Die blinde Jagd nach der Gerechtigkeit

*Die Menschen jagen nach der Gerechtigkeit wie nach einem »flüchtigen Wild«, wie schon Platon im Gespräch mit seinen Schülern erkannt hat:

»Nun also Glaukon müssen wir wie Jäger den Busch rings umstellen und darauf achten, dass uns die Gerechtigkeit nicht etwa entschlüpfe und dann, wenn sie einmal verschwunden ist, nicht wieder zum Vorschein komme. Denn offenbar ist sie hier irgendwo. Sieh also zu und gib dir Mühe, ob Du sie etwa eher als ich erblicken und mir anzeigen kannst…… Freilich……scheint mir der Ort gar unzugänglich und überwachsen, wenigstens ist er dunkel und schwer zu durchstreifen; aber wir müssen dennoch gehen«.1

Diese Erzählung ist uns in den letzten 2000 Jahren im Unterbewusstsein hängen geblieben. Unsere Vorstellung davon, dass wir die Gerechtigkeit nur irgendwo suchen und finden müssen, ist nicht nur eine falsche, sondern auch eine verhängnisvolle Metapher, weil sie uns auf die Jagd nach einem abstrakten Begriff schickt, der sich letztlich als Leerformel erweist. Das hat Hans Kelsen, einer der berühmtesten Juristen der Neuzeit am Ende seines Lebens auf den Punkt gebracht:

»Wenn die Geschichte der menschlichen Erkenntnis uns irgendetwas lehren kann, ist es die Vergeblichkeit des Versuches, auf rationalem Wege einer absolut gültigen normgerechten Verhaltens zu finden, d. h. aber eine solche, die die Möglichkeit ausschließt, auch das gegenteilige Verhalten für gerecht zu halten. Wenn wir aus der geistigen Erfahrung der Vergangenheit irgendetwas lernen können, ist es dies, dass die menschliche Vernunft nur relative Werte begreifen kann, und d. h. dass das Urteil, mit dem etwas für gerecht erklärt wird, niemals mit dem Anspruch auftreten kann, die Möglichkeit eines gegenteiligen Werturteils auszuschließen. Absolute Gerechtigkeit ist ein irrationales Ideal. Vom Standpunkt rationale Erkenntnis gibt es nur menschliche Interessen und daher Interessenkonflikte.«2

Die blinde Jagd nach den Leerformeln der absoluten Gerechtigkeit kann sie zerstören3. Viele ziehen daraus den Schluss, dass absolute Gerechtigkeit eine Konstruktion oder schlimmstenfalls sogar eine Fiktion ist. Aber das ist nicht der Fall. Statt ergebnislos einem absoluten Ideal nachzujagen, können wir von der Erarbeitung der Normen über ihre Anwendung bis hin zum Urteil einen relativen Ausgleich herstellen, der die Interessen der Allgemeinheit mit denen des Einzelnen, die Sicherheit, die uns Normen und Verfahren geben, mit der Flexibilität verbinden, die wir im Einzelfall einsetzen müssen. So erarbeiten wir uns konkrete Gerechtigkeit, wir stellen sie her, wir jagen nicht hinter ihr her. Seit wir das erkannt haben, suchen wir nicht mehr nach der Gerechtigkeit als Realisierung eines idealen Begriffs, sondern wir definieren sie innerhalb unterschiedlicher Ermessensspielräume und entscheiden den einzelnen Fall am Maßstab dieser Definition.

Das gelingt allerdings nur unter bestimmten Rahmenbedingungen, die wir nur herstellen können, wenn wir begreifen: Konkrete Gerechtigkeit hat immer zwei Funktionen: Sie stützt die Macht, weil sie sie durch Normen und Verfahren stabilisiert, und sorgt auf diese Weise gleichzeitig dafür, die Macht zu begrenzen. Nur indem sie gleichzeitig Stütze und Grenze der Macht ist, kann sie Willkür verhindern und damit ihrer Kernaufgabe gerecht werden. Die wichtigste Rahmenbedingung für die Herstellung der Gerechtigkeit ist die Gewaltenteilung. Nur sie schafft wirklich im Einzelfall unabhängige und unbestechliche Gerichte, die die drei tragenden Elemente der Gerechtigkeit in ihren Entscheidungen zum Ausdruck bringen können. Eine Entscheidung ist gerecht, wenn sie gleichzeitig dem Prinzip der Gleichheit, der Fairness und der Ausgewogenheit entspricht. Diese Begriffe kennen wir seit Jahrtausenden, denn sie haben sich auf der Basis einer »Urgrammatik des Rechts« entwickelt, schon lange bevor wir Normen kannten, die sie zum Ausdruck bringen. Sie sind Teil unserer biologischen, psychologischen, sozialen usw. Ausstattung4. Rechtsysteme sind intellektuelle Konstruktionen, die nicht isoliert im Raum stehen, sondern mit den Gesetzen der Soziologie, Psychologie und einiger Naturwissenschaften »strukturell gekoppelt« werden müssen5.Diese Einsicht wird vor allem im Gesetzgebungsprozess immer wieder missachtet, und leuchtet selten genug auf, weil wir keine wirklich belastbare Abschätzung der Wirkungen von Gesetzen haben.

So stellen wir die Gerechtigkeit her und das tragische ist: Wir wissen tatsächlich nie, ob das Ergebnis dem entspricht, was wir erreichen wollten, ja nicht einmal, unter welchen Bedingungen wir sie idealerweise erreichen könnten. Aber allein die Tatsache, dass wir uns um sie bemüht haben, ist ein wichtiges Stück von ihr. Viel tragischer wäre es, wenn wir statt der Versuche, Gerechtigkeit selbst herzustellen, wie blinde Jäger im Dschungel umherirrten, um nach etwas zu suchen, das es nicht geben kann.

  • *. Veröffentlicht in Zeitschrift für Rechtspolitik 4/2019 Seite 124.
  • 1. Platon, Werke in acht Bänden (Griechisch und Deutsch), Vierter Band: Der Staat (Politeia), Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971, Rn. 432 c, Seite 319.
  • 2. Kelsen: Was ist Gerechtigkeit? (1953) Philipp Reclam jr. Stuttgart 2000 Seite 49, Hervorhebung durch den Verfasser).
  • 3. Heussen: Kafkas Strafkolonie und die Absurdität der Gerechtigkeitsformeln, NJW 2019, 721.
  • 4. Benno Heussen: Die Urgrammatik des Rechts – auf der Suche nach den biologisch – psychologischen Wurzeln des Rechts, RphZ 3/2018, Seite 294 ff 5 Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Suhrkamp tb 1995, 44.
  • 5. Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Suhrkamp tb 1995, 440 ff.