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Leibniz, Mindmaps und Excellenzcluster

Mindmaps gehören heute zum Alltag der juristischen Ausbildung und vieler Fachbücher. Immer mehr wächst auch die Erkenntnis, dass sie im Verfahren der Gesetzgebung für Widerspruchsfreiheit und Konsistenz der Texte sorgen können, wie vor allem Stefan Breidenbach in seinen Arbeiten gezeigt hat. Nur wenige wissen, dass dieses wichtige Werkzeug schon 1670 von Gottfried Wilhelm Leibniz entwickelt wurde. Jahre früher hat er fast nebenbei nicht nur die Digitalisierung von Informationen, sondern auch die zugehörige Rechenmaschine entwickelt und ist so einer der Urgroßväter unserer Computertechnologie geworden. Hier Näheres zu den Hintergründen.

Leibniz, Mindmaps und Excellenzcluster - Benno Heussen

Juristen denken in Sprache, nicht in Bildern, ihre Logik entwickelt sich Schritt für Schritt und endet in komplexen Vernetzungen. So lässt sich die Welt des Rechts nicht nur in Worten, sondern auch in strukturellen Bildern (Mindmaps) abbilden und ihre Logik gestützt auf die graphischen Hilfsmittel einer Landkarte einfacher verfolgen. Ein Jurist, der gleichzeitig ein genialer Mathematiker war, Gottfried Wilhelm Leibniz1 hat das vor über 300 Jahren entdeckt, denn neben seinen bahnbrechenden Arbeiten als Mathematiker, Historiker, Bibliothekar und Philosoph arbeitete er immer wieder juristisch: Er besserte sein Gehalt als Bibliothekar mit erbrechtlichen Gutachten für seine Fürsten auf.

Mit 20 Jahren hatte er die Universitätsausbildung in Philosophie abgeschlossen und eine juristische Doktorarbeit geschrieben, all das vielleicht »mit dem linken Fuß«, denn sein Hauptinteresse galt der Mathematik. Dort entwickelte er zunächst die Denkstruktur der Software und ihrer Sprachen, dann die Hardware, eine Rechenmaschine, die anders, als die von Blaise Pascal 1641 entwickelte, alle vier Grundrechenarten beherrschte. Wie gelegentlich bei Genies erfand er sie nebenbei, vielleicht aus Faulheit:

»Es ist unwürdig, die Zeit von hervorragenden Leuten mit knechtischen Rechenarbeiten zu verschwenden, weil bei Einsatz einer Maschine auch der Einfältigste die Ergebnisse sicher hinschreiben kann«.

All das gelang ihm mit 26 Jahren, also 1672. »Genie ist Interesse« (Albert Einstein) und Leibniz interessierte sich für alles. Er konstruierte nicht nur komplexe Theorien, sondern baute auch Windmühlen und Rechenmaschinen. In seinem Kopf hatten zahllose Ideen aus unterschiedlichen Fächern ihren Platz: So erklären sich die genialen Querverbindungen zwischen Ingenieur, Natur- und Geisteswissenschaften, die ihm gelungen sind.

Aber da man nicht den ganzen Tag rechnen kann, schrieb er ein Jahr vorher nebenbei eine kleine Abhandlung über die »Bedenken, welchergestalt den Mängeln des Justiz-Wesens in Theoria abzuhelfen2«.

In diesem Text stellt er eine neue Erfindung vor, die vor allem den Rechtsunterricht verbessern sollte: Eine Darstellung des Rechts in grafischer Form. Er dachte überwiegend in lateinischen und französischen Begriffen, aber weil der Herzog Johann Friedrich von Braunschweig verstehen sollte, was gemeint war, schrieb er auf Deutsch ziemlich holprig:

»Der Ausbund römischer Rechte oder Elementa Juris Romani hodieque attendendi, brevis et certi (die heute noch geltenden Elemente des römischen Rechts in kurzer und klarer Form) können bestehen in einer einzigen Tafel, etwa in Größe einer großen holländischen Landcharte, darinne alle Haup-Regeln also begriffen, daß aus deren Combination alle vorfallende Fragen entschieden und aller Actionen, Exceptionen und replicarum Fundamenta (Ansprüche, Ausnahmen und Einwendungen), gleichsam als in einem Imitamine Edicti perpetui novi (Kopie einer stets aktuellen Gesetzesfassung) mit Fingern gezeiget werden können, dergleichen noch nie vorgenommen, vielweniger gesehen worden.«

