheit), aber es ist nicht die einzige, die uns beeindrucken kann. Das Gleichmaß ist die Ordnung des Rechts, die in andere Ordnungen eingreift und sie unplanbar verändert und verletzt. Auch ein Müllhaufen hat eine Ordnung, er hat eine Ästhetik (wie die moderne Kunst entdeckt hat), die nicht unbedingt dadurch besser wird, dass man sie verändert. Seit vielen Jahrhunderten sind wir dabei, die Natur aufzuräumen, und jetzt stellen wir fest, dass man die Schäden, die dabei entstanden sind, kaum mehr in den Griff bekommt: »Durch Nichthandeln bleibt nichts ungeordnet.«

Eine faire Entscheidung, ein gerechtes Urteil kann sogar den glücklich machen, der verloren hat, wenn er die Fähigkeit besitzt, den Wert des Urteils gleichwohl zu akzeptieren (ein sehr seltener Fall). Vorbildlich ist Hans im Glück, der in immer wieder neuen Entscheidungen alles verlor, um erst so Zufriedenheit zu finden. Recht allein macht nicht glücklich.

6.5.26. Abwägen: Recht und Ordnung

Die Interessen aller erkennbar Beteiligten abzuwägen bedeutet nicht, dass nur Kompromissformeln gerecht sind. Es kann sein, dass ein Einzelinteresse alle anderen so deutlich überragt, dass andere Interessen (auch die des Staates) zurücktreten müssen. Diese Abwägung gelingt umso besser, je mehr sie in unseren politischen, kulturellen und sozialen Systemen bereits als notwendiger Standard begriffen und nicht der jeweiligen Entscheidung des Einzelnen überlassen wird. Der Erlass von Gesetzen durch Parlamente oder der Schutz des Eigentums ist in den meisten Gesellschaften selbstverständlich, dort wird man nur noch über die Gestaltung solcher Institutionen streiten. Unter anderen Verhältnissen wird man erst die Basis legen müssen. Jede Lösung, die das Spannungsverhältnis zwischen einem Einzelnen und den anderen stabil lösen will, muss nach einem Interessenausgleich zwischen ihnen suchen, der von den Beteiligten auch dann anerkannt wird, wenn er sich gegen sie richtet. Dieses Anerkenntnis ist nur möglich, wenn jemand mit einer Beschränkung seiner Macht einverstanden ist. Der Schwache muss ebenso wie der Starke das Verfahren und das Ergebnis akzeptieren. Diese Zusammenhänge sind schwer zu verstehen. Man verwechselt die Suche nach der Gerechtigkeit oft mit religiösen Ansprüchen oder ähnlichen Ideen, die Absolutheitsansprüche definieren.

6.5.27. Politische Korrektheit

Noch häufiger allerdings werden ihre Begriffe benutzt, um dahinter die Willkür zu verstecken. Die früheren Ostblockstaaten verfügen heute alle über moderne Rechtssysteme, die sie aus anderen Ländern importiert haben. Sie benutzen alle Begriffe, die wir für politisch korrekt halten, aber ignorieren deren Widersprüche, anstatt mit ihnen zu arbeiten: »Den Freunden alles, den Feinden nur das Gesetz« lautet einer der Wahlsprüche der Oligarchen. Gesetze können nichts wert sein, wenn man sie wegen beliebiger anderer Motive ignoriert. Das gilt sogar dann, wenn man nur das Gute will: »Wir haben Gerechtigkeit gesucht, und was wir bekommen haben, ist der Rechtsstaat«, sagt die Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley stellvertretend für alle, die nicht verstehen können, dass Gerechtigkeit nur eine Chance ist und dass man nie wissen wird, ob man sie auch wirklich gefunden hat.

Die »ideale« Entscheidung soll aus naiver Sicht verschiedene Ziele mit einem einzigen Schuss treffen. Man spürt sofort, wie falsch diese Metapher ist, wenn man sich darüber im klaren ist, dass viele Ziele in genau gegensätzlichen Richtungen liegen. Richtig ist stattdessen die Vorstellung, dass jemand, der die Gerechtigkeit jagen wollte, nichts treffen kann, was er zuvor nicht angebunden hat. Bei der Suche nach der Gerechtigkeit sind wir Gärtner, nicht Jäger. Deshalb werden wir nie wissen, ob die jeweilige Entscheidung auch wirklich die richtige war. Fairness hat keinen absoluten Inhalt, weil sie von relativen Werten abhängig ist. Urteilen heißt Handeln und nicht nur Denken: Wie immer ein Konflikt entschieden wurde, immer wird jemand sagen können, die Gerechtigkeit sei verfehlt worden. Auch ein falsches Urteil kann die Chancen der Gerechtigkeit erhöhen, solange es öffentlich diskutiert und geändert werden kann. Nur wenn wir uns davon frei machen, die Suche nach der Gerechtigkeit mit moralischen Vorwürfen zu verbinden, sondern lernen, in Chancen und Risiken zu denken, vermeiden wir ewigen Rekurs.

6.5.28. Vertragsgerechtigkeit

Gelegentlich ist von Vertragsgerechtigkeit die Rede. Man meint damit, dass auch Verträge, mit denen stets unterschiedliche Interessen der Beteiligten ohne Hilfe staatlicher Institutionen ausgeglichen werden, bestimmte Gerechtigkeitsmaßstäbe einhalten müssen. Die Gesetze des Vertragsrechts kennen solche Maßstäbe (z. B. das Prinzip von Treu und Glauben oder das Wucherverbot). Auch im öffentlichen Recht existieren präzise Vorschriften darüber, wie Verträge gestaltet werden müssen, um ihnen zu entsprechen. Über diesen Kern hinaus hat die Vertragsgerechtigkeit keinen weiteren Inhalt: Unfairness, die die gegebenen Machtdifferenzen nutzt, aber die Grenzen von Treu und Glauben noch nicht verletzt, muss hingenommen werden.

6.5.29. Das Testfeld der Menschenwürde

Versuchen wir, unsere bisherigen Erkenntnisse an dem umstrittenen Problem der Menschenwürde zu testen. Wenn es auch unmöglich ist, ihn in den unterschiedlichsten Kulturen einheitlich zu interpretieren, kann man doch erkennen, ob ein bestimmter Wert jedenfalls als »kleinstes gemeinschaftliches Vielfaches« dazugehört oder nicht. Hält jemand die geltenden Steuersätze für zu hoch, spricht er über ein anderes Problem als über die Todesstrafe! Die subjektive Sicht des Einzelnen ist dabei durchaus relevant: Wenn jemand lieber Folter, Gefangenschaft oder Tod hinnimmt, als eine bestimmte Behandlung zu akzeptieren, kann man annehmen, dass er um seine Menschenwürde – und nicht um geringere Werte – kämpft.296 Das ist ein starkes, aber nur subjektives Indiz dafür, wie wichtig dieser Wert dem Einzelnen ist. Ob das auch auf andere zutrifft, kann nur der Vergleich mit der allgemeinen Auffassung unter den gegebenen Raum-/zeitlichen Bedingungen zeigen. Niemand wird bestreiten, dass Mord, Diebstahl und Beleidigung Strafe verdienen, aber unter welchen Umständen diese Delikte verwirklicht sind, kann man nicht allgemein sagen. Wir können weder abstrakt sagen, ob die Einrichtung der Todesstrafe gegen die Menschenwürde verstößt oder nicht, aber dort, wo sie eingerichtet ist, muss diese Einrichtung sich mit den Grundwerten der Gesellschaft decken und darf sich nicht allein aus zufälligen Machtverhältnissen herleiten. Da sie in vielen Staaten im Westen wie in Asien als angemessene Strafe betrachtet wird, ist sie für sich genommen kein Verstoß gegen die Menschenwürde. Auch die Frage, ob Drohung mit Folter schon Folter ist, findet keine klar erkennbaren Mehrheiten (nicht einmal in Deutschland). Unter kriegerischen Umständen gelten andere Maßstäbe als im Frieden, und auch die Frage, ob man sich im Krieg befindet und daher das Kriegsrecht anwenden kann (Guantanamo), wird immer auf unterschiedliche Wertungen stoßen.

6.5.30. Inhaltliche Regeln bei der Verteilung sozialer Güter

Der Versuch, eine allgemein akzeptierte »Verteilungsgerechtigkeit« im Bereich der sozialen Systeme zu definieren, ist aussichtslos. Amartya Sen297 hat sich sein Leben lang damit beschäftigt und gewiss alle Faktoren beschrieben, unter denen man eine faire Verteilung wirtschaftlicher Güter vornehmen kann. Im Zentrum seiner Überlegungen steht die Verpflichtung, jedem die Chance zu geben, seine Begabungen wenigstens so weit zu entwickeln, wie dies im Allgemeinen möglich ist: Ein begabter Mensch sollte also in Indien wenigstens Lehrer werden können, im Westen hingegen der Vorstand einer Bank. Man sieht auf den ersten Blick, dass die Entscheidung darüber, wer anderen diese Chance einräumen soll, nur politisch getroffen werden kann und sich nur dann verwirklichen wird, wenn die Machtverhältnisse eine Realisierung zulassen, andernfalls können solche Versuche schon an ihren eigenen Kompromissen ersticken: »Vom Standpunkt rationaler Erkenntnis gibt es nur menschliche Interessen und daher Interessenkonflikte … Wenn sozialer Friede als höchster Wert angenommen wird, mag die Kompromisslösung als gerecht erscheinen. Aber auch die Gerechtigkeit des Friedens ist nur eine relative, keine absolute Gerechtigkeit298

Ganz anders funktioniert es, wenn es um die Verteilung von Gütern in den Sozialsystemen geht:299 Müssen wir nur für eine Gleichheit der Chancen oder auch für eine Gleichheit der Ergebnisse sorgen? Welchen Mindestbetrag müssen Bedürftige, die ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten können, vom Staat erhalten? Welche Mitwirkungsleistungen müssen sie erbringen?300 Wie hoch dürfen Steuern und Subventionen sein? Auch wenn über einzelne dieser Ziele Einigkeit erreicht wird, kann man sie nicht ohne breite Ermessensspielräume für die Verwaltung wirksam durchsetzen. Dadurch werden Beeinträchtigungen des Gleichheitssatzes unvermeidbar: Eine Gesellschaft mag sich dafür entscheiden, nur eine Gleichheit der Chancen zu schaffen, eine andere wird Ergebnisse verteilen wollen. In beiden Fällen müssen geeignete Verfahren eingerichtet sein, um Rechte und Ansprüche zu klären, die erkennbaren Interessen müssen berücksichtigt werden, es muss Gleichheit herrschen usw. und schließlich: Das Gesetz vom Geben und Nehmen ist überall unverzichtbar, aber es darf nicht durch Machtmonopole (Mafia) in sein Gegenteil verkehrt werden.

