Moral und Gerechtigkeit

Schon während des Studiums ist mir aufgefallen, dass selbst in den rechtsphilosophischen Büchern kaum eine Definition der Begriffe »Moral« und »Gerechtigkeit« zu finden waren. Viele Worte, aber wenig Substanz. Sogar Hans Kelsen bekannte offen, er könne den Begriff der Gerechtigkeit nicht definieren. Das liegt zum Teil daran, dass er in den unterschiedlichsten Rechtskulturen eine jeweils andere Bedeutung zu haben scheint. Hier versuche ich, die unzähligen Definitionen auf sechs Elemente zu beschränken, aus denen jede »Grammatik« von Moral und Gerechtigkeit besteht und aus der sich unterschiedliche »Sprachen« dieser zentralen Rechtsbegriffe entwickeln lassen.

Inhaltsverzeichnis 

1. Vorbemerkung

»Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehen.«1

»Treue gegen sich selbst und Gütigkeit gegen andere:
darin ist alles zusammengefasst.«2

Schon während des Studiums ist mir aufgefallen, dass selbst in den rechtsphilosophischen Büchern kaum eine Definition der Begriffe »Moral« und »Gerechtigkeit« zu finden waren. Viele Worte, aber wenig Substanz. Am schlimmsten war Hegel; Kant war viel deutlicher, und es leuchtete mir – wie zahllosen anderen – sofort ein, dass die Maßstäbe, die für das moralische Verhalten anderer gelten sollten, auch das eigene Verhalten bestimmen müssten: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.«3

Diese formale Maxime hält extremen inhaltlichen Belastungen nicht stand: Wenn der Marquis de Sade die Möglichkeit erhalten hätte, seine Ideen z. B. in der Französischen Revolution durchzusetzen, würde die so entstehende Ordnung wahrscheinlich sadistisch ausgefallen sein. Kants Idee, moralisches Verhalten müsse schmerzhaft sein (andernfalls diene es nur egoistische Lustbefriedigung), erschien mir masochistisch: »Der Kantianer kann sich vorstellen, dass ihm immerfort, auch bei der kleinsten Handlung, irgendetwas befohlen wird.«4 Das herausragende Merkmal der Moral ist die Freiwilligkeit des Verhaltens, nicht die Frage, ob man das guter Mensch auch Freude an seinem Verhalten hat.

Auch die Praxis brachte keine Aufklärung. Weder innerhalb noch außerhalb der Welt der Rechtssysteme gab es etwas Besseres zu hören als Kelsens Bemerkung:

»Ich habe diese Abhandlung mit der Frage begonnen: Was ist Gerechtigkeit? Nun, an ihrem Ende, bin ich mir wohl bewusst, diese Frage nicht beantwortet zu haben. Meine Entschuldigung ist, dass ich in dieser Hinsicht in bester Gesellschaft bin.… Und in der Tat, ich weiß nicht und kann nicht sagen, was Gerechtigkeit ist, die absolute Gerechtigkeit, dieser schöne Traum der Menschheit. Ich muss mich mit einer relativen Gerechtigkeit begnügen und kann nur sagen, was Gerechtigkeit für mich ist.«5

Mit dieser Antwort des großen Rechtsgelehrten wollte ich mich nicht abfinden, denn ich spürte sofort, dass die Resignation, die in dieser Bemerkung zum Ausdruck kommt, nicht auf dem Unwissen, sondern darauf beruhen musste, dass Kelsen mehr oder weniger alle Gedankengänge kannte, die um den Begriff der Gerechtigkeit kreisen, sich gleichzeitig aber der Widersprüchlichkeit und der Vielschichtigkeit des Begriffs bewusst war.

Dieser und der nachfolgende Text, die sich mit den Fragen des Rechts befassen, sind für jemanden, der sich Jahrzehnte damit herumgeschlagen hat, viel zu lang. James Lovelock hat in seinem letzten Buch (Novozän), das er mit 99 Jahren geschrieben hat, auf 160 Druckseiten gezeigt, wie man sein Wissen wirklich komprimiert darstellen kann. Ich bin mir also nicht auf vergleichbare Weise meiner Ergebnisse sicher.

2. Ordnungen: Vertikale und horizontale Strukturen

Es ist ein zentraler Bestandteil der condition humaine, sich an überschaubaren Ordnungssystemen zu orientieren, um dadurch den unvermeidlichen Stress zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft zu bewältigen (Coping-Strategien). Jeder einzelne von uns muss wie jede Gruppe geeignete Wege finden, mit anderen zu kooperieren und seine Interessen gegen andere durchzusetzen – das ist der Kern jeder Politik6. Sie beginnt in der Familie, zeigt sich in lokalen Gruppierungen, der Bildung von Teams in der Arbeit, der Politik, der Religion, des Militärs und – am entferntesten – in staatlichen Strukturen.

Ordnungen entstehen, wenn sich aufgrund der organisch gewachsenen Machtverhältnisse bestimmte Strukturen herausbilden, die nicht nur dem Zufall entstammen, sondern durch richtungsweisende Entscheidungen gelenkt werden: In einigen Fällen eingreifen einzelne Individuen gesteuert von ihren überlegenen Energien das Geschehen, in anderen werden sie aufgefordert, das zu tun, ihnen wird Unterwerfung angeboten, und schließlich gibt es auch Entscheidungen, die durch Mehrheiten zustandekommen, die von solidarischen Empfindungen gesteuert werden. Wie die Dinge sich entwickeln, hängt von den individuellen Eigenschaften der Beteiligten und ihrer Bereitschaft zur Über-/Unterordnung ab, die wiederum von der Gruppendynamik, dem Zufall und anderen Einflüssen gesteuert werden.

Ordnungssysteme können nur entstehen, wenn Menschen (oder Gruppen) die über mehr Macht verfügen als andere, sie in einer ihnen richtig erscheinenden Weise einrichten. Macht ist nichts anderes als »jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.«7 Auch mitten im Chaos verschwindet die Macht nicht, sie wird nur zeitweise unsichtbar, weil es im Interesse derjenigen, die in diesen Situationen typischerweise Gewalt anwenden, liegt, dafür verantwortlich zu sein. Es gibt kein Machtvakuum, denn:

»Vom Standpunkt rationaler Erkenntnis aus gesehen, gibt es nur Interessen und damit Interessenkonflikte, deren Lösung durch eine Interessenordnung erfolgt, die entweder das eine Interesse gegen das andere, auf Kosten des anderen befriedigt oder aber einen Ausgleich, ein Kompromiss zwischen den gegensätzlichen Interessen stiftet.«8

Dabei können die Mächtigen nicht willkürlich verfahren, sondern müssen die Anerkennung jener finden, die die Ordnung anerkennen und einhalten wollen. Wenn diese Ordnungssysteme zerfallen, erleben wir Chaos und Gewalt. Chaos bedeutet, dass bisher sichtbare Ordnungen durcheinandergewirbelt oder zerstört werden, während neue Ordnungen noch nicht sichtbar sind – Im Chaos herrscht Willkür. Die Funktion moralischer und rechtlicher Konzepte besteht darin, solche Willkür zu vermeiden und dafür zu sorgen, dass funktionsfähige Ordnungen nicht durch die Willkür einzelner gefährdet werden.

Diese Konzepte werden über tausend Jahre vor der Zeit entwickelt, zu der wir in den Stelen des Hammurabi juristische Begriffe für solche Ordnungen finden und man kann davon ausgehen, dass die mündliche Tradition noch viel weiter zurückreicht, als uns die frühesten ägyptischen und vorderasiatischen Bildwerke zeigen. Wenn die Macht auf institutionelle Grenzen stößt, werden individuelle Verstöße dadurch unwahrscheinlich gemacht, dass die Starken und Mächtigen mit einer höherrangigen Instanz konfrontiert werden, an die die Schwachen sich wenden können. Die moderne Vorstellung, den Schwachen könne geholfen werden, indem man die Ungleichheit zwischen den Menschen beseitigt, ist früheren Konzepten fremd.9

In modernen Gesellschaften versuchen wir »horizontale Strukturen« einzuführen, also hierarchische Strukturen durch Gleichrangigkeit und eine größere Berücksichtigung des Einzelnen zu ersetzen. Dabei herrscht die Vorstellung, es könnten sich um selbstorganisierende Systeme handeln, die auf staatliche Strukturen verzichten könnten. In der Praxis hat sich gezeigt, dass diese Vorstellung irreal ist, denn auch in horizontalen gegliederten Gesellschaften setzen sich die Vorstellungen derjenigen durch, die die Macht in Händen haben. Auch sie kommen ohne ein gewisses Maß vertikaler Strukturen nicht aus, die aber anders konstruiert werden können als unter hierarchisch dominanten Verhältnissen: Systeme der Gewaltenteilung, des Rechtsstaats, der Verfahren von Check and Balance, von gegenseitiger Kontrolle usw. erweisen sich unter bestimmten Bedingungen vertikalen Systemen gegenüber überlegen. Funktionsfähig sind beide Konstruktionen, aber die Erfahrung zeigt uns, dass sich in Krisenzeiten die vertikalen Modelle eher durchsetzen.

Staatliche Institutionen trennen die sichtbaren oder wenigstens einfach nachvollziehbaren Beziehungen zwischen einzelnen Menschen und verlangen gleichwohl solidarisches Verhalten gegenüber dem Staat – ein bedeutender psychologischer Widerspruch, der sich zwar nicht auflösen lässt, aber beherrscht werden muss.

Häufig wird gesagt, die Gruppe sei »mehr« als der die Summe ihrer Mitglieder (»Du bist nichts, Dein Volk ist alles«), aber sie ist gleichzeitig auch »weniger«, weil sie immer ein (kleinstes oder größtes) gemeinschaftliches Vielfache dessen bildet, was der Einzelne versteht, fühlt oder will. Auf gleiche Weise kann auch der Einzelne sich jeder Gruppe überlegen fühlen (»Der Starke ist am mächtigsten allein«), weil er nur seine eigenen Entscheidungen bilden und durchsetzen kann. Aber er kann damit auch an Aufgaben scheitern, die die Gruppe bewältigen könnte.

Unsere sozialen Erfahrungen setzen sich aus unzähligen Elementen zusammen und aus dem Nachdenken darüber und den daraus folgenden alltäglichen Entscheidungen einzelner Menschen, Gruppen und Institutionen bilden sich – mehr oder weniger schnell, und auch geleitet von zufälligen Einflüssen – Verhaltensregeln10: Moralische Normen reduzieren die Komplexität der Möglichkeiten unseres Verhaltens und schaffen so Ordnungsstrukturen.

In ihnen werden die Interessen der Einzelnen (und der Teilgruppen), die ein System ausmachen, auf eine bestimmte formale und inhaltliche Art geordnet, die für alle Beteiligten eine Bedeutung hat und überwiegend Anerkennung findet. Auf diese Weise erreichen jede Gruppe und jede Institution eine andere Qualität ihres Entscheidens und Handelns als jeder einzelne und so entstehen auch die Konflikte zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft.

Außerhalb des von Göttern wie Menschen bewohnten Kosmos gibt es keinen »Sinn«, den das Individuum für sich zu entdecken hätte.11 Wer sie richtig versteht, kann aus ihnen politisch/kulturelle Rahmenbedingungen entwickeln, die auch für Menschen Gültigkeit haben (Eric Voegelin). Ein Ordnungsgefüge kann nur entstehen, wenn Handlungen und Erwartungen sich innerhalb einer Gruppe von Menschen in eine gemeinsame Richtung entwickeln, gesteuert von der Suche nach der Wahrheit der Tatsachen, die uns umgeben, und den Ausgleich der Konflikte und Interessen im Blick hat.

Denselben Ansatz finden wir im Russischen (Prawda) und im Altpersischen (aša), die die Begriffe Wahrheit und Gerechtigkeit miteinander verbinden,12 um so anzudeuten, dass »Kultur« die Summe aller Rechte und Pflichten ist, die Menschen untereinander begründen können. So entstehen moralische, politische, kulturelle, und danach rechtliche Ordnungen. Moralische Normen stehen deshalb am Anfang, weil wir die ersten Ansätze zu Ihnen bereits im Tierreich finden (Urgrammatik der Moral). Aus ihnen entwickeln sich dann kulturelle und politische Normensysteme.

3. Entscheidungen über Ordnungen und moralischen Normen

Entscheidungen über Struktur von Ordnungen sind stets Entscheidungen einer gesellschaftlich relevanten Gruppe und unterliegen daher einer mehr oder weniger starken Gruppendynamik. Die meisten dieser Entscheidungen und/oder Vereinbarungen entwickeln sich aus konkreten Problemstellungen – meist moralischen Konflikten zwischen einzelnen Menschen und/oder Gruppen und/oder Institutionen – und werden selten formal getroffen und noch seltener dokumentiert. Immer werden sie von Motiven und Interessen gelenkt, die sich an den Interpretationen der Welt ausrichten und von bestimmten Wertvorstellungen getragen sind. Da nur jemand Entscheidungen treffen kann, der dazu genügend Macht hat, spiegeln moralische Regeln immer auch die Machtverhältnisse wider. Selbst wenn ein einzelner Mensch von anderen dazu berechtigt wird, Ordnungen zu setzen, zu überprüfen und über Einzelfälle zu entscheiden, handelt er stets auf dem Hintergrund des Wissens, was die Gruppe von ihm im Allgemeinen erwartet.

Die Frage, ob und wie wir uns im konkreten Fall verhalten sollen, wollen und können unterliegen denselben psychologischen, soziologischen, rationalen wie irrationalen Einflüssen wie alle anderen Entscheidungen. Sie werden genauso von unterbewussten Inhalten und Formen geprägt. Dabei ist hervorzuheben:

  • Menschliche Entscheidungen jeder Art sind tief im Unterbewusstsein verankert und nur ein sehr geringer Teil jener Informationen, die letztlich die Entscheidung bestimmen, lässt sich ermitteln und/oder in ein Verhältnis von Ursache und Wirkung bringen.
  • Jede Entscheidung ist von den Rahmenbedingungen (framing) abhängig, unter denen sie getroffen wird. Unterschiedliche Bedingungen erzeugen unterschiedliche Entscheidungen. Schon deshalb kann von Entscheidungen auch im Bereich von Moral und Recht keine absolute Richtigkeit erwartet werden.
  • Einer der stärksten Einflüsse, denen die Entscheidung eines einzelnen unterliegt, ist die Einschätzung der Beteiligten, welche Entscheidung man als Mitglied der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppe treffen sollte. Wenn der individuelle Entschluss sich dagegen wendet, entsteht ein großes Spannungsverhältnis, das in vielen Fällen nicht zugunsten des individuellen Gewissens überwunden werden kann.
  • Welche Entscheidung im Einzelfall getroffen wird und ob die Ziele, die man mit der anstrebt, erreicht werden, kann spieltheoretisch analysiert, aber nicht mit Sicherheit vorausgesagt werden. Der Zufall spielt eine große Rolle.
  • Jede Entscheidung, die von moralischen und rechtlichen Gesichtspunkten geprägt ist, muss gleichzeitig in die politischen Rahmenbedingungen passen, wenn sie sich durchsetzen soll. Politische Entscheidungen können ganz unabhängig von Moral und Recht allein auf der Basis der herrschenden Machtverhältnisse getroffen werden (Carl Schmitt).

Bei moralischen Entscheidungen geht es immer nur um die Beziehungen zwischen Menschen. Ereignisse der Natur wirken sich zwar auf menschliche Ordnungen aus, aber die Natur entscheidet nichts. Allerdings muss unser Verhalten gegenüber den Tieren, den Pflanzen – ja gegenüber jedem Bestandteil unserer Umwelt – moralischen Maßstäben standhalten, denn es wirkt sich direkt oder indirekt immer auf andere Menschen aus. Das gilt sogar für die Steine: Wenn wir nach Rohstoffen suchen oder Menschen, die am Strand des Meeres leben, den Sand wegnehmen, der für Ihre Lebensbedingungen entscheidend ist, müssen wir moralisch relevante Entscheidungen treffen!13

Wir suchen moralische Regeln nicht, wir stellen sie her: »Bei moralischen und ästhetischen Urteilen kommt es weniger darauf an, allgemeine Vorstellungen zu umreißen, als darauf, sie mit besonderen Erfahrungen zu verknüpfen«14 – es geht also nicht um Theorien, ideologisch geprägte Gedankengebäude, sondern um die Fähigkeit, eine Ordnung von hoher Qualität herzustellen.

Auf diese Weise bilden sich kommunikative Muster, also soziale Zustände die es einzelnen Menschen und/oder Gruppen erlauben, ihre eigene Position innerhalb des Spektrums der Handlungsmöglichkeiten einzuschätzen, sich diesen Mustern zu unterwerfen, sie zu leugnen, darüber zu streiten usw.: Soll ein bestimmter Wert, ein bestimmtes Recht oder eine bestimmte Pflicht eher das Individuum, die Gruppe, die Institution oder die Allgemeinheit treffen? Der Begriff »Gesellschaft« betrifft jede dieser Teilmengen, man kann sie aber nie über einen Kamm scheren: Gegenüber der Familie hat man andere Rechte und Pflichten als gegenüber dem Staat und in einer dritten Zone stehen sie nebeneinander15.

Soziale Interaktionen zwischen Menschen und vor allem ihre moralischen Entscheidungen werden von ihrem Denken, ihrem Fühlen und ihren Fähigkeiten bestimmt, Entscheidungen zu treffen und sie praktisch umzusetzen. In jedem einzelnen dieser Bereiche werden die meisten Menschen ganz überwiegend vom Unterbewussten beeinflusst, denn sie neigen nicht dazu, ihr eigenes Denken, Fühlen oder Handeln zu analysieren, Sie interessieren sich nicht für die Ursachenketten ihres Handelns. Aber selbst die wenigen, die dazu in der Lage sind, haben nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten, das zu tun. Was wir an der Oberfläche sehen, ist nur ein schmaler Ausschnitt der Kräfte, die uns bewegen.

Unsere Entscheidungen beruhen auf Erfahrungen, die wir bewusst oder unbewusst analysiert haben. Das Denken allein führt nicht zur Veränderung von Ordnungen, es muss Entscheidungen auslösen. Aber wie ist es mit jenem, der in glühenden Worten zum Handeln aufruft? Das ist einer, der nicht nur denkt, sondern handelt, der sich entschieden hat, laut zu rufen (und nicht nur: zu denken). Wer sich in der Öffentlichkeit äußert, macht von einer anderen Freiheit gebraucht als jener, der nur die Freiheit des Denkens für sich in Anspruch nimmt: Es ist schon eine herausfordernde Aufgabe, bei sich selbst die Schere aus dem Kopf zu verbannen, die jeden ungewöhnlichen Gedanken abzuschneiden pflegt, den wir willkommen heißen sollten (auch wenn wir ihn später verwerfen). Ganz anders dann, wenn es um die Handlungsfreiheit geht: Hier kollidieren unsere Freiheitsansprüche nämlich mit jenem der anderen und deshalb sind Überlegungen zu Nutzen und Schaden, Chancen und Risiken von Wortschrift und Medien erforderlich, die zu Regelwerken führen müssen, an denen die Handelnden sich orientieren können. Die dabei auftauchenden Probleme muss jeder von uns auf seiner Verständnisebene lösen können, denn die soziale Ordnung ist kein Spezialgebiet von Fachleuten, sondern ein uns alle betreffendes politisches Thema.