Was Leibniz hier beschreibt, ist erst um das Jahr 2000 in Form der Mindmaps Wirklichkeit geworden. Sie stellen unsere Denkprozesse grafisch dar, die nie linear, sondern in vielfältig verflochtenen Netzen verlaufen. Gilles Deleuze hat dafür den Begriff »rhizomatisches Denken« geprägt, weil das Bild, das ihm vor Augen schwebte, aus vielfältig ineinander verflochtenen Wurzelwerken von Pflanzen und Bäumen bestand.3 Er war einer der ersten, der über das Thema begrifflich nachgedacht hat. Nicht durch Zufall hat er sich auch mit Leibniz beschäftigt.4 Heute sprechen wir vom Netzwerkdenken, dessen Wirksamkeit durch die Werkzeuge der künstlichen Intelligenz noch bedeutend gesteigert werden wird.

Die Welt des Rechts ist auf die Sprache fixiert. Darauf hat der Rechtssoziologe Klaus F. Röhl (Bochum) aufmerksam gemacht5. Jetzt allerdings hat der Wind sich gedreht: Die Repetitoren haben Leibniz‘ Ideen wohl als erste professionell übernommen und so finden wir in vielen juristischen Lehrbüchern6 und anderen Werken7 Zeichnungen, die an seine »holländische Landkarte« erinnern. Leibniz übernahm hier ein ihm aus der Geographie vertrautes Werkzeug und sah assoziative Querverbindungen zu der Möglichkeit, statt der Berge und Flüsse rechtliche Probleme und ihre Verzweigungen darzustellen. Er schlug Brücken zwischen den Fächern, weil er nicht nur in Indices dachte, mit denen man Zahlenreihen abbilden kann, sondern in Fraktalen, Netzwerken und Verzweigungen, wie wir sie in der modernen Software versuchen abzubilden.

Ein zweiter Markt hat sich aus langjährigen Arbeiten vor allem von Stefan Breidenbach (Viadrina – Frankfurt an der Oder) entwickelt, in dem Mindmaps schon beim Prozess der Gesetzgebung und der Kollisionskontrolle zwischen sich widersprechenden Gesetzen eingesetzt werden.8

Viel wichtiger als die Mindmaps war Leibniz‘ Idee, Informationen auf Zahlen zu reduzieren. So ist er einer der wichtigsten Architekten der modernen Computerindustrie geworden. Die technische Grundidee von Computersystemen ist die Reduzierung der Tatsachen auf Zahlen und der Zahlen auf die Grundformen NULL und EINS (Binärcode).

Die modernen Computersysteme stützen sich teilweise auf noch ältere Quellen. Ramon Llull (Raimundus Lullus 1232-1316), Katalane aus Mallorca, Philosoph, Franziskaner und des Arabischen kundig. Von ihm stammt eine interessante Drehscheibe der Begriffe, die heute als unterhaltsames Spiel im Markt ist: Man kann sinnlose Sätze damit bilden. Er verfolgte die Idee aber aus anderen Gründen: Er wollte aus der beliebigen Kombination philosophischer Begriffe neue Erkenntnisse schöpfen. Die »tief gefalteten« Systeme der künstlichen Intelligenz können heute mit unendlicher Schnelligkeit beliebige Begriffe miteinander verbinden und vor allem die Wahrscheinlichkeit errechnen, mit der sie in bekannten Texten miteinander verknüpft worden sind. Auch wenn sie selbst den Sinn einer textlichen Kombination nicht »verstehen« können, gelingt es ihnen doch auf diese Weise, sie nachzuahmen.

Die neuen Werkzeuge der KI werden auch in der Welt des Rechts zu einem Durchbruch führen.9 Vorerst werden sie uns als leistungsfähiges Werkzeug für die rechtliche Recherche dienen, und wir können uns noch nicht vorstellen, dass es eines Tages Richter als Automaten geben wird.10 Aber wir müssen die Warnungen eines der großen Science-Fiction Autoren, Johann Wolfgang von Goethe im Auge behalten, der im Faust II neue Welten entwirft: Da sieht er uns neue Menschen erschaffen (Homunculi), zu denen auch künstliche und alterslose Menschen gehören, die in Laborgläsern leben. Unsere Sorge: »Am Ende hängen wir doch ab/von Kreaturen, die wir machten.« (Vers 7000).