6.5.31. Gerechtigkeit in der Politik

Politik ist das Handwerk der Machtverteilung. Sie folgt anderen Regeln als die Gerechtigkeit, deren Kern aus der Begrenzung der Macht besteht. Hier wird um die Macht gekämpft und nicht um die Gerechtigkeit, auch wenn alle Kombattanten ihre Ziele aus ihrer Sicht als gerecht bezeichnen: Sie benutzen die Begriffe des Rechts zur Tarnung politischer Absichten, was schon auf den ersten Blick daran zu erkennen ist, dass sie sich niemals der Beurteilung eines neutralen Dritten unterwerfen würden. Unter welchen Umständen politische Entscheidungen an den Regeln der Fairness gemessen werden dürfen, ist äußerst umstritten: Deshalb darf auf dem Feld der Politik jeder von jedem anderen behaupten, er habe kein Gefühl für Fairness.

Die Politik ist in ihrem Verhalten im besten Fall an die Grundwerte einer Verfassung gebunden und kann sich selbst dann bei entsprechender Machtverteilung willkürlich verhalten: Wenn sie die Möglichkeit hat, die Verfassungsgerichte zu besetzen, bleiben viele Klagen ergebnislos. In der Politik gibt es keine Gleichbehandlung: In Ägypten wird 2012 Präsident Mubarak verurteilt, in Syrien könnte man den Präsidenten Assad erst verurteilen, wenn man ihn inhaftieren kann. Aus Rebellen werden Präsidenten und umgekehrt. Soll man das Eingreifen der USA und seiner Verbündeten im Irak als Angriff oder Befreiung deuten? Die Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (z. B. Bosnien, Ruanda) werden sich nie auf die USA, Russland oder China erstrecken, weil sie den Gerichtshof nur unter Vorbehalt anerkennen. Ob Völkerrecht mehr als Rhetorik ist, wissen wir nicht sicher.301 Es dürfte kaum eine politische Entscheidung geben, bei der sich nicht alle Beteiligten irgendwann einmal darauf berufen, ihre Position werde durch die Idee der Gerechtigkeit gestützt, die der anderen aber verstoße dagegen. Politik benutzt den Begriff der Gerechtigkeit für ihre machtorientierten Zwecke, mit ihrem Inhalt hat sie nichts zu schaffen.

6.5.32. Gerechtigkeit als Selbstzweck

Man hat den Juristen gelegentlich vorgeworfen, sie hätten den Anspruch, Gerechtigkeit auch dann durchzusetzen, wenn dabei die Welt zu Grunde gehe. Aber so verirrt sind wir nicht: Die landläufige Übersetzung dieses Satzes ist ebenso falsch302 wie die dahinterstehende Behauptung: Unsere Aufgabe ist es, dem jeweiligen Begriff anhand des konkreten Falles eine ausgewogene Form zu geben. So fließen auch Elemente der Ästhetik in das Urteil. Das ist bei kleinen homogenen Gruppen, die immer wieder die gleichen Verfahren benutzen und vergleichbare Wertmaßstäbe haben, relativ einfach und bei interkulturellen Konflikten oft nicht lösbar.

So bleibt als Ergebnis: Wenn wir dem Rechtssystem den einfach erscheinenden Befehl geben »Sei gerecht!«, wird es sich selbst zerstören303, weil es an den Widersprüchen zerbricht, die es mit simplen Begriffen nicht auflösen kann und ferner: Außerhalb des Rechtsstaats mit all seinen Widersprüchen kann man die Gerechtigkeit nicht finden.

6.5.33. Eine Leerstelle: die Seele der Gerechtigkeit

»Die Gerechtigkeit liegt in einem tiefen See, dessen Boden noch niemand erreicht hat«, sagt ein amerikanisches Sprichwort. Die frühesten Philosophen haben über sie nachgedacht und alle ihre wesentlichen Elemente bereits gefunden, aber wenn man die letzten klassischen Texte, etwa Hegels Rechtsphilosophie, zur Hand nimmt, merkt man, dass Theorien über Theorien zwar die Freude des Denkens erhöhen, aber praktisch nur als Sterne am Horizont brauchbar sind, an denen man sich ungefähr orientieren kann: »Theoriebildungen sind immer auch ›Träume‹, ja sie zeigen in ihrer Tendenz zu Analogiebildungen und Identifikationen mit Symbolen sogar Elemente der schizophrenen Obsession304.« Gerechtigkeit muss als Theorie der Praxis verstanden werden. Die Spannung zwischen beiden Ansätzen deutet auf ein tiefer liegendes Problem, das juristische Fachleute nicht allein lösen können: Wenn wir uns vorstellen, die Rahmenbedingungen für Verfahren und Inhalte seien in idealer Weise eingerichtet, könnten wir dadurch die Chancen der Gerechtigkeit nur vergrößern, wir können aber nie garantieren, dass sie sich in jedem Einzelfall verwirklicht.

Einer der großen Fälle der Rechtsgeschichte zeigt uns das: Der schwarze US-Schauspieler O. J. Simpson, der verdächtig war, seine weiße Frau ermordet zu haben, wurde 1995 im Strafverfahren von einer farbigen Jury freigesprochen, im Zivilverfahren über den daraus folgenden Schadensersatz jedoch von einer überwiegend weißen Jury zur Zahlung verurteilt305. Es gibt mit Sicherheit kein Verfahren in der Rechtsgeschichte, das besser dokumentiert wäre als diese beiden: O. J. Simpson war schon vor der Tat als Sportler weltberühmt, sein Versuch, der Verhaftung zu entgehen, lief über alle US-Fernsehsender, das Verfahren wurde im Fernsehen übertragen und ist mit tausenden von Dokumenten im Internet veröffentlicht.306 Der Richter, drei Verteidiger, darunter Alan Dershowitz307, die Staatsanwältin, ein Geschworener und eine Heerschar von Journalisten haben es beschrieben, es wurde im Fernsehen gesendet und doch hat sich bis heute noch keine »Wahrheit« herausgestellt: Gerade erst wird berichtet, der wegen anderer Taten zum Tode Verurteilte Serienmörder Glen Rodgers habe sich selbst der Tat bezichtigt – und die Staatsanwälte wollten es ihm nicht glauben.308

Alle Versuche, in solchen Fällen zum Kern der Sache vorzustoßen, müssen scheitern, denn sie drehen sich wie bei manchen technischen Konstruktionen (Wendeltreppen, Gewinden, Korkenziehern et cetera), um eine leere Mitte. Die Ingenieure nennen sie die »Seele« des Gewindes. Sie ist der unsichtbare archimedische Punkt, an dem das ganze System hängt. Wir können die Gerechtigkeit nur deshalb handhaben, weil wir nur für die Bedingungen ihres Entstehens verantwortlich sind, so wie der Gärtner, der den Garten anlegt, aber die Pflanzen nicht wachsen lassen kann.

Einige Fragen mit unterschiedlichen Antworten:309

  • Dürfen Kruzifixe in Klassenzimmern hängen, auch wenn dort Kinder von Atheisten lernen? (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, NJW 2011, 3755);
  • Muss man Hassprediger Hass predigen lassen, solange sie nicht tätig werden? (Bundesverfassungsgericht, NJW 2005, 3275);
  • Soll man ein entführtes Flugzeug abschießen, um weiteren Schaden zu verhindern? (BVerfG 1 BvR 357/05, NJW 2006, 448)
  • Darf ein Staatsanwalt mit Folter drohen? (Landgericht Frankfurt NJW 2005, 692 – Daschner)
  • Wie weit geht die Sterbehilfe? (BVerfG 2 BvR 1451/01, NStZ-RR 2002, 169)
  • Müssen wir respektieren, dass in einigen Ländern Menschen zu Tode gesteinigt werden? Sollen wir solche Länder überfallen, um die Verhältnisse zu ändern?
  • Ist die Todesstrafe ein Verstoß gegen die Menschenwürde?

