Mutter Staat und Kevins Skibrille – von der Gerechtigkeit zum Glück

Zuerst veröffentlicht in MERKUR, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 744, Nr. 5/2011, S. 403 ff.

1. Ein Schulausflug

Im März wird Kevin1 14 Jahre alt. Was für ein Glück: Sein Geburtstag fällt genau in die Woche, in der seine Klasse zum Skifahren nach Südtirol fahren soll. Zwei Monate vorher teilt die Schule mit: Reise, Unterkunft und Verpflegung kosten 265 €, ein paar Nebenkosten kommen noch hinzu, nämlich die Miete der Skiausrüstung (28 €), und – so wird nach dem Unfall des thüringischen Ministerpräsidenten empfohlen – auch eines Helms (6 €), geeignete Kleidung, und das Taschengeld (20 €). Nützlich seien auf jeden Fall Skibrille und Lippenschutz.

Was für ein Pech, dass Kevin und seine Mutter eine Bedarfsgemeinschaft im laufenden Leistungsbezug nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) bilden, weil sie zu wenig Geld haben2. Aber seine Mutter weiß, was zu tun ist: am gleichen Tag, an dem die Benachrichtigung der Schule eingeht, stellt sie beim Sozialamt einen Antrag auf Zahlung all dessen, was die Schule als notwendig und nützlich bezeichnet; unter anderem auch die Finanzierung einer »Funktionsbrille mit Dioptrien und UV-Schutz«, denn Kevin ist ein bisschen kurzsichtig. Einen Kostenvoranschlag dazu holt sie gerade ein.

Schon eine Woche später werden 265 € bewilligt und kurzfristig überwiesen. Es folgt der Antrag auf Einstweilige Anordnung zur Übernahme der weiteren Kosten, darunter nun auch einen Labello-Stift (Apothekenpreis 3,10 €).

Das war ein kluger Einfall des Anwalts, den das Sozialgericht (Ein Berufsrichter, zwei Schöffen) der Mutter auf Kosten des Staates beigeordnet hat3, nachdem das Sozialamt nichts mehr zahlen wollte, denn es weiß aus Erfahrung, dass die jetzt auftretenden Rechtsprobleme nur noch von Fachleuten beherrscht werden. Beim Lippenstift muß man zum Beispiel wissen, ob die Preisdifferenz zum vergleichbaren Produkt bei Rossmann (»Isana Sun Schutzfaktor 20« - 0,99 €) auch rechtlich relevant werden wird. Das Sozialgericht bewilligt die Leihgebühren für die Skiausrüstung (28 €), der Anspruch auf den Rest, also Helm, Labello usw. wird abgewiesen. Skikleidung et cetera könne in »Kleiderkammern oder Gebrauchtwarenlagern« beschafft werden.

Am gleichen Tag folgt die Beschwerde zum Landessozialgericht (Drei Berufsrichter, zwei Schöffen). Rechtzeitig eine Woche vor Beginn der Klassenfahrt bewilligt es noch die fehlenden 6 € für die Miete des Helms4, will über die weiteren Ansprüche aber nicht mehr im Einstweiligen Anordnungsverfahren entscheiden: diese Ansprüche seien nicht eilbedürftig, denn Skikleidung, Taschengeld, Brille und Labello seien offenbar schon beschafft (auch wenn die Mutter, wie sie vortrug, dafür einen Teil der Miete schuldig bleiben musste). Es versprach aber, später den »im Hauptsacheverfahren gründlicher zu prüfenden Leistungsanspruch nach § 23 Abs. 3 SGB II« genau ins Auge zu fassen.

La lotta continua!

Der Beschluss umfasst knapp 20 Seiten (in der ersten Instanz dürften es nicht weniger gewesen sein), insgesamt haben sich (mindestens) sechs Volljuristen der Sache angenommen, dazu vier ehrenamtliche Richter. Alles zusammen haben die beiden Verfahren einen Aufwand von etwa 3000 € verursacht, von denen der Anwalt für den Antrag 46,41 € und für die Beschwerde 57,12 €, insgesamt also 103,53 € erhielt. Abzüglich 19 % Mehrwertsteuer und 50 % Kosten kommt ein Stundensatz um die 4 € (nach Einkommensteuer) heraus.

Man kann ihm wünschen, dass er nicht nur solche Fälle betreut, aber wenn ich ganz ehrlich bin: der Kampf um den Lippenstift hätte mir auch Spaß gemacht. Vielleicht hat der Anwalt deshalb die Hauptsacheklage (die nicht veröffentlicht ist) am Ende doch erhoben.

Dann könnte sie nach Zulassung der Revision noch das Bundessozialgericht, das Bundesverfassungsgericht und den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg beschäftigen – vorausgesetzt, dass das Diskriminierungsverbot als wesentlicher Teil der Menschenrechte auch die Schande verhindern will, auf einer Klassenfahrt nicht die richtige Skibrille dabei zu haben.

2. Das nackte Leben

Kevin kämpft in seinem Prozess nicht ums nackte Leben. Nicht einmal ganz unten, wo Günter Wallraff 1983-1985 recherchiert hat, ist das der Fall. Da ging es allerdings um unfair bezahlte Drecksarbeit und Diskriminierung von Ausländern. Für einige, die mit uns in Deutschland leben, geht es um mehr. Obdachlosigkeit, Hunger und Krankheiten, die aus Verwahrlosung stammen, rauben jedem, den dieses Schicksal trifft, auch seine psychische Stabilität – Alkohol und andere Drogen sind die Antwort, die Beschaffungskriminalität folgt, aber viel schlimmer ist die steigende Unfähigkeit, an der Situation etwas zu ändern, auch wenn Hilfe angeboten wird. Die genaue Zahl der Menschen, die wirklich auf der Straße leben, ist unbekannt. Die Bundesregierung vermutet5, dass 20.000 (von ca. 82 Millionen Bevölkerung) unter den Brücken schlafen und vielleicht kommt noch einmal dieselbe Zahl Illegaler dazu, wie etwa die rumänischen Großfamilien, die in Berlin betteln (das wären dann vielleicht 30.000 Menschen oder 0,04 % der Gesamtbevölkerung). Diese Zahlen sind in jeder Hinsicht gering und doch prägen sie unser Bild, wenn wir von »Armut« sprechen.