Weil Leibniz‘ zahllose Interessen sich in seiner Person vereinigten, war es für ihn ein Leichtes, das Bild der holländischen Landkarte auf die Didaktik der juristischen Wissenschaften zu übertragen. Wie aber löst heute ein Fachmann für Wissenschaftsdidaktik das Problem, jungen wie älteren Juristen die Verwendung einer Mindmap ans Herz zu legen?

Womit wir in der Welt der heutigen Lehrstühle, Fakultäten und wissenschaftlichen Institute angekommen sind. Wie steht es da mit den Netzwerken und ihrer Darstellung? Jede dieser Institutionen und der Personen, die sie führen, muss sich schon aus Selbsterhaltungstrieb erst einmal um sich selbst kümmern und kann nicht nach den Fenstern in der Seele der anderen suchen. Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist selten.

Wenn wir einmal davon ausgehen, dass unsere Fakultäten – und innerhalb der Fakultäten die Lehrstühle – einander gegenüberstehen wie befestigte Burgen, die bei wissenschaftlichen Kongressen hier und da die Fallgitter hochziehen und die Brücken herunterlassen, um im Innenhof Vorträge zu hören und Feste zu feiern, dann ist das gewiss ein realistisches Bild. Umso mehr, wenn wir uns vorstellen, dass die Gäste das Innere des Hauses, wo die Arkana verwahrt werden, nicht betreten dürfen. Nur bei solchen Gelegenheiten wäre Leibniz – der nie an einer Universität unterrichtet hat – ohne weiteres in den ersten Hof der Fakultät gelangt, um dort – wie wir hoffen – den Studiendekan zu treffen, der vielleicht an seiner Idee Gefallen gefunden hätte. Eine vergleichsweise leichte Aufgabe, wenn wir sie etwa mit einem Projekt vergleichen, bei dem Juristen, Philosophen, Soziologen und vielleicht auch Historiker gebraucht werden, um einen Gegenstand aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu beleuchten.

Wie bekannt sind für solche Fälle die Exzellenzcluster erfunden worden. Eines davon an der Freien Universität Berlin trug die Bezeichnung Languages of Emotion11 (2007-2014), und untersuchte die Sprachen der Gefühle in den unterschiedlichsten Disziplinen. Den Forschungspreis 2014 hat Sabine Donauer für ihre Arbeit über »Die Herkunft der Arbeitsgefühle« erhalten12. Zweifellos ein wichtiges Thema, aber gewiss nicht interessanter als die Frage, welche Gefühle in den Millionen alltäglicher rechtlicher Auseinandersetzungen sich zwischen den Beteiligten entwickeln, wie das Rechtssystem auf sie reagiert und wie es sie steuert. Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter haben gelegentlich einen lebensgefährlichen Beruf, sie werden erschossen (auch in Deutschland13) und solche Reaktionen fallen nicht vom Himmel. 2008 habe ich dem Excellenzcluster ein Projekt zur Untersuchung solcher Gefühlsstürme unter dem Arbeitstitel »Der Prozess als Theater« vorgeschlagen. Wir spielen im Prozess das Leben in verkürzter Form nach, um die Wahrheiten zu finden, die uns eine Entscheidung ermöglichen. Dabei explodieren die Gefühle der Beteiligten, wie man an der zentralen Aufgabe des Richters sieht, sie im Zaum zu halten. Welchen Einfluss haben sie auf sein Urteil, in dem wir sie natürlich nicht beschrieben finden? Es gibt darüber einige rechtssoziologische Erkenntnisse.