Auf jede dieser Fragen gibt es eine ganze Menge möglicher Antworten. Die Idee, mit juristischen Handwerkszeugen könne man die Widersprüche zwischen ihnen auflösen, ist eine Illusion. Gerechte Gesetze, unabhängige Richter und stabile Verfahren können Gerechtigkeit schaffen, ohne sie auch nur zu erwähnen: Die größte deutsche Gesetzessammlung, der Schönfelder, enthält in ihrem Grundwerk den Begriff nicht als Stichwort, wie Herbert Rosendorfer bemerkt hat,310 die Gesetze brauchen ihn nicht, um ihn gleichwohl zu verwirklichen; denn die Gerechtigkeit ist ein philosophischer Begriff, der außerhalb der Systeme verankert werden muss, für deren Konflikte er den Maßstab bilden soll. Die juristische Praxis weiß, dass einer, der »die Rechtslehre als ein Land (betrachtet), in dem die Vernunft ohne Philosophie leben will« (Montesquieu), scheitern muss. Er soll die Frage beantworten: »Was sollen wir tun?«, aber anders als die Moral beschränkt er sich auf Konfliktsituationen, die entschieden werden müssen, wenn das soziale Leben weiter funktionieren soll. Das ist der tiefere Grund, warum es viele richtige Antworten auf die Frage nach der Gerechtigkeit gibt.

6.5.34. Die Rahmenbedingungen der Gerechtigkeit

  • Eine gerechte Entscheidung beruht auf allgemeinen Gesetzen, die Gerechtigkeit ermöglichen, setzt sie oder andere soziale Vereinbarungen in fairen Verfahren und auf faire Weise um und setzt die Ergebnisse durch. In diesen Verfahren entstehen Maßstäbe für unser gesamtes soziales Verhalten vor allem bei der Lösung von Konflikten, der Verteilung von Gütern und politischen Entscheidungen.
  • Entscheidungen sind fair, wenn die Menschen, die sie treffen, einen Sinn für die Ausgewogenheit der Rahmenbedingungen haben, innerhalb deren sie handeln und fähig sind, hinter einem »Schleier des Nichtwissens« eine genügende Distanz zwischen ihren Entscheidungen und ihren Interessen einzuhalten.
  • Der Begriff gibt keine absoluten Inhalte vor. Er ist immer relativ abhängig von den konkreten Rahmenbedingungen (Raum/Zeit/Kultur/Rechtssysteme usw.), in denen er verwendet wird.
  • Er ist aber nicht inhaltsleer: Jede gerechte Entscheidung muss alle zum Zeitpunkt der Entscheidung allgemein für relevant gehaltenen (gegebenenfalls auch ethische) Regeln berücksichtigen, sofern sie sich nicht selbst gegen die Chancen der Gerechtigkeit richten.
  • Entscheidungen müssen Verfahren und Inhalte der vorhandenen Rechtssysteme spiegeln und gleichzeitig von allen Beteiligten als fair, angemessen und in überwiegender Übereinstimmung mit den Grundwerten der Gesellschaft empfunden werden können – auch von denen, gegen die sich die Entscheidung richtet.
  • Wer entscheidet, muss Wissen und Erfahrung haben, die relevanten Interessen aller Beteiligten aufnehmen und unabhängig sein.
  • Die Analogien, die er bildet, erfordern die logische Verbindung abstrakter Sätze mit einem Gefühl für die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit der Tatsachen mit ihnen. Hier liegt das Zentrum der Machtverteilung, denn hier wird über Gleichheit und Ungleichheit entschieden (»Einige sind gleicher als andere« (George Orwell)).
  • Ein gerechtes Ergebnis setzt voraus, dass der Vergleich zwischen den Tatsachen und den theoretischen Modellen gelingt, die den Inhalt der jeweiligen Entscheidung bestimmen.
  • Die ständigen Widersprüche, die zwischen Verfahren, Inhalten und Interessen auftreten, sind unvermeidbar, denn Gerechtigkeit ist gleichzeitig das Gerüst und die Grenze von Recht und Macht.

In diesen Rahmenbedingungen sind die wichtigsten Punkte inhaltlich zusammengefasst, die sich aus den Regeln für Inhalte und Verfahren ergeben. Sie sind ohne Bezug auf die juristische Fachsprache formuliert, so dass sie von jedermann verstanden werden können. Man kann die Fragen, die sie aufwerfen, auch an jedes denkbare Rechtssystem richten. Sie sind sogar dann verwendbar, wenn man die Gerechtigkeitsfrage auf völlig neuen Konfliktebenen stellen muss, die noch nicht (ausreichend) rechtlich geregelt sind. All das bedeutet aber nicht, dass es für jeden einzelnen Konfliktfall immer nur eine Antwort gibt. Denn die Lösung jedes Konflikts muss sich immer wieder durch neue Widersprüche kämpfen und bei vielen Schnittstellen (z. B. beim Ermessen) kann eine Antwort so oder anders ausfallen und doch bei beiden Ergebnissen »richtig« sein. Gerechtigkeit lässt sich nicht auf mathematische Formeln bringen, auch nicht durch noch so ausgefeilte rechtliche Systeme.

7. Nachwort

Benno Heussen, 1986
Benno Heussen, 1986

Nur wenige Menschen, die ständig mit Juristen zu tun haben, gewinnen von ihnen und ihrer Arbeit ein anschauliches Bild. Für die meisten bleibt es unscharf, weil sie ihnen selten begegnen. Filme und Fernsehserien vermitteln Klischees, die mit der Realität wenig zu tun haben. Daher die Idee, einige Bilder aus der Innenwelt des Rechts zu skizzieren und über sie nachzudenken.

Diese Reportagen beruhen ausschließlich auf meiner eigenen Erfahrung, bilden meine berufliche Praxis nicht repräsentativ ab und sind völlig subjektiv (und oft politisch unkorrekt). Jeder anderer Anwalt würde nicht nur die Storys, die ich erzähle, aus einer anderen Perspektive sehen, er würde auch ganz andere Themen für wichtig halten. Vielleicht gibt es deshalb wenige solcher Bücher: Die Memoiren von Max Hachenburg (1927) sind schon alt und sehr allgemein gehalten, Franzen311 und Gritschneder312 haben Anekdotisches geschrieben. Von berühmten Strafverteidigern (Rolf Bossi, Heinrich Hannover, Uwe Wesel, Alan Dershowitz u. a.) kennen wir Fallberichte. Unter ihnen beeindrucken die beiden Novellensammlungen von Ferdinand von Schirach, weil sie keine Sachbücher, sondern literarische Werke sind, auch wenn sie auf Tatsachen beruhen. Dann gibt es Erlebnisberichte mit ironischen Kommentaren (Heinrich Stader313), es gibt auch kurze biografische Abrisse bei Pöllath / Sänger314, aber es fehlt ein mehrdimensionales Bild der anwaltlichen Arbeit im Stil einer Reportage. Ich habe als Assistent eines Einzelanwalts begonnen und war am Ende Partner des größten Beratungskonzerns der Welt – PriceWaterhouseCoopers. So konnte ich Einblick in die unterschiedlichsten Strukturen gewinnen, in denen Anwälte arbeiten. Das Anwaltsmanagement, zu dem ich viel veröffentlicht habe, ist aber nur eine Seite dieser Erfahrungen. Die andere umfasst die Welten, in denen die Mandanten leben, das politische Umfeld, die Machtverhältnisse und viele kulturelle Aspekte, die in unsere Arbeit hineinspielen. All das ist lange her, so vieles hat sich verändert, was nützt es, sich zu erinnern? Man kann die Gegenwart nur verstehen, wenn man die Differenzen begreift, die es zu den früheren Zeiten gibt, denn erst dann schärft man den Blick für die Zukunft.

Obwohl der Schwerpunkt meiner Arbeit seit Jahrzehnten das Recht der Informationstechnologie ist, stammen meine Erfahrungen aus nahezu allen Rechtsgebieten vom Strafrecht bis zum Verfassungsrecht. Im Computerrecht, einer Querschnittsmaterie, spiegelt sich diese Bandbreite: Von dem ersten Computer, den wir 1974 gekauft haben, bis zur Welt des Internet, in der wir heute schweben, habe ich die Entwicklung dieser Industrie und die komplexen Rechtsprobleme, die sie begleiten, täglich hautnah verfolgt. Aber sie haben auch mich verfolgt. Manchmal denke ich ein bisschen wehmütig an meine Lehrzeit bei Sieghart Ott und Otto Gritschneder und die ersten zehn Jahre der Allgemeinpraxis von Heussen Braun von Kessel zurück. Für Ott und Gritschneder war der Ehrgeiz, in allen (allen!) Rechtsgebieten etwas Brauchbares leisten zu können, noch völlig selbstverständlich. Heute würde man das als unverantwortlich bezeichnen, und genau daran kann man erkennen, wie sehr sich das Bild unseres Berufes verändert hat. Es ist spezialisierter, internationaler, vielsprachlich und – auch im Inland – von den unterschiedlichsten kulturellen Einflüssen geprägt.

Viele Storys habe ich bei Gelegenheit meinen Studierenden an der Universität und meinen jungen Kollegen erzählt und dabei auch einen Rückblick auf meine eigene Studienzeit geworfen. Sie sind in erster Linie die Leser, für die ich schreibe, und deshalb erkläre ich manches etwas ausführlicher, was für einen älteren Leser selbstverständlich ist. So wird wohl auch Lesern, die nicht juristisch ausgebildet sind, der Unterschied zwischen Wissen und Erfahrung deutlich – ein roter Faden, um den sich jede Theorie der Praxis entwickeln muss. Meine zentrale These lautet: Es sind die rechtlichen Strukturen, die unsere Gesellschaft zusammenhalten, und die Juristen sind die grauen Eminenzen, die die Regeln der Macht kennen, auch wenn andere den größten Teil der Macht in Händen halten. Unerbittlich halten wir an einer Grundregel fest, die in der Politik, die vom Austausch der Meinungen geprägt wird, wenig Beachtung findet: Wenn wir die Tatsachen nicht kennen, sind gerechte Entscheidungen unmöglich.

