Donald Trump und die Radbruch‘sche Formel
Viele US-Juristen halten die politischen Entscheidungen Donald Trumps für verfassungswidrig, andere, so John Yoo (Emanuel S. Heller Professor of Law an der University of California, Berkeley) in seinem Buch Defender in Chief: Donald Trump's Fight for Presidential Power (2020), bestreiten das: »Donald Trump isn't shredding the Constitution—he's its greatest defender.« Aus europäischer Sicht ist das US-Verfassungsrecht – vor allem in seiner praktischen Anwendung – schwer zu beurteilen, aber ein Einblick in rechtsphilosophische Grundlagen kann weiterhelfen, seine rechtsstaatlichen Grundsätze zu verstehen.
An die willkürlichen Angriffe Wladimir1 Putins gegen den Rechtsstaat haben wir uns gewöhnt und versuchen, sie auf dem Hintergrund der russischen Geschichte und ihrer monarchistischen wie kommunistischen Zaren zu verstehen. Warum Donald Trump ihn als seinen Freund betrachtet, ist schwieriger zu begreifen, wird aber in seiner zweiten Amtszeit überdeutlich: er sieht da ein Vorbild, aber da er innerhalb einer gelebten Demokratie tätig ist, kann man seine politische Willkür noch als Versuch verstehen, die Bandbreite der Herrschaftsmöglichkeiten auszutesten, die die amerikanische Verfassung ihren Präsidenten zugesteht. Im Frühjahr 2025 griff er Rechtsanwälte an: 20 große Sozietäten wurden aufgefordert, ihre Diversitäts-Programme einzustellen2, die alle gesetzlich verankert sind. Einige Büros, darunter Perkins Coie3, Covington & Burling4 und Paul Weiss5, droht er mit weiteren Maßnahmen, weil sie in der Vergangenheit politische Gegner vertreten haben. Wenn Gerichte ihnen an der Umsetzung von Executive Order hindern wollen, ignoriert er solche Entscheidungen.6 Damit greift er den Rechtsstaat selbst an. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass Paul Weiss (und demnächst wohl auch andere Sozietäten) sich Ende März 2025 den Angriffen teilweise gebeugt haben.7 Andere wie Perkins Coie und WilmerHale kämpfen vor Gericht und haben (vorläufig) Recht bekommen.8
So wird augenfällig, wie aktuell Böckenfördes Erkenntnis ist, dass Demokratie und Rechtsstaat sich gegen Angriffe von außen nicht selbst schützen können. Sie müssen von der Politik im eigenen Interesse wirksam verteidigt werden, denn auch die politische Freiheit kann sich nur innerhalb eines Rechtsstaats verwirklichen:
»Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.«9
Demokratie, Rechtsstaat und Politik sind untrennbar miteinander verbunden, weil das Recht die Ordnungsvorstellungen der Gesellschaft und seine Regierungen durch positive Gesetze definiert und dadurch erst ihre Stabilität ermöglicht. Diese Gesetze müssen unseren Gerechtigkeitsvorstellungen entsprechen, müssen also den Kriterien der Gleichheit, der Fairness und der Ausgewogenheit standhalten10. Der Gesetzesvorbehalt erfasst aber auch alle Normen, die die Interessen des Einzelnen schützen. Werden diese Interessen missachtet – wie wir in den Zeiten der Diktatur immer wieder erleben – oder werden positive Gesetze erlassen, die sich gegen den Bestand des Rechtsstaats selbst richten, entstehen Normkonflikte, die mit rechtlichen Mitteln nicht immer gelöst werden können. Die Auflösung dieser systemisch unvermeidbaren Antinomie kann nur gelingen, wenn wir eine hinreichend klare Vorstellung davon gewinnen, mit welchen Entscheidungen der Rechtsstaat in seinem Kern gefährdet wird.
Gustav Radbruch hat 1946 in der Nachkriegsdebatte schon sehr früh eine Formel zur Lösung dieses Problems vorgeschlagen, die allgemein, aber auch von den Gerichten11 akzeptiert worden ist. Sie ist in zwei Absätze gegliedert, die getrennt gelesen werden müssen12. Ihr erster Absatz lautet13:
»Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat.«
Die Verwendung des Begriffs »Rechtssicherheit« ist in diesem Zusammenhang fehlerhaft, richtig müsste es heißen »Positives Recht«, denn der Begriff der Rechtssicherheit bezieht sich nur auf die Formstrenge des Rechts (Verfahrensregeln, Verjährung usw.) und ist selbst Teil der Gerechtigkeit, denn auch diese Regeln müssen den drei Gerechtigkeitskriterien entsprechen.