Allerdings müssen Juristen, Soziologen, Politologen, Psychologen und einer Reihe anderer Hilfswissenschaften geeignete Werkzeuge für die Lösung dieser Probleme liefern. Ich erwähne hier ausdrücklich die Theologen nicht, die sich in der Vergangenheit für besonders kompetent gehalten haben, moralische Regeln zu entwickeln, zu kommentieren und durchzusetzen. Diese Macht haben sie heute nicht mehr, weil wir erkannt haben, dass die Berufung auf eine »göttliche Ordnung« nichts anderes ist als das Zitat einer Ordnung, die von Menschenhand geschaffen wurde und sich der Begründung entzieht. Moralische Ordnungen brauchen aber eine Verankerung in der Realität und damit in der Rationalität, wenn sie wirksam werden sollen. Diese Regel kann man nur in »Gottesstaaten« (früher: Katholische Kirche, das alte Tibet, derzeit: Einige islamische Staaten) zeitweise außer Kraft setzen.

4. Regeln, Interpretationen, Ausnahmen und Ermessen

Soziale Regeln können aus sehr einfachen Algorithmen bestehen (Sommerzeit/Winterzeit), sie können aber – so vor allem im Bereich von Rechtsnormen – sehr komplex sein. In jedem Fall aber müssen sie interpretiert werden. Bei einfachen Algorithmen gibt es wenig Spielraum dazu (es sei denn, man stellt sie selbst infrage), versucht man aber, komplexere Regeln auf die Wirklichkeit anzuwenden, die sich ständig verändert, müssen auch sie interpretiert werden, weil sonst die Anpassung an die Wirklichkeit misslingt.

Durch Bildung von Ausnahmen und die Ausübung von Ermessen verändern Regeln sich in Raum und Zeit unter den jeweils herrschenden Rahmenbedingungen. Hinzu kommt, dass Regelsysteme unvermeidbar Unvollständigkeiten und Widersprüche aufweisen (Gödel‘sche Theoreme), die bei ihrer praktischen Anwendung jedenfalls für den Einzelfall aufgelöst werden müssen. Dazu sind Entscheidungen erforderlich, die nicht nur der Vernunft, sondern auch moralischen Kriterien genügen müssen, um soziale Anerkennung finden zu können.

5. Ethik und Moral

Ethik ist der Sammelbegriff für alle theoretischen Konstruktionen und Systeme, die sich mit der Frage beschäftigen, ob und unter welchen Bedingungen moralische Kriterien möglich sind, gelten sollen, durchsetzbar und/oder veränderbar sind etc.16 Dabei genügt es nicht, Moral und Recht als Ideen zu definieren oder in philosophischer Weise über sie zu sprechen, denn – wie wir im Folgenden sehen werden – entwickeln sich diese Begriffe aus genetisch tief verankerten und teilweise instinktiv gesteuerten Verhaltensweisen, die Wissenschaften außerhalb der Philosophie (Naturwissenschaften, Psychologie etc.) entschlüsseln können.

Ethik – die Theorie moralischer Regeln – ist zwar Teil der Philosophie, aber sie schwebt nicht frei im Raum, sondern muss sich immer auf die Funktion moralische Regeln im Rahmen einer sozialen Ordnung bewegen. Wer nur versucht, abstrakt über »Gut und Böse« nachzudenken, scheitert an dieser Aufgabe, weil er keinen festen Bezugspunkt findet17. In den asiatischen Denktraditionen kommt dieser Fehler selten vor – Christian Wolff (1679-1754) meinte dazu:

»Und daher gehet meine Absicht, wenn ich bey der Academie etwas rathe, darauf, dasz man blosz Wahrheit suchen und dahin trachten sol, wie man sie nach dem Exempel der alten Sineser zum Besten des Landes in allen möglichen Fällen appliciere; hingegen den europäischen Gelehrten ihre gelehrten Träume und ihren Spielkram überlaszen sol, dadurch die Aufnahme des Landes wenig befördert wird«18.

Moralische Entscheidungen sind soziale Konstruktionen mit tiefen biologisch/psychologischen Wurzeln, die durch die Harmonisierung des sozialen Lebens sowohl unser individuelles Überleben als auch den Bestand der Gesellschaft sichern. Moralische Kriterien beeinflussen unser Denken, Fühlen und Handeln/Nichthandeln so, dass wir fähig werden, unsere eigenen Interessen von jenen anderer Menschen und/oder Gruppen bis hin zu abstrakten Ebenen gesellschaftlicher Interessen als relevant oder irrelevant zu beurteilen. Dabei lernen wir auch instinktive Reaktionen zu beherrschen und zu verstehen, dass die absolute Durchsetzung unserer eigenen Positionen selbst dann schädlich wäre, wenn sie zum Vorbild für andere würden – wir lernen die Interessen der Gesellschaft wahrzunehmen und von den Interessen jedes einzelnen zu unterscheiden.

Eine funktionsfähige soziale Ordnung ist eine kulturelle Leistung, die zwar auf unserer genetischen Ausstattung beruht, mit ihr aber nicht identisch ist: »Die Natur des Menschen sind nicht die Gene, die sie bedingen«19. Viele Tiere bilden unter sich soziale Ordnungen, obgleich ihnen die Fähigkeit zur Bildung abstrakter ethischer Konzepte fehlt. Für die Gegenstände der Natur (Tiere, Pflanzen, anorganisches Material etc.) stellt sich die Frage der Moral nicht:

»Die Individualselektion fördert die Sünde, die Gruppenselektion dagegen die Tugend … Es ist höchst unwahrscheinlich, dass wir uns einer davon ganz unterstellen und damit die Ideallösung für unseren politisch – sozialen Grabenkampf finden. Würden wir ganz den instinktiven Bedürfnissen nachgeben, die sich aus der Individualselektion ergeben, so hätte das die Auflösung der Gesellschaft zur Folge. Überließen wir uns dagegen ganz den Anforderungen der Gruppenselektion, so würden wir zu engelsgleichen Robotern – einer Art übergroßer Ameisen. Der ewige Konflikt ist keine Versuchung, mit der Gott die Menschheit auf die Probe stellt, und genauso wenig das Machwerk des Teufels. Es ist einfach nur eine Entwicklung, die sich so ergeben hat.«20

Der Mensch hingegen kann – aus welchen Gründen auch immer – beurteilen, ob bestimmte Ideen und Handlungen einer sozialen Ordnung entsprechen oder nicht und vor allem: Er kann dieses Urteil, wie Kant gezeigt hat, auch gegen sich selbst richten. Auch in einer solchen Situation kann er sich der Pflicht auch zu tragischen Entscheidungen nicht entziehen, die den Kern der Menschenwürde ausmacht.

Der Begriff der Menschenwürde hat eine ziemliche Bandbreite: im Kern bedeutet er, dass man Menschen nicht wie technische Dinge behandeln soll, also Dinge, die wir selbst schaffen können. Es muss auch ein Unterschied zur Natur (einschließlich der Steine) geben, aber solche Unterschiede können sich verwischen, wenn Menschen anfangen, in die Natur gestaltend einzugreifen und dabei keine Grenzen zu sich selbst ziehen (Klonen usw.). Aber im großen Ganzen dürfte die Abgrenzung zwischen Menschen und Dingen noch tragfähig sein.

Moralische Regeln liefern Begriffe, Kategorien und Wertmaßstäbe für das Verhältnis eines Menschen zu anderen Menschen, sie definieren das Spannungsverhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft. Die wichtigsten und in allen Kulturen im Kern vorhandenen Unterscheidungen zeigen sich in begrifflichen Gegensatzpaaren wie gut/schlecht, gut/böse, rein/unrein und ähnlichen Synonymen. Natürlich sind diese Begriffe Leerformeln21, aber sie werden auf vielfältige Weise durch ungeschriebene Regeln des Verhaltens, durch Rituale und durch informelle Korrekturen des einzelnen am Verhalten des anderen konkretisiert.

Begriffe wie »Gut« oder »Schlecht/Böse« sind untrennbar miteinander verbunden, sie bilden die beiden Seiten der gleichen Medaille: Wer etwas als gut bezeichnet hat damit gleichzeitig das Schlechte definiert – und umgekehrt. Die Begriffe sind nicht widerspruchsfrei, im Gegenteil! Ihr Widerspruch entsteht aus den unterschiedlichen Interessen des Einzelnen die nur sein individuelles Überleben sichern und den Interessen anderer und/oder der Gruppe, der er angehört bzw. anderer Gruppen, denen weder er noch die Gruppe angehört (das ist das einfachste Modell, denn viele gehören zahlreichen Gruppen an, deren Interessen sich teils decken, teils widerstreiten). Was für mich »gut« ist, kann für andere »schlecht« sein. Man kann die Begriffe daher nur dann richtig interpretieren, wenn man gleichzeitig die Rahmenbedingungen und Perspektiven beschreibt, unter denen sie verwendet worden sind.

In vielen Sprachen wird mit den Begriffen gleichzeitig ein Werturteil ausgesprochen. Während im Deutschen z. B. der Begriff »schlecht« eher den Gegensatz zum Guten ausdrückt, steckt im Begriff »Böse« bereits der Vorsatz des Handelnden und nicht nur die Wirkung. Auch das Gute kann das zufällige Ergebnis einer ganz anders gerichteten Handlung sein oder aber die gute Absicht des Handelnden indizieren. In vielen Kulturen löst allein die – gegenüber anderen – positiv oder negativ wirksame Handlung eine moralische Bewertung aus, in anderen (vor allem den moderneren Kulturen) kommt es auch auf Vorsatz, Fahrlässigkeit und andere Schuldelemente an. Das gilt schon auf der moralischen Ebene, vor allem aber in allen Rechtssystemen, in denen Verantwortung, Haftung und Schuld unterschiedliche Rechtsfolgen auslösen.

Neben einfachen Formeln wie »Gut« und »Böse« gibt es eine Vielzahl anderer, teils widersprüchlicher Vorstellungen über moralisches Verhalten, die auch in die Irre führen können. Wie etwa der Satz des Augustinus: Liebe, und tu was du willst. Er lebt von einer Voraussetzung, die wir selbst nicht kontrollieren können, nämlich dem Inhalt der Liebe. Was dient in ihr nur dir selbst und nicht dem anderen? Wer kann das beantworten?

Die Idee, moralische Regeln seien das Ergebnis selbstregulierender Systeme beruht auf der Einsicht, dass die Art und Weise, wie Menschen sozial zusammenleben in wesentlichen Zügen von der Natur biologisch/psychologisch vorgebildet wird22. Sie taucht schon in der antiken Philosophie auf, wird dann aber durch die Idee ersetzt, die Regeln stammten von Gott. Erst die Aufklärung hat die frühere Sicht wiederhergestellt.

Allerdings gibt uns das Sein (die Natur) keine unmittelbare Antwort auf das Sollen, sie setzt nur die Rahmenbedingungen, innerhalb deren wir moralische Konstruktionen entwerfen können. Dabei treten erhebliche Gegensätze zutage: Auch wenn unsere Gene uns sagen, dass wir für unsere Kinder sorgen müssen, gibt es Kulturen, deren Normen es zulassen, ohne besondere Schuldgefühle abzutreiben oder neugeborene Kinder zu ermorden, weil die jeweilige Gesellschaft sie nicht ernähren kann. Auf diese Weise schützen sich die bereits Geborenen. Je weniger Nachwuchs eine Gesellschaft hat, umso mehr wird sie solche Entscheidungen ablehnen.

Allerdings können sich kulturelle Konstruktionen nur in die Richtung entwickeln, die unsere biologisch/psychologischen Wurzeln uns erlauben. Zwar gibt es individuellen Selbstmord, aber keine Gesellschaft beraubt sich ihrer – für sie erkennbaren – Überlebensmöglichkeiten. Da kein Einzelner seine eigenen Interessen völlig gegenüber jenen der Gesellschaft zurückstellen kann, sind allgemeine Aufforderungen, das zu tun (etwa im Bereich des Klimaschutzes) erst dann wirksam, wenn sie deutliche Mehrheiten erreichen und auf diese Weise zu gesellschaftlichen Regeln werden. Darüber hinaus können moralische Regeln keine Anerkenntnis finden und keine Nachhaltigkeit entfalten, wenn sie nicht Rücksicht auf unsere biologische Ausstattung nähmen. Als rein theoretische Konstruktionen hingen sie völlig in der Luft.

In diesem Modell wird die Frage, ob der Mensch »von Natur aus« gut oder schlecht sei, als irreführend betrachtet, weil die Kategorien »gut« und »schlecht« auf biologischer Ebene nichts zu suchen haben. Diese moralischen Kategorien knüpfen immer an die Entscheidung eines Menschen an, der nicht nur – wie die Tiere – von Instinkten gesteuert ist, sondern mindestens ein Freiheitsgefühl entwickeln kann, falls er nicht sogar über Willensfreiheit verfügt.

Wir haben die Fähigkeit, beide Haltungen zu entwickeln und gegen unsere Erkenntnisse zu handeln, aber es gibt kein allgemeines Modell für eine Präferenz in der einen oder anderen Richtung, es kommt auf die Situation an: Manchmal setzen wir bevorzugt unsere eigenen Interessen durch, manchmal jedoch beugen wir uns den Interessen anderer. Ob man das eine oder das andere als »gut« oder »böse« qualifiziert, muss auf dieser Ebene noch nicht entschieden werden. Die Natur gibt uns in dieser Hinsicht genetische und psychologische Rahmenbedingungen vor, die wir aber als einzelne und als Gruppe ignorieren können. Biologisch gesteuerte Überlebensinstinkte sind dabei keinesfalls immer dominant, hin und wieder können hohe moralische Ziele uns daran hindern, unter allen Umständen für unser Überleben zu sorgen. Es ist ein labiles Gleichgewicht23. Zu welcher Seite es sich neigt, sieht man niemals an den Gedanken, sondern nur an den Handlungen. Immer wieder stehen wir vor einer tragischen Wahl, welche Werte wir in der konkreten Situation für relevant erklären.

Moralische Lehren verbinden sich in nahezu allen Kulturen mit der Vorstellung, sie seien uns von den Göttern vorgeschrieben und würden nach unserem Ableben in irgendeiner Weise sanktioniert. Daraus entsteht die Furcht, der Wegfall der religiösen Begründung führe gleichzeitig zum Zusammenbruch jeder moralischen Vorstellung. Wir brauchen aber keine religiösen Konzepte, um Moral zu begründen, denn moralisches Verhalten entwickelt sich als eines von vielen Selektionsprinzipien und erhöht unsere Überlebenschancen24.

6. Die Drei-Zonen-Theorie der Ethik

Der Begriff Ethik umfasst alle theoretisch/philosophischen Lehren, die um moralisches Verhalten und moralische Entscheidungen kreisen. Sie können unter anderem erklären, warum sich moralische Regeln unter wechselnden Rahmenbedingungen z. B. von Raum, Zeit, sozialen Verhältnissen usw. verändern. Grundlegender ist allerdings die Einsicht, dass solche Veränderungen davon abhängig sind, wie stark die Interessen des Einzelnen und jene der Gesellschaft berührt werden. Drei Zonen lassen sich unterscheiden25:

  • In der ersten Zone (absoluter Bereich des ICH) geht es um das Verhältnis des Einzelnen zu sich selbst. Hierher gehört die absolute Freiheit der Gedanken und alle Entscheidungen, wie jemand sich in seinem Leben einrichtet, sofern er durch seine eigenen Überlegungen und Entscheidungen niemand anderen in dessen Interessen beeinträchtigt. Hier gelten keine moralischen Regeln, da der Bezug zur Gesellschaft (noch) nicht existiert (typisch: Die sexuelle Selbstbefriedigung). Allerdings legen die Interessen der Gesellschaft einen Schatten über solche Entscheidungen, der sich jedenfalls im Unterbewusstsein auswirkt.
  • In der zweiten Zone (relativer Bereich zwischen ICH und Gesellschaft) berühren die Interessen des Einzelnen die Gesellschaft. Aus Gedanken werden Entscheidungen, denen die Entscheidungen anderer entgegenstehen können. Welche von beiden sich durchsetzt, ist eine klassische Frage der Machtverhältnisse, aber diese Macht wird moralisch gesteuert. Welches Interesse letztlich überwiegt, kann niemals abstrakt gesagt werden, es wird von moralischen Regeln bestimmt. So etwa, wie festgestellt wird, ob die sexuellen Interessen zweier Menschen zusammenstimmen, oder nicht.
  • In der dritten Zone (absoluter Bereich der Gesellschaft) müssen die Interessen des Ichs zurücktreten. Das ist offensichtlich in allen strafrechtlich geregelten Fällen, die es dem Einzelnen verbieten, so zu handeln, wie er will (Vergewaltigung).

Die Anwendung dieser Drei Zonen-Theorie ermöglicht es in den meisten Fällen, die Konflikte aufzulösen, die sich zwischen den individuellen Rechten selbst ergeben. Immer wieder sehen wir unauflösbare scheinende Kämpfe zwischen Freiheit und Sicherheit. Wenn man sich fragt, ob das Interesse eines einzelnen nur seinen eigenen Bereich berührt, ob es relativ zu anderen Interessen abzustimmen ist oder sich gar nicht durchsetzen darf, lassen solche Konflikte sich leichter lösen.

7. Moral und Gerechtigkeit bilden die Qualität einer Entscheidung

Seit den frühesten schriftlichen Zeugnissen, die von der Gerechtigkeit sprechen, wissen wir, dass Gerechtigkeit die Qualität einer Entscheidung beschreibt, die wir bei sozialen Konflikten treffen müssen, um eine soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. In den frühesten Sprachen, in der über sie geschrieben wird, geht es nicht um eine abstrakte Definition von Moral und Recht, sondern um die Beschreibung des Ziels, Ordnung in die Welt zu bringen, sie harmonisch zu gestalten, Konflikte zu beseitigen – und damit sozialen Frieden herzustellen (Ägyptisch:Ma‘at; altgriechisch: δικαιοσύνη / dikaiosyne; chinesisch: 正义 [zhèngyì]).

Das wirksamste Mittel dazu ist die formale Herstellung der Gleichheit/Vergleichbarkeit der Entscheidungen über gleiche/vergleichbare Sachverhalte. Damit wird die formale Willkür der Entscheidung ausgeschlossen.

