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Die Jungen und die Alten

Dein Alter merkst du spätestens dann, wenn du die Teenager nicht mehr verstehst. Längst hast du vergessen, dass die Hormone und die Gefühle in diesen Jahren wegen der ständig irritierten Suche nach der eigenen Identität verrücktspielen. Jesper Juul hat einmal angemerkt: Zwischen zwölf und achtzehn Jahren sollten alle Jugendlichen ein Brett vor dem Kopf mit dem Vermerk tragen: »Achtung: Baustelle!«. Auch bei Nachfragen erhältst du keinen Zugang mehr zu ihrer Welt, weil sie glauben, dass du selbst ein Brett vor dem Kopf hast. Was vermutlich sogar stimmt. Und darauf steht: »Achtung: Abrissarbeiten!«.

Die Jungen und die Alten

Es ist nämlich seltsam, dass deine frühere Welt dich bis in jeden Tag der Gegenwart hinein begleitet, obwohl du sie eigentlich loswerden willst. Aber bei jedem Restaurantbesuch erinnerst du dich genau, dass ein Wiener Schnitzel 1976 in Freiburg 8,50 DM gekostet hat und weißt genau, dass das umgerechnet 4,25 € sind. Warum kostet es jetzt 24 €? Denn selbst zum Zeitpunkt deiner Pensionierung hast du nicht sechsmal mehr verdient als damals. Und das sind noch die harmlosen Beispiele: Dahinten geht ein alter Freund am Stock, der über 100 m immer der zweitbeste in der Schule war (der Beste ist schon tot).

Vollkommen unerklärlich ist es, dass den Schülern jede Kenntnis der Geschichte fehlt. In einer Umfrage des Jahres 1999 wussten 30 % befragter Berliner Schüler nicht, wer Erich Honecker war, geschweige denn Konrad Adenauer. »333 bei Issos Keilerei« sagte 1963 jedem etwas, der auf einem altsprachlichen Gymnasium war, heute ist die Lösung des Rätsels unbekannt. Aber im Internet findet sich alles1: Darauf vertrauen auch junge Anwälte, wenn man ihre mangelhaften Kenntnisse der Rechtsgeschichte beklagt.

Genauso rätselhaft ist die Welt der Smartphones und der sozialen Netzwerke: 12 Stunden am Tag Schulhof- Gequatsche mit Suchtgefahr? Und dann erst die Musik! Und die Drogen! Niemand kann solche Rituale in die Berufswelt retten.

Früher galt bei den Soldaten der Befehl: »Die Ohren sind freizulegen!« Unter Helmut Schmidt als Verteidigungsminister durfte den Langhaarigen wegen einer möglichen Zerstörung ihrer Menschenwürde nichts mehr weggeschnitten werden, stattdessen sollten sie Haarnetze tragen. Heute tragen die jungen Leute überall den früheren Soldatenhaarschnitt mit Ringen im Ohr, wollen aber nicht mehr zur Armee. Wenn der Russe wieder kommt, werden sie lieber Komsomolzen. Und dann haben sie die falschen Tätowierungen!

Das sind unter alten Leuten verbreitete Auffassungen. Die meisten vergessen trotz ihrer teilweise soliden Bildung, dass die Beschwerden über die Torheit der Jugend zu jenen Stereotypen gehört, die wir schon in den frühesten Texten der Antike finden2:

  • „Die Jugend achtet das Alter nicht mehr, zeigt bewusst ein ungepflegtes Aussehen, sinnt auf Umsturz, zeigt keine Lernbereitschaft und ist ablehnend gegen übernommene Werte“ (Keller, 1989, ca. 3000 v. Chr., Tontafel der Sumerer).
  • „Unsere Jugend ist heruntergekommen und zuchtlos. Die jungen Leute hören nicht mehr auf ihre Eltern. Das Ende der Welt ist nahe“ (Keilschrifttext, Chaldäa, um 2000 v. Chr.)
  • „Die heutige Jugend ist von Grund auf verdorben, sie ist böse, gottlos und faul. Sie wird niemals so sein wie die Jugend vorher, und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten“ (Watzlawick, 1992, ca. 1000 v. Chr., Babylonische Tontafel).
  • „Denn der Sohn verachtet den Vater, die Tochter steht wider die Mutter, die Schwiegertochter wider die Schwiegermutter“ (Micha 7, Altes Testament um 725 v. Chr.)
  • „Nicht ist der Vater dem Kind, das Kind dem Vater gewogen – Nicht ist der Bruder lieb, wie er doch früher gewesen; bald versagen sie selbst den greisen Eltern die Ehrfurcht“ (Hesoid, vor 700 v. Chr.)
  • „Die Kinder von heute sind Tyrannen. Sie widersprechen ihren Eltern, kleckern mit dem Essen und ärgern ihre Lehrer“ (Sokrates, 470-399 v.Chr.)
  • „Die Jugend von heute liebt den Luxus, hat schlechte Manieren und verachtet die Autorität. Sie widersprechen ihren Eltern, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Lehrer. (Sokrates, 470-399 v.Chr.)
  • „[…] die Schüler achten Lehrer und Erzieher gering. Überhaupt, die Jüngeren stellen sich den Älteren gleich und treten gegen sie auf, in Wort und Tat“ (Platon, 427-347 v. Chr.)

Auch damals waren jene Jugendlichen selten, die ihre Eltern und Großeltern als Quellen der Erkenntnis und Weisheit betrachtet haben und sich alle Mühe gaben, ihnen nachzueifern. Die weitaus meisten – darunter auch wir – haben sich gesagt: »Egal wohin, nur weg von hier«. Wir fanden es ist interessanter, uns unseren eigenen Weg zu suchen, ohne zu merken, dass wir ab ungefähr 40 Jahren unseren Eltern immer ähnlicher werden. Wer, wie viele junge Leute in Italien bis weit über 30 seine Füße unter Mamas Tisch steckt, findet das nicht problematisch. Draußen in der rauhen Welt herrschen unbequeme Machtverhältnisse und der Sozialstaat hilft uns, sich ihnen zu entziehen. Warum nicht vom BAföG in die Frührente? Angefüllt mit nutzlosem Wissen?

Es ist schmerzhaft, festzustellen, dass viele Kenntnisse, die uns teilweise eingeprügelt worden sind, heute vollkommen wertlos sind. Z.B. das Kopfrechnen, dass die Rechenmaschinen uns abtrainiert haben oder die Dankesbriefe für Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke. Die Briefkulturen des 17.-19. Jahrhunderts werden nicht wiederauferstehen. Damals war das Briefeschreiben das einzige Medium, das die Menschen über Distanzen verbinden konnte. Viele schrieben einmal im Jahr einen »Familienbrief«, der dann weitergereicht wurde, weil es zu mühsam war, ihn mehrfach abzuschreiben (keine Kopiergeräte!). Schon das Telefon hat uns das Briefeschreiben abgewöhnt und die E-Mails es nur mit sehr begrenzten Qualitäten eine Zeit lang wieder aufleben lassen. Jetzt sprechen wir wieder über weite Distanzen in Bild und Ton so, wie wir es früher nur in der Nähe konnten, aber welche Sprachkultur daraus entstehen wird, können wir nicht wissen.

Noch mehr Sorgen machen den Alten allerdings die immer geringer werdenden Gedächtnisleistungen der Jugend. Das Auswendiglernen werden wir uns genauso abgewöhnen wie das Kopfrechnen. Die Systeme der künstlichen Intelligenz, die jetzt noch wirken wie eine gigantische Spielwiese, werden sich praktisch überall durchsetzen, sodass das Präsenzwissen außerhalb dessen, was automatisch hängen bleibt, keine Rolle mehr spielen wird. Man muss nur lernen, das notwendige Wissen irgendwo im Internet zu recherchieren.