Der Blick in die berufliche Innenwelt der Anwälte ist problematisch. Das liegt an der Schweigepflicht, die wir im Interesse unserer Mandanten (vielleicht auch im eigenen Interesse) streng beachten müssen. Ich habe mir bei einigen Kollegen Rat geholt und mich an der Vorgehensweise von Ferdinand von Schirach orientiert:

  • Soweit ich über Erfahrungen mit eigenen Mandaten und/oder Mandanten berichte, sind alle Namen anonymisiert, die Branchen und andere Umgebungsbedingungen ausgetauscht und die Abläufe so verändert, dass das tatsächlich durchgeführte Mandat mit Sicherheit nicht mehr erkennbar ist. Das gilt auch für Fälle, die in der Presse veröffentlicht worden sind.
  • Ereignisse außerhalb von Mandaten entsprechen den Tatsachen; dort sind auch die richtigen Namen handelnder Personen genannt. Sie finden sich im Stichwortverzeichnis.
  • Bewertungen aller Art sind meine persönliche Ansicht und nicht Auffassung der Sozietät, der ich angehöre.

Der Rückgriff auf alte Dokumente, Notizen, Tagebücher und viele Gespräche mit Freunden und Kollegen haben mir gezeigt, dass alle Quellen vieldeutig sind. Selbst mit seinen Erinnerungen steht man immer auf den Schultern der anderen. Das hat mir die ständige Überprüfung meiner Aufzeichnungen anhand des Internet gezeigt. Das SPIEGEL-Archiv und andere wertvolle Quellen kann man kostenlos benutzen, und mein besonderer Dank gilt wie stets allen Quellen, die der Open-Source-Philosophie folgen, darunter vor allem der Deutschen Wikipedia.

Besonderen Dank schulde ich allen, die sich die Zeit genommen haben, um sich das Konzept und einige Kapitel im Entwurf anzusehen. Den größten Anteil hat Helma, der ich oft genug wortlos die Tagesarbeit in der Erwartung auf den Tisch gelegt habe, mir morgens die Korrekturen abholen zu können. Justin von Kessel, Gunther Braun und Rainer Ponschab sahen ihre Archive durch und haben manches Vergessene zu Tage gefördert. Gerhard Pischel und Markus Junker haben sich vertieft mit den fachlichen Kapiteln beschäftigt und mir mit Material aus Quellen geholfen, die mir sonst nicht über den Weg laufen. Und meine Töchter Mirjam und Nina, denen ich einige unterhaltsame Kapitel vorab geschickt habe, behaupteten, sie wollten mehr davon. Jetzt ist es aber genug.