Wallraffs jüngere Ermittlungen in diesem Bereich (»Unter Null« 2009) vermitteln den unzutreffenden Eindruck, Hartz-IV-Empfängern drohe kurzfristig ein vergleichbares Schicksal. Denen wird ihre Wohnung aber genauso bezahlt wie den etwa 230.000 »Wohnungslosen«, die sich so nur in den Statistiken zeigen, denn auf der Straße leben sie nicht: Etwa 130.000 von ihnen wohnen in Gemeinschaftsunterkünften, 100.000 in Ein– Zimmer Appartements. Auch ihre Zahl ist gering – etwa 0,3 % der Gesamtbevölkerung. Wenn sie arbeitsfähig (aber arbeitslos) sind, bekommen sie Arbeitslosengeld II, im übrigen Sozialhilfe und damit auch die notwendigste medizinische Versorgung. So werden sie – anders als in vielen (auch hochzivilisierten) Ländern der Welt – in das soziale System integriert.

Vor allem die jüngeren Obdachlosen, die vor Gemeinschaftsunterkünften fliehen, begründen ihre freigewählte Armut immer wieder mit der Freiheit von der Gesellschaft, die sie brauchen. Der Zusammenhang zwischen Freiheit und Armut ist offensichtlich. Fast jeder von uns hat ihn spätestens begriffen, als er zuhause ausgezogen ist und nicht mehr auf der schweinsledernen Sitzgruppe, sondern auf Jaffamöbeln saß und da nicht mehr weg wollte. Mit den Eltern traf man sich in der Hotellobby. Nur die gute Mutter putzte das Klo und sie tat das heimlich, um die Freiheitsgefühle nicht durcheinander zubringen, zu denen auch ein gewisses Maß an Schmutz gehört wie Christian Enzensberger uns wissen ließ6.

»Unfreiwillig obdachlose Personen«, die auf Ihre Freiheit verzichten, wenn sie dafür Hilfe bekommen, erhalten sie ohne weiteres von den Städten und Gemeinden, die sie auf Dauer unterbringen müssen.

Die Wirklichkeit sieht in diesem untersten Segment völlig anders aus als die Bilder, in denen uns aus Paris, Moskau und Washington Menschen gezeigt werden, die sich Zeitungen um die Füße wickeln und auf Pappkarton schlafen. In Deutschland werden selbst die Treber flächendeckend von wohltätigen Organisationen mit Kleidung und Essen versorgt: Kleider – und Schuhspenden sind so reichhaltig, dass sie in der Regel an niemanden weitergegeben, sondern zu Rohstoffen verarbeitet werden. Der Bundesverband der »Tafeln« umfasst über alle in Deutschland etwa 2000 Stationen, an denen über 32.000 freiwillige Helfer kostenlos pro Woche c.a. 3,4 kg Lebensmittel an 1 Million Empfänger verteilen (Stand 2010).

Zu ihnen gehören natürlich nicht nur die Obdachlosen, die keine Sozialhilfe beantragen, sondern Menschen, die mit dem Geld nicht zurecht kommen, das der Staat ihnen gibt, und die vielen »versteckten Armen«, die staatliche Hilfe – aus welchen Gründen auch immer – nicht wahrnehmen oder ablehnen.

Der 3. Armutsbericht sagt ohne jede Einschränkung: »Sieht man von wenigen Ausnahmen etwa einzelner wohnungsloser Menschen ab, so liegt das Wohlstandsniveau in Deutschland wesentlich über diesem physischen Existenzminimum.« Die Wohlfahrtsverbände sehen die Leistungen der Tafeln gelegentlich kritisch und befürchten, der Staat werde seine eigenen Verpflichtungen um das kürzen, was freiwillig geschieht. Aber viele Leute können einfach nicht dabei zusehen, dass jeden Tag tonnenweise Kleider, Schuhe und Lebensmittel weggeworfen werden, nur weil der Staat ihre Weitergabe nicht organisieren kann. Auch ethische und religiöse Motive spielen für sie eine Rolle, die eine lange Tradition haben: » Das ist ein Fasten, wie ich es liebe: /… an die Hungrigen dein Brot auszuteilen, /die obdachlosen Armen ins Haus aufzunehmen/ wenn du einen Nackten siehst, ihn zu bekleiden /und dich deinen Verwandten nicht zu entziehen. Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte /und deine Wunden werden schnell vernarben.« – So spricht Jesaja (58,6), ihm folgen die christliche und – nicht ganz so radikal – die islamische und die buddhistische Tradition wie auch andere ethischen Konzepte von Kant bis Amartya Sen.

Die Leistungen der Privatpersonen, die oben skizziert werden, decken in Deutschland zweifellos jenes Segment ab, um das sich eigentlich der Staat als erster kümmern müsste, wenn er sich als Sozialstaat bezeichnet. Man kann ihm das aber kaum vorwerfen, denn der Staat kann nur über seine Bürokratie handeln, er kann die Schnittstelle zwischen System und Mensch nicht situationsgerecht überbrücken, er darf nicht zu dem einen gütig sein und zu dem anderen nur gerecht. Man kann ihn nur für das verantwortlich machen, was in einem System verwaltet werden kann. Wer sich weigert, Teil des Systems zu sein, dem ist nur von privater Seite zu helfen. Wir finden es manchmal skandalös, Bilder aus den USA zu sehen, in denen fundamentale Christen in der Osterwoche Obdachlosen die Füße waschen und die Haare schneiden, während sie gleichzeitig von ihnen als Steuerzahler nicht in Anspruch genommen werden wollen. Anders als in Europa sehen die US-Amerikaner nur in wenigen Ausnahmefällen ein Recht, den Staat für das Scheitern des eigenen Lebens verantwortlich zu machen, auch wenn seine Rahmenbedingungen oft genug dazu beitragen, dass das Schicksal zuschlägt. Der Kampf ums nackte Leben findet hier überall, für alle und jeden Tag statt. Solange der US-Staat durch diese Haltung die soziale Ruhe nicht gefährdet sieht, tut er gar nichts. Die Grenze zum New Deal liegt dort erheblich höher als bei uns.