Die Jungen und die Alten, Bild 2

Junge Leute sind es, die diese Systeme entwickeln und sich vermutlich nicht darüber im Klaren sind, dass sie auf den Schultern von Riesen stehen, die selbst noch sehr jung waren, als sie die grundlegenden Erfindungen gemacht haben, die die künstliche Intelligenz und das Internet erst ermöglichen: Als Albert Einstein 1905 die Relativitätstheorie veröffentlichte, war er 24 Jahre alt! Wie lange hätte er wohl gebraucht, um dieses Bild zu erzeugen? Mit Microsoft create dauerte es am 28. August 2025 weniger als 1 Minute. Eingegeben wurde folgender Text: »Eine Gruppe junger Softwareentwickler steht in einer futuristischen Sternenlandschaft auf den Schultern von Riesen, von denen einige lachen, andere weinen.« Keiner von ihnen sieht aus wie Jaron Lanier oder chinesisch oder gar afrikanisch. Solche Muster hat die künstliche Intelligenz nicht. Und dass jemand in dieser Situation weinen sollte, hat das System auch nicht verstanden Sie ist eben künstlich und nicht wirklich.3

Wie sich diese technischen Entwicklungen auf unsere politische Zukunft auswirken werden, weiß niemand. Aber das wusste auch keiner, als er das Rad erfunden hat. Ich habe danach folgendes Bild haben wollen: »Julia Klöckner als sexy Nikolaus und Friedrich Merz als zwergenhafter Knecht Ruprecht stehen vor dem Bundesverfassungsgericht«. Die Erstellung wurde verweigert, weil die Anforderung nicht den Richtlinien entspreche. Bilder von Politikern können missbraucht werden. Und das Wort »sexy« ist auch nicht durch den Filter gekommen. Wir sehen: Die Regeln, die hinter der Künstlichen Intelligenz stehen, werden von (jungen) Menschen gemacht, sie sind (auch) politisch beeinflusst und die KI akzeptiert keine Informationen, die gegen diese Regeln verstoßen. Nur Menschen mit »normaler Intelligenz« können sie brechen. Dazu gehören auch die Alten, zu denen demnächst auch die Jungen gehören werden.

Ein entscheidender Punkt bei alldem ist der Unterschied zwischen Wissen und Erfahrung. Wissen kann man sich aussuchen, Erfahrung nicht – sie ist der schweigende und steinerne Lehrer. Und mehr noch: Erfahrung braucht Zeit! Wer als ungelernter Hilfsarbeiter 20 Jahre lang in einem Supermarkt Lebensmittel einsortiert hat, weiß mehr über die Kaufgewohnheiten der Kunden als manche Marktforscher. Viele junge Leute sind mit angelesenem Wissen als Coaches für andere unterwegs, ohne dass sie irgendjemand nach Ihren Erfahrungen fragt.

Woraus sich die Frage ergibt: Warum machen wir uns überhaupt Sorgen? Vielleicht sind es gar nicht die Sorgen, sondern der Ärger und der Neid auf die jungen Leute, die viele der Schwierigkeiten nicht haben, die wir bewältigen mussten. Was wir nicht sehen: Sie haben andere Schwierigkeiten, die wir gar nicht kennen. Und warum hören sie nicht auf uns? Weil wir ihnen ständig erzählen, wie wir unsere Schwierigkeiten gelöst haben, anstatt zuzuhören, was ihre Schwierigkeiten sind. Hier muss ich allerdings sagen: Zuhören setzt voraus, dass jemand irgendetwas spricht. Oder schreibt. Oder sonst kommuniziert. Vielleicht ein Bild malt?

Jede Generation verschafft sich die Fähigkeiten und Kenntnisse, die sie zum Überleben nötig hat, ohne auch nur zu ahnen, welche das sind: All das entsteht organisch durch Druck und Gegendruck der in der Gesellschaft wirkenden sozialen Kräfte. Sie wirken auf die Jugendlichen bei weitem stärker als auf uns. Die Zukunft, die sie vor sich haben, haben wir längst hinter uns.