  • 1. Willibald Alexis, Schriftsteller (1798–1871).
  • 2. Der 9. November wird mir langsam unheimlich (1918, 1923, 1938, 1989).
  • 3. Rainer Specht, Brief an Carl Schmitt vom 15. Dezember 1968, cit.n. Mehring, Carl Schmitt: Aufstieg und Fall, C.H. Beck 2009 S. 541.
  • 4. Ulrich Enzensberger, Die Jahre der Kommune I 1967–1969, Goldmann 2006.
  • 5. Jugend in Berlin 1933–43; Pariser Lehrjahre 1951–1954; Journal Intime 1982/83. Rückkehr nach Berlin, alle bei Fischer.
  • 6. Reinhard Mehring, Carl Schmitt: Aufstieg und Fall – eine Biografie, C.H. Beck 2009.
  • 7. Oswalt Kolle begann erst 1968 »Das Wunder der Liebe« zu besingen.
  • 8. 1972: »Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten.«
  • 9. 2012: Auf etwa 65 Einwohner in Freiburg kommt ein Anwalt, in München sind es 67 (!), in Berlin 307, und im deutschen Durchschnitt müssen sich etwa 550 Menschen einen Anwalt teilen.
  • 10. Ich zitiere diesen Satz, weil er einen ganzen Prozess ausgelöst hat: Die Erben des Dichters verboten der Stadt, ihn in einem öffentlichen Raum zu zitieren, weil sie die Erlaubnis dazu nicht gegeben hatten (Landgericht München I, NJW 1999, 1978). Als Jurist muss man lernen, dass das dort verbotene Zitat hier auch ohne Erlaubnis statthaft ist – schwierige Abgrenzungen!
  • 11. Stand 1970, Anm. 142 zu Art. 20 GG. Heute (Stand 53. Auflage 2009 – Grzeszick heißt es richtig in Rn. 62: »Vollziehende Gewalt im Sinne des Art. 20 Abs. 3 ist also auch der Erlass von Rechtsverordnungen nach Art. 80 Abs. 1 und der Erlass von autonomen Satzungen.«
  • 12. Hans Meyer, Böse Jahre, Gute Jahre, C.H. Beck 2011, S. 119 ff.
  • 13. Die Fehler des Kopisten, Hanser 1997, S. 153.
  • 14. Zeit online Reportage vom 3. Oktober 1969.
  • 15. Der Spiegel Nr 40/1973 vom 1. Oktober 1973.
  • 16. Der Spiegel Nr. 53/1971 S. 57.
  • 17. Katja Eichinger, BE, Hoffmann & Campe 2012 S. 94.
  • 18. Cit. n. Ulrich Enzensberger, Die Jahre der Kommune I Berlin 1967–1969, Kiepenheuer & Witsch 2004, S. 255.
  • 19. Das Medium ist die Botschaft, Philo (1967) 2009; Das Medium ist die Massage, Klett Cotta 2012; Die mechanische Braut, Gingko Press 1996.
  • 20. Peter Rühmkorf, Tabu II, Tagebücher 1971, 1972, Rowohlt 2004 S. 145.
  • 21. Stefan Aust: Der Baader Meinhof Komplex (1985/2010), Goldmann Hamburg.
  • 22. Rebellion und Wahn, Kiepenheuer 2010.
  • 23. BVerfG NJW 1987, 43; NJW 1991, 271.
  • 24. Über ihn liefert Henning Ritter eine schöne Skizze: Verehrte Denker, Zu Klampen 2012.
  • 25. Ulrich Enzensberger, Die Jahre der Kommune I 1967–1969, Kiepenheuer & Witsch 2004, S. 234 ff. und S. 261 ff.
  • 26. KG NJW 1970, 482; BGH NJW 1970, 851.
  • 27. Cit. n. Hartstang, Der deutsche Rechtsanwalt – Rechtsstellung und Funktion in Vergangenheit und Gegenwart, C.F. Müller 1986, S. 8 ff.
  • 28. Der Spiegel 9/1977 vom 21.2.1977.
  • 29. Der Spiegel Nr. 45/1970, S. 115.
  • 30. BVerfG NJW 1973, 696.
  • 31. Im Rückblick: Jan Philipp Reemtsma, Lust an Gewalt, Zeit online vom 14. März 2007.
  • 32. Karl-Heinz Bohrer im Interview Welt online 1. August 2012.
  • 33. BGH NJW 1972, 297.
  • 34. Frieder Naschold, Professor für Politische Wissenschaften und später Rektor an der Universität Konstanz (1940–1999).
  • 35. Spuren der Macht, Knesebeck 1999.
  • 36. Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft, Piper 1969.
  • 37. Der Freitag, Interview vom 31. August 2007.
  • 38. Cit. n. Wikipedia Eintrag Stand 4. Mai 2012 »Horst Mahler«.
  • 39. Wolfgang Fikentscher, Die Freiheit und ihr Paradox, FAZ Verlag 1997.
  • 40. Werner Flume: Die Zahlungszuwendung im Anweisungs-Dreiecksverhältnis und die Problematik der ungerechtfertigten Bereicherung (NJW 1984, 464 FN. 8).
  • 41. NJW 1990, 3194.
  • 42. Flume: Zum Bereicherungsausgleich bei Zahlungen in Drei-Personen-Verhältnissen, NJW 1991, 2521.
  • 43. http://www.insm.de
  • 44. Hans Mayer, Böse Jahre, Gute Jahre, ein Leben 1931 ff., C.H. Beck, 2011.
  • 45. Zum historischen Hintergrund: http://www.infopartisan.net Beschluss vom 17. Juli 1984, Az.: 1 BvR 816/82, BVerfGE 67, S. 213 ff.).
  • 46. Ott / Wächtler /Heinhold, Versammlungsgesetz, Richard Boorberg Verlag, 7. Auflage 2010.
  • 47. Stories: Verbrechen, Piper 2009; Schuld, Piper 2010.
  • 48. Der Erwerb dieses Kunstwerks von Joseph Beuys durch die Landeshauptstadt München führte 1980 zu einem Skandal, der Armin Zweite, den Direktor, fast seinen Job gekostet hätte. Im Stadtrat wurde es als »teuerster Sperrmüll aller Zeiten« bezeichnet, denn es kostete 270.000 DM.
  • 49. Gerald M. Werner v. the United States., 642 F.2d 404 (Fed.Cir.1981).
  • 50. Zum modernen Stand der Diskussion: Schild in Kindhäuser / Neumann / Paeffgen, StGB C.H. Beck 3. Aufl. 2010 § 20 RN 55 ff.
  • 51. BGH NJW 1970, 532.
  • 52. St. Benno (1010–1106), Bischof von Meißen. Seine Reliquien liegen im Dom zu München.
  • 53. Otto Gritschneder, Anwaltsgeschichten, C.H. Beck 2001.
  • 54. Der Hitler-Prozeß und sein Richter Georg Neithardt: Eine Rechtsbeugung von 1924 mit Folgen, C.H. Beck 2001; Der Führer hat Sie zum Tode verurteilt … Hitlers Röhm-Putsch-Morde vor Gericht, C.H. Beck 1993.
  • 55. Süddeutsche.de vom 27. April 2011: »Tellerfleisch und ganz viel Hirn«.
  • 56. Originalton Joe, Inhaber von Joe’s Stonecrab, Miami Florida USA im Gespräch mit dem Autor 1997.
  • 57. Originalton Joe, Inhaber von Joe’s Stonecrab, Miami Florida USA im Gespräch mit dem Autor 1997.
  • 58. Die Kunst vernetzt zu denken: Ideen und Werkzeuge für einen neuen Umgang mit Komplexität: Ein Bericht an den Club of Rome, dtv 2002. Sein Werk wird von Malik Management, St. Gallen weitergeführt.
  • 59. Arthur Herzog von Wellington, der Napoleon bei Waterloo besiegte, zitiert bei John Keegan, Die Maske des Feldherrn, Quadriga 1997.
  • 60. Zur Geschichte dieses berühmten Satzes, der für jeden Anwalt unverzichtbar ist: F. W. Bernstein / Robert Gernhardt / F. K. Waechter, Die Wahrheit über Arnold Hau, Tierwelt – Wunderwelt, 1966. Genau genommen hat Bernstein nur den Schlusspunkt unter ein Brainstorming gesetzt, an dem F. K. Waechter und Robert Gernhardt beteiligt waren, als sie 1977 gemeinsam von Paris nach Colmar fuhren (Fahrer: Ebi Bruegel).
  • 61. Hauptvortrag auf dem 44. Deutschen Anwaltstag in Hamburg, NJW 1987, 1969.
  • 62. BVerfG, Beschluss vom 14. Juli 1987 – 1 BvR 537/81 u. a., NJW 1988, 191.
  • 63. Übersicht: www.rae-hibaco.de/taetigkeitsschwerpunkte.html.
  • 64. Hans-Jürgen Hellwig, Das Konzept des anwaltlichen Berufsbildes, Anwaltsblatt 2008, 644 bis 653.
  • 65. Benno Heussen, Arbeit Macht Kultur – Konferenzräume in Anwaltskanzleien, mit Fotos aus den Räumen der Sozietäten Schackow, Greffin & Greffin, Pohl & Eis, Raue, Freshfields Bruckhaus Deringer, Roback, Geulen & Klinger, AnwBl 2012, 522–528.
  • 66. Er hat seine Anfänge bei Gleiss anschaulich geschildert in: Stephan Spehl, Partner werden in der Anwaltskanzlei, C.H. Beck 2012.
  • 67. Klaus D. Kapellmann, Juristisches Projektmanagement: Entwicklung und Realisierung von Bauprojekten, Werner Neuwied, 2. Auflage 2007.
  • 68. Süddeutsche.de vom 14. März 2011.
  • 69. Dietrich Dörner, Die Logik des Misslingens, Rowohlt, 11. Auflage 2003.
  • 70. Hamm / Schwerdtner, Maklerrecht, C.H. Beck, 6. Auflage 2011.
  • 71. Ferran Adriá, Ein Tag im elBulli: Einblicke in die Ideenwelt, Methoden und Kreativität von Ferran Adrià, Phaidon 2009.
  • 72. Eine bemerkenswerte Reportage: Anja Reich / Alexander Osang, Wo warst Du – Ein Septembertag in New York, Piper 2. Auflage 2011.
  • 73. Peter Hay: US-Amerikanisches Recht, C.H.Beck, 4. Auflage 2008.
  • 74. Lutter/Stiefel/Hoeflich: Der Einfluss deutscher Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den USA und Deutschland, Mohr Siebeck 1993.
  • 75. »Is there something you would call German Law ?« wird auch heute noch als typische Frage gestellt (Menno Aden, Law made in Germany ZRP 2012, 53).
  • 76. Wie solche Büros entstehen, ist schwer zu erfahren. Hier allerdings wird es anschaulich geschildert: Lincoln Caplan: Skadden: Power, Money, and the Rise of a Legal Empire, Farrar Strauss Giroux 1993.
  • 77. Der jüngste Hurricane, der im November 2012 über New York ging, zeigt uns, dass man in den USA für den Stromausfall nicht auf den Weltuntergang warten muss.
  • 78. Axel Ockenfels: Fairness, Reziprozität und Eigennutz, Mohr Siebeck 1999.
  • 79. Manfred Spitzer: Nervenkitzel – neue Geschichten vom Gehirn, Suhrkamp 2006.
  • 80. Großmacht-Diplomatie – Von der Staatskunst Castlereaghs und Metternichs (1957), Econ 1980 S. 239.
  • 81. BGH vom 13. März 1980, NJW 1980, 2128.
  • 82. Berichtet von Anja Reich / Alexander Osang, Wo warst du? Ein September in New York, Piper, 2. Auflage 2011, S. 144.