3. Die weibliche Seite erkennen

Das Grundgesetz benutzte 1949 den Begriff Sozialstaat als historische Zusammenfassung dessen, was seit jeher als allgemeine Pflicht zur Solidarität gegenüber den »schuldlos Verarmten« als üblich und notwendig angesehen worden ist. Diese Vorstellungen haben sich im 19. Jahrhundert über hoheitliche Anordnungen des Vaters Staat7 zu rechtlichen Verpflichtungen verdichtet. In Preußen etwa wurden 1842 den Kommunen, aber auch den Gutsherrschaften durch das »Gesetz über die Verpflichtung zur Armenpflege« die entsprechenden Lasten auferlegt. Schon dreißig Jahre später sehen wir ein sehr differenziertes Gesetz »über den Unterstützungswohnsitz« vor uns, dass der neue Kaiser Wilhelm I am 08.03.1871 – also schon zwei Monate nach der Reichsgründung – noch im Hauptquartier Ferrières unterzeichnet: dort wird »jedem Deutschen… Lebensunterhalt, die erforderliche Pflege in Krankheitsfällen und im Falle seines Ablebens ein angemessenes Begräbnis« – also das nackte Leben und Sterben – gewährleistet. Den Mut dazu nahm der Kaiser vielleicht aus der Gewissheit, dass die Franzosen ihm bald 5 Mrd Goldmark (14 Mrd €) als Kriegsreparation zahlen würden.

Das Grundgesetz hat 1949 den Begriff des Sozialstaats geprägt, aber die Frage, nach welchen Maßstäben außerhalb des hoheitlichen Bereichs Lasten und Leistungen gerecht zu verteilen seien, musste in den folgenden Jahrzehnten erst beantwortet werden. Von Anfang an gab es aber keinen Zweifel: es konnte nicht mehr darauf ankommen, ob jemand seine Notlage verschuldet hatte oder nicht8. Und es konnte kein beliebiges Ermessen in der Frage mehr geben, wer Hilfe beanspruchen konnte und wer nicht. Noch entscheidender war aber etwas ganz anderes: das Grundgesetz konstituierte einen Rechtsstaat, in dem jede einzelne Entscheidung der Exekutive auch im Bereich der sozialen Verteilung gerichtlich nachprüfbar war. In der Kaiserzeit hätte die Vorstellung grotesk gewirkt, ein Armer könne einen gerichtlich einklagbaren Anspruch auf Mildtätigkeit haben. Jetzt hingegen konnten Präjudizien geschaffen werden, die ein allgemeines und gleichmäßiges Handeln aller betroffenen Behörden über die Kontrollen durch die Gerichte sicherstellten.

Bis etwa 1960 war das immer noch ein reines Notfallsystem. Nur wenigen Menschen war bewusst, dass sie sich auch gerichtlich durch den Sozialstaat kämpfen konnten. Die Generationen, die nicht mehr in den knüppelharten Hierarchien von Vater Staat aufgewachsen waren, wurden erst nach und nach volljährig. Die staatlichen Budgets stiegen an – sprunghaft erst nach der Wiedervereinigung – und Schritt für Schritt, zuletzt durch die Hartz-Reformen, entstand ein Instrument der Existenzsicherung und ihrer Weiterentwicklung jenseits des Minimums, dass jetzt auch Bildung, Kommunikation, soziale Teilhabe usw. umfasste. Die daraus entstehenden erheblichen Steuerlasten machen es gleichzeitig zu einem System der dauernden Umverteilung des Vermögens und des Einkommens, während der Kern der – früher so genannten – Armenpflege auf private Initiativen abgeschoben wird.

Diesen Systemwechsel haben die meisten Politiker und Experten vermutlich nicht verstanden. Die Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe hat man nur als Rechenproblem gesehen, sogar der Verwaltungsvereinfachung sollte sie dienen – der erste und typische Auslöser für bis heute bestehende Computerprobleme. (In der Informationstechnologie gilt: wer irgendetwas vereinfachen will, vergrößert damit die Komplexität unter der Bedienoberfläche!). Was uns aus alldem in den Folgejahren für komplexe Probleme verfassungsrechtlicher und anderer Art erwachsen sind, wäre eine eigene Studie wert.

Die Menschen hingegen verstanden erstaunlich schnell, dass mit diesem System auch Freiheit verteilt wurde. Schon Jugendlichen gelang es, glaubhaft zu machen, dass sie sich nur in eigenen Wohnungen oder Wohngemeinschaften entwickeln könnten – und das trieb die Wohngeldkosten in ungeahnte Höhen. Wer Arbeit suchte, lernte bald, dass es besser für ihn war, nach Fortbildung zu suchen, auch wenn an deren Ende genauso wenige Arbeitsplätze zu verteilen waren wie in dem Job, den er bis dahin (vielleicht) gelernt hatte. Wer das für einen Missbrauch hält, verkennt den Zweck unserer sozialen Systeme: sie dienen in erster Linie dazu, sozial gefährdete Menschen in ihrem Umfeld zu halten und zu stabilisieren. Würde man ihnen einfach Geld in die Hand drücken, bedeutete das nicht nur Gesichtsverlust, sondern auch eine endgültige – und vielleicht verfrühte – Aussage über die Chancen, die einige von ihnen eben doch haben. Deshalb gehen die Verwaltungen ganz zu Recht und großzügig mit ihren Mitteln um und erzeugen gleichzeitig einen ungeheuren Aufwand im Bereich der Kontrolle. Dabei müssen sie erleben, dass viele Menschen lieber auf Sozialleistungen verzichten, bevor sie die Zumutung einer Fortbildung auf sich nehmen9. Nicht nur deshalb sind die Sachbearbeiter sich über den Leerlauf, der da oft genug geschieht, völlig im klaren, manche von ihnen werden von ihren »Kunden« bedroht und alle fühlen sich durch die ständigen Zusammenbrüche ihrer Computer entmutigt.