Sehr viel schwieriger ist es, die Willkür selbst in den Griff zu bekommen, denn sie ist nur durch die Motive zu enttarnen, die hinter einer Entscheidung stehen. In den frühesten Überlegungen zur Gerechtigkeit steht daher der Mensch im Mittelpunkt, der die Entscheidung zu treffen hat: Er wird ermahnt, sich nicht willkürlich zu verhalten und die Schwachen gegenüber den – oft willkürlich handelnden Starken – zu schützen:

»Gesetzt, selbiger Mann hat Einsicht und vermag sein Land recht zu leiten, so soll er auf die Worte, die ich auf meine Tafel geschrieben habe, achten, so wie er wandeln und regieren soll, das Recht des Landes, das ich gerichtet habe, die Entscheidungen des Landes, die ich gefällt habe, möge ihm diese Tafel zeigen, und seine Schwarzköpfigen möge er recht leiten. Ihr Recht möge er richten, ihre Entscheidungen möge er fällen, aus seinem Lande möge er Bösewicht und Übeltäter austilgen, seinem Volke Wohlbehagen verschaffen. Hammurabi, der gesetzgebende König, dem Samas Rechtsatzungen schenkte, bin ich. Meine Worte sind erlesen, meine Taten. haben nicht ihresgleichen.«26

Wir werden später sehen, dass die Basis, auf der solche Entscheidungen beruhen, aus drei Elementen bestehen, die zu unserer »moralischen Urgrammatik« gehören: Interdependenz, Reziprozität und Empathie. Sie allein könnten Willkür noch nicht verhindern. Das aber gelingt mit einem – unten näher beschriebenen – differenzierten Gerechtigkeitsbegriff, zu dem neben der Gleichheit die Fairness und die Ausgewogenheit der moralischen/rechtlichen Normen sowie die Entscheidung über den Einzelfall gehören.

Jedes Kind verfügt über ein moralisches Gewissen und einen Gerechtigkeitssinn, ohne dafür eine wissenschaftliche Definition zu benötigen – das Wissen um diese Begriffe beruht auf unseren biologisch/psychologischen Wurzeln und praktischen Erfahrungen27. Der wesentliche Grund für Verwirrungen im Bereich der Theorie scheint mir zu sein, dass über Moral, Recht und Gerechtigkeit meist aus philosophischer28 oder aus juristischer Perspektive geschrieben wird, unsere biologisch/psychologischen Grundlagen, auf denen solche Systeme notwendig aufbauen, aber nie vertieft diskutiert werden. Die Philosophie bietet Metatheorien an, an denen die Spezialwissenschaften gemessen werden können – das ist für den Anfang eine Etage zu hoch, und juristische Überlegungen ergeben nur dort Sinn, wo man über Recht oder Rechtssysteme etwas sagen kann; sie bilden aber nur eine, wenn auch bedeutende, Teilmenge des Problems.

Moral, Recht und Gerechtigkeit sind kulturelle Konstruktionen, die dem sozialen Leben eine strukturierte Ordnung geben wollen, die es nicht aus sich selbst heraus erzeugen kann. Sie regeln die Machtverhältnisse und sind ein Dach über unserem sozialen Leben, das im Sommer ein wenig kühlt und im Winter die Stürme mäßigen kann, aber ihr Schatten trübt auch das Licht, das auf uns fällt.

Im Zentrum steht dabei die Erkenntnis, dass Ordnungssysteme auf konkreten Entscheidungen beruhen und diese wiederum auf allgemeinen kulturellen Rahmen und den Rechtskulturen, innerhalb deren sie getroffen werden. Dabei zeigt sich, warum niemand Moral und/oder Gerechtigkeit abstrakt definieren kann: Wer versucht, in ihnen bestimmte absolut gültige kulturelle Werte abzubilden, scheitert an der Erkenntnis, dass Kulturen in ihren unterschiedlichen Zeiten und Räumen sehr unterschiedlich sind und die Werte, die sie bestimmen, häufig miteinander in Konflikt geraten. Moral und Gerechtigkeit beruhen auf biologisch/psychologische Grammatiken, aus denen wir einzelne kulturelle Sprachen entwickeln und sie miteinander in Beziehung setzen. Das gelingt, weil die Grammatiken Maßstäbe anbieten, an denen die Normen und die Entscheidungen, die wir auf ihrer Grundlage treffen, gemessen werden können. Platon hat die Vorstellung entwickelt, wir könnten die Gerechtigkeit

»... wie Jäger den Busch rings umstellen und aufmerksam sein, dass uns die Gerechtigkeit nicht etwa entwischt, sich unsichtbar macht und unserem Auge entschwindet, denn offenbar ist sie hier irgendwo.29…. Der Ort scheint schwer zugänglich zu sein und in Schatten gehüllt, wenigstens ist er dunkel und schwer zu durchforschen.«

Das ist eine irreführende Metapher. Wir können die Gerechtigkeit weder erjagen noch nach ihr schürfen wie nach Gold, wir müssen sie wie Handwerker in jedem Einzelfall aus unterschiedlichen Elementen und in definierten Verfahren herstellen. Die Gesetze und zahllose Normen, die ihre Interpretation beeinflussen, sind die abstrakten Rezepte, die uns nur den Weg zur Gerechtigkeit zeigen – das Ergebnis müssen wir selbst finden.

Diese Elemente und Verfahren geben wir uns selbst, aber wir entwickeln sie – wie ich im Weiteren zeigen werde – nicht beliebig aus dem freien Raum heraus, sondern gebunden an unsere biologisch/psychologischen Voraussetzungen und die zahllosen anderen sozialen Rahmenbedingungen, die uns umgeben. Ob wir das Ziel erreicht haben, wird unser Gerechtigkeitssinn und sagen müssen. Er ist zwar in jedem Menschen anders entwickelt, aber wir können darüber kommunizieren. Jedem muss die Gerechtigkeit schmecken – aber sie schmeckt auch jedem anders.

Ich betrachte die Probleme von Macht, Moral, Recht und Gerechtigkeit hier aus dem Zusammenspiel von Theorie und Praxis. Aus dem unendlichen Feld der Theorien wähle ich einzelne Aspekte aus, die für die Praxis relevant sind und versuche, sie weiterzuentwickeln. Ich beschreibe – wie teilweise schon früher30 – einen Weg, auf dem man nicht nur den Schrei nach Gerechtigkeit hört, sondern auch das Flüstern von Menschen, deren Stimme sonst niemand vernimmt.

Dabei unterscheide ich sehr bewusst zwischen dem Begriff der Moral und dem der Gerechtigkeit, auch wenn sie in der Diskussion häufig zusammen genannt werden. Wie wir später im Einzelnen sehen werden, ist die Gerechtigkeit zwar ein unverzichtbarer Teil jedes moralischen Konzepts, aber moralische Regeln genügen nicht immer den Anforderungen, die der Begriff der Gerechtigkeit ausfüllen muss: Für Platon bedeutet er im Kern ästhetische Ausgewogenheit aller sozialen Elemente, auch solcher außerhalb des Rechts: Das harmonische Zusammenspiel der seelischen Antriebskräfte (Verstand/Begehren/Mut) nennt Platon ‚Gerechtigkeit‘ (ein Synonym für die auch im Rechtswesen gesuchte Harmonie) und führt aus (Politeia 443 c9/e3):

»In Wahrheit aber (zeigt sich) die Gerechtigkeit … nicht an den äußeren Handlungen … sondern an der wahrhaft inneren Tätigkeit in Absicht auf sich selbst, indem einer keine fremden Einwirkungen duldet noch die verschiedenen Kräfte seiner Seele sich gegenseitig in ihre Geschäfte einmischen, sondern jeglichem Sein das ihm wahrhaft Angehörige beilegt und sich selbst beherrscht und ordnet und Freund seiner selbst ist und die drei in Zusammenstimmung bringt, ordentlich wie die drei Hauptglieder jedes Wohlklangs, … Und wenn noch etwas zwischen diesen liegt, auch dies alles verbindet … Und auf alle Weise einer wird aus vielen…«

Im Bereich der Politik ist die Forderung nach Gerechtigkeit seit jeher nichts anderes als ein Appell an Werte, die jeder anders interpretiert, seine Verletzung im Bereich der Moral bleibt häufig sanktionslos usw.

Der richtige Weg besteht darin, eine Reihe von Spezialwissenschaften zurate zu ziehen, darunter vor allem die Biologie, die Psychologie, die Anthropologie, die Ethnologie, die Soziologie, die Geschichte (auch die Archäologie), die uns die Phänomene von Moral, Recht und Gerechtigkeit aus allen denkbaren Perspektiven zeigen und dann versuchen zu verstehen, welchen Eingang Sie in die internationalen Rechtskulturen gefunden haben.

Die Versuche, unterschiedliche Rechtskulturen miteinander zu vergleichen, liefern nur selten belastbare Ergebnisse. Wenn man nur Texte nebeneinanderstellt, erreicht man kaum die Oberfläche der Probleme: Wolfgang Fikentscher31 hat in jahrzehntelanger Arbeit als Rechtsanthropologe nachgewiesen, wie außerordentlich schwierig schon der Vergleich zwischen zwei Kulturen – geschweige denn zwischen mehreren Rechtskulturen ist. Wir werden dabei die juristische Perspektive als einen Spezialfall unter vielen anderen erkennen und die Philosophie wird uns lehren, interdisziplinär zu denken und so zu erkennen, wie diese einzelnen Perspektiven untereinander vernetzt sind und welchen Beitrag sie zu unserem Verständnis leisten.

Im Endergebnis werden wir sehen, dass moralische Normen ebenso wie unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit in ihrem Kern wie Sprachen »Urgrammatiken« folgen, die unabhängig von den jeweiligen Rechtskulturen gültig sind. Wir werden erkennen, dass diese Sprachen von den politischen und kulturellen Rahmenbedingungen abhängig sind, unter denen sie entwickelt werden. So erklärt es sich, dass wir zwar über Zeit und Raum hinweg niemals ein einheitliches Bild der Maßstäbe vor uns sehen, die die Moral und die Gerechtigkeit uns anbieten, aber wir werden verstehen, dass diese unterschiedlichen »Sprachen« aus einer einheitlichen Grammatik entwickelt werden, die von Zeit und Raum tatsächlich unabhängig ist.

Ich werde zeigen, wie wir innerhalb eines stabilen Ordnungsrahmens erreichen können, dass die meisten von uns ihre moralischen Entscheidungen an den Maßstäben der Interdependenz, der Gegenseitigkeit und der Empathie ausrichten und in allen Fällen, in denen wir auf diese Weise noch kein überzeugendes Ergebnis erreichen, unsere Entscheidungen an den Maßstäben der Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit ausrichten. Alle diese Begriffe sind Leerformeln, die sich aber anhand konkreter Entscheidungen, die man miteinander vergleichen kann, mit Leben füllen lassen.

Nehmen wir als Beispiel die Todesstrafe: Schon in den frühesten Rechtstexten, die wir kennen (Codex Hammurapi) wird sie für Vergehen verhängt, von denen manche uns trivial erscheinen (einfacher Diebstahl) aber die wesentlichen Differenzierungen, die auch heute für uns relevant sind (was ist staatliche Strafe? Was ist Mord? Was ist fahrlässige Tötung?) werden schon in diesen Texten behandelt, weil sie sich aus dem Problem selbst ohne weiteres entwickeln.

»Bei uns bekommen Sie keine Gerechtigkeit, hier gibt es nur ein Urteil« – dieser Satz, den ich oft von Richtern gehört habe, wird auch von denen, die ihn ironisch zitieren, nicht ernst genommen: Abgesehen von den seltenen Fällen der Rechtsbeugung sucht jeder Jurist nach der Gerechtigkeit. Vom ersten Tag in der Universität an lernen wir, nach ihr zu suchen und erkennen am Ende: Absolute Gerechtigkeit ist nicht erreichbar, aber wir können die Chancen beeinflussen, um ihr so nahe wie möglich zu kommen: eine bloß subjektive Sicht wäre zu eng und könnte nicht erklären, wie es uns im Lauf der Jahrtausende gelungen ist, relativ stabile Ordnungen zu schaffen.

Das Sprechen über Moral muss ohne jede innere Begrenzung stattfinden können. Wenn wir es uns verbieten »unmoralisch« zu denken, können wir die Grenzen der Moral nicht definieren: Sie setzt das Bewusstsein des Gegenteils voraus. Marquis Donatien Alphonse Francois de Sade (1740 – 181) schrieb im Tagebuch seiner italienischen Reise32:

»In der Engelsburg sah ich eine Art kleinen Bogen von einzigartiger Anlage, der einst einem Spanier gehört hatte. Dessen einziges Vergnügen bestand darin, mittels dieser Maschine vergiftete Stecknadeln auf die Straßen und in die Menschenmengen zu schießen, sei es auf öffentlichen Plätzen, sei es beim Verlassen der Kirchen, und zwar zu keinem anderen Zweck als um des dabei angerichteten Schadens willen. Diese seltsame Vorliebe, Böses aus reinem Vergnügen am Bösen zu tun, ist eine der am wenigsten verstandenen und daher auch am wenigsten analysierten Leidenschaften des Menschen. Und doch würde ich es wagen, diese Passion zu den häufigsten Ausschweifungen der Einbildungskraft zu zählen. Allerdings enthebt mich Ihre Seltenheit zum Glück für die Menschheit dieser Analyse«.

8. Die Urgrammatik der Moral

»Moral: Unsere Begriffe: Veredelung, Recht und Unsterblichkeit haben Realität
in der Natur. Was wir Heiliges denken, hat Realität, ist kein Hirngespinst.«33

»Abstammung des Menschen jetzt bewiesen … Wer den Pavian versteht,
würde mehr zur Metaphysik beitragen als John Locke.«34

8.1. Moralische Regeln entstehen aus anderen Regeln

Der Blick in Geschichte und Gegenwart zeigt uns, dass sich unterschiedlichen Räumen, Zeiten und Kulturen moralische Regeln entwickelt haben, die sehr unterschiedlich – und nicht selten völlig gegensätzlich – sind. Gleichwohl gibt es zahllose philosophische Ansätze, in denen versucht worden ist, Regeln zu definieren, die in allen Zeiten und Räumen gleichermaßen gelten sollten. Aus der eigenen Perspektive hat man andere Kulturen als primitiv, rückständig, irreal, religiös verseucht, abergläubisch, ideologisch und unrealistisch genannt – und umgekehrt.

Diese Probleme werden besonders dann auffällig, wenn zur gleichen Zeit und im gleichen Raum vollkommen unterschiedliche Konzepte aufeinanderstoßen, wie es seit 1945 in vielen Gegenden der Welt der Fall ist (Huntington: clash of civilizations). Diese Widersprüche breiten sich hin und wieder sogar im Kopf eines einzelnen Denkers aus: Judith Butler z. B. verteidigt die Rechte von Minderheiten und anerkennt gleichzeitig die sozialen und moralischen Regeln des Islam dort für anerkennenswert, wo er sich durchsetzen kann.

Man kann gewiss davon ausgehen, dass es unter allen denkbaren Rahmenbedingungen immer ein Spannungsverhältnis zwischen dem Ich und der Gesellschaft geben wird. Das Ich kann jedenfalls so lange ohne eine, von ihm selbst definierte oder anerkannter Ordnung leben, als andere davon nicht betroffen sind (Kant), die Gesellschaft hingegen kann ohne Ordnung nicht existieren und entwickelt immer die Tendenz, die Interessen der Einzelnen dieser Ordnung anzupassen. Es gibt eine unübersehbare Machtdifferenz zwischen den Möglichkeiten einer Gesellschaft, ihre Ordnung gegenüber den einzelnen durchzusetzen.

Auf diesem Hintergrund liegt der Gedanke nahe, allein die Machtverhältnisse könnten darüber entscheiden, welche Ordnung sich in welcher Gesellschaft am Ende durchsetzt. Es entsteht der Verdacht, Moral könne beliebig definiert werden und sei jedenfalls dann allgemeinverbindlich, wenn sie Mehrheiten gefunden hätten. Über diese Möglichkeit hat aus einer radikalen Perspektive des Individuums z. B. Marquis de Sade nachgedacht. Seine Regel lautet: »Jeder darf einen anderen Menschen zum Gegenstand seiner Lust machen« und wenn man ihm vorhält, dass diese Regel sich auch gegen ihn wenden könne, sagte er: »Gut so!« Das Problem: Aus einer solchen Regel könnte niemals eine allgemein akzeptierte soziale Ordnung entstehen.

Im folgenden werden wir sehen, dass moralische Regeln nicht beziehungslos im Raum stehen, weil ihre Funktion darin besteht, eine tragfähige und nachhaltige soziale Ordnung einzurichten und und das hängt nicht allein davon ab, ob sich eine politische Mehrheit für sie bildet. Eine solche Ordnung muss in der – allerdings wechselhaften – Realität der condition humaine verankert sein und das kann nur gelingen, wenn sie sich mit den Rahmenbedingungen verbinden kann, aus denen diese Realität besteht.

Die tiefste Wurzel, nach der wir in diesem Zusammenhang suchen müssen, finden sich in unserer biologisch/psychologischen Natur. Aus ihr ergeben sich zahllose Varianten der condition humaine, die man in einer Grammatik zusammenfassen kann. Sie wird im Folgenden dargestellt. Auch diese Grammatik kann sich zwar ändern, mittelfristig betrachtet (derzeit: Ein Zeithorizont um 10.000 Jahre) wird man jedoch relativ stabile Strukturen erwarten können: Ordnungen, die sich von ihren biologisch/psychologischen Wurzeln lösen, werden nachhaltig nicht stabil bleiben können.

8.2. Evolutionsbiologie

Allgemeine moralische Regeln haben sich in unserer kulturellen Vergangenheit vermutlich induktiv aus der notwendigen Entscheidung über Einzelfälle entwickelt. Wir beobachten dabei große Unterschiede zwischen einzelnen Gesellschaften und Kulturen. Tabus, die in der einen Kultur gelten, sind in der anderen Kultur irrelevant. Andererseits suchen wir beständig nach einer gemeinsamen Wurzel der condition humaine, also nach Werten und Grundannahmen, die alle Menschen teilen. So sind unzählige ethische Konstruktionen entstanden (wie etwa der Kategorische Imperativ, die ethics of care, die Entwicklung von Gerechtigkeitsbegriffen hinter einem »Schleier des Nichtwissens« (John Rawls), etc.35). Analysiert man sie näher, verstärken sich die Zweifel, ob es möglich sein könnte, moralische Prinzipien zu identifizieren, die tatsächlich zeitlos sind. Das Konzept des Principlism36 etwa definiert als solche Werte: »Autonomie, Nicht – Schädigen, Wohltun und Gerechtigkeit.« Welchen Inhalt aber Begriffe wie »Autonomie« etwa im Verhältnis zur Identität oder zur Individualität einzelner Menschen haben, wird man nicht leicht sagen können. Auf jeden Fall wird man anerkennen müssen, dass sie sich unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Raum, Zeit, Kultur usw. verändern werden.