  • 83. All das wird anschaulich geschildert von Jonathan Harr, Zivilprozess, Goldmann, 1999: Ein mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneter Bericht über einen Schadensersatzprozess einer Anwaltssekretärin gegen einen Chemiegiganten.
  • 84. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22.11.2012.
  • 85. Benno Heussen, Europa als Fusionsprojekt – eine Manöverkritik, Merkur 5/2012.
  • 86. Handbuch Vertragsverhandlungen und Vertragsmanagement, Teil 1, 3. Auflage 2007 (4. Auflage geplant 2014).
  • 87. Jörg Schröder / Ernst Herhaus, Siegfried, März-Verlag 1984.
  • 88. Werner Verlag Neuwied 14. Auflage 2012.
  • 89. BGH NJW 1993, 2313; NJW 2002, 960.
  • 90. Die einzige Sozietät, über die je eine Biografie geschrieben wurde: Lincoln Caplan, Skadden – Power, Money and the Rise of a Legal Empire, Farrar, New York 1983.
  • 91. Unternehmenskauf in Recht und Praxis – rechtliche und steuerliche Aspekte, rws, 14. Auflage 2010.
  • 92. Zum vollmachtlosen Vertreter: BGH, NZG 2009, 110; zur Übersetzerhaftung: Luttermann, Münchner Kommentar zum Aktiengesetz C.H. Beck, 2. Auflage 2003, Rn. 33 zu § 244 HGB.
  • 93. Stephan Jansen, Zeppelin University Mergers & Acquisitions: Unternehmensakquisition und -kooperation – Gabler 5. Aufl. 2008.
  • 94. Studie Hewitt Associates (2010).
  • 95. Am besten ist das Daimler-Chrysler-Projekt dokumentiert: Bien, Torsten: Führung, Interkulturalität und die Problematik des gescheiterten Mergers der Automobilhersteller Daimler und Chrysler, mbv 2011; Schoemer: Interkulturelle Chancen ohne Barrieren bei Unternehmensfusionen – dargestellt am Beispiel der Fusion von Daimler und Chrysler aus Sicht der Mitarbeiter, grin 2001. Zu den politischen Lehren: Benno Heussen, Europa als Fusionsprojekt – eine Manöverkritik, Merkur Heft April 2012.
  • 96. Heute Professeur de la Cuisine der schwedischen Universität Örebrö.
  • 97. Der Spiegel Nr. 50/1985.
  • 98. Tanizaki, Lob des Schattens, Entwurf einer japanischen Ästhetik, Manesse 2010.
  • 99. Zum Verhandeln in Japan: Louis Wakatsuki Kap. 9.4 in Benno Heussen (Hrsg.), Handbuch Vertragsverhandlung und Vertragsmanagement, Otto Schmidt 3. Aufl. 2007.
  • 100. Hinter den früheren Ostblockstaaten haben Japan und Südkorea die höchsten Raten der Welt, in der EU sind es Ungarn, Finnland und Frankreich. Griechenland hat die niedrigste Rate in der EU, auch Italien und Spanien liegen gut.
  • 101. Tanizaki, Lob der Meisterschaft, Manesse 2010.
  • 102. In Frankreich findet sich die gleiche Idee im Titel »Meilleur ouvrier de France«.
  • 103. Folker Streib/Meinolf Ellers: Der Taifun. Japan und die Zukunft der deutschen Industrie, Hoffmann und Campe 2000.
  • 104. Grammatik des Lächelns: Japanische Innenansichten, Piper 2003.
  • 105. Ruth Benedict (1887–1948) »The Chrysanthemum and the Sword« (1946). Das Buch ist umstritten, aber die Grundthese ist richtig.
  • 106. Weitere Details: Benno Heussen (Hrsg.), Handbuch Vertragsverhandlung und Vertragsmanagement, Kapitel 1, Otto Schmidt, 3. Auflage 2007.
  • 107. Zu Details: Paul Eubel (Herausgeber): Das japanische Rechtssystem, Alfred Metzner Verlag, 1979.
  • 108. Dan Fenno Henderson: The Role of Lawyers in Japan, in: Harald Baum, Japan: Economic Success and Legal System, de Gruyter 1997, S. 27–67.
  • 109. Bert Becker (Hrsg.): Georg Michaelis – ein preußischer Jurist im Japan der Meji-Zeit, iudicium, 2001.
  • 110. Die bei C.H. Beck auf Englisch erscheinende International Review of Intellectual Property and Competition Law zeigt das auf jeder Seite.
  • 111. Menno Aden: Law Made in Germany, Ein Plädoyer für den Export deutschen Rechts und nachhaltige Nachsorge, ZRP 2012, 50; zum Projekt des Bundesministeriums der Justiz siehe www.lawmadeingermany.de.
  • 112. Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, C.H. Beck 1999.
  • 113. Zur Einführung: Florian Coulmas: Die Kultur Japans – Tradition und Moderne, C.H. Beck 2. Auflage 2009; Stephan Wackwitz: Tokyo: Beim Näherkommen durch die Straßen, S. Fischer, 2010.
  • 114. Guntram Rahn, Rechtsdenken und Rechtsauffassung in Japan, C.H. Beck 1990.
  • 115. Christopher Heath: Das Japanische im japanischen Recht, GRUR Int 1995, 439.
  • 116. Christopher Heath: Das Japanische im japanischen Recht, GRUR Int 1995, 439.
  • 117. Jörg Andrees Elten: Ganz entspannt im Hier & Jetzt. Tagebuch über mein Leben mit Bhagwan in Poona. Rowohlt, Reinbek 1979.
  • 118. Die Tageszeitung (taz) Berlin, Interview vom 13. Juni 2006.
  • 119. BVerfG, Beschluss vom 26. Juni 2002 – 1 BvR 670/91; NJW 2002, 2626.
  • 120. Zitate nach dem Eintrag bei Wikipedia: »Edikte des Ashoka«.
  • 121. Sudhir und Katharina Kakar: Die Inder: Porträt einer Gesellschaft, dtv, München 2011.
  • 122. Gerd Gigerenzer, Bauchentscheidungen: die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition (2008).
  • 123. Benno Heussen, Systemverantwortung bei Computerverträgen, Neue Juristische Wochenzeitschrift 1988, S. 2441–2446.
  • 124. BGH NJW 1985, 1535.
  • 125. Benno Heussen, Die Manager- und Beraterhaftung bei unterlassener Systemprüfung und Notfallplanung bei Jahr-2000-Fehlern, Betriebs-Berater 1999, S. 481.
  • 126. Michael Bartsch, Software und das Jahr 2000, Baden-Baden (Nomos) 1988.
  • 127. BVerfgE 65, 1-Volkszählung; BVerfgE 115, 320 – Rasterfahndung; BVerfGE 120, 274 – Online-Durchsuchung; BGH NJW 2009, 28888 – Spickmich.
  • 128. Bernd Lutterbeck, Happy Birthday DGRI in Informationstechnik und Recht Bd. 16 (2007), S. 11 (15 FN 5).
  • 129. Härting / Schneider: Das Dilemma der Netzpolitik, Zeitschrift für Rechtspolitik 2011, 233 argumentieren für die Datenverarbeitung im privaten Bereich in diese Richtung.
  • 130. Hans-Peter Bräutigam, Das Nutzungsverhältnis bei sozialen Netzwerken, MMR 2012, 635.
  • 131. Im Detail: Benno Heussen, Rechtliche Verantwortungsebenen und dingliche Verfügungen bei der Überlassung von Open Source Software, MMR 2004, 445.
  • 132. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. April 2012.
  • 133. Spiegel online vom 15. April 2012.
  • 134. Bappert, Kommentar zum Verlagsgesetz, München 1984, S. 21.
  • 135. Marshall McLuhan, Die Gutenberg Galaxis, Bonn 1995.
  • 136. Briefwechsel Heidegger / Jaspers 1920–1963, Klostermann 1990 S. 181.
  • 137. Gunter Hübner, Rudern Sie noch oder steuern Sie schon? Kanzleimanagement auf den Punkt gebracht, NWB 2009.
  • 138. Malcolm Gladwell, Tipping Point: Wie kleine Dinge Großes bewirken können, Goldmann, 2002, S. 197.
  • 139. Talleyrand, cit. n. Franz Blei »Talleyrand oder der Zynismus«, Mattes und Seitz 1984, S. 45.
  • 140. Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (1754–1838), Bischof von Autun, Abgeordneter der Nationalversammlung, später Fürst von Benevent und mehrfacher französischer Außenminister vor, unter und nach Napoleon.
  • 141. Managing the Professional Service Firm (1993); Practice what you Preach (2001); Strategy and the Fat Smoker (2008).
  • 142. Benno Heussen, Anwaltsunternehmen führen, C.H. Beck 2. Auflage 2011.
  • 143. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, zwei Bände, Suhrkamp 8. Auflage 2011; Fritz Perls Grundlagen der Gestalttherapie – Einführung und Sitzungsprotokolle, Klett Cotta 12. Auflage 2012.
  • 144. Herfried Kohl, Kanzleimanagement-Handbuch. Die Anwaltskanzlei als Unternehmen, Deubner 1998.
  • 145. Näher: Benno Heussen, Anwaltsunternehmen führen, C.H. Beck 2. Auflage 2011.
  • 146. Benno Heussen, Zeitmanagement für Rechtsanwälte, C.H. Beck, 3. Auflage 2011.
  • 147. SED-Vorsitzender Walter Ulbricht, Babelsberger Konferenz, April 1958.
  • 148. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland 4: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost 1945 – 1990: Band 4, C.H. Beck 2012.
  • 149. Matthias Storck, Karierte Wolken – Lebensbeschreibungen eines Freigekauften, Brendow Verlag, 4. Auflage 1997.
  • 150. Bundesverfassungsgericht, NJW 1996, 2720; NJW 1998, 3041, 3042; NJW 2002, 356.
  • 151. Bernhard Dombeck (Präsident der Rechtsanwaltskammer Berlin und später der Bundesrechtsanwaltskammer), Das Vertrauensverhältnis zwischen Mandant und Rechtsanwalt, Festschrift für Michael Streck, Otto Schmidt 2011, 655.
  • 152. Felix Busse (Präsident des DAV) sieht das teilweise anders: Deutsche Anwälte: Geschichte der deutschen Anwaltschaft 1945–2009. Entwicklungen in West und Ost, Duncker & Humblodt 2009.
  • 153. Die Anwaltsdichte in der Schweiz, Österreich und Deutschland im Verhältnis zu anderen Staaten – ein internationaler Vergleich, Schweizerische Anwaltsrevue 2006, S. 392.
  • 154. Bundesverfassungsgericht NJW 1996, 709, Kommentar hierzu von Kleine-Cosack, DtZ 1996, 98.
  • 155. Goethe im Gespräch mit Eckermann 4. Dezember 1823.