2009 hat das Team Kepplinger/Zerback von der Universität Mainz den Einfluss der Medien auf Richter und Staatsanwälte untersucht. Das Ergebnis: Prozesse, die Gegenstand der Berichterstattung werden, beeinflussen das Strafmaß positiv oder negativ und weder Richter noch Staatsanwälte können sich dagegen wehren, dass es sie auch emotional beeinflusst.14 Natürlich kann man versuchen, sich dem Einfluss der Medien zu entziehen, aber bereits die Tatsache, dass man weiß, dass es solche Berichte gibt, führt zu einer »kognitiven Verzerrung«, der jeder Richter in seinem Unterbewusstsein ausgesetzt ist.15 Eine Untersuchung unter israelischen Richtern ergab, dass sie am Morgen nach dem Frühstück milder urteilten als gegen Mittag, wenn sie hungrig werden.16

Ein fachübergreifendes Projekt würde noch ganz andere interessante Ergebnisse zu Tage fördern. Winfried Menninghaus, der Leiter des Exzellenzclusters fand das Thema aufregend, vielleicht deshalb, weil er eine große Monographie über den Ekel geschrieben hat: »Theorie und Geschichte einer starken Empfindung«17. Ekel ist ein klassisches Arbeitsgefühl und ich würde gern wissen, ob sich Juristen in ihren Gerichtssälen mehr ekeln als z. B. Ärzte am Operationstisch oder Professoren bei Evaluationskonferenzen. Warum sollte man solchen Fragen nicht nachgehen?

Als ich allerdings den Wust der Antragsformulare zu entziffern suchte und ein paar geeignete Rückfragen stellte, wurde mir recht bald bedeutet, niemand könne einen solchen Antrag ohne externe Beratung auch nur ausfüllen und die Chancen, dass er genehmigt werde, stünden auch für Leute mit guten Beziehungen immer auf der Kippe. Heute würde die Künstliche Intelligenz mir innerhalb weniger Minuten einen perfekt geschriebenen Text zur Verfügung stellen, in dem das Wissen tausender anderer Antragsteller vereint ist.

Ich habe mich schnell getröstet: An dem Versuch, eine solche Idee zum Projekt reifen zu lassen, wäre vermutlich auch Leibniz gescheitert, denn immerhin hat es fast 300 Jahre gebraucht, bevor sich seine Idee der juristischen Mindmap durchsetzen konnte. Gewiss verband er mit ihr die Vorstellung, die Komplexität des Rechts zu reduzieren, indem er es more geometrico nachzubilden versuchte. Von dieser Idee haben wir uns – wie gerade die Arbeiten von Wolfgang Kilian, Fritjof Haft und anderen18 gezeigt haben – verabschieden müssen. Der Grund: Juristische Entscheidungen durchlaufen im Verfahren der Rechtsgewinnung verschiedene Stufen, in denen nicht nur die Logik, sondern auch Analogiebildungen, die nur unter dem Einfluss des Unterbewusstseins und der Gefühle schlagen entstehen können.19 Vielleicht hätte Leibniz ebenso gern wie wir mehr über den »Prozess als Theater« gewusst, aber anders als bei der Mindmap reicht für die Lösung eine einfache Analogie nicht aus.

Vieles von Leibnitz‘ wissenschaftlicher Haltung haben wir uns mit Erfolg zum Vorbild genommen. Alle unsere Wissenschaftsakademien beruhen auf den Ideen seiner ersten Gründung der Kurfürstlich-Brandenburgischen Societät der Wissenschaften 1700, in der sowohl die Mathematik wie die Geisteswissenschaften ihren Platz fanden. Wir beraten wie er die örtlichen Fürsten, wir haben wie er weltweite Netze in vielen Sprachen gespannt, in unserem Institut studieren mehr und mehr ausländische Teilnehmer, teils aus fernen Kontinenten. Also sollte es uns auch gelingen, mitten in Hannover die Barrieren zu überwinden, die uns von anderen Fakultäten trennen und sie einzuladen, an geeigneten Projekten gemeinsam mit uns zu arbeiten. Leibniz‘ Fähigkeiten zum offenen Denken, die beeindruckende Mischung aus Neugier und Furcht, die aus seinen Texten leuchtet, sollten wir auch für interdisziplinäre wissenschaftliche Projekte nutzen.

(Aktualisierter Vortrag zum Abschluß des Studienganges EULISP in Hannover, (2014). Erstveröffentlichung: Leibniz – Das letzte Universalgenie, studere 14 (2015), 80 ff.)

Literaturverzeichnis
Zitierte Literatur: 
  • Siehe Fußnoten.