Dazu kommen vielfältige psychologische Interferenzen: auf einmal findet sich ein Mann, der 30 Arbeitsjahre malocht hat, neben einem anderen, der sich offenbar besser als er aus in der Kunst auskennt, vom BAFÖG in die Frührente zu stolpern. Noch Anfang 1927 hätten beide gleichermaßen unter den Brücken gelegen (seitdem gibt es die Arbeitslosenversicherung), jetzt aber müssen die Unterschiede rechtlich und praktisch herausgearbeitet werden.

Dabei scheint der Wortlaut der Gesetze (ausnahmsweise einmal) völlig klar zu sein: »Aufgabe der Sozialhilfe ist es, dem Empfänger der Hilfe die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht.

Die Hilfe soll ihn soweit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben; hierbei muss er nach seinen Kräften mitwirken… Sozialhilfe erhält nicht, wer sich selbst helfen kann oder wer die erforderliche Hilfe von anderen … erhält.« (§§ 1,2 Bundessozialhilfegesetz).

Der Zustand der Not wird seither aber auch nicht mehr in Beziehung zu seinen Ursachen gesetzt. Der Sozialstaat darf nicht einmal fragen, warum jemand ins Unglück geraten ist, denn das verstieße gegen die Menschenwürde und viele aus ihr abgeleiteten Rechte, wie die Freiheit, seinen eigenen Lebensentwurf zu gestalten, den Gleichheitssatz und das Recht auf Anonymität (Datenschutz). Hier haben wir das Gebiet der hoheitlichen Verwaltung, das der Vater Staat repräsentiert, längst verlassen. Bei den pragmatischen Engländern geht man erheblich härter vor. Der 22-jähriger Alkoholiker Gary Rheinbach erhielt vom National Health-Service keine Ersatzleber, weil er nicht beweisen konnte, er habe sich darum bemüht, seine Sucht in den Griff zu bekommen. Dann starb er.

Wir aber liegen in den Armen der Mutter. Sie unterscheidet zwischen dem Notfall, dem Normalfall und dem Glücksfall. Nicht immer gelingt es ihr, zwischen diesen drei Kategorien vernünftig zu differenzieren; denn deren Grenzen verschieben sich ständig: die Armutsberichte der Bundesregierung zeigen uns, dass nicht nur die reichen Leute von Armut weit entfernt sind: »Die Bedürftigkeit im Sinne der Mindestsicherungsleistungen wird in der öffentlichen Diskussion oft auch als Armut bezeichnet. Dabei ist aber zu bedenken, dass die Anzahl der Hilfeempfängervon der Höhe der Bedarfssätze abhängt. Je höher diese sind, umso mehr Haushalte sind bezugsberechtigt und würden damit als arm gelten.«10 Damit ist klar genug gesagt, was in der politischen Diskussion oft genug verschwiegen wird: je mehr Mühe der Sozialstaat sich gibt, umso größer ist die »Armut«, die er damit gleichzeitig definiert. In Zahlen: im Jahr 2005 galt ein Mensch mit einem Jahreseinkommen von unter 9836 € als arm, im Jahr 2009 sind es 11.151 €11.

Wir reden in diesen Zusammenhängen eben nicht mehr von dem Obdachlosen mit der Einkaufskarre, der sich im kollektiven Bewusstsein so fest verankert hat (und aussieht wie Harry Rowohlt), sondern wir reden von Kevins Skibrille: sollen wir sie ihm bezahlen, oder müssen wir ihm zumuten, gelegentlich zur Erhöhung seines Taschengeldes dem Großvater im Garten zu helfen um sich diesen kleinen Luxus leisten zu können? (Ich würde hier gerne und ausführlich die Meinung meiner Mutter zu diesem Thema zitieren, unterlasse das aber, weil sie unter rechtlichen Aspekten irrelevant ist.)

4. Der Auftrag der Verfassung

Das Grundgesetz bezeichnet die Bundesrepublik als Sozialstaat und verpflichtet sie, die Menschenwürde zu achten. Aus diesen allgemeinen Grundsätzen kann niemand einen konkreten Anspruch zum Beispiel gegenüber einer Kommune ableiten, ihm Geld zu zahlen. Dies geschieht vielmehr auf der Basis einer Vielzahl von Gesetzen die die verfassungsrechtliche Grundregel konkretisieren. Die monatliche »Regelleistung« für den Lebensunterhalt eines Erwachsenen lag 2005 bei einer Höchstgrenze von 345 € / 311 €, für Kinder bei 207 €. Dazu kamen Wohngeld und die Möglichkeit einmaliger Beihilfen in besonderen Situationen. Diese Zahlen beruhen auf parlamentarisch erlassenen Gesetzen und drücken damit eine politische Auffassung darüber aus, mit welchen Beträgen eine menschenwürdige Existenz geführt werden kann. Sie werden aus statistischen Mittelwerten gewonnen und zwar aus einem Vergleich mit den ärmsten Bevölkerungsschichten, die von ihren geringen Löhnen/Gehältern noch ohne staatliche Unterstützung leben. Da Statistiken das wirkliche Leben nicht abbilden können, bewilligen die Sozialämter im Einzelfall mit entsprechendem Ermessen zusätzliche Zahlungen. Ihre Fehlentscheidungen korrigieren die Sozialgerichte.