  • 156. Pöllath / Saenger, Wirtschaftsanwälte in Deutschland, Nomos 2009, Zeitleiste S. 288.
  • 157. Christoph Luschin, Large Law Firms in Germany, TOURO International Law Review Volume 14, No 1 S. 27 ff. (66 ff.).
  • 158. Michael Sontheimer/Jürgen Vorfelder: Antes und Co. Geschichten aus dem Berliner Sumpf, Rotbuch-Verlag, 2. Auflage 1989.
  • 159. Ludwig Thoma nannte so die bayerischen Top-Juristen, denen er zwar viel Wissen, aber geringen Verstand bescheinigte.
  • 160. BVerfG NJW 1998, 2590: Die bloße Stellung als Richter disqualifiziert ihn nicht, es bedarf konkreter Vorwürfe besonderer politischer Linientreue usw.
  • 161. Michael Jürgs, Der Spiegel 7/1997.
  • 162. Deutscher Bundestag, Drucksache 12/08.04.2004 vom 31.08.1994.
  • 163. BGH (5 StR 78/01) NStZ 2001, 542.
  • 164. Dirk Laabs, Der deutsche Goldrausch, Pantheon 2012, S. 283 ff.
  • 165. Szenen aus dem Osten: Alexander Osang, Die stumpfe Ecke, 25 Porträts. Christian Links, 3. Auflage 2002.
  • 166. William Shakespeare, Sonett Nr. 66, cit. nach der Übersetzung von Karl Werner Plath.
  • 167. Die soziale Bedeutung der Grundrechte der Weimarer Verfassung (1930) in: Wirtschaft Staat Demokratie, Aufsätze, hrsg. Alfons Söllner, Frankfurt 1978.
  • 168. Cit. n. Peter Hay, US amerikanisches Recht, a. a. O., S. 3, FN 8.
  • 169. Gerhard Pischel, Vertragsenglisch, Otto Schmidt, 2013; Benno Heussen: Anwalts-Checkbuch Letter of Intent, Otto Schmidt, 2. Auflage 2013.
  • 170. Reine Patentstreitigkeiten werden allerdings auch in den USA nur von Berufsrichtern entschieden.
  • 171. https://www.1215.org/lawnotes/lawnotes/penntrial.htm
  • 172. Fegefeuer der Eitelkeiten Rowohlt 2005; DVD (Regie Brian de Palma, Tom Hanks, Bruce Willis, Melanie Griffith).
  • 173. Heidemarie Haack-Schmal, einer DAV-Geschäftsführerin, ist der Slogan 1987 im Wartezimmer eines Zahnarztes eingefallen, weil man einen guten Spruch für eine Werbekampagne suchte. Schmerzen fördern die Kreativität!
  • 174. AnwBl 1950, 27.
  • 175. AnwBl 1950, 34
  • 176. Brief an den Ausschuss vom 15.6.1961.
  • 177. EDV Ausstellung für Rechtsanwälte, NJW 1982, 1576.
  • 178. Cautio Criminalis oder: Rechtliches Bedenken wegen der Hexenprozesse (eingedeutscht von Joachim-Friedrich Ritter), dtv 1983.
  • 179. Jetzt 10. Auflage (2011).
  • 180. »Anwalt im Zeitalter der Dienstleistung – Herausforderung zum Wandel«, NJW 1987, 1969.
  • 181. Siehe www.eumel.org.
  • 182. Zum Vergleich: Die größten Arbeitsgemeinschaften im DAV (zum Beispiel Familienrecht und Verkehrsrecht) haben jeweils circa 6000 Mitglieder.
  • 183. André Turiaux, Kommentar zum Umweltinformationsgesetz, C.H. Beck, 1995.
  • 184. JUVE Rechtsmarkt Mai 1998, S. 11 ff.
  • 185. Benno Heussen, Anwaltsunternehmen führen – Erfahrungen, Ideen, Anregungen – C.H. Beck, 2. Auflage 2011.
  • 186. Bernd Lutterbeck: Happy Birthday DGRI, in Informationstechnik und Recht Bd. 16 (2007), S. 11 (14).
  • 187. https://www.heise.de/meinung/Was-war-Was-wird-163384.html
  • 188. Z. B. www.juratv.com. Knowledgetools, konzeptionell entwickelt von Professor Stefan Breidenbach, Universität Frankfurt (Oder).
  • 189. Jean Jacques Annaud, Am Anfang war das Feuer (1981) – ein seltenes Meisterwerk zeigt diese Szenen.
  • 190. Interview 3sat vom 28. Juni 2007 über Kreativität.
  • 191. Kilian / Heussen, Computerrechtshandbuch (Loseblatt) C.H. Beck, 32. Auflage 2013.
  • 192. Benno Heussen, Urheber- und lizenzrechtliche Aspekte bei der Gewährleistung für Computer Software – zugleich zum Problem der Rechtsnatur von Lizenzverträgen, GRUR 1987, 779.
  • 193. BGH NJW 1988, 406.
  • 194. Von dem Bussche / Schelinsky in Leupold / Glossner (Hrsg.), Münchner Anwaltshandbuch IT-Recht C.H. Beck, 2. Aufl. 2011 Teil 1 RN 42; Truiken Heydn, Computerrechtshandbuch, C.H. Beck, 30. Aufl. 2012 Teil 23 RN 26; Hans-Werner Moritz / Jochen Schneider u. a., zuletzt in Festschrift für Benno Heussen, Otto Schmidt 2009.
  • 195. Benno Heussen, Technische und rechtliche Besonderheiten von Mängeln bei Computerleistungen, Computer und Recht 1988, S. 894 ff. und S. 986 ff.
  • 196. Benno Heussen, Unvermeidliche Softwarefehler – Neue Entlastungsmöglichkeiten für Hersteller, Computer und Recht 2004, 1.
  • 197. Jäger / Metzger Open Source Software: Rechtliche Rahmenbedingungen der Freien Software, C.H. Beck, 3. Auflage 2011.
  • 198. Rechtliche Verantwortungsebenen und dingliche Verfügungen bei der Überlassung von Open-Source-Software, MMR 2004, 445.
  • 199. Benno Heussen (Hrsg.), Handbuch Vertragsverhandlung und Vertragsmanagement, Otto Schmidt (1997), 3. Auflage 2007, geplant 4. Auflage 2014.
  • 200. Abkürzungen sind manchmal heimtückisch. Im katholischen Umfeld bedeutet JHS die Abkürzung für Jesus, bei den Jesuiten Iesum Habemus Socium (Jesus ist unser Gefährte) und beim allgemeinen Volk: Jesus, Heiland, Seligmacher.
  • 201. Rainer Schröder, JURA 2004, 73 ff., http://www.forhistiur.de/zitat/0404schroeder.htm
  • 202. Juristische Entscheidung und Elektronische Datenverarbeitung: Methodenorientierte Vorstudie. Athenäum-Verlag, Frankfurt am Main 1974.
  • 203. Justiz Statistik 2010, veröffentlicht auf der Internetseite des Bundesministeriums für Justiz.
  • 204. Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, C.H. Beck, 2. Auflage 1997, S. 63.
  • 205. Landgericht Mannheim, NJW 1997, 1995.
  • 206. Zeitschrift für Rechtspolitik, Warum sind Juristen nur mäßig beliebt? Ihre Rolle in der Welt der Kunst und im wirklichen Leben, 2008, 69.
  • 207. NJW 1987, 1425.
  • 208. AG Köln NJW 1986, 1266; LG Köln NJW 1987, 1421.
  • 209. Foerste, Parteilichkeit von Zeugen, NJW 2001, 321.
  • 210. Autobiographisches: Kindheit in Kitzbühel und andere Geschichten, dtv 2001.
  • 211. www.Babylonisches-Museum.de.
  • 212. Interview im Anwaltsblatt 12/2012. Rosendorfer ist im September 2012 verstorben.
  • 213. Interview im Greek Bookstore März 2008, www.greek-book.de.
  • 214. Interview mit Rudolf Gerhardt, Zeitschrift für Rechtspolitik 2008, 69.
  • 215. BGH NZV 2010, 21.
  • 216. Alle folgenden Zitate aus Anwaltsblatt 12/2012.
  • 217. Michael Habermehl hat sein Werk über die Webseite www.habermehl.de/her_ros erschlossen.
  • 218. Heraklit: Fragmente Griechisch/Deutsch, herausgegeben von Bruno Snell B. 80, Artemis Verlag, 10. Auflage 1989, S. 27.
  • 219. Heraklit: Fragmente a. a. O., B. 53, S. 18.
  • 220. Die sprachliche Unterscheidung zwischen Krieg und Streit ist bereits in den Fragmenten Heraklits voll ausgebildet: Krieg heißt »polemos«, Streit hingegen »eris«. Hin und wieder trifft man Übersetzungen, die lauten: »Der Streit ist der Vater aller Dinge.« Damit wird der schon früh gesehene Unterschied zwischen diesen Konfliktregelungsinstrumenten verkannt.
  • 221. »Inter arma silent leges« – Unter dem Lärm der Waffen schweigen die Gesetze: Römisches Sprichwort.
  • 222. Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, C.H. Beck, 2. Auflage 2000, S. 29.
  • 223. Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, a. a. O., S. 40, beschrieben am Beispiel der Brautpreisschulden bei den Arusha (Tansania).
  • 224. Jan Assmann: ma’at: Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten C.H. Beck, 2. Auflage 1992.
  • 225. Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, Suhrkamp Verlag 1981, 2 Bände.
  • 226. Heraklit: Fragmente Griechisch / Deutsch, herausgegeben von Bruno Snell, Artemis Verlag, 10. Auflage 1989.
  • 227. Ernst Pitz, Ein niederdeutscher Kammergerichtsprozess von 1525, Vandenhoek & Ruprecht, Göttingen 1969.
  • 228. Focus 11/2012.
  • 229. Fisher / Ury / Patton, Das Harvard-Konzept: Der Klassiker der Verhandlungstechnik, Campus Verlag, 23. Auflage 2009.
  • 230. Benno Heussen, Die Auswahl des richtigen Verfahrens – ein Erfahrungsbericht, Kap. 10 in Haft / Schlieffen (Hrsg.), Handbuch Mediation, Otto Schmidt, 2. Auflage 2009.
  • 231. Marietta Birner, Das Multi-Door Courthouse, Centrale für Mediation 2003.
  • 232. BVerfG, NJW 1998, 2269.
  • 233. Thomas Mann, Tonio Kröger, Fischer 1994.
  • 234. Spanisches Sprichwort.
  • 235. JUVE Rechtsmarkt 10/12.
  • 236. Christoph H. Vaagt, Erfolgreiche Strategien von Wirtschaftskanzleien, Verlag Recht und Wirtschaft 2010.
  • 237. JUVE Rechtsmarkt 10/12.
  • 238. Bundesarbeitsgericht, Betriebsberater 2000, S. 411.
  • 239. Bundesarbeitsgericht vom 5. März 1970, AP Nr 34 zu § 620 BGB – Chorsängerinnen.
  • 240. Werner Maihofer (Hrsg.), Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt, Wege der Forschung Bd. XVI, XIX 1962.
  • 241. Christoph Schönberger, Lästig, kränkend und unersetzlich – die Expertise der Juristen, Merkur 2012, 788.
  • 242. Ronald Dworkin, Gerechtigkeit für Igel, Suhrkamp 2012.