Aussichtsreicher ist es, auf einer etwas tiefer angesiedelten abstrakten Ebene anzusetzen, also nicht nach abstrakten moralischen Werten wie dem Guten, Wahren und Schönen zu suchen, sondern nach der Grammatik, die solche Begriffsbildungen bestimmt. Wir suchen dann nach Regeln (Normen), die es uns ermöglichen, zu entscheiden, ob einzelne Werte die Qualität haben, die sie haben sollten. Zugleich sollte diese Ebene mit uns biologisch/psychologisch eng verbunden sein, also näher an unserer physischen Natur liegen als an unseren theoretischen Kräften. Und schließlich: Moralische Normen können sich nur durchsetzen, wenn sie überwiegend Anerkennung finden:

»Ohne Anerkennung im Großen und Ganzen (entwickelt sich) in der relevanten Gruppe kein rechtlicher, richtiger Zwang, keine rechtliche Prozedur und keine Richtigkeit im Einzelfall«37.

Schon lange bevor die Evolutionsbiologie ein völlig neues Licht auf den Zusammenhang zwischen unserer Natur und unseren sozialen Konstruktionen geworfen hatte, sind ihre Ansätze in der philosophischen Diskussion erahnt worden:

»Der Mensch ist ein Thier, das, wenn es unter anderen seiner Gattung lebt, einen Herrn nöthig hat. Denn er missbraucht gewiss seine Freiheit in Ansehung anderer Seinesgleichen; und ob er gleich als vernünftiges Geschöpf ein Gesetz wünscht, welches der Freiheit Aller Schranken setze: so verleitet ihn doch seine selbstsüchtigen thierische Neigung, wo er darf, sich selbst auszunehmen. Er bedarf also einen (sic) Herrn, der ihm den eigenen Willen breche und ihn nötige, einem allgemeingültigen Willen, dabei jeder frei sein kann, zu gehorchen.«38

Die von Charles Darwin begründete Evolutionsbiologie hat gezeigt, dass menschliche Eigenschaften zum Teil von unseren Genen bestimmt werden, wobei sich diejenigen Gene durchsetzen, die unser Überleben durch Anpassung an die Rahmenbedingungen der Natur sichern. Wie das geschieht, hängt von den Bedingungen des Umfeldes ab, die Gene bilden also nur die biologische Grammatik, die bestimmt, wie unser psychisches und soziales Verhalten auf dieses Umfeld reagiert: »Die biologische Evolution ist kein normlegitimierender Prozess, die Natur kein sittliches Prinzip«39.

Gene und soziokulturelle Verhaltensweisen dienen – wie Herbert Spencer gezeigt hat – dem Ziel, durch Anpassung an die unterschiedlichsten Lebenssituationen unser Überleben zu sichern. Unsere tatsächlichen Entscheidungen werden also einerseits von der Grammatik der Gene, andererseits von den unzähligen Einzelsprachen unseres sozialen Verhaltens (die man als Meme bezeichnen kann40) bestimmt: Kein soziales Verhalten kann sich gegen unsere biologische Ausstattung entwickeln, es berührt unsere genetische Ausstattung aber nur dann, wenn deren biologisches Ziel durch unser soziales Verhalten entweder unterstützt oder irritiert wird.

Jedes Verhalten, das ihr entspricht und gleichzeitig unsere kulturelle Entwicklung voranbringt, wird uns im Wechselspiel mit unserer Biologie weitere Vorteile bringen. Das geschieht selten über eine direkte Veränderung von Genen, wohl aber ihres chemischen Umfeldes (Epigenetik41):

»Es macht deshalb auch absolut keinen Sinn, Verhaltensmerkmale als ›angeboren‹ oder ›erworben‹ unterscheiden zu wollen. Bestenfalls lässt sich ihre Stellung in einem Kontinuum zwischen ›relativ stabil‹ und ›relativ sensibel‹ gegenüber unterschiedlichen Umwelteinflüssen bestimmen«42.

In welchem Umfang das jeweils der Fall ist, kann nicht allgemein gesagt werden: Bei allen instinktiven Reaktionen dürften die Gene den Ausschlag geben, bei Entscheidungen, die aus genetischer Sicht für unser Überleben nicht zwingend erforderlich sind, können wir gegen unsere genetischen Dispositionen handeln (Suizid). Je stärker unser Verhalten in der jeweiligen Situation an unsere genetischen Wurzeln geknüpft ist, umso größer ist die Anstrengung, es aus moralischen Perspektiven zu verändern. Instinktiv suchen wir dabei eine Rangfolge innerhalb der Wertvorstellungen, die uns zunächst das individuelle Überleben sichern, wie Abraham H. Maslow43 gezeigt hat. Bertolt Brecht hat diese »Bedürfnispyramide« auf den Punkt gebracht: »Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral«.

Auf dem oben skizzierten Hintergrund der Evolutionsbiologie liegt es nahe, sich zu fragen, wie Tiere ihr Sozialverhalten untereinander regeln. Die Diskussion über die Frage, woraus die kennzeichnenden Unterschiede zwischen Tieren und Menschen bestehen, hat erst vor relativ kurzer Zeit begonnen. Zwar kann man feststellen, dass einige Tiere (auch Fische und Meeressäugetiere!) sich ihrer Individualität bewusst sind (sie erkennen sich im Spiegel), ob sie aber ähnlich wie Menschen einen Standpunkt außerhalb ihrer selbst annehmen, sich also z. B. beim Denken zusehen oder Suizid begehen können, ist streitig. Einige sagen, diese Unterschiede beruhten im Wesentlichen auf dem menschlichen Sprachgebrauch, andere weisen darauf hin, dass die Kommunikation unter Tieren (z. B. Delphinen) ebenfalls sehr differenziert ist und da sie von uns derzeit noch nicht verstanden werden kann, bleibt das Thema nach wie vor offen.

Die Frage, ob sich kulturelles Wissen genetisch in uns verankern kann, ist unter verschiedenen Aspekten wissenschaftlich untersucht worden. Die Fähigkeit des Lesens und Schreibens ist vor etwa 7000 Jahren entwickelt worden, aber über lange Zeit waren nur Bruchteile der Gesellschaft fähig, von ihnen Gebrauch zu machen. Erst durch den Bibeldruck und die mit ihm verbundene Verpflichtung, die Bibel selbst zu lesen und zu interpretieren, wie sie unter Protestanten erstmals entwickelt wurde, lernten ab der Mitte des 16. Jahrhunderts weite Teile der Bevölkerung Europas und später Nordamerikas lesen und schreiben. Das führte über mehrere Generationen hinweg zu heute zweifelsfrei feststellbaren Veränderungen in den Gehirnstrukturen.44

Seit Erfindung der Schrift (ca. 7000-5000 v. Chr.) können wir die moralischen Regeln, die sich auf diese Weise in unterschiedlichen Kulturen gebildet haben, relativ gut rekonstruieren. Sie sind – wie oben gezeigt – weit älter als Homo sapiens, der sie mit der Genetik seiner Vorfahren übernommen hat. Wir kennen die moralischen Sprachen der Menschen der Steinzeit nicht, aber auch sie konnten sich – wie wir sogleich sehen werden – nur aus drei grammatischen Elementen45 entwickeln, die wir schon bei Primaten (Hominidae: Gattung Homo und Menschenaffen) finden46:

  • Sie leben in Gruppen und sichern ihr individuelles Überleben durch Steuerung von Aggression, Flucht, und Kooperation, dies alles im Bewußtsein ihrer Abhängigkeit von den anderen (Interdependenz), und der spiegelbildlichen Abwehr gegenüber jedem, der nicht zu ihnen gehört,
  • sie haben ein instinktives Gespür für die innere Verbindung zwischen Leistung und Gegenleistung (Reziprozität); das zeigt sich etwa bei der Fellpflege, der Verteilung von Nahrung oder anderen Leistungen, die von demjenigen, der sie empfängt, in angemessener Weise erwidert werden muss; wer dagegen verstößt wird isoliert,
  • sie steuern ihr Verhalten nicht nur durch Intelligenz, sondern auch durch ihre Gefühlslagen (Mitgefühl mit anderen (Empathie) oder dessen Gegenteil, der Aggression).47

John Mikhail hat diese drei Elemente zusammenfassend als eine Art universeller Moralgrammatik48 bezeichnet. Mit dieser Begriffsbildung macht er darauf aufmerksam, dass man unter Primaten bestimmte Grundelemente der Moralbegriffe, die auch für uns gültig sind, beobachten kann. Gleichzeitig werden dadurch frühere Behauptungen widerlegt, Tiere (und Menschen!) verhielten sich nach einem Gesetz des Kampfes aller gegen alle (Thomas Hobbes). Auch im Tierreich gibt es kein »Recht des Stärkeren«, der Begriff »Sozialdarwinismus« beruft sich zu Unrecht auf Darwin).

9. Interdependenz, Reziprozität und Empathie

Auf dem Hintergrund dieser Erkenntnis stellt sich die Frage, ob man den Begriff der »Moral« auf menschlicher wie tierischer Ebene mit gleicher Bedeutung verwenden kann. Nach dem bisherigen Beobachtungsstand reagieren Tiere in Konfliktsituationen – teils genetisch bedingt, teils durch Verhaltensmuster geprägt – unbewusst und instinktiv. Es ist zwar nicht auszuschließen, dass Tieren eine Vorstellung davon entwickeln können, wie und warum sie so reagieren, wie es tatsächlich geschieht, aber derzeit fehlen uns dazu Beweise und Forschungsergebnisse. Menschen hingegen können sich und ihr Verhalten selbst beobachten, viele führen Selbstgespräche und einige reagieren auf Konfliktsituationen durch Selbstmord. Das ist bisher auch im Bereich höher entwickelte Primaten noch nicht beobachtet worden (kann aber auch nicht ausgeschlossen werden).

Entscheidend ist demnach die Beobachtung, dass Menschen die moralischen Regeln, die sie sich als kulturelle Konstrukte geben, unter bestimmten Bedingungen ändern oder bewusst gegen sie handeln können, auch wenn sie wissen, dass das erhebliche soziale Folgen für sie haben kann. In dieser Fähigkeit liegt die entscheidende Differenz, die uns von der Natur trennt und zugleich die tiefste Begründung für eine, nur dem Menschen zukommende »Würde« darstellt, ein Begriff der vielfältige Rechte und Pflichten enthält (über die Pflichten wird weniger diskutiert).

Moralische Entscheidungen aller Art sind oft nur in einer tragischen Wahl lösbar, in der wir uns individuell sowohl gegen unsere natürlichen Neigungen als auch gegen die Anpassungsstrategien entscheiden müssen, die die Gesellschaft von uns fordert. Dafür ist kein Konzept der Willensfreiheit erforderlich, es reicht das Bewusstsein der Entscheidungsfreiheit.

Interdependenz, Reziprozität und Empathie sind keine Werte, sie beschreiben vielmehr die Grundregeln eines Verhaltens, sie sind eine Grammatik für die Entwicklung von Werten wie etwa der Freiheit, der Toleranz und anderer, die nicht etwa Ergebnis nur logische Bemühungen sind, sondern auch emotional interpretiert werden müssen, um Akzeptanz und damit Wirkung zu entfalten. Was eine Kultur aber unter Freiheit, Toleranz usw. versteht, ergibt sich aus dieser Grammatik (noch) nicht. Nun zu den einzelnen Elementen:

Jede menschliche Gruppierung entwickelt aus den drei Elementen ihrer moralischen Grammatik eine ihr eigene Sprache. Sie besteht aus Regeln, die für diese Gruppe gelten und jede Gruppe erfährt, dass andere Gruppen nicht über die gleichen Regeln verfügen. Das führt zu einer Abgrenzung gegenüber allen »Fremden«, die nicht zur Gruppe gehören, die unsere Identität nicht teilen, vor denen wir daher – ebenso wie die Tiere – instinktiv Furcht und Ablehnung entwickeln49. Unvermeidlich übertragen wir die innerhalb der Gruppe geltenden moralischen Regeln auf die »Anderen« und stellen ebenso unvermeidlich fest, dass sie dort nicht oder anders verstanden werden. Hinzu kommt, dass die Anwendung moralische Regeln innerhalb der Gruppe nicht immer mit gleicher Strenge erfolgt (die Verwandtschaftsbeziehungen und die damit verbundene Empathie führen zu differenziert dem Verhalten) – anders jedoch in den Außenbeziehungen. Oft verlangen wir von anderen mehr als von uns selbst.

Das Bewusstsein unserer gegenseitigen Abhängigkeit voneinander und ihre vorbehaltlose Akzeptanz (Interdependenz) ist das erste moralische Element: »Was die früheste Spruchweisheit dem Menschen einhämmert, ist seine Abhängigkeit von Anderen und von der Gemeinschaft«50. Sie ist in jeder humanistischen Idee enthalten: Jeder einzelne kämpft um sein Überleben (Egoismus), braucht dazu aber auch die Existenz anderer Menschen und ihre Bereitschaft, ihn dabei zu unterstützen (Altruismus). Eine moralische Regel, die etwa einem einzelnen Menschen alle Macht zuweist und andere vom Zugang zur Macht ausschließt, verstieße gegen das Prinzip der Interdependenz. Der Begriff der Interdependenz umfasst nicht nur die Abhängigkeit unter den Menschen, sondern beschreibt auch unsere Verbindung mit der belebten und unbelebten Natur, ohne die wir nicht existieren könnten.

Hilfe von anderen erhält nur, wer selbst anderen gegenüber zur Hilfe bereit ist (Reziprozität) – so ergibt sich das zweite moralische Element. Es ist nicht nur biologisch/psychologisch in uns abgesichert, sondern findet sich schon in den Ordnungsvorstellungen der frühesten Kulturen. In altägyptischen Texten heißt es: »Der Lohn eines Handelnden liegt darin, dass für ihn gehandelt wird.«51 Zeitlich später heißt es:

»Rabbi Jizchak Eisik sprach: »Die Losung des Lebens ist: Gib und nimm. Jeder Mensch soll ein Spender und Empfänger sein. Wer nicht beides in einem ist, der ist ein unfruchtbarer Baum.52«

Wer etwas in Anspruch nimmt, ohne dafür eine Gegenleistung zu erhalten (die nicht unbedingt in Gegenständen, sondern auch in Dank, Empathie usw. geleistet werden kann) verstößt gegen die Regel der Reziprozität.

Schließlich muss jede moralische Entscheidung von Empathie, also dem Gefühl füreinander getragen sein, »einer spontanen inneren Reaktion in mir – auf eine Person, eine Örtlichkeit oder eine Situation, die ich erlebe oder an die ich denke« (Carl Rogers). Wer versucht, die Welt nur intelligent zu regeln und die Gefühle mit Füßen tritt, dessen Regeln werden keine Anerkennung finden. Das bedeutet auch, nicht nur auf die eigenen Gefühle zu achten, sondern auf jene der anderen Beteiligten und gleichzeitig Respekt vor der Autonomie desjenigen zu entwickeln, der gegen moralische Regeln verstoßen hat. Unmoralische Menschen, sind oft gefühlskalt. Alle drei Perspektiven entwickeln sich durch genetische Multilevel-Selektion (E. O. Wilson) und sorgen so dafür, dass Menschen, die gegen sie verstoßen, geringere Überlebenschancen haben als andere.

Ob jemand bei seinen Entscheidungen über ein Bewusstsein der Interdependenz verfügt, ob er fähig ist, Leistungen mit Gegenleistung zu erwidern, oder ob jemand sich empathisch verhält oder nicht, lässt sich unabhängig von subjektiven Beurteilungen der Beteiligten feststellen, sobald jemand die Position eines »impartial spectator« (unparteiischen Beobachters53) einzunehmen imstande ist. Er muss sich verhalten wie ein Richter im Rechtssystem: Dafür muss er sich in andere Perspektiven als seiner eigenen hineinversetzen können, Interessenkonflikte wahrnehmen, versuchen, alle die Erkenntnis beeinträchtigenden Verzerrungen zu korrigieren usw. Wenn das gelingt, kann jeder anhand dieser Maßstäbe jeden moralischen Wert wie z. B. Freiheit, Sicherheit, Menschenwürde, Toleranz usw. daraufhin überprüfen, ob sie anerkannt werden können – und wenn ja, in welchem Umfang und in welcher Relation zu anderen Werten. Wer seine Abhängigkeit von Anderen leugnet, eine Leistung nicht mit Gegenleistungen erwidert oder sich kalten Herzens durch die Gesellschaft bewegt, wird nicht die moralischen Werte realisieren können, auf die die Gesellschaft angewiesen ist, um eine Ordnung zu schaffen.

Wir müssen anerkennen, dass all diese Weiterentwicklungen auf tiefgreifenden, genetisch abgesicherten biologisch/psychologischen Wurzeln beruhen, die wir mit unseren tierischen Vorfahren, den Primaten teilen. Der Grund für diese tiefe Verankerung beruht auf den so entwickelten Fähigkeiten der Kooperation innerhalb definierter Gruppen, die dazu führt, teils über Verwandtschaftslinien, teils über Funktionsverteilungen die Identität einer Gruppe zu definieren und aufrechtzuerhalten. Unsere genetische Ausstattung und ihre biologische Weiterentwicklung befähigt uns, unser Leben aggressiv zu verteidigen und/oder in Kooperationen zu sichern- die Gen-Kultur-Koevolution54.

10. Die Grammatik der Gerechtigkeit

Die oben beschriebenen grammatischen Regeln sind in unserer biologisch/psychologischen Natur auf vergleichbare Weise angelegt, wie wir sie bei hoch entwickelten Primaten beobachtet haben. Diese Natur wird genetisch definiert und kann durch Umweltbedingungen und Sozialisation epigenetisch verändert werden. Auch unter Menschen reichen sie in den Standardsituationen des Alltags aus, in denen wir instinktiv nicht hinterfragten Verhaltensregeln folgen: So leben wir im Alltag immer unter dem »Schatten der Moral«, der unser Verhalten beeinflusst, obwohl es uns meist nicht bewusst ist.

Gleichzeitig sehen wir aber auch große Verhaltensunterschiede zwischen hochentwickelten Primaten und Menschen, wenn es um moralische Konfliktsituationen geht. In solchen Situationen helfen uns biologisch/psychologische Instinktreaktionen nicht weiter, denn Menschen unterscheiden sich von Tieren in dreifacher Hinsicht:

  • Wir haben die Fähigkeit, uns in jeder Situation ihres Lebens selbst beobachten und unsere Handlungen bewerten zu können,
  • die Konflikte, die wir unter uns bewältigen müssen, sind erheblich komplexer, weil jeder einzelne Mensch unterschiedliche Wertvorstellungen hat, die im Kern auf dem Gefühl seiner Freiheit beruhen,
  • wir können unsere instinktive Abhängigkeit von unseren biologisch/psychologischen Wurzeln durchtrennen und sogar gegen unser angeborenes oder erlerntes Verhalten entscheiden. Wir können gegen uns selbst und das Leben handeln – wir können Suizid begehen!