Im Jahr 2006 kamen den Sozialgerichten in Hessen, dann aber auch dem Bundessozialgericht Zweifel, ob die Regelsätze der Verfassung entsprechen. Manche haben diese Frage für unzulässig gehalten, denn hier geht es um einen politischen Gestaltungsspielraum. Die Idee wurde aber von der Verfassung her begründet: irgendwo muss es ja eine Grenze geben, in der ein allzu niedriger Regelsatz offensichtlich nicht ausreiche, um eine menschenwürdige Existenz zu ermöglichen. Dann hätten die Parlamente, die das dulden, gegen die Verfassung verstoßen und mit ihnen die Verwaltungsbehörden, die die Gesetze ausführen.

Gespannt wartete man auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 (1 BvL1/09). Und nun geschah das Unerwartete: das Gericht hielt nicht nur die Frage für zulässig, sondern leitete aus den allgemeinen Aussagen der Verfassung eine verfassungsrechtlich verankerte neue Regel ab – manche sagen: ein neues Grundrecht. Es lautet:

»Die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums muss durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert sein. Der gesetzliche Leistungsanspruch muss so ausgestaltet sein, dass er stets den gesamten notwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers12 deckt.«

Unter Berufung auf viele schon früher erlassene Urteile wird hervorgehoben, das Existenzminimum umfasse nicht nur das nackte Leben, »die physische Existenz des Menschen, also Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit (sondern auch) die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und zu einem Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben … denn der Mensch als Person existiert notwendig in sozialen Bezügen«.

Der entscheidende Unterschied zur bisherigen Auffassung liegt in der Zubilligung eines individuellen Anspruchs durch die Verfassung selbst. Während man bisher annahm, das Grundgesetz verpflichte den einfachen Gesetzgeber zur Berücksichtigung verfassungsmäßiger Rechte, die sich im allgemeinen aus Begriffen wie Menschenwürde und Sozialstaat ableiten, erhält jetzt der Anspruch selbst Verfassungsrang. Ob damit allerdings viel gewonnen ist? Denn anders als die vorlegenden Gerichte sich das vielleicht erhofft hatten, legt das Bundesverfassungsgericht selbst keine Grenze fest. Das hätte zum Beispiel ein bestimmter Prozentsatz des Einkommens der von Armut bedrohten Bevölkerungsschichten sein können. Stattdessen hat es die abstrakte Berechnung der Regelleistungen als verfassungswidrig aufgehoben – und dazu hätte es keines neuen Grundrechts bedurft. In der Sache aber hatte das Gericht recht: die verwendeten Formeln verstießen an verschiedenen Stellen gegen ihre eigene Logik und müssen nun nachgebessert werden. Darüber hinaus hat es Lücken in der Förderung schulpflichtiger Kinder gesehen und – wie es der Tendenz seiner Urteile entspricht – dem Parlament vorsorgliche Hinweise dafür gegeben, wie sie zu füllen seien. Wir sind gewohnt, dass Vater Staat in dieser Form zu uns spricht und wir nehmen es auch hin, dass das Bundesverfassungsgericht auf diese Weise zur vierten Gewalt wird. In anderen Ländern sähe man eine solche Entwicklung kritischer.

5. Der Fall wird entschieden

Die Regelsätze der Sozialhilfe sind, wie Peter Masuch, der Präsident des Bundessozialgerichts sagt, »das Allerheiligste des Sozialstaats«. Den politischen Verfahren, die dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts folgen, um ihre logischen Mängel zu beheben und schulpflichtige Kinder besser zu fördern, merkt man das nicht an. Anstatt sich auf die Aufgabe zu beschränken, das Problem zu lösen, vergrößern es die Interessengruppen, in dem sie »Pakete schnüren«, die die Regierung handlungsunfähig machen. So kann man sie dann vorführen. Im Februar 2011 wurde erst in letzter Sekunde vor dem Scheitern der Gespräche im Vermittlungsausschuß ein politischer Kompromiss erreicht. Er hat eine geringfügige Anhebung der Regelsätze und ein „Bildungspaket“ für Schüler erbracht – dazu wurden noch neue Mindestlöhne ins Paket gepackt. Die Anhebung der Regelsätze sind am Ende genauso geringfügig wie die Kosten für Kevins Skibrille, aber gerade deshalb drängt sich die Frage auf: hängt die Verletzung der Menschenwürde davon ab, ob es am Ende 5 €oder 8 € mehr oder weniger gibt?

Die Frage ist einleuchtend, aber gleichwohl sinnlos: wo immer wir eine Grenze ziehen, wird sich das Problem ergeben, warum sie gerade hier und nicht anderswo gezogen wird. Die Faktoren, die am Ende in eine einzige kleine Zahl münden, sind zu komplex, als dass man sie mit ein paar Handgriffen verändern könnte. Kevins Fall spielt sich genau wie jene, über die das Verfassungsgericht zu entscheiden hatte, an der Grenze zwischen Notfall und Normalfall ab und wir müssen über ihn nachdenken: nur wenn wir solche Details griffsicher beurteilen können, werden wir auch die großen Unterscheidungen besser treffen können. Nicht selten entwickelt sich die Rechtsprechung an Grenzfällen, die am Anfang sehr klein aussehen, wie jener der Kassiererin Emely, die zwei Pfandbons unterschlagen hatte – Wert: 1,30 €.