  • 243. Plato, Der Staat IV (432 a), dazu auch: Hans Kelsen, Die Illusion der Gerechtigkeit – Eine kritische Untersuchung der Sozialphilosophie Platons, Wien 1985.
  • 244. Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der verstehenden Soziologie (1922), Mohr Siebeck Studienausgabe 5. Auflage 2002, § 16.
  • 245. Babylonischer König (1792–1750 v. Chr.), Codex Hammurapi.
  • 246. Indischer König (304–232 v. Chr), Die Säulen des Ashoka.
  • 247. Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105, 107.
  • 248. Reine Rechtslehre (1934), Studienausgabe Mohr Siebeck 2008.
  • 249. Cit. nach Timothy Sodmann: Ein mittelalterliches Rechtsgangformular aus dem 15. Jahrhundert aus Westmünsterland, in: Festschrift für Ruth Schmidt – Weigand, Essen 1996, S. 179 f.
  • 250. Erwin Riezler, Das Rechtsgefühl – Rechtspsychologische Betrachtungen, Schweitzer 1921 (1969).
  • 251. Rechtsgefühl, System und Wertung, Münchner Universitätsschriften Bd. 43, C.H. Beck 1979, S. 59.
  • 252. Antonio Damasio, Descartes’ Irrtum: Fühlen, Denken und das menschliche Gehirn, List 2004; Selbst ist der Mensch: Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, Siedler 2011.
  • 253. William Shakespeare, Romeo und Julia.
  • 254. Gerd Gigerenzer, Bauchentscheidungen – die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, Bertelsmann 2007.
  • 255. Herbert Rosendorfer, Interview mit Benno Heussen, Anwaltsblatt 12/2012, S. 976.
  • 256. Diese Geschichte soll der Sufi-Meister Mullah Nasreddin aus Anatolien (ca. 1200 n. Chr.) als Erster erzählt haben.
  • 257. Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl., Kohlhammer 2005.
  • 258. Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Wege der Forschung, Band XVI., 1962.
  • 259. Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105 107.
  • 260. Kant, Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. 4, S. 434–436.
  • 261. Sudhir Kakar, Die Seele der anderen, C.H. Beck 2012, S. 235.
  • 262. Jetzt: Egon Schneider / Friedrich E. Schnapp, Logik für Juristen: Die Grundlagen der Denklehre und der Rechtsanwendung, Vahlen, 7. Auflage 2012.
  • 263. 2006 wurde berichtet, dass in China Rechtsautomaten eingesetzt würden. Tatsächlich waren es aber nur die auch bei uns bekannten juristischen Datenbanken, die als zusätzliche Funktion Vorschläge für ein angemessenes Strafmaß enthielten, um größere Abweichungen in den Strafmaßen zu vermeiden.
  • 264. Karl Heinz Bohrer, Granatsplitter, Hanser 2012, S. 124.
  • 265. Dr. phil. Ingolf Toll-Ebel, Fundamentale Paradoxien des Menschlichen, Urania Berlin, unveröffentlichtes Manuskript (2012).
  • 266. Zu dessen Bedeutung: Richard Sennett, Handwerk, Berlin Verlag 2009.
  • 267. Stanley Fish, Das Recht möchte formal sein, Suhrkamp 2011, S. 114.
  • 268. Englischer Lordkanzler, Rechtsanwalt und Rechtsphilosoph (1561–1626).
  • 269. Ernst Wolfgang Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Interview mit Dieter Gosewinkel, Suhrkamp 2011, S. 368.
  • 270. Dietrich Dörner, Die Logik des Misslingens, Rowohlt 2003.
  • 271. Gelegentlich ist zu lesen, in der Äthiopischen Kirche werde Pilatus als Heiliger verehrt. Tatsächlich rechnet man ihn dort zu den »Gerechten«, weil er die Unschuld Christi erkannt hat, auch wenn er sich fälschlich für unzuständig erklärte – eine Schwäche, mit der jeder rechnen muss, der sich um Gerechtigkeit bemüht (Auskunft von Prinz Asfa Wossen Asserate im Dezember 2012).
  • 272. Harold Pinter, Nobelpreis-Rede, cit. n. FAZ vom 27. Dezember 2008, S. 29.
  • 273. Gerhard Thür, Das Gerichtswesen Athens im 4. Jahrhundert v. Chr. in: Große Prozesse im antiken Athen (Burckhardt/von Ungern Sternberg), C.H. Beck, 2000.
  • 274. Gustav Radbruch, Der Geist des Englischen Rechts, Gesamtausgabe Bd. 15, S. 25 (68–71).
  • 275. Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung – eine rationale Analyse, C.H. Beck, 1999, S. 70 ff.
  • 276. Christoph Paulus, Die Idee der postmortalen Persönlichkeit im römischen Testamentsrecht, Duncker & Humblodt 1992.
  • 277. Hans Blumenberg, Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp, Suhrkamp 2001.
  • 278. Einführung in das juristische Denken, Stuttgart 10. Auflage 2005.
  • 279. Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung, S. 59.
  • 280. F.W. Bernstein (Hrsg.), Neue Frankfurter Schule Seite, Arkana 1987, 148, s. a. Besternte Ernte, Frankfurt am Main, 2001.
  • 281. Rudolf Gerhardt, Hans Mathias Kepplinger, Stefan Geiß (Universität Mainz), Die Kunst der richterlichen Urteilsfindung, noch unveröffentlichte Studie 2012, Vorbericht FAZ 13.6.2012.
  • 282. Z. B.: http://en.wikipedia.org/wiki/Central_Park_Jogger_case
  • 283. Wolfgang Fikentscher, Die Freiheit und ihr Paradox, FAZ Verlag 1997.
  • 284. Noch klarer Arthur Schopenhauer: »Die unaufhörlichen Bemühungen, das Leiden zu verbannen, leisten nichts weiter, als dass es seine Gestalt ändert.«.
  • 285. John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness – Ein Neuentwurf, Suhrkamp 2006.
  • 286. Nicolai Hartmann, Ethik, de Gruyter, Berlin 1962.
  • 287. Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 2. Aufl. 2000, S. 29.
  • 288. Ulpian in den Digesten, Lehrbücher des Rechts, ca. 150 n. Chr.
  • 289. John Rawls, Gerechtigkeit als Fairness, – Ein Neuentwurf, Suhrkamp 2006.
  • 290. Jean Piaget, Das moralische Urteil beim Kinde, Rascher, 1932 (1954).
  • 291. Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Bd. 2 der Soziologie und Anthropologie Frankfurt 1989; Maurice Godelier, Das Rätsel der Gabe: Geld, Geschenke, heilige Objekte, C.H. Beck 1999.
  • 292. John Stacey Adams, Inequity in social exchange, in L. Berkowicz (Ed) Advances in experimental social psychology (Vol 2, pp 267–299), New York Academic Press 1965.
  • 293. Michael Tomasello, Warum wir kooperieren, Suhrkamp 2010 – dort auch zu kontroversen Thesen.
  • 294. Wolfgang Fikentscher, Die Freiheit und ihr Paradox, FAZ Verlag 1997.
  • 295. Deren Handlungen auch auf psychischen Erkrankung beruhen können, BGH NStZ-RR 2009, 169.
  • 296. Besonders beeindruckend: die Selbstverbrennungen buddhistischer Mönche als Anklagen gegenüber dem politischen System, etwa Thích Quimagesng images (* 1897; † 11. Juni 1963 in Saigon).
  • 297. Die Idee der Gerechtigkeit, dtb 2012.
  • 298. Hans Kelsen, Was ist Gerechtigkeit? Stuttgart 2000, S. 49.
  • 299. Amartya Sen, Die Idee der Gerechtigkeit, C.H. Beck 2010.
  • 300. Benno Heussen, Mutter Staat und Kevins Skibrille, Merkur 5/2011.
  • 301. Volker Cremer, Völkerrecht – alles nur Rhetorik? ZaöRV 2007, 267.
  • 302. »Mundus« bedeutet nicht die Welt in ihrer geographischen Gestalt oder ihren politischen Institutionen, sondern ihren überflüssigen Tand und Luxus, der nur durch die Gerechtigkeit in Grenzen gehalten werden kann – so Klaus Zaczyk: »Fiat iustitia – pereat mundus« – zu Kants Übersetzung der Sentenz in: Festschrift für Peter Krause zum 70. Geburtstag, Duncker & Humblodt, Berlin 2006, S. 649.
  • 303. Franz Kafka, In der Strafkolonie (mit Kommentar von Peter Höfle, Suhrkamp 2006): Ob man diese Novelle so lesen kann, ist umstritten.
  • 304. Karl-Heinz Bohrer, Sechs Szenen 68, Merkur 5/2008 S. 416.
  • 305. Robert Schnabl: Der O. J. Simpson-Prozeß. Duncker & Humblot, 1999; Michael Moore: Querschüsse – Downsize This!, Piper, 8. Auflage 2004.
  • 306. Der Einfluss der Medien auf das Strafmaß ist signifikant, wie eine Studie von Hans Mathias Kepplinger / Thomas Zerback zeigt, Publizistik, Volume 54, 2 (2009, S. 216–232).
  • 307. Alan Dershowitz, Reasonable Doubts. The O. J. Simpson Case and the Criminal Justice System, Simon & Schuster 1996.
  • 308. Frankfurter Allgemeine Zeitung 23.11.2012.
  • 309. Weitere Paradoxa: Klaus Lüderssen, Rechtsfreie Räume, Suhrkamp 2012; zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen: Ernst Wolfgang Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Suhrkamp 2011.
  • 310. Interview mit Benno Heussen, Anwaltsblatt 12/2012.
  • 311. Hans Franzen, Anwaltskunst, C.H. Beck 2001.
  • 312. Anwaltsgeschichten, C.H. Beck 2002.
  • 313. Mandanten-Schwarzbuch, Libelle 2009.
  • 314. 200 Jahre Wirtschaftsanwälte in Deutschland, Nomos 2009.
Literaturverzeichnis
Zitierte Literatur: 
  • Zur zitierten Literatur siehe Fußnoten.
  • Foto USA Route 66: Andreas Feininger.
  • Das Bild des Richters (Seite 350) hat Shibata Zeshin (1807–1891) gemalt.
  • Die Berliner Graffiti sind um das Kottbusser Tor zu bewundern und stammen von Mark Scherer.
  • Das Terminal 2 des Münchner Flughafens wurde entworfen von Norbert Koch & Partner.
  • Die Gedichte »Die Kritiker der Elche«, »Die Zirbelente« und »Das Gleichnis« stammen von Robert Gernhardt; mit freundlicher Genehmigung des Nachlasses vom Januar 2013, vertreten durch Agentur Schlück, Garbsen.