Kurz: Wir können – anders als Tiere, Pflanzen und andere Lebewesen der Natur die genetisch definierten Regeln ändern und/oder brechen, die wir uns selbst gegeben haben. So entstehen komplexe Widersprüche und Konfliktsituationen, die wir allein mit der Urgrammatik der Moral nicht lösen können: Ein Wert wie die Freiheit widerspricht dem Wert der Sicherheit, Toleranz widerspricht strenger Ordnung. Ein Mensch kann sich von einem anderen abhängig fühlen, gerade deshalb aber Schwierigkeiten haben, sich ihm empathisch zu öffnen usw.. Auch erhebt sich die Frage, ob und unter welchen Umständen Leistungen und Gegenleistungen als Äquivalent angesehen werden können und ob eine moralische Entscheidung gleichzeitig auch empathisch begleitet wird oder nicht. Und nicht zuletzt: Die individuelle Moralvorstellung eines Einzelnen kollidiert entweder mit den Ideen anderer oder mit den allgemeinen Regeln.

Würden diese Probleme allein nach den Macht- oder Rangverhältnissen entschieden, könnte ein Mensch, der keinen Zugang zur Macht und keinen Rang hat, nicht überleben. Das gilt auch für Gruppen, die sich immer mächtigeren anderen Gruppen gegenübersehen. Moralische Normen allein können solche Widersprüche und damit die Vermeidung willkürlicher Entscheidungen nicht gewährleisten.

Wir brauchen also über die drei Grundregeln der Moral (Interdependenz/Reziprozität/Empathie) hinaus weitere Regeln, mit denen wir die oben beschriebenen Konfliktsituationen bewältigen können.

11. Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit

So hat sich aus der Gruppe der Hominidae im Laufe der Fortentwicklung des Menschen zum Homo sapiens eine kulturelle Konstruktion entwickelt, deren Basis aus den Elementen der Urgrammatik der Moral (Interdependenz, Reziprozität, Empathie) besteht, die uns aber darüber hinaus befähigt, Widersprüche und Konflikte bei ihrer Anwendung aufzulösen. Diese Grammatik der Gerechtigkeit besteht aus drei Elementen, die gleichzeitig den Unterschied zwischen Tieren und Menschen markieren: Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit.

Im Gleichheitsgedanken spiegelt sich die Erkenntnis wider, dass wir trotz aller sozialen Unterschiede, die uns kennzeichnen, abhängig von unserer Stellung in der Gesellschaft sind (Interdependenz): Ein Mensch ist nur mächtig, wenn andere diese Macht anerkennen, er ist nur reich, wenn Ärmere für ihn arbeiten, er kann keine Wissenschaft betreiben, ohne sich auf das Wissen andere zu stützen usw. Allerdings weiß jeder, dass er nicht genauso schön, genauso musikalisch oder mathematisch begabt sein kann wie ein anderer:

»›Alle Menschen sind gleich‹ – vielleicht der einzige menschheitsbewegende Satz, der von keinem Menschen je für wahr gehalten wurde«.55

Gleichheit bedeutet also nicht Identität, sondern Vergleichbarkeit, und damit stets die Berücksichtigung von Ungleichheit. Der Gleichheitsgedanke findet sich in fast jedem Detail eines Rechtssystems, also in archaischen Rechtsgrundsätzen (»Auge um Auge, Zahn um Zahn«), im Prinzip von Leistung und Gegenleistung (der Grundregel aller sozialen Beziehungen56, als Maßstab für die Verteilung sozialer Güter, aber auch in vielen formalen Regeln (»Gleicher Zugang zu den Gerichten«). Hinter jeder Aussage, etwas sei etwas anderem gleich, steckt eine wertende und emotional gesteuerte Analogie. So wird der Gleichheitssatz zu einer oft missbrauchten Einbruchstelle aller möglichen Interessen. Der geringste Qualitätsgrad lautet: Die Entscheidung über gleich oder ungleich sollte nicht willkürlich sein. So ist die Gleichheit ist zum Kern moderner Gerechtigkeitsbegriffe geworden.57

Wer zwei Gegenstände als gleich, zwei andere aber als ungleich bezeichnet, muss die Kriterien definieren können, die seine Entscheidung bestimmen. Jeder Vergleich enthält im Kern einer Analogie, die nicht logischen Regeln folgt. Manchmal reicht eine bloß phänomenologische Beurteilung aus, in anderen Fällen wird man an Begründungen anknüpfen, warum ein Vergleich so und nicht anders ausgefallen ist. Diese Begründungen entwickeln sich unterschiedlich unter den Rahmenbedingungen von Zeit, Raum, Kultur etc., die jedes soziale System vorfindet und gestaltet – aus den drei Leerformeln entwickeln sich Sprachen, die werden und vergehen. In den ersten uns bekannten Gesetzestexten des Hammurabi werden viele Entscheidungen als gerecht bezeichnet, die wir als ungleich, unfair und unausgewogen betrachten würden.

Die Unterschiede zwischen den Menschen werden von einzelnen Menschen und Gruppen, die mächtiger sind als andere, in zahllosen Situationen unseres Zusammenlebens gegenüber den jeweiligen Minderheiten im eigenen Interesse ausgenutzt. Die Hautfarbe, die wirtschaftlichen Differenzen zwischen Reichen und Armen, die politischen Machtverhältnisse (Nord –/Südkonflikt), die Situation von Einwanderern und Flüchtlingen gegenüber den Menschen, in deren angestammten Territorium sie sich aufhalten, die Kranken gegenüber den Gesunden – hier und in zahllosen anderen Bereichen, in denen solche Unterschiede sichtbar werden, wird regelmäßig die Forderung erhoben, die Ungleichheit zwischen den Menschen bereits in ihren Wurzeln dadurch zu beheben, dass sie als Tatsache geleugnet wird und alle Begriffe als politisch unkorrekt betrachtet werden, die eine Differenz kennzeichnen. Alle Menschen sollen überall auf der Welt einwandern dürfen (»Niemand ist illegal«), die Anhäufung von Reichtum und Macht soll von Beginn an verhindert werden, Gleichheit soll als das Ergebnis einer Beseitigung von Differenzen geschehen, nicht als Chancengleichheit.

Diese politischen Tendenzen lassen sich nach bisheriger Erfahrung nicht verwirklichen, da die tiefsten Gründe für diese Differenzen nicht zu unserer Disposition stehen: Wir können durch eine Änderung der Machtverhältnisse weder die Hautfarbe eines Menschen ändern, noch seine Begabung, noch die Energie, mit der er sich z. B. auf die Anhäufung von Kapital konzentriert, anstatt nach kulturellen Erfolgen zu suchen: In allen sozialistischen Gesellschaften, in denen das versucht worden ist, haben sich unverzüglich die gleichen Differenzen herausgestellt, wie sie zuvor bestanden haben. Wir können lediglich politisch/kulturellen Rahmenbedingungen schaffen, die diese Ungleichheiten verringern.

Die politischen Diskussionen über dieses Thema leiden unter einem grundlegenden Missverständnis der Idee der Gleichheit: Sie enthält nicht die Behauptung, die Menschen, Phänomene, Ereignisse, Entscheidungen usw. seien gleich, sie geht vielmehr von der Erkenntnis der Vielfältigkeit und Ungleichheit von allem aus, »was der Fall ist«, erhebt jedoch die moralische und/oder rechtliche Forderung, diesen Zustand zu ändern. Wer Gleichheit fordert, anerkennt daher ausdrücklich, bewusst oder unbewusst die Tatsache, dass Ungleichheit herrscht.

Diese Diskussion ist nicht erst in der Moderne und schon gar nicht erst im Zusammenhang mit der Entwicklung kapitalistischer Finanzsysteme entstanden. Sie durchzieht schon die frühesten rechtlichen Texte etwa des Hammurabi, in denen die Herrscher sich selbst das Verbot der Willkür auferlegten, um zu gleichgearteten Entscheidungen zu kommen. Schon im ausgehenden Mittelalter hat man sich mit der Differenz zwischen Arm und Reich befasst und Systeme eingerichtet, die einzelne begabte Menschen unabhängig von den bestehenden Standesunterschieden die Chance gab, Karriere zu machen. Das geschah vor allem in der Armee und bei der Besetzung geistlicher Ämter, im alten China und im modernen Frankreich und England zusätzlich durch die Einrichtung standesunabhängiger Staatsprüfungen. Heute kann man als Influencer im Internet, als Schauspieler oder Star im Show Business aus einfachsten Verhältnissen und ohne sichtbare Begabung zu Reichtum und/oder politischem Einfluss gelangen.

Wer auf diese oder andere Weise die Chancengleichheit vergrößert, definiert damit gleichzeitig (bewusst oder unbewusst) die Ungleichheit aller jener, die diese Möglichkeiten nicht benutzen können oder nicht benutzen wollen.

Fairness ist die Fähigkeit, nicht nur die eigene Position, sondern immer auch die Wertvorstellungen, Interessen und Konflikte der anderen und am Ende das Ganze zu sehen. Die Fähigkeit, fair zu sein, wird schon im frühkindlichen Alter beobachtet, sobald sich die theory of mind entwickelt hat58. In ihr spiegelt sich die Erkenntnis der Interdependenz, dass ein soziales Leben nur funktionieren kann, wenn das Verhalten des einen von anderen erwidert wird, wenn es auf Resonanz trifft, wenn eine Gabe mit einer Gegengabe erwidert wird usw. Wer etwas empfängt, ohne sich zu bedanken, ist unfair. Darin spiegelt sich das moralische Prinzip der Reziprozität wider.

John Rawls verwendet den Begriff anders: Er definiert Gerechtigkeit insgesamt als »Fairness«, die zunächst von einem formalen Prinzip gesteuert wird: Sie kann nur entstehen, wenn Normen und ihre Umsetzung in die Wirklichkeit »hinter einem Schleier des Nichtwissens«59 verborgen sind, hinter denen auch diejenigen, die die Entscheidungen treffen, nicht sehen können. So sollen die Interessenkonflikte der Personen, die über einen Konflikt entscheiden, verhindert werden. Damit variiert er im Kern einen, von Kant bereits definierten Grundsatz, dass nur solche Gesetze Gültigkeit haben sollen, die jeder auch gegen sich selbst gerichtet akzeptieren müsse. Die Inhalte einer »fairen Gerechtigkeitslösung« definiert er in der aktualisierten Fassung60:

»a) Jede Person hat dem gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, dass mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist.
b) Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedingungen erfüllen: Erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offen stehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip)«

Der Idee vom »Schleier des Nichtwissens« ist entgegengehalten worden, dass sie in der Praxis immer ohne weiteres umgangen werden könne. Diese berechtigte Kritik ändert aber nichts daran, dass sie als ideale Leitlinie jedenfalls den Maßstab definiert, an dem wir uns orientieren sollten. John Rawls verwendet den Begriff der »Fairness« als Oberbegriff für alle drei Elemente der Gerechtigkeitsgrammatik, die ich hier vorstelle. Ich verwende Ihnen ausschließlich für den Appell, bei moralischen und rechtlichen Konflikten stets auch die Position der anderen Seite zu erforschen und in die Überlegungen zur Ausgewogenheit der Lösung einfließen zu lassen. Der Begriff »Fairness ist damit zwar eingegrenzter, aber auch schärfer als John Rawls Begriffsbestimmung. Es ist darüber hinaus sehr schwierig, den Gleichheitsgedanken begrifflich mit »Fairness« zu assoziieren, denn seine Anwendung kann zu Ergebnissen führen, die von einigen Beteiligten als unfair bezeichnet werden.

Gegenüber den inhaltlichen Maßstäben, die in John Rawls‘ Definition enthalten sind, ist eingewendet worden, dass sie nicht in jeder denkbaren politischen Ordnung funktionieren könnten, sondern nur, wenn demokratische Grundstrukturen, Gewaltenteilung und andere – von den Ideen der Aufklärung beeinflusste – Elemente vorliegen, in denen sich Begriffe wie »Fairness« realisieren lassen. Tatsächlich aber können diktatorische Regime einen hohen – und für die Betroffenen hinnehmbaren – Ordnungsgrad zeigen, wenn diese Normen ein Regelungssystem einrichten, in dem sich zwar die einseitigen Ordnungsvorstellungen eines Diktators niederschlagen, aber ihre willkürliche Handhabung vermieden wird. Ein klassisches Beispiel sind die Systeme der absoluten Monarchie, die sich in einem gewissen rechtsstaatlichen Umfang selbst beschränkt haben. Aber die Idee, ein Weiser Alleinherrscher könne die Probleme der Gesellschaft souverän lösen, scheitert an seinen Interessenkonflikten: »Dass Könige philosophieren oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: Weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt«61 so ist es Pythagoras in Sizilien ergangen.

Ich verwende den Begriff der Fairness in viel eingeschränkterem Sinn, nämlich nur als das Prinzip, in eine Entscheidung die Perspektiven aller von ihr betroffenen Menschen einfließen zu lassen. Mir erscheint es begrifflich notwendig, den Begriff der Gleichheit und der Angemessenheit (die beide in Rawls Begriff der »Fairness enthalten sind) vom Begriff der Fairness zu trennen, um im Einzelfall auch zu begrifflich differenzierten Lösungen zu kommen.

Ausgewogenheit ist die Fähigkeit, die Begriffe der Gleichheit und der Fairness so zu definieren, dass das Ergebnis die Wertvorstellungen und Interessen sowohl des Einzelnen wie der Gesellschaft so abbildet, dass es von anderen, an der Entscheidung nicht Beteiligten akzeptiert werden kann. Gleichheit und Fairness widersprechen nämlich einander: Die Gleichheit berücksichtigt überwiegend die Perspektive der Gesellschaft, die Fairness jene der Einzelinteressen. Wenn wir alles über nur einen Leisten schlagen, können wir die unterschiedlichen Interessen, die bei einer Entscheidung relevant sind, nicht erfassen. Die Fähigkeit, ausgewogene Entscheidungen zu treffen, spiegelt den Maßstab der Empathie wider. Dabei stützen wir uns überwiegend auf emotionale Reaktionen und ästhetische Maßstäbe, nicht so sehr auf die Vernunft.

Ästhetische Kriterien bestimmen aber auch die Begriffe der Gleichheit und der Fairness: Wie eingangs bemerkt, wird sowohl in der ägyptischen, der griechischen wie in der chinesischen Philosophie der Begriff Gerechtigkeit unter anderem auch als Synonym für Harmonie verwendet. Das ist nicht nur eine ästhetische Kategorie, sie wird religiös als Übereinstimmung zwischen Menschen und Göttern ebenso gedeutet wie im psychologischen Kontext eines friedlichen und harmonischen Miteinander in der Gesellschaft.

Zusammengefasst: Jedes moralische Regelwerk muss unabhängig von den jeweiligen kulturellen, rechtlichen oder sozialen Rahmenbedingungen sechs »grammatische Regeln« erfüllen, wenn es sein Ziel erreichen will, in der jeweiligen Gesellschaft Ordnungsstrukturen zu schaffen:

Es muss die Erkenntnis zum Ausdruck bringen, dass wir alle voneinander abhängig sind (Interdependenz), das jedem geben auch nehmen entsprechen muss (Reziprozität), und dass wir unser Verhalten von der Empathie gegenüber anderen Menschen und nicht etwa von unserer Willkür leiten lassen. In Konfliktfällen und immer dann, wenn es über moralische Regeln hinaus auch um rechtliche Strukturen geht, müssen solche Normen dem Prinzip der Gleichheit Rechnung tragen, die Positionen aller Beteiligten berücksichtigen (Fairness) und sie müssen ausgewogen sein. Nur dann kann man insgesamt von moralischer und rechtlicher Gerechtigkeit sprechen.

12. Die Sprachen der Gerechtigkeit

Aus den Grammatiken der Moral und der Gerechtigkeit entwickeln sich in den jeweiligen Kulturen unter den Bedingungen von Raum, Zeit und anderen Rahmenbedingungen zahllose unterschiedliche kulturelle Konstruktionen mit unterschiedlichen Funktionsbereichen. Sie verhalten sich wie alle Sprachen zu der Grammatik, die ihnen zugrunde liegt: Einerseits müssen sie die grammatischen Regeln erfüllen, andererseits die Variationsbreite unserer zeitlichen, örtlichen und kulturellen Rahmenbedingungen abbilden.

Wenn wir die von Menschen geschaffenen moralischen Konstruktionen in den unterschiedlichen Kulturzonen analysieren, zeigt sich, dass sie sich wie eine Sprachfamilie aus dieser Grammatik entwickeln lassen, auch wenn sie sich inhaltlich sehr stark unterscheiden, da sich unter den Rahmenbedingungen von Raum, Zeit, Kultur usw. zahllose moralische Sprachen entwickelt haben. Wir können nicht beurteilen, ob die Regeln, die wir heute kennen, sich in Zukunft so erhalten, zurück – oder weiterentwickeln werden: Den Begriff der Menschenrechte hat es vor 1948 nicht gegeben und in China wird er anders interpretiert als in den USA.. Auch wenn wir alte Rechtstexte untersuchen oder uns aktuell fragen, wie z. B. der Begriff der Menschenwürde in Asien, in den USA oder bei uns interpretiert wird, sollten wir trotz erheblicher Unterschiede zwischen diesen »Sprachen« immer feststellen können, dass sie den Kriterien der Gleichheit, der Fairness der Ausgewogenheit genügen.

Sehr oft wird die Gleichheit als das allein charakterisierende Merkmal der Gerechtigkeit (und damit der Moral) angesehen, wobei es in erster Linie immer um den Schutz der Schwachen gegenüber den Staaten geht, also um eine Korrektur der Machtverhältnisse. Das zeigt sich in einem der ältesten Texte, die sich mit diesen Problemen auseinandersetzen, dem Gesetzeswerk des Hammurapi (Babylon, 18. Jahrhundert v.Chr.62):

»Als der erhabene Gott Anue, der König der Anunnaki, Enlil, der Herr Himmels und der Erde, welcher die Geschicke des Landes bestimmt, Marduk, dem erst(geboren)en Sohn des Ea, die Herrschaft über alle Menschen bestimmten, unter den Igigi ihn erhöhten, (als) sie Babylons erhabenen Namen aussprachen, es in den Weltgegenden übergewaltig machten, worin ein ewiges Königtum, dessen Grundlagen wie Himmel und Erde fest gegründet sind, ihm übertrugen, damals gaben mir, Hammurabi, dem stolzen Fürsten, dem Verehrer der Götter, um eine Gesetzgebung im Lande erscheinen zu lassen, den Bösen und Schlimmen zu vernichten, damit der Starke den Schwachen nicht schädige…«63

Hier wird auch den Schwachen ein Wert innerhalb der Gesellschaft zugewiesen, den diejenigen schützen müssen, die die Macht innehaben. Dieser Wert ist der soziale Friede zwischen den Menschen, die eine Gesellschaft bilden. Der König ist es, der für diesen sozialen Frieden sorgen muss. Damit wissen wir allerdings noch nicht, welche Qualität die Entscheidungen eines Königs in dieser Situation haben

Ein anderes Konfliktfeld ist die Frage, in welchem Umfang die Interessen des Einzelnen im Spannungsverhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft den Vorrang haben soll. Die Idee, die Interessen des Einzelnen seien im Zweifel den Interessen der Gesellschaft gegenüber als höherrangig anzusehen, entwickelt sich in der griechischen Kultur um etwa 500 v. Chr. und ist im Westen durch das Christentum und die Aufklärung sehr verstärkt worden. In den asiatischen Kulturen hat sich diese Ansicht nicht vergleichbar entwickelt. Dort gilt im Zweifel die Harmonie in der Gesellschaft (chin.: he) als den Interessen des Einzelnen überlegen. Diese Unterschiede machen sich vor allem in der Menschenrechtsdebatte bemerkbar. Unter welchen Rahmenbedingungen der eine oder der andere Ansatz sich praktisch durchsetzen wird, wird man kaum abschätzen können.

Ein Beispiel: Singapur hat eine Bevölkerung von ca. 7 Millionen Einwohnern mit den unterschiedlichsten kulturellen Prägungen, darunter Konfuzianer, Muslime, Hindus, Christen usw. 1991 schlug die Regierung vor, eine Liste von Werten zu definieren (shared values), die von allen akzeptiert werden könnten. Nach längerer Diskussion gelten seitdem folgende Werte64:

National before community and society above self
Family as the basic unity of society
Regard and community support for the individual
Consensus instead of contention
Racial and religious harmony.

Wir sehen auf den ersten Blick, dass diese Werte der Urgrammatik der Moral wie der Grammatik der Gerechtigkeit entsprechen, aber anders als im Westen die individuellen Freiheitsrechte gegenüber den jeweiligen gesellschaftlichen Interessen zurücktreten müssen. Das Individuum wird durch die Gesellschaft nur berücksichtigt und unterstützt, hat aber keinen Vorrang. Ein westlicher Betrachter würde das als inakzeptabel betrachten, aber wir müssen anerkennen, dass die divergierenden Gruppen in Singapur diese Schwerpunkte als kompromissfähig angesehen haben.

Sehr häufig wird Gerechtigkeit als geeigneter Verteilungsmaßstab für soziale Güter gesehen, in anderen Zusammenhängen kann sie aber auch eine rein ästhetische Bedeutung haben. Hier wird nach ihrer Bedeutung als Maßstab für die Qualität sozialer Ordnungen und der Entscheidungen, mit deren Hilfe sie hergestellt werden gesucht. Dazu gehören in erster Linie rechtliche Normen und die Vermeidung von Willkür im Einzelfall.

Im politischen Raum, in dem sich auch alle unsere kulturellen und sozialen Interessen widerspiegeln, verbindet der Begriff der Gerechtigkeit »empirische und normative, deskriptive und präskriptive Elemente untrennbar miteinander«65. Politik darf unmoralisch, unsachlich und irrational sein, wie wir seit jeher wissen und erneut seit der Präsidentschaft von Donald Trump in den USA (2016-2020) erfahren haben. Hier bedeutet »Gerechtigkeit« nichts anderes als eine, mit keinerlei Tatsachen verbundene Behauptung; hier gehört er zur politischen Rhetorik und politischen Ästhetik. In gewisser Weise ist es erstaunlich, dass wir für diese ganz unterschiedlichen Aufgaben den gleichen Begriff verwenden. Sollte er nicht trotzdem einen allgemein gültigen Begriffskern besitzen?66

Dieser Begriffskern enthüllt sich, wenn wir uns klarmachen, dass die Gerechtigkeit nicht einer von unzähligen Werten wie etwa der Freiheit, der Sicherheit, der Toleranz usw. ist, sondern – jedenfalls im Bereich der Moral und des Rechts – die Funktion eines Maßstabs hat, an dem diese Werte gemessen werden können:

»Man bedarf einer Waage, um zu erkennen, ob etwas leicht oder schwer ist. Man bedarf eines Maßstabs, um zu erkennen, ob etwas lang oder kurz ist. So ist es mit allen Dingen und mit dem Herzen ganz besonders«67.

Betrachtet man die Gerechtigkeit als einen Maßstab für die Qualität der Entscheidungen, die wir in Konfliktlagen treffen müssen, um die einzelnen Werte, Zwecke und Interessen untereinander abzustimmen, wird klar, dass diejenigen Menschen, die damit beauftragt werden, Gerechtigkeit herzustellen, sich bewusst oder unbewusst dieser Maßstäbe bedienen müssen, um ihre Entscheidungen zu treffen. Platon68 hat diesen Vorgang so beschrieben, als ob sie ein flüchtiges Wild im Urwald suchen und finden müssten. Diese Metapher führt in die irre: Wir jagen die Gerechtigkeit nicht, wir stellen sie her, wie der Töpfer auf der Töpferscheibe, das Material sind die Tatsachen, und die (moralischen und/oder staatlichen) Normen sind unsere Werkzeuge.

Es liegt nahe, dass Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit die Grundregeln der Moral zum Ausdruck bringen sollen, denn sie erweisen sich auch außerhalb von Konfliktlagen als wirksam. Viele Systeme versuchen, ihre moralischen Regeln darüber hinaus an bestimmten Zwecken und Interessen zu orientieren, die sie für einwandfrei halten. Dazu gehört nicht nur der Utilitarismus, sondern auch andere moralische und theologische Ideologien, wie Nationalismus, Sozialismus, Kommunismus, die – ähnlich wie die meisten Religionen – Moral als einen Weg zu einem bestimmten Ziel beschreiben. Alle diese Ziele haben für sich eine Berechtigung, aber das Verhalten eines Einzelnen versuchen sie zu regulieren, ohne auf ihn selbst und seine individuellen Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Er soll sie höheren Zwecken opfern. Und was noch schlimmer ist: Besonders in diesen Systemen wird immer wieder gesagt, der Zweck heilige die Mittel. Sie erkennen nicht, dass viele der Mittel, die ihnen geeignet erscheinen, sich am Ende immer auch gegen die Zwecke richteten werden, die man anstrebt. Wer mordet, um Morde zu verhindern, ist selbst ein Mörder.

Das zeigt sich besonders deutlich an der Spannung zwischen Freiheit und Gleichheit. Freiheit ist ein Wert, Gleichheit ein Maßstab. Dieser Unterschied gibt darf nicht übersehen werden, weil man sonst die Kategorie der Maßstäbe mit jenen der Werte vermischt, die sie beurteilen sollen.69 Freiheit führt unvermeidlich zur Ungleichheit, weil jeder von ihr einen anderen Gebrauch macht und einige Menschen durch die Rahmenbedingungen (Geburt, Reichtum, Bildung usw.), unter denen sie das tun, anderen gegenüber stark bevorzugt werden. Es ist aus zahllosen Gründen wünschenswert, diese Differenzen mit moralischen wie mit politischen Werkzeugen auszugleichen (Amartya Sen, Thomas Nagel usw.). Die Beschränkung der Freiheit, die dadurch erreicht wird, darf aber nicht soweit gehen, dass sie praktisch nicht mehr nutzbar ist.

Freiheit befindet sich auch in einem Spannungsverhältnis zu Recht und Gerechtigkeit. Theodor Storm: »Der Eine fragt: was kommt danach? // Der Andre fragt nur: ist es recht? // Und also unterscheidet sich // Der Freie von dem Knecht.«70 Wer genügend Freiheit hat, kann sein Recht selbst verteidigen.

13. Gerechtigkeit beim Geben und Nehmen

Wie unterschiedlich die Vorstellungen davon sind, was moralisch richtig – und damit gerecht – ist, können wir sehr gut am Beispiel der Reziprozität erkennen. Hier gilt der Grundsatz: »Die Gerechtigkeit ist im normalen Verständnis des Begriffs immer auf andere bezogen, d.h. auf andere Wesen, die eine moralische und ethische Berücksichtigung verdienen.71

Dazu gehört vor allem der Appell an die Wechselbezüglichkeit sozialen Verhaltens: Jedes Geben muss dem Nehmen entsprechen, jedes Nehmen die Bereitschaft zum Geben enthalten. So wird die Gerechtigkeit zur » ersten Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen«72. Dieser Zusammenhang ist mit Mitteln der Spieltheorie psychologisch nachgewiesen73. Beim »Ultimatumspiel« erhält ein Mensch einen bestimmten Geldbetrag und die Auflage, diesen Betrag mit einem anderen Menschen zu teilen. Lehnt der andere das ihm angebotene Geschenk ab, weil es für unangemessen hält und befürchtet, durch die Annahme sein Gesicht zu verlieren, muss derjenige, der mit dem Angebot gescheitert ist, auch seinen Anteil zurückgeben. Er muss also den Interessenkonflikt zwischen den eigenen Ansprüchen (100 %) und denen der anderen (100 %) lösen. Dies geschieht überwiegend durch eine Verteilung 50:50 und unzählige Experimente haben nachgewiesen, dass wenn der angebotene Anteil unter 45 % sinkt, das Angebot zurückgewiesen wird74.

Die Gefühlslage, die dadurch entsteht, dass derjenige, der die Regeln verletzt, durch Verlust seines Anteils bestraft wird, scheint nicht nur psychologisch, sondern auch genetisch fest verdrahtet zu sein75. Entscheidungen innerhalb von Gesellschaften sind also offenbar nur stabil, wenn sie den Grundregeln der Fairness entsprechen und das ist die Basis für das Rechtsgefühl, das im Umfeld der Rechtssysteme eine entscheidende Rolle spielt (wie wir weiter unten sehen werden).

Dazu gehört vor allem der Appell an die Wechselbezüglichkeit sozialen Verhaltens: Jedes Geben muss dem Nehmen entsprechen, jedes Nehmen die Bereitschaft zum Geben enthalten. Hier geht es um eines der Grundgesetze unseres sozialen Lebens, ohne das sich Wertesysteme nicht entwickeln lassen.

Ein anschauliches Beispiel findet sich bei den nordwestamerikanischen Indianerstämmen (Kwakiutl, Bellacoola, Tlingit), die seit Jahrhunderten zwei bis dreimal im Jahr, überwiegend im Winter zu riesigen Potlatch-Festen76 zusammenkamen, bis diese Feste Ende des 19. Jahrhunderts gesetzlich verboten wurden. Man versammelt sich für einige Tage, jeder Teilnehmer ist verpflichtet, wertvolle Dinge wie Decken, Kanus, Muschelketten, Kupferplatten (die oft uralt sind und magische Namen tragen), Kunstgegenstände usw. mitzubringen und der Häuptling des einladenden Stammes bringt ähnliche Gegenstände, zu deren Herstellung andere verpflichtet hat. Dann spricht er etwa wie folgt77:

»Ich bin der große Häuptling, der die Leute beschämt….
unser Häuptling macht, dass die Leute vor Scham erröten….
Unser Häuptling macht, dass die Leute das Gesicht verhüllen, aus Scham über das, was er ständig hier tut. Immer und immer wieder gibt er allen Stämmen Ölfeste…..

ich bin der einzig große Baum, ich, der Häuptling!
Ihr seid meine Untertanen, ihr Stämme…
ihr sitzt im hinteren Teil des Hauses, ihr Stämme ….
ich bin der erste, der euch Besitztümer gibt, ihr Stämme…
ich bin eurer Adler, ihr Stämme! …
Bringt euren Deckenzähler her, ihr Stämme, auf das er es vergebens versuche, die Reichtümer zu zählen, die der große Kupferplattenmacher, der Häuptling, wegzugeben gedenkt!....
Ich suche vergebens unter all den eingeladenen Häuptlinge nach einer Größe, die der meinen gleich käme…
Sie revanchieren sich nie, diese Waisenknäblein, die armen Leute, die Herren Stammeshäuptlinge! Sie entehren sich selbst.
Ich bin derjenige, der diese Seeotterfelle den Häuptlingen, den Gästen, den Stammeshäuptlingen gibt!... ( und so weiter).«

Schon während der Rede beginnt der ranghöchste Häuptling, seine Gaben an andere Häuptlinge zu verschenken und umgekehrt: die eingeladenen Häuptlinge erwidern Geschenke, die sie bei dem letzten Fest erhalten haben. Da die Gäste oft von weither kommen und nicht vergleichbare Mengen an Geschenken mitbringen können, tritt irgendwann der Zeitpunkt ein, zudem kein Gegengeschenk mehr möglich ist. das ist der Zeitpunkt, zu dem der Einladende in einen Vernichtungsrausch verfallen kann: Er wirft die Dinge unter Beschwörungen und Gesängen ins Feuer – sie werden Gaben für die Götter. Die Fähigkeit, nahe bei diesem Feuer (und damit in der Nähe der Götter) zu sitzen, in das unablässig wertvolles Öl geschüttet wird, ist ein Test für Standhaftigkeit. Die Stimmung kann sich so steigern, dass der Gastgeber eigenhändig sein Haus abreißt und die Balken verfeuert, um danach-wochenlang unter freiem Himmel zu schlafen. Das kann sich nur ein großer Häuptling leisten, der über ein zahlreiches Volk gebietet und all die Dinge, die er vernichtet hat, wie ein Gott bald wieder neu erschaffen kann. Am Ende der Zeremonien wählt er einen neuen Namen, der diesen Rang bestätigt.

Heute liegen die archaischen Zeiten weit hinter uns, aber die Grundprinzipien, die sich z. B. in diesen indianischen Riten zeigen, gelten nach wie vor: Auch heute zeigt der Staat seine besondere Stellung dadurch, dass er einzelne Mitglieder mit Steuern belastet und diese Werte dann an andere verschenkt. Die politischen Systeme haben sich entwickelt und es geht um die Frage, an welchen Werten sie sich orientieren sollen78.

14. Gerechtigkeit, Wahrheit und Lüge

Moralische und rechtliche Entscheidungen sind mehr noch als jede andere Art der Entscheidung davon abhängig, dass sie der Wahrheit folgen und nicht von Lügen irregeleitet werden. Die berühmte Frage des Pilatus:» was ist Wahrheit«? stellt diesen Zusammenhang mit der Gerechtigkeit unmittelbar her: »Dann wird einen Augenblick, einen Herzschlag, eine blitzschnelle Ewigkeit, die peitschende Sekunde eines Schusses lang die Wahrheit aufleuchten.«79

Sie entsteht nicht nur durch die Erfassung von Tatsachen (materielle und immaterielle Gegenstände), sondern auch die Relevanz von Meinungen, theoretischen Konstruktionen und moralischen Forderungen. Wir können sie ebenso wenig wie die Gerechtigkeit erjagen wie einen Gegenstand (so aber seit Platon80), die Wahrheit ist immer das Ergebnis der Kommunikation unter den Menschen, die nach ihr suchen. Abhängig von den jeweiligen Rahmenbedingungen, unter denen wir nach ihr suchen, verändert sich ihr Bild.

Es gibt keine Wahrheit (und damit keine Gerechtigkeit), die in allen Zeiten und Räumen auf eine einheitliche Formel gebracht werden könnte, da wir abhängig von unseren kulturellen Rahmenbedingungen stets andere Werkzeuge nutzen und andere Perspektiven einnehmen. Das sind:

  • Subjektive Evidenz der Wahrheit
  • Die Erfahrungen der Anderen
  • Technik, Kunst und Wissenschaft, Recht
  • Relevante Theorien und Metatheorien

Das, was wir selbst als wahr erkennen, wird von anderen nicht immer gleich beurteilt und technische, künstlerische, wissenschaftliche und rechtliche Elemente beeinflussen unsere Beurteilung, die letztlich auch von den Theorien abhängt, die wir für richtig halten.

Unser Leben wird täglich vom Kampf um die behauptete »Richtigkeit« einer Konstruktion bestimmt – aber niemand kann sagen, was das ist: »Meine Welt ist erlebbar. Erlernbar ist sie nicht«81. Am wenigsten, wenn man wie Johannes auf dem Altar von Grünewald mit dem langen Finger ins Dunkle deutet – eine Metapher für jede Tätigkeit, sich nicht an unmittelbar greifbaren Zwecken orientiert (Kunst, Wissenschaft, Religion) und daher noch freier konstruieren kann als ein Bauer, der sein Feld pflügt.

Auch die Wahrheit folgt – wie die Gerechtigkeit – einer bestimmten Grammatik:

  • Wir müssen uns nach besten Kräften um die Erkenntnis der Tatsachen bemühen. Meinungen kann jeder haben, sie sind nur selten der Kritik würdig,
  • stets im Bewusstsein, dass unsere Erkenntnis unvermeidlich Wertungen (und damit bereits bei der Bildung von Begriffen: Entscheidungen) enthält, also eine subjektive Konstruktion ist, die von anderen nicht geteilt werden muss,
  • wohlwissend, dass unzählige Tatsachen des Alltagslebens mit statistischer Wahrscheinlichkeit von vielen Menschen gleich konstruiert werden,
  • wobei jeder Gegenstand, den wir erkennen, eine mit ihm unzertrennlich verbundene andere Seite hat: Wenn wir das Gute wollen, müssen wir das Böse in Kauf nehmen usw.
  • und gleichwohl entscheiden immer nur die Machtverhältnisse darüber, was als Tatsache akzeptiert werden soll (wozu jeder sich sein Teil denken kann, aber handeln kann er nur unter günstigen Rahmenbedingungen),
  • Konflikte über die Interpretation von Tatsachen sind nur über Kommunikation regelbar. Wer dazu nicht bereit ist, muss sich auf den Tod gefasst machen.

Auch wenn uns Skepsis und Analyse zu dem Ergebnis führen, dass wir die Wahrheit nicht zweifellos erreichen können, so können wir sie auch nicht zweifellos widerlegen. Vor allem dürfen wir sie nie als Gegenstand betrachten, den man nur irgendwo suchen muss, wir müssen akzeptieren, dass wir sie in jeder Situation unter den jeweils gegebenen Rahmenbedingungen herstellen können, ohne jedoch zu wissen, ob wir sie mit unseren Bemühungen wirklich erreicht haben. Wir unterziehen uns all dieser Mühen, weil wir irgendwann gezwungen sind, auf dieser schwankenden Basis Entscheidungen zu treffen. An irgendeinem Punkt müssen wir die Hypothesen, mit denen wir arbeiten auch annehmen. Das aber ist eine von Gefühlen durchzogene Willensentscheidung, keine Folge rein rationaler Erkenntnis. Da unsere Entscheidungen nicht von Irrtümern verdorben sein sollten, müssen wir sorgfältig an der Qualität unserer Hypothesen bis zu dem Punkt arbeiten, zu dem wir bereit sind, für sie »unseren Kopf hinzuhalten« (Franz Brentano).

Wenn wir unsere eigenen Handlungen betrachten, ist es nur sehr schwer möglich, sie als Fehler zu bezeichnen oder gar moralisch zu kritisieren. Hier in den Extremen berühren sich Erkenntnis und Moral.:

»Das habe ich getan, sagt mein Gedächtnis. Das kann ich nicht getan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach«.82

Wer versucht, die Realität (was immer er von ihr erfassen kann) zu leugnen oder zu umgehen, akzeptiert sie im Versuch ihrer Überwindung. Und trotzdem reden die meisten nur in berauschenden Bildern davon, wie die Welt sein soll (Ideologie) – die Sehnsucht danach, dass alles ins eigene Lot kommt, ist unbezwingbar – wir wollen sein wie Gott (dessen Existenz kraftvoll bestritten wird, aber auf dem leeren Stuhl möchten wir sitzen!).

»Die Wahrheit ist den Menschen zumutbar« (Ingeborg Bachmann) kann man nur über sich selbst sagen. Anderen ist sie nicht immer zumutbar, denn es gibt eine Vielzahl guter Gründe, in einer bestimmten Situation zu schweigen und in bestimmten schwierigen Situationen nicht die Wahrheit zu sagen. Lügen sind im Alltag manchmal aus Höflichkeit unvermeidbar (weiße Lügen)., aber auch, wenn man Kommunikation vermeiden will: »Das tägliche Leben und der Umgang der Leute miteinander besteht aus nichts anderem, als Täuschungen und Illusionen mitzuteilen und auszutauschen, niemand kann einem anderen die Wahrheit sagen« (Philip Roth) – das ist eine extreme Position, die aber unter bestimmten Rahmenbedingungen (Politische Äußerungen) wohl zutrifft. Ebenso, wenn man jemanden schonen will. Dahinter kann allerdings auch das Motiv stecken, sich gegen den Zorn dessen zu schützen, den man vor der Wahrheit zu schützen versucht.

Die Tatsache, dass Wahrheit kein objektiver Begriff ist, zeigt sich deutlich im Rechtsprozess (dazu näher in der Monographie »Gerechtigkeit in Rechtssystemen«). Obwohl es dort um nichts anderes geht als die Frage, was wirklich geschehen ist, haben wir nur begrenzte Mittel, um uns der Lösung anzunähern. Unsere Beweismittel sind beschränkt (Zeugen sterben, sie dürfen die Aussage verweigern, Dokumente werden gefälscht, Experten haben keine Ahnung usw.), das Verfahren darf sich nicht unendlich in die Länge ziehen, die finanziellen Mittel sind begrenzt, Richter können befangen sein, Anwälte Betrüger. All diese Faktoren lassen sich nicht ausschalten. Im Ergebnis erreichen wir immer nur die prozessuale Wahrheit – also das, was wir wie auch in allen anderen Feldern des Lebens fairerweise herausfinden können.

Wenn wir von einer Menge subjektiver Wahrheiten ausgehen, ist die Lüge eine Behauptung, die nicht mit der subjektiven Sicht des Sprechenden auf die Welt übereinstimmt: Jemand bezeichnet einen Stuhl als Tasse, obwohl er ihn selbst für einen Stuhl hält. Wenn jemand Tatsachen aus den Augen anderer falsch interpretiert, selbst aber von seiner Deutung überzeugt ist, lügt er nicht. Die Lüge entsteht erst, wenn unsere Worte sich gegen eigenes besseres Wissen richten (was immer wir unter Wissen verstehen). Die subjektiv unterschiedlichen Perspektiven, die wir alle gegenüber der Welt einnehmen, sind etwas anderes als die Lüge oder gar eine vorsätzliche Täuschung. Unkenntnis ist keine Lüge, aber unter bestimmten Umständen ist es moralisch zu verurteilen, dass man keine Kenntnis hat.

Die meisten Unwahrheiten, die wir alltäglich verwenden, sind moralisch nicht zu verurteilen (weiße Lügen), denn wir verwenden sie aus Höflichkeit, aus Notwehr oder mit dem Ziel, andere zu schonen. Beispiele83:

»Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren. Ich weiß begründete Kritik zu schätzen. Nein, durchaus nicht, ihr Anruf ist immer willkommen. Ich übernehme die volle Verantwortung. Es ist mir gleich, wen meine Tochter heiratet – Hauptsache, sie wird glücklich. Sein Werk ist uns Mahnung und Verpflichtung zugleich. Das macht gar nichts, wir wollten das Ding schon lange wegwerfen.«

Wir sagen anderen fast nie und sehr selten direkt die Wahrheit, wenn wir vermuten müssen, dass »unsere Wahrheit« anderen Sorgen oder Schmerzen bereitet. Wir wollen sie – und gleichzeitig uns selbst – vor Konflikten bewahren. Bevor ein Arzt einem Kranken die Wahrheit über seine Krankheit sagt, muss sich vergewissern, ob der Kranke diese Wahrheit hören will oder nicht. Auch in politischen oder gar religiösen Diskussionen empfiehlt sich Zurückhaltung. Auch wenn wir in Notwehr lügen, ist das moralisch nicht zu verurteilen. Wie viele taktlose Menschen gibt es, die Dich in eine Situation bringen, in der wahrheitsgemäße Äußerungen nur Ärger hervorrufen können. Wer dagegen argumentiert (wie St. Just) versteht die Funktion von Kommunikation in unserem sozialen Leben nicht.

Aber es gibt Grenzfälle. Wenn ich meinen Vater um ein Brot bitte, und er tatsächlich kein Brot hat, sollte er sagen, dass das so ist (auch wenn er sich dafür geschämt) und mir nicht stattdessen einen Stein geben, um damit vielleicht anzudeuten, er habe die Bitte nicht recht verstanden. Die darin steckende Lüge ist in dem Satz enthalten: »Ich will Dir kein Brot geben«, den der Sprechende vermeiden will.

Weiße Lügen und das Schweigen sind ein Beitrag zur sozialen Ordnung. Wer verstanden hat, dass die »Wahrheit«, die man einem anderen Menschen über sich selbst oder ihn mitteilt, nur die eigene Perspektive umfasst, wird besser verstehen, warum man gerade in den persönlichsten Beziehungen zu seiner Verteidigung, aus Höflichkeit, aus Angst vor Verletzung der anderen, zur Wahrung des Gesichts usw. davon Gebrauch machen muß.

»Wahrheit und Lüge sind Versuche der Darstellung«84, sagt Gottfried Benn, vermutlich meint er die unterschiedlichen Perspektiven jeder Darstellung. In vielen Fällen verstößt eine Lüge gegen die grundsätzliche moralische Verpflichtung, Kommunikation in herrschaftsfreien Räumen zu betreiben, wenn nicht die Machtverhältnisse uns andere Rollen zuweisen. Wer aus Eigennutz lügt, beansprucht Herrschaft, die ihm nicht zusteht.

15. Gewissen und Gerechtigkeitssinn

»Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren
und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht.«85

In den Standardsituationen des Alltags, in denen wir überwiegend instinktiv reagieren, entscheiden wir uns für oder gegen unser Gewissen. Das ist eine innere Stimme, die Sokrates als daimonion bezeichnet, als einen winzigen Gott, der uns Kommentare ins Ohr flüstert, die wir oft genug nicht hören wollen. Die neurobiologische Forschung86 hat uns gezeigt, dass solche inneren Stimmen nicht göttlichen Ursprung sind, sondern aus unseren inneren Hallräumen entstammen: Irgendwo speichern wir unsere moralischen Erfahrungen und vergleichen sie ständig (unbewusst) mit unseren Entscheidungen. Die Differenzen bekommen wir dann von uns selbst zu hören. Ein Erfahrungsbericht:

»Ich komme mir vor wie jemand, dem einer der sechs Sinne fehlt, aber im Grunde ist das, was mir fehlt, ein Gewissen. Ich habe einen Verstand, der mir sagt, was richtig oder falsch ist, aber keinen moralischen Abscheu, der mich von irgendetwas abhält, und ein gewaltiges Selbstmitleid, wenn meine Schlechtigkeit verhindert, dass ich die guten Sachen kriege, die das Leben für gute Mädchen bereithält.«87

In den meisten Fällen treffen wir keine ausdrücklichen Entscheidungen, sondern handeln unreflektiert so, wie wir immer handeln und orientieren uns dabei an vergleichbaren Entscheidungen, die wir früher schon getroffen haben. Wenn unsere Erfahrungen dafür nicht ausreichen, müssen wir über die Entscheidung nachdenken und fragen uns: Entspricht Sie unsere Identität, den moralischen Werten, die wir für relevant halten, oder nicht? Dabei prüfen wir – oft im Unterbewusstsein – ob die Entscheidung den Maßstäben der Interdependenz, der Reziprozität und der Empathie entspricht oder nicht. Wenn wir dabei nicht zum Ergebnis kommen, weil Widersprüche oder Inkonsistenzen auftreten, ziehen wir die Maßstäbe der Gerechtigkeit zurate: Folgt die Entscheidung dem Prinzip der Gleichheit, der Fairness und der Ausgewogenheit?

Gerechte Entscheidungen werden durch einen oder mehrere Menschen getroffen, die diese Entscheidung untereinander abstimmen. Häufig wird in der Umgangssprache davon gesprochen, dass diese Menschen nach der Entscheidung suchen und dann die Gerechtigkeit finden (oder nicht). Richtiger wäre es zu sagen: Sie stellen die Gerechtigkeit durch ihre Entscheidung her! Der Grund: Jede Entscheidung, die wir treffen, wird durch den Verstand, das Gefühl und unseren Willen bestimmt, sie so zutreffen, wie wir es – oft nach vielen Überlegungen, Gefühlswechseln und Unentschlossenheiten – am Ende wollen.

Solche Entscheidungen können den Maßstäben, die die Gerechtigkeit setzt, nur genügen, wenn sie auf dem Gerechtigkeitssinn derjenigen beruhen, die die Entscheidung zu treffen haben. Wie der Gerechtigkeitssinn entsteht, aus welchen Elementen er sich zusammensetzt und wie er sich durchsetzen kann, erforscht die Gerechtigkeitspsychologie (Das ist ein neues Forschungsgebiet, das auch für andere rechtliche Felder nutzbar ist (Melvin J. Lerner, Leo Montada, Manfred Schmitt, Elisabeth Kals, Jürgen Maes u. a.) .

Derzeitiger Stand der Forschung: Der Gerechtigkeitssinn ist uns nicht angeboren, sondern entwickelt sich auf dem Hintergrund der jeweiligen kulturellen und politischen Rahmenbedingungen in ständiger Übung aus Elementen der Erfahrung, des Wissens, der Gefühle und am Ende einem ausgewogenen Blick auf die Ergebnisse und Folgen der Entscheidung, die zu treffen ist. in dem Begriff »das hörende Herz« ist dieses Zusammenspiel metaphorisch zusammengefasst.

So entsteht die Fähigkeit Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit mit den hinter den Normen stehenden moralischen Maßstäben (Interdependenz, Reziprozität, Empathie) so in Einklang zu bringen, dass an der Entscheidung nicht beteiligte Dritte (nicht unbedingt: Mehrheiten!) das Ergebnis akzeptieren können.

Der Gerechtigkeitssinn ist keine Schablone, sondern entwickelt sich in jedem einzelnen Menschen, der über moralische oder rechtliche Fragen zu entscheiden hat auf je eigene Weise. So kommt es, dass ein und derselbe Sachverhalt von verschiedenen Menschen unterschiedlich gesehen und interpretiert wird. Dies ist einer der Gründe, warum Gerichte schon in frühester Zeit immer aus mehreren Menschen bestanden, die sich untereinander abstimmen mussten.

Das kann nur dann gelingen, wenn jeder, der an der Entscheidung beteiligt ist, eine Reihe von Konflikten löst, denen er begegnen wird: zunächst geht es um die innere Unabhängigkeit, vor allem um (bewusste oder unbewusste) Interessenkonflikte, dann um Differenzen zwischen den eigenen moralischen Maßstäben und jenen, die hinter den Maßstäben der Gerechtigkeit stehen; es geht um Fragwürdigkeit der gesetzlichen Maßstäbe, die anzuwenden sind, es geht um Mängel des Verfahrens, das nicht geändert werden kann, es geht um politische Haltungen, die nicht jenen entsprechen, die anzuwenden sind usw. Der Versuch, gerechte Entscheidungen zu treffen, führt deshalb oft zu einer tragischen Wahl, die von vielen Unbekannten beeinflusst wird. Wir müssen die Entscheidung auch dann treffen, wenn wir wissen, dass jede denkbare Alternative das Ziel der Gerechtigkeit weiter verfehlt, als wir es uns wünschen.

Wird eine solche Entscheidung innerhalb eines Rechtssystems getroffen, müssen sie zudem auf einer Kenntnis der Rahmenbedingungen beruhen, die dieses System kennzeichnen (Gesetze, Verordnungen, Urteile, Verfahren usw.). Während wir Fall und Norm vergleichen, betrachten wir die Muster, die wir vor uns sehen und wenn wir uns für Übereinstimmung oder Differenz entscheiden, folgen wir unserer Erfahrung und unseren Gefühlen88. Wenn Gerechtigkeit durch Verfahren erstellt wird, sorgen die Prozessordnungen an vielen Stellen dafür, Einbruchstellen für die Gefühle zu sichern, so vor allem im Bereich der persönlichen Erklärungen der Parteien. Die Phase der Analogie ist unverzichtbar, weil wir uns sonst nicht entscheiden könnten, aber sie irritiert und verändert die in den ersten Phasen gewonnen Zwischenergebnisse. Deshalb folgt am Ende die vierte Phase der Subsumtion.

16. Technische Einflüsse auf die Moral

In jüngerer Zeit macht man sich intensive Gedanken über die Frage, in welcher Weise wir unsere moralischen Vorstellungen in die Computersysteme integrieren können, die wir benutzen. Dabei wird ein wichtiger Zusammenhang immer eine Rolle spielen: Jede Art von Maschine oder Werkzeug wirkt auf den zurück, der es erfindet und benutzt (Biofeedback). Man hat das schon erkannt, als Ford das Fließband erfand: Dessen Technik gibt den Takt vor, in dem die Menschen sich bewegen können, um es zu bedienen. Als dieser Takt offenkundig menschenunwürdig wurde, ist man wieder zu flexiblen Arbeitsgruppen übergegangen (Japan: kan-ban). Ob wir uns allen Maschinen gegenüber in dieser Weise verhalten können, wird man nicht sicher voraussagen können. Wenn nämlich Computer mit künstlicher Intelligenz auf uns scheinbar so reagieren, wie Menschen es tun würden, werden wir Schwierigkeiten haben, beide Systeme auseinanderzuhalten.

Häufig wird in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass Künstliche Intelligenz in einer »Blackbox« entsteht, bei der wir Ursache und Wirkung nicht auseinanderhalten können. Das trifft allerdings auch auf jede Reaktion gegenüber Menschen zu. Niemand weiß, warum ein Mensch in einer bestimmten Situation so und nicht anders reagiert, wir können unsere Schlüsse nur instinktiv und körpersprachlich erfassen.

Wenn menschliche Körper zukünftig in technischer Weise verändert werden, wird das nicht ohne Einfluss auf ihre Natur und damit auf die Entwicklung moralischer Regelwerke bleiben. Was dann der Einzelne im Verhältnis zur Gesellschaft wert ist und wie man dieses Verhältnis bestimmt, wird man kaum vorhersagen können. Einen von Raum und Zeit unabhängigen Kern von Menschenrechten kann man zwar beschreiben, aber damit beschreibt man nur die Rahmenbedingungen, unter denen er realisierbar ist. Daher sind auch die Forderungen nach einem »menschenwürdigen Leben für alle« nichts anderes als die Beschreibung eines Zustandes der Gesellschaft, in denen sie sich verwirklichen können. Das sind keine philosophischen, sondern politische Probleme. Und bevor man keine Erfahrungen darüber gesammelt hat, wie ein solches Leben aussehen kann, wird man sie nicht einmal definieren können.

Die Freiheit, die Brüderlichkeit, die Toleranz, das Streben nach Glück usw. sind Werte, die bestimmte ideale Ordnungen inhaltlich beschreiben, sind aber keine Maßstäbe, nach denen sich beurteilen ließe, welcher dieser Werte in der jeweiligen Situation den Vorrang haben solle. Anders die Idee der Gleichheit: sie ermöglicht es uns die Frage zu beantworten, ob irgendeine Entscheidung, die wir treffen wollen, die davon betroffenen Menschen gleich oder ungleich behandelt. Das ist nur möglich, wenn der Begriff der Gleichheit als Maßstab betrachtet wird und nicht als ein Wert und ebenso ist es unzweckmäßig, ihm unmittelbar mit Werten zu verbinden. Das ist aber in der Diskussion über die Gerechtigkeit sehr häufig der Fall.

In den oben zitierten und anderen vergleichbaren Aufzählungen finden wir auch den Begriff der der Gerechtigkeit, die als anzustrebende Werte definiert werden. Das erscheint mir systematisch falsch, denn wenn wir Moral und Gerechtigkeit mit Werten wie Sicherheit, Freiheit, Selbstbestimmung usw. gleichsetzen, verlieren wir die Möglichkeit, in ihnen Werkzeuge zu sehen, die es uns ermöglichen, die Konflikte zwischen einzelnen Werten zu benennen und – der jeweiligen Situation folgend – Maßstäbe für die Entscheidungen zu setzen, die wir in der jeweiligen Logik der Ordnung treffen müssen.

Jeder einzelne dieser Werte liegt nämlich in vielfältig verflochtenen Konflikten mit den anderen und es erfordert nicht nur psychologisches Gespür, sondern auch Mut, sich in der konkreten Situation für den einen oder anderen zu entscheiden. In der japanischen Kultur dient er dazu, den Mut zu entwickeln, Dich bei einem unlösbaren Konflikt zwischen Werten, die Du beide bejahst, selbst zu töten. Churchills Bemerkung, der Mut sei die Wurzel aller anderen Tugenden fußt auf dieser Erkenntnis. Es gibt die »kleinen Verfehlungen, die die Freiheit erlaubt« (Shakespeare, Sonett 41).

17. Moralische Normen: das ICH und die Gesellschaft

»Was immer sich ereignet, geschieht aus der Verbindung
von Zufall und Notwendigkeit« (Demokrit zugeschrieben)

Jede soziale Ordnung bildet in ihrer Struktur das Verhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft ab. Innerhalb der biologisch/psychologischen Rahmenbedingungen, die uns gesetzt sind, können wir uns den Situationen, in denen wir uns befinden, durch geeignete formale wie inhaltliche Entscheidungen anpassen. Wir können die Gesellschaft hierarchisch oder mehr gleichgeordnet gliedern, wir können den Zugang zur Macht einfach oder kompliziert regeln, wir können die unterschiedlichsten Regeln für die Kommunikation aufstellen und zahllose weitere Normen aufstellen, die die Struktur einer Gesellschaft bestimmen. Diese Normen unterscheiden sich voneinander, je nachdem ob sie aus der Perspektive des ICH oder der Perspektive der Gesellschaft aufgestellt und durchgesetzt werden sollen.

Aus der Sicht der Gesellschaft lautet die Grundformel:

»Gut ist, was der Bindung der Gruppe nützt,
und schlecht ist, was ihr schadet.«
89

Aus dieser Formel entwickeln sich durch Zufall und Notwendigkeit in unterschiedlichen Zeiten und Räumen zahllose Varianten moralischer Entscheidungen, die aber – wie wir unten sehen werden – auf einer einheitlichen Grammatik beruhen, die wir schon bei hochentwickelten Säugetieren finden. Sie sorgen in der einen oder anderen Weise für eine Verteilung der Machtverhältnisse – und damit für Ordnung.

Aus der Sicht des Einzelnen gilt dementsprechend:

»Gut ist, was mir selbst nützt und schlecht ist, was mir selbst schadet.«

Es liegt auf der Hand, dass beide Ziele sich nicht gleichzeitig verwirklichen lassen und einen permanenten Konfliktherd zwischen den Interessen des Einzelnen und jene der Gesellschaft bilden.

Die Standardfälle eines für richtig gehaltenen moralischen Verhaltens, werden durch moralische Normen bestimmt. Die Funktion solcher formalen Regeln ist es, sicherzustellen, dass die Werte, Zwecke und Interessen jedes Einzelnen und jeder Gruppe definiert und mit denen anderer (und anderer Gruppen) sowie den Interessen der Gesellschaft koordiniert werden können.

Man kann soziale Ordnungen auf einer sehr abstrakten theoretischen Ebene als »Kommunikationsregeln« bezeichnen, aber damit ist nicht allzu viel gewonnen. Konkretere Unterscheidungsmerkmale finden sich vor allem zwischen Regeln, nach denen politische Ämter verteilt werden, anderen, die das Verhältnis zwischen Tradition und Moderne bestimmen (wie viel Veränderung verträgt eine Gesellschaft?) Und nicht zuletzt alle Verhaltensregeln, die den Umgang von einzelnen und Gruppen miteinander bestimmen.

Hier geht es z. B. um Familienstrukturen, Moden, sexuelles Verhalten, Höflichkeit, Tischsitten, Anstand und schließlich den engeren Kreis moralischen Verhaltens bis hin zu dem »Schatten des Rechts« der von den Rechtsnormen auf moralische Regelwerke geworfen wird. All diese Regelwerke sind eng miteinander verbunden, sie überschneiden sich teilweise, sie sind nicht nur von Logik, sondern auch von Widersprüchen gekennzeichnet – mit all diesen Eigenschaften tragen sie zu unserer kulturellen Identität bei:

»Identität ist etwas, durch das man sich selbst erkennt und durch das man von anderen, die die eigene Welt bilden, erkannt wird. Sie ist … kein Kleidungsstück … sondern sie wird unter der Haut getragen. Identität ist nicht etwas, was man sich aussucht, sondern was einen greift. Sie kann schmerzlich sein, eine tragische Wendung nehmen, verflucht oder beklagt werden, aber sie kann nicht abgeschüttelt werden, obgleich sie vor anderen verborgen oder – tragischer – vor sich selbst versteckt werden kann.«90

Man kann kulturell unterschiedliche Regelwerke untereinander sinnvoll an der Frage unterscheiden, welche Sanktionen jeweils für Verletzungen vorgesehen sind. Wer eine Tischsitte verletzt, wird weniger Sanktionen zu befürchten haben als jemand, den man als »unanständig« bezeichnet oder ein anderer, der ständig lügt. Weniger bedeutende Verletzungen werden möglicherweise überhaupt nicht geahndet, andere können nicht ohne Sanktionen bleiben, wenn die Gesellschaft ihre Identität bedroht sieht (Blutrache). Rechtliche Normen kann man von moralischen Normen dadurch unterscheiden, dass sie in einem hohen Maß von formalen Voraussetzungen abhängig sind, um wirksam zu werden und über die Sanktionen innerhalb formaler Regeln entschieden wird.

18. Das Problem der tragischen Wahl

Wir werden im weiteren Verlauf unserer Überlegungen sehen, dass zahllose moralische Konzepte versuchen, uns Entscheidungen zu ermöglichen, die die Interessen des ich und der Gesellschaft gerecht lösen. Viele der Werte und Interessen, die wir bei diesen Entscheidungen berücksichtigen müssen, liegen in unauflösbaren Konflikten miteinander. Wer z. B. mit Kant versucht, seine Entscheidungen daran zu prüfen, ob sie auch im allgemeinen (und vor allem: Gegen mich selbst gerichtet) Bestand haben würden, kann diese Dilemmata nicht lösen, weil sie sich aus jeder Perspektive anders darstellen und jede mögliche Entscheidung unvermeidbar Schuld und/oder Scham auslöst.

Vollends unlösbar werden Situationen, in denen z. B. ein Erpresser einen anderen unter Druck setzt, anderen Menschen zu schaden, wenn er selbst nicht unter Druck geraten will – in Diktaturen ein alltäglicher Vorgang. In all diesen Situationen stehen wir vor einer tragischen Wahl, die uns niemand abnehmen kann. Letztlich muss jede moralische Aussage an der Frage geprüft werden, wie sie mit solchen Situationen umzugehen lehrt.

Auch in tragischen Situationen müssen wir Entscheidungen treffen, wir können auch grundsätzliche Probleme nicht sich selbst überlassen, denn sie erzeugen immer weitere letztlich nicht mehr beherrschbare Teilprobleme, die jede Ordnung gefährden und zerstören können. Max Weber definiert das Problem so:

»Die Unvereinbarkeit und also die Unaustragbarkeit des Kampfes der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben, die Notwendigkeit also: zwischen ihnen sich zu entscheiden.«91 (Hier)»…..haben wir es mit Entscheidungen zwischen gleich endgültigen Zielen und gleich absoluten Ansprüchen zu tun, von denen sich einige nur verwirklichen lassen, wenn man andere dafür opfert.«92

Solche Grundentscheidungen führen – gleichgültig welche Wahl wir treffen – zu einem unvermeidbaren moralischen Konflikt:

»Nichts kann uns die Qual der ethischen Entscheidung ersparen. Aber man muss, so hart es auch klingen mag, die Freiheit haben, das bekannte moralische Gute unter Umständen zu vermeiden und das als Böse anerkannte zu tun, sollte es die ethische Entscheidung verlangen. Mit anderen Worten: Man soll den Gegensätzen nicht verfallen…… Damit wird der Sittenkodex gegebenenfalls unweigerlich aufgehoben und die ethische Entscheidung dem Individuum anheimgestellt. Das ist an sich nichts Neues, sondern hat sich ihn vorpsychologischer Zeit schon immer als »Pflichtenkollision« ereignet.«93

Das führt uns zum Problem der Zivilcourage. Sie ist die Fähigkeit, seine eigenen moralischen Vorstellungen gegenüber abweichenden Ideen, die die Mehrheit teilt, auf eigenes Risiko hin durchzusetzen. Eine seltene Fähigkeit. Sie kann nur entstehen, wenn man sich der tragischen Wahl bewusst ist, in der man steht: Gleichgültig, wie man sich entscheidet, sind nur Nachteile zu erwarten. Und doch trifft man die Entscheidung, weil sonst die eigene Identität auseinanderfällt.

Die Tatsache, dass das Leben uns immer wieder in einzelnen Situationen zu einer tragischen Wahl zwingt, also eine Situation, in der jede Entscheidung moralisch angreifbar ist, stellt das zentrale Problem jeder Diskussion über Moral und Gerechtigkeit dar. Über viele moralische Probleme kann man streiten und ihre – sei es von dem Einzelnen, sei es von der Gesellschaft – für richtig gehaltene Lösung hängt von den jeweiligen Rahmenbedingungen ab, die die Handlungsmöglichkeiten aller Beteiligten bestimmen. Steht man aber vor einer tragischen Wahl, gibt es niemanden, der Recht behalten kann.

In Gesellschaften, in denen jedem einzelnen wirksame Grundrechte zur Verteidigung seiner Interessen zur Verfügung stehen, ist eine tragische Wahl seltener als in Gesellschaften, die darüber nicht verfügen.

19. Werte, Zwecke und Interessen

Es gibt einen Kern von Werten, die von allen Menschen zu allen Zeiten und unter allen denkbaren Rahmenbedingungen für relevant gehalten werden. Das ergibt sich aus mehreren soziologischen Untersuchungen über die Frage, ob es universell geltende moralische Werte gibt oder ob sie – abhängig von den jeweiligen Kulturen – große Unterschiede aufweisen. Eine diese Untersuchungen hat in 40 Ländern der Welt vier einheitliche Wertbereiche vorgefunden (World Values Survey 199094), die vom Selbstwert des Individuums ausgehen, also jenem Wert, den der Einzelne auch um den Preis seines Lebens verteidigen will95:

  • Erhaltung: Sicherheit, Zugehörigkeit, Gesicht wahren, Demut, Frömmigkeit, Gehorsam,
  • Veränderung: Freiheit, Selbstbestimmung, Entdeckung, Autonomie, Unabhängigkeit, Risiko, Abwechslung, Mut,
  • Selbstbetonung: Macht, Reichtum, Autorität, Einfluss, Anerkennung, Erfolg, Kompetenz,
  • Selbsttranszendenz: Liebe, Weisheit, Freundschaft, Loyalität, Schönheit, Toleranz, Gleichheit, Harmonie, Gerechtigkeit, Intellektualität.

Jeden einzelnen dieser Werte kann man zur condition humaine rechnen und daher annehmen, dass sie auch früher schon gegolten haben, weil Ordnungen nicht entstehen können (oder zusammenbrechen werden), die sich gegen die dort definierten Interessen richten würden.

Es liegt auf der Hand, dass viele dieser Werte auch innerhalb eines, sie verbindenden Gesamtsystems miteinander in Konflikt liegen: Absolute Sicherheit gibt es nur im Gefängnis, absolute Freiheit nur im Chaos, Demut und Mut widersprechen sich auf den ersten Blick, Autorität kennt selten Toleranz und was Gerechtigkeit ist wissen wir erst, wenn wir uns mit dem Begriff näher beschäftigen (was gleich geschehen wird).

In der »Oxford Analyse« 201696 wurden 600.000 ethnologische Berichte aus mehr als 600 Quellen in insgesamt 60 Kulturen erfasst. Dabei wurden sieben in allen Kulturen gültige konkrete Werte festgestellt, die sich aus den abstrakter definierten Werten des World Values Survey ableiten lassen:

  • Unterstützung der Familie,
  • Unterstützung der eigenen (sozialen) Gruppe,
  • sich revanchieren/erkenntlich für Gefälligkeiten zeigen,
  • mutig sein,
  • Respekt vor Vorgesetzten haben,
  • ressourcengerecht verteilen,
  • Eigentum/Besitz anderer respektieren.

Von diesen Werten repräsentiert nur einer – der Mut – das Bedürfnis nach Autonomie des Einzelnen, die anderen betonen die Solidarverpflichtungen. Interessanterweise findet sich darunter nicht etwa die moralische Forderung, nicht zu einer Gruppe gehörige Dritte zu unterstützen oder gar zu lieben – eine Folge der Gruppendynamik, die Werte in erster Linie auf die Menschengruppe bezieht, deren Identität mit der eigenen übereinstimmt.
Eine weitere theoretische Arbeit versucht, diejenigen Werte zu definieren, die in jeder Kultur mindestens erforderlich sind, um einen ausgewogenen Ausgleich zwischen den Interessen des ICH und der Gesellschaft herzustellen (Beauchamp/ Childress: Principlism, Georgetown mantra 199497):

  • Nicht schädigen (nonmaleficence),
  • Selbstbestimmung (autonomy),
  • Fürsorge (benficiance),
  • Gerechtigkeit (justice).

Die in derartigen Untersuchungen festgestellten Begriffe sind und bleiben solange abstrakt, bis sie in den Normen konkret sichtbar werden, die eine Gesellschaft für anerkennenswert hält. Selbst wenn man annimmt, dass alle diese Begriffe in allen Gesellschaften relevant sind, zeigen sie sich doch – abhängig von anderen kulturellen Rahmenbedingungen – in den Details sehr unterschiedlich. Keiner dieser Begriffe schließt z. B. die Verhängung der Todesstrafe aus. Sie wird auch heute in vielen Staaten nicht für unmoralisch gehalten, in anderen jedoch als Verstoß gegen die Menschenwürde angesehen.

Im internationalen Vergleich ist festzustellen, dass die Auslegung moralischer Begriffe keineswegs einheitlich geschieht, sondern von vielen kulturellen Faktoren abhängig ist: Was eine Beleidigung ist, wird auch heute noch in Deutschland anders empfunden als in Arabien oder Asien. In dem einen Land wird die Todesstrafe als rechtswidrig und unmoralisch angesehen, in anderen Ländern (USA, Japan, UdSSR) angewendet. Selbst innerhalb relativ einheitlicher kultureller Räume (Europa) stellen wir gravierende Differenzen fest. Die Liebe zur Familie oder der Respekt vor Vorgesetzten z. B. geht in arabischen Ländern erheblich weiter als im europäischen Verständnis. Auch der Ehebruch wird in vielen Ländern als moralisch verwerflich angesehen, in anderen hingegen ist er der Ausdruck der zulässigen Autonomie des Einzelnen.

Der Katalog der Werte, aus denen man moralische Normen entwickeln kann, ist also überschaubar, er ist an Raum und Zeit gebunden und muss immer wieder neu überprüft werden. Eine solche Entwicklung ist nur möglich, wenn die Menschen, die sich an ihr beteiligen, selbst über bestimmte Eigenschaften verfügen. Cicero (de officiis) nennt vier dazu notwendige grundlegende Tugenden:

  • Gerechtigkeit (iustitia): gemeint ist der Gerechtigkeitssinn, also die Fähigkeit, deren Elemente zu erkennen und auf den konkreten Fall anzuwenden,
  • Mäßigung (temperantia): Hier geht es um die Ausgewogenheit des Endergebnisses,
  • Tapferkeit und Hochsinn (fortitudo, magnitudo animi bzw. virtus): Die Tapferkeit ist nötig, um die unvermeidlichen Interessenkonflikte, denen jeder ausgesetzt ist, auch notfalls gegen die eigenen Interessen aufzulösen, und
  • Weisheit oder Klugheit (sapientia bzw. prudentia): Das ist die Fähigkeit, die einzelnen Fälle auf die abstrakten Regeln zu beziehen und dabei je nach Sachlage induktiv und/oder deduktiv vorzugehen.

20. Gesinnungsethik und Verantwortungsethik

»Es herrschen jetzt die Tugend und der Schrecken, denn die subjektive Tugend, die bloss von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich.«98

Werte gehören zu den Inhalten und Zielen, die eine Gesellschaft durch ihre formale Struktur erreichen will. Ohne inhaltliche Werte läuft der Begriff der Moral ins Leere. Man kann technische Werte setzen (die Ordnung der Konzentrationslager) oder ästhetische (die Schönheit des Schreckens usw.) und folgt so (häufig unbewusst) den Ordnungslinien jener Struktur, die man selbst eingerichtet hat. Kant spricht vom »moralischem Terrorismus«, wenn jemand der Meinung ist, dass die Welt immer schlechter wird und sich versucht, mit rigiden moralischen Vorstellungen dagegen zu wehren:

» Der Fälle, die eine Vorhersagung enthalten können, sind drei. Das menschliche Geschlecht ist entweder im continuirlichen Rückgange zum Argeren, oder im beständigen Fortgange zum Besseren in seiner moralischen Bestimmung, oder im ewigen Stillstande auf der jetzigen Stufe seines sittlichen Werths unter den Gliedern der Schöpfung (mit welchem die ewige Umdrehung im Kreise um denselben Punkt einerlei ist).
Die erste Behauptung kann man den moralischen Terrorismus, die zweite den Eudämonismus (der, das Ziel des Fortschreitens im weiten Prospect gesehen, auch Chiliasmus genannt werden würde), die dritte aber den Abderitismus nennen: weil, da ein wahrer Stillstand im moralischen nicht möglich ist, ein beständig wechselndes Steigen und eben so öfteres und tiefes Zurückfallen (gleichsam ein ewiges Schwanken) nichts mehr austrägt, als ob das Subject auf derselben Stelle und im Stillstande geblieben wäre...«99

Kant kritisiert hier eine Haltung, die Max Weber später als »Gesinnungsethik« bezeichnen wird.

Moralisch definierte Ordnungen sind ausgewogene soziale Konstruktionen, in denen sich die Interessen des Einzelnen wie der Gesellschaft in bestimmten Kernbereichen treffen. Wenn eine Gesellschaftsordnung den Rechten des Individuums grundsätzlich einen niedrigeren Rang verleiht als den Rechten des Staates, entstehen andere Werte als im umgekehrten Fall – die Kunst besteht darin, eine, den politischen, kulturellen usw. Rahmenbedingungen entsprechende Ausgewogenheit zwischen den Rechten und Pflichten des ICH und der Gesellschaft zu finden. Moralische Ordnungen sind noch keine Rechtsordnungen (wie wir später im Detail sehen werden).

Sehr viele ethische Regelwerke sind von der Idee bestimmt, dass unser Verhalten uns von Gott oder den Göttern vorgeschrieben wird. Vor allem auf diese Weise »hinkt Gott in seine Welt«. Tatsächlich können alle bekannten ethischen Regeln ausschließlich aus dem Problem entwickelt werden, wie im Spannungsverhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft einer Ordnung eingerichtet werden kann, die den Interessen des Einzelnen wie jenen der Gemeinschaft Rechnung getragen werden kann (Verantwortungsethik):

»Wir müssen uns klarmachen, daß alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann ‚gesinnungsethisch‘ oder ‚verantwortungsethisch‘ orientiert sein. Nicht daß Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet: ‚Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘ – oder unter der verantwortungsethischen: daß man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.«100

21. Die Entwicklung moralischer Systeme

Interdependenz, Reziprozität, Empathie, Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit sind zunächst nur Leerformeln101, die zwar eine Grammatik, aber noch keine Sprache ergeben. Solche Sprachen und die mit ihrer Hilfe errichteten Systeme entstehen erst durch die Notwendigkeit, die Normen, die wir entweder durch Codices oder Richterrecht schaffen, in Verbindung mit den Werten zu setzen, die wir in diesen Normen ausdrücken. Wir können prüfen, ob eine moralische Norm diese Maßstäbe anerkennt oder einen Konflikt ungleich, unfair oder unausgewogen zu regeln versucht.

Die Grammatik der Moral ist von Raum, Zeit, Kultur und anderen Rahmenbedingungen unabhängig. Man kann sich keine allgemein anerkannte Konfliktregelung vorstellen, die von der Ungleichheit, der Unfairness oder der Unausgewogenheit bestimmt würde. Die Sprachen allerdings, die sich auf diese Grammatik stützen, hängen nicht luftleeren Raum, sondern müssen sich auf die politischen, kulturellen und psychologischen Rahmenbedingungen abstützen und auf sie reagieren, wenn sie das Spannungsverhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft befriedigend regeln wollen. In Begriffen wie »Menschenwürde« (Schutz des Einzelnen) und »Solidarität« (soziale Verpflichtungen des