Wie ist die Grenze zwischen Not und Norm zu ziehen? Darüber werden in unserem Fall die Sozialgerichte entscheiden. Sie sind Teil eines ungewöhnlich ausdifferenzierten Justizsystems, dass es in vergleichbarer Weise auf der ganzen Welt nicht gibt. Viele bezeichnen es als undurchschaubar. 69 Sozialgerichte, 14 Landessozialgerichte und das Bundessozialgericht urteilen jährlich über etwa 350.000 Fälle, von denen durchschnittlich 300.000 pro Jahr erledigt werden13. In weniger als sechs Monaten sind es 30 %, nach einem Jahr wird mehr als die Hälfte abgearbeitet. Wenn – wie in Kevins Fall – der Kläger in den Urlaub muss, wird sofort entschieden. Auch die tausenden von Einstweiligen Anordnungen, die der Systemwechsel nach Harz IV nach sich zog, hatten natürlich Auswirkungen – vor allem in Berlin, wo 40 % der Bevölkerung von Transferleistungen lebt. Allein dort gibt es 123 Sozialrichter, von denen die Hälfte sich nur mit Hartz IV beschäftigt. Die anderen Sachen bleiben liegen, aber nicht sehr lang. Das Bundessozialgericht erledigt die Hälfte seiner Fälle in einem Jahr, den Rest im zweiten Jahr. Das Verfahren ist kostenlos.

Das geheimnisvolle an diesem System ist lediglich die Tatsache, dass ständig über Dauer und Kosten der Gerichtsverfahren geklagt wird. Für die Sozialgerichtsbarkeit jedenfalls trifft das nicht zu. Wer das nicht glaubt, sollte einmal versuchen, in einer beliebigen Stadt Englands, Italiens, Frankreichs und Spaniens einen Anwalt und einen Sozialrichter zu finden, der sich seiner Sache annimmt – von den USA ganz zu schweigen.

Wenn Kevins Anwalt die Hauptsacheklage erhebt, wird er vortragen, die Gleichstellung Kevins mit seinen Schulkameraden erfordere die Teilnahme an der Klassenfahrt und jeder Unterschied zwischen den Schülern beim Outfit oder der Höhe ihres Taschengeldes oder aller weiteren Kleinigkeiten bedeute eine Diskriminierung. Der Staat dürfe sie nicht zulassen.

Das Sozialamt wird darüber andere Vorstellungen haben. Es wird sagen: hätte die Großmutter dem Enkel die Reise zum Geburtstag geschenkt, würde niemand sie auch noch um die Nebenkosten bitten.

So würde wohl jeder von uns argumentieren, der nicht verstanden hat, dass das Grundgesetz uns Ansprüche gegenüber dem Staat gibt, die inhaltlich nach ganz anderen Regeln zu beurteilen sind, wie Geschenke, die man innerhalb einer Familie austauscht. Das Sozialamt hat Kevin die Reise nicht geschenkt, er hatte einen Anspruch darauf. Auch wenn im Grunde jeder Steuerzahler Kevins Skiwoche bezahlt14, werden wir dadurch nicht seine Familie. Der Staat ist eine neutrale Clearingstelle, die von Kevin und seiner Mutter keine familiäre Fairness erwartet. Er nimmt sie nicht liebevoll in die Arme, sondern kennt andere Kriterien: er untersucht nicht der Lebensstellung zu seinen Klassenkameraden im Allgemeinen sondern nur zu einem von ihnen, der fast genauso arm ist: Leon.

Werfen wir einen Blick in Leons Familie, der gemeinsam mit Kevin zur Schule geht. Sein Vater hat eine halbe Stelle als wissenschaftlicher Assistent an der Universität mit netto 1.200 € pro Monat (er arbeitet an seiner Promotion über Eichendorff), die Mutter ist Fernstudentin (irgendwas mit Medien) und verdient als Abendsekretärin netto 800 €. Dazu gibt es 157 € Kindergeld, insgesamt also 2157 €. Wenn es eng wird, räumen beide bei Tengelmann die Regale ein – ein flexibler Dauerjob, um den sie seit Studentenzeiten beneidet werden. Wären sie einkommenslos, erhielten die Eltern vom Sozialamt jeweils 345 € und einen Zuschlag zum Kindergeld bis auf 207 € (alte Rechtslage), insgesamt also 897 €. Differenz: 1260 €. Anders als Kevins Eltern müssen sie aber Ihre Wohnung zahlen und die kostet mit Heizung, Strom usw. gewiss 660 €. Sie leben an der »Armutsrisikoschwelle«15 Mit dem Existenzminimum kommen sie aus, weil sie bei Thilo Sarrazin kochen gelernt haben und konsequent bei Aldi und Lidl einkaufen16. Alles was darüber hinausgeht – zum Beispiel unterwegs mal einen Kaffee trinken – geht schon ins Luxusbudget, denn der Kaffee kostet so viel wie ein ganzes Mittagessen zuhause. Von Auto, Handys, Kino, Theater, Ferien usw. gar nicht zu reden.. Aber da Leons Eltern sich im Sozialsystem nie auskennen werden, kämen sie vermutlich nicht auf die Idee, in Notfällen einmal nachzufragen, aus welchem Topf man sich da bedienen kann. Sie sind nicht im Mangel sozialisiert, weil sie sich vor dem Aufstieg sehen.

Aber ihre wirkliche soziale Lage wird sich über Jahre hinweg kaum von jenen unterscheiden, die sie über ihre – wenn auch geringen – Steuern mitfinanzieren und später im Wesentlichen tragen werden: sobald sie gemeinsam mehr als 40.000 € pro Jahr verdienen, gehören sie zum reichsten Viertel der Bundesbürger, das etwa 80 % der jährlichen Lohn-Einkommensteuern aufbringt.17

Wie werden sie sich entscheiden, wenn der Brief der Schule auch bei ihnen eintrifft? Anders als Kevins Eltern müssen sie die ganze Reise bezahlen(alle Großeltern sind tot). Zusammen mit den Nebenkosten sind das etwa 400 €, also zwei Drittel dessen, was die Familie oberhalb ihres Existenzminimums im Monat zur Verfügung hat. Einige Schulen bilden für solche Fälle Sonderfonds, die diskret helfen. Wenn sie nicht existieren und Leons Eltern sich zu sehr schämen, bei den Sozialbehörden um Hilfe nachzusuchen, werden sie ihren Buben vermutlich nicht fahren lassen.

Wenn wir solche Maßstäbe auch an Kevins Forderungen gegenüber dem Staat anlegen, hat er keine Chance, den Prozess zu gewinnen. Aber natürlich fährt er trotzdem und höchst wahrscheinlich werden auch Leons Eltern in den sauren Apfel beißen, obwohl sie »eigentlich« das Geld nicht haben. Zwei Sonderschichten bei Tengelmann werden reichen. Aber das sind keine Rechtsprobleme.

6. Eine große Lücke

Wenn man in Berlin über die Straße geht, trifft man die Leute mit den Obdachlosenzeitungen, Straßenmusikanten, Leute die still eine Büchse neben sich stehen haben, andere, die für ihre Hunde betteln, die Zigeuner mit dem Kind auf dem Arm, die Zettel umherzeigen, in denen sie in mehreren Sprachen Gottessegen für die Spender aufrufen. Nur von ihnen kann man das (den Fluch für die Gleichgültigen formulieren sie lieber mündlich). Sie wissen von zuhause, dass der Bettler die Güte wenigstens mit der Mühe des Gebets entlohnen muss, wenn er sich nicht schämen soll: sogar wenn nur gespielt wird, entsteht immer eine komplexe Wechselbeziehung zwischen den Beteiligten, bei der Eigennutz und Fairness sich ergänzen müssen18.

Das Rechtssystem kann diese einfache Erkenntnis innerhalb seiner Logik nur auf dem Papier umsetzen: die Ansprüche des Bedürftigen sind in Gesetzen und Verordnungen bis in jedes Detail beschrieben, die Mitwirkung hingegen kann man nicht beschreiben, weil jeder nur »nach seinen Kräften« mitwirken muss. In der Zeit vor der Verfassung, als es den Vater Staat noch gab, konnte er mehr oder weniger willkürlich seine Güte verteilen und auch von Gegenleistungen – wie zum Beispiel dem Straßenfegen – abhängig machen. Theoretisch bestünde diese Möglichkeit auch heute noch, aber dann würden die Straßenfeger arbeitslos.

Die Folge: die Ämter müssten eine kreative Quelle für unzählige Ideen sein, die angepasst auf die Lage des Einzelnen Perspektiven dafür entwickeln, wie er sich an seiner Rettung beteiligen kann und nicht gleichzeitig das ganze System stört. Damit wären auch Leute überfordert, die ohne den Staat für sich sorgen können. Also ist es Aufgabe der Ämter – aber auch für sie ist es zu schwierig. Sie finden den »Mittelweg zwischen Reichsarbeitsdienst und Kundenbetreuung«19 nicht. Wie sollten sie auch? Verwaltung kann das im allgemeinen nicht leisten.

De Ämter sind mit dem Übermut und der Entmündigung vertraut. Lieber zahlen sie, als sich mit Antragstellern auf Diskussionen einzulassen. Diese Praxis ist für uns alle so selbstverständlich geworden, dass weder dem Bundesverfassungsgericht noch den Kommentatoren seines Urteils aufgefallen ist, welch bedeutende Lücke es hat: es definiert zwar das neue Grundrecht auf angemessene soziale Absicherung jedes einzelnen, aber es spricht an keiner Stelle davon, dass jeder Anspruchsteller auch eine individuelle Pflicht zur Mitwirkung an seinem Problem hat. Die einfachen Gesetze verlangen diese Mitwirkung, aber sie haben keinen Verfassungsrang! Dem Grundrecht steht keine Grundpflicht gegenüber. Da die Verfassung höher steht als die einfachen Gesetze, könnte man darin eine stillschweigende Beseitigung der Pflicht zur Mitwirkung sehen. Im Ergebnis kann man von den sozial Bedürftigen gar nichts verlangen, nicht einmal die Scham. Für Leute, die sie fühlen, ist es nahezu unmöglich, sich zu einem Sozialamt zu begeben, auch wenn ihr Anspruch unbezweifelbar ist.

Hoffen wir, dass Niklas Luhmann nicht recht behält: »Alles ist möglich und nichts wird sich ändern«20

7. The pursuit of happiness?

»Als Atmosphäre ist der soziale Rechtsstaat jener Staat, in dem die Menschen, wenn sie sich begegnen, lächeln« meinte um 1960 der Rechtsphilosoph René Marcic. Ganz offensichtlich hat er den Staat mit einer Weihnachtsfeier verwechselt. Aber vielleicht erreichen wir einen ähnlichen Zustand mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. Jeder würde dann zum Beispiel lebenslang 1000 € im Monat bekommen. Wie soll dieses System finanziert werden? Man spricht von einer Anhebung der Mehrwertsteuer auf 50 % und rechnet Milliarden Ersparnisse hinzu, die aus dem Wegfall der Sozialverwaltungen kommen. Das Problem: für alle besonderen Bedürfnisse (Alter, Krankheit, Pflege usw.) reicht nicht einmal dieser Betrag aus. Und welche anderen Rahmenbedingungen sind erforderlich, um solch ein System funktionsfähig zu halten?

Die erste Frage: Was gibt man jenen Leuten zu tun, die im Sozialsystem selbst ihre Beschäftigung finden? Ihr Anteil ist erheblich größer als der Aufwand für die unmittelbaren Verwaltungsbehörden, denn etwa 30 % unseres Bruttosozialprodukts werden im sozialen Sektor erwirtschaftet (Sozialquote), also von Millionen Menschen, die den Sozialstaat direkt und indirekt täglich in Funktion halten. Sodann: wird die Schwarzarbeit verschwinden? Schon jetzt wird vermutet, dass fast 350 Milliarden unserer Wirtschaftsleistung außerhalb des Systems erwirtschaftet wird21. Der Missbrauch der Transferleistungen (35,9 Milliarden €22)wird auf insgesamt zwischen 1% bis 3 % geschätzt23. Wenn das erwartungsgemäß so bleibt, wird man damit rechnen müssen, dass noch weit mehr Menschen als bisher von der Freiheit ihrer Persönlichkeitsentwicklung Gebrauch machen, weil sie die Gefahr nicht hoch genug einschätzen, gleichzeitig ihre Verankerung in der Gesellschaft zu verlieren. Nur wenige erkennen auch, wie stark selbst wenig geliebte Arbeit unsere Persönlichkeit und unseren Charakter prägt.

Und schließlich: Die psychologischen Wirkungen, die man leider nicht unter Laborbedingungen austesten kann, können gewaltig sein. Derzeit wird sowohl die Verteilung wie der Missbrauch unserer Sozialleistungen immer wieder durch Einzelkontrollen überprüft und so die Gewissheit vermittelt, dass die investierten Steuergelder im Großen und Ganzen richtig verwendet werden. Wenn das entfällt, wird man sich den Unmut derjenigen, die überhaupt Steuern zahlen müssen, vorstellen können.

Unser aller Gerechtigkeitsgefühl würde wahrscheinlich verletzt und dagegen ist mit rationalen Mitteln nichts zu machen. Das zeigt uns die breit aufgefächerte psychologische Gerechtigkeitsforschung (Melvin J. Lerner, Leo Montada, Elisabeth Kals, Jürgen Maes, Manfred J. Schmitt), die erstaunlich genau ermitteln kann, was diejenigen als fair empfinden, die von den Entscheidungen der Rechtsysteme betroffen sind. Man fordert Gleichheit im Verfahren und im Ergebnis, aber niemand will, dass sich alle Farben zu einem einheitlichen Grau vermischen. Gefordert wird ein fairer Blick für Unterschiede, die nicht nur formell definiert sind, sondern auch inhaltlich gerechtfertigt werden können. Das wäre dann so eine Art Sozialismus mit menschlichem Antlitz, also einer, der noch die Kraft zur Differenzierung hat.

Aber vermutlich haben wir ihn schon erfunden. Angela Merkel hat einmal bemerkt, ein im Westen aufgewachsener Bürger, der fähig 1989 fähig gewesen wäre, Deutschland so zu betrachten, wie jemand, der in Dresden aufgewachsen sei, würde sich wundern, wie nahe wir seinen Idealen gekommen sind. Ein Blick in das Gothaer Programm der SPD von 1875 (damals noch: Sozialistische Arbeiterpartei) zeigt, dass sie recht hat. Da wir uns selbst Kapitalisten nennen und immer noch von anderen so beschimpft werden, fällt es uns nicht auf.

  • 1. Namen und Orte wurden verändert, alle Statistiken sind über Google und Wikipedia zu erschließen.
  • 2. Wie 9,5 % der Bevölkerung = 7,8 Millionen Menschen (Zahlen für 2009, Pressemitteilung Nr 458 vom 09.12.2010 des Statistischen Bundesamtes (wwww.destatis.de).
  • 3. Auch im sozialrechtlichen Verfahren darf die staatlich finanzierte Beratungshilfe nicht kleinlich verweigert werden (BVerfG vom 09.11.2010, 1 BvR 787/10).
  • 4. Eilverfahren müssen immer vorgezogen werden. Auch dieses Prinzip hat Verfassungsrang BVerfG vom 4.7.2001 1 BvR 165/01.
  • 5. 3. Armuts – und Reichtumsbericht der Bundesregierung v. 19.5.2008, S. 167.
  • 6. Größerer Versuch über den Schmutz. Hanser, München 1968.
  • 7. Jürgen Kaube, Vater Staat und seine Erwachsenen, Merkur 9, 2010.
  • 8. Die Heilsarmee hat diese Abgrenzung wohl als erste schon Ende des 19. Jahrhunderts aufgegeben (Henning Ritter, Die Schreie der Verwundeten, Merkur 1/2011, Seite 36).
  • 9. Hans-Peter Müller, Hält das soziale Band? – Über Reziprozität und Dekadenz, Merkur 2007, Seite 809 ff.
  • 10. 3. Armuts – und Reichtumsbericht der Bundesregierung 2008, S. 21.
  • 11. Statistik EU-SILC (10/2010) über www.destatis.de.
  • 12. Hervorhebung durch den Verfasser.
  • 13. Stand der Statistiken: 2008.
  • 14. Aus der gesamten veranlagten Einkommensteuer in Höhe von ca. 50 Milliarden € (ohne Lohnsteuer) lassen sich die Transferleistungen von 35,9 Milliarden ohne weiteres bezahlen. Kurz gesagt: der gehobene Mittelstand und die Reichen finanzieren diesen gesamten Aufwand allein! Allein das Steueraufkommen der etwa 10.000 Einkommens-Millionäre unter ihnen beläuft sich auf etwa 10 Milliarden €. (Pressemitteilung des statistischen Bundesamtes Nr. 305 vom 25.8.2008).
  • 15. 3. Armuts-und Reichtumsbericht der Bundesregierung S. 23: je nach statistischer Methode lag sie 2005 zwischen 781 € und 880 €, heute bei 913 €.
  • 16. Astrid Paprotta/Regina Schneider: Aldidente. 30 Tage preiswert schlemmen. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1996.
  • 17. Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes Nr. 305 vom 25.08.2008 und Mitteilung des Bundesfinanzministeriums vom 27.05.2010 über die Entwicklung der Steuereinnahmen.
  • 18. Axel Ockenfels, Fairness, Reziprozität und Eigennutz, Mohr Siebeck 1999.
  • 19. So meint der Blogger »brux« bei Zeit online am 22.12.2010.
  • 20. cit.n. Claus Offe, TAZ vom 13.09.2005.
  • 21. Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit, Bericht: Vorrang für die Anständigen, August 2005.
  • 22. Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes Nr 458 vom 09.12.2010; die Hälfte davon ist Sozialhilfe (20,9 Milliarden €), Nr 380 vom 22.10. 2010.
  • 23. Jahresbilanz der Bundesagentur für Arbeit, Stand 2009 : 1,9 %.
Literaturverzeichnis