Alle Gesetze haben Ermessensspielräume, sodass es immer Streit über die Frage geben wird, ob eine einzelne Entscheidung der Gleichheit, der Fairness und der Ausgewogenheit entspricht. Die entscheidende Frage ist, wann Fehlentscheidungen ein so »unerträgliches Maß« erreichen, dass der Streit ein Ende haben muss. Der Begriff ist eine offensichtliche Leerformel, denn der Maßstab, von dem hier gesprochen wird, bietet – anders als man es von einem Maßstab erwarten muss – keine objektiv verwertbaren Kriterien, sondern ist ein emotionaler ethischer Appell: Was unerträglich ist, hängt von den subjektiven Gefühlen dessen ab, der eine bestimmte Erfahrung macht, ist einem Dritten also nur begrenzt vermittelbar und mit Sicherheit nicht vergleichbar. Mit dem Schluss, »dass das Gesetz als ›unrichtiges Recht‹ der Gerechtigkeit zu weichen hat« ist der Eindruck entstanden, als plädiere Radbruch dafür, gesteuert von Gefühlslagen naturrechtliche Überlegungen über das positive Recht zu stellen.
Dieser Eindruck wird allerdings korrigiert, wenn man den zweiten Absatz liest:
»Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ›unrichtiges‹ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.« (Hervorhebung durch den Verfasser).
Der letzte Satz, der selten zitiert wird, liefert präzise Kriterien für die Beurteilung der Ungerechtigkeit eines Gesetzes, eines Urteils oder einer politischen Entscheidung: Wenn Sie nur im Allgemeinen ethisch fragwürdig sind, oder sonstige Systemfehler aufweisen, sind sie als positives Recht anzuerkennen. Richten Sie sich aber gegen den Rechtsstaat selbst, bekämpfen sie die Rule of Law, dann ist das »unerträgliche Maß« erreicht, von dem der erste Absatz spricht14. Eine ähnliche Fragestellung ergibt sich bei der Suche nach den Grenzen der Toleranz. Sie endet dort, wo die Möglichkeit zur Toleranz für die Zukunft gefährdet ist. Die Radbruch‘sche Formel überzeugt, wenn man ihre beiden tragenden Aspekte zusammenführt: sie funktioniert wie »Treu und Glauben« nur in einem konkreten Bedeutungszusammenhang, nicht jedoch im leeren Raum15. Das Zusammenwirken systematischer juristischer Begriffe mit anderen, die emotionalen Lagen Ausdruck geben, hat die Methodenlehre unter den unterschiedlichsten Aspekten erfasst. Vor allem Arthur Kaufmann16 hat gezeigt, dass im Rahmen der Bildung von Analogien – so vor allem beim Vergleich des Normfalls (Fritjof Haft) mit dem konkreten Fall – Emotionen bei der Entscheidung ins Spiel kommen, die sich ohne breite Ermessensspielräume nicht entfalten könnten17. Die Radbruch‘sche Formel entwickelt also keine naturrechtlichen Ideen, sondern definiert die Grenzen dieser Ermessensspielräume.
Radbruchs Überlegungen sind nicht an ein bestimmtes Rechtssystem geknüpft, sondern gelten allgemein für jedes demokratisch und rechtsstaatlich konstruierte System: Wie wir aus vielen historischen Beispielen wissen, ist Demokratie ohne ein wirkungsvolles rechtsstaatliches System nicht funktionsfähig. Zwar gibt es in den unterschiedlichen Rechtssystemen zahllose Definitionen des Begriffs »Gerechtigkeit«18, wenn eine politische Entscheidung aber nur von Lügen, haltlosem Gerede (Bullshit19) und Willkür geprägt ist, wird in der Regel zu sehen sein, ob »Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird«. So ist es bei Racheakten gegenüber Rechtsanwälten, mehr noch aber bei der Missachtung gerichtlicher Verfügungen. Jede der Executive Orders des Präsidenten enthält den Hinweis, dass sie nur im Rahmen der geltenden Gesetze anzuwenden seien. Noch ist unklar, ob dadurch nur die Executive Orders früherer Präsidenten zu diesen Gesetzen korrigiert worden sind.20 Denn diese Gesetze einschließlich der Verfassung verfügen über Spielräume, die Trump offenbar jetzt bis zu ihren Grenzen austesten will, darunter auch die Frage, unter welchen Umständen mehr als zwei Amtszeiten möglich sind. Viele der großen international tätigen Sozietäten, darunter Paul Weiss haben mit dem Präsidenten einen »deal« geschlossen21, der von vielen Anwälten kritisiert wird, Perkins Coie, WilmerHale u. a. haben Klagen erhoben, aber niemand kann voraussagen, wie diese Verfahren sich entwickeln werden. Ob der von Trump stark beeinflusste Supreme Court sich am Ende dem Präsidenten entgegenstellen wird? Wir sind gespannt…
- 1. Die wörtliche Übersetzung des russischen Vornamens lautet: »Friedensfürst«.
- 2. https://www.lto.de/recht/kanzleien-unternehmen/k/diskriminierung-durch-d...
- 3. https://www.msn.com/de-de/finanzen/top-stories/perkins-coie-soll-zu-eine...
- 4. https://www.whitehouse.gov/presidential-actions/2025/02/suspension-of-se...
- 5. https://www.reuters.com/world/us/trump-suspends-security-clearance-peopl...
- 6. https://www.nzz.ch/international/gegen-den-rechtsstaat-trump-liefert-sic...
- 7. https://www.nytimes.com/2025/03/21/nyregion/what-is-paul-weiss.html
- 8. https://www.politico.com/news/2025/03/28/skadden-arps-trump-law-deal-028...
- 9. Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ In: Recht, Staat, Freiheit. 2006, S. 112 f.
- 10. Benno Heussen: Die blinde Jagd nach der Gerechtigkeit, Zeitschrift für Rechtspolitik (ZRP) 2019/4, 124.
- 11. BVerfGE 95,96 = NJW 1997, 929 (931), Strafbarkeit der sog. Regierungskriminalität während des SED-Regimes – Tötung von Flüchtlingen an innerdeutscher Grenze,
- 12. Von der Pfordten, Rechtsethik CH Beck, 2. Aufl. 2011, S. 195 ff.
- 13. Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristen Zeitung 1946,105 (107) Gesamtausgabe C.F.Müller, Bd. 3 (1990) S. 83 (89).
- 14. Den Ansatz zu diesem Gedanken finden wir ebenfalls bei Epikur: »Wenn aber jemand ein Gesetz durchsetzt, dass dem innerhalb der Gemeinschaft bestehenden wechselseitigen Nutzen nicht entspricht, so besitzt dieses Gesetz nicht mehr die Eigenschaft eines wirklichen Rechts« (Epikur: Philosophie der Freude – einer Auswahl aus seinen Schriften, (Hrsg. Johannes Mewaldt), Hauptlehrsatz 37, Kröner 1973, S. 62. Der Begriff »wechselseitiger Nutzen« grenzt diese Definition von utilitaristischen Versuchen ab.
- 15. BVerfG, Beschluss vom 2.2.2015 – 2 BvR 2437/14, NJW 2015, 1294 (47cc) – zur Auslegung von Versicherungsbedingungen im europäischen Kontext.
- 16. Das Verfahren der Rechtsgewinnung – eine rationale Analyse, CH Beck 1999, S. 68 ff.
- 17. Benno Heussen: Analogie ist unlogisch – über die Funktion der Gefühle im Verfahren der Rechtsgewinnung, NJW 2016, 1500-1505.
- 18. Kelsen: Was ist Gerechtigkeit? (1953) Philipp Reclam jr. Stuttgart 2000; Zur biologisch/psychologischen Entwicklung: Benno Heussen, Die Ur-Grammatik des Rechts, RphZ 3/2018, 294 – 322.
- 19. Harry G. Frankfurt: Bullshit, Suhrkamp 2006.
- 20. https://mclawreview.org/2022/08/12/federal-laws-protecting-diversity-in-...
- 21. https://www.reuters.com/legal/trumps-deal-with-law-firm-paul-weiss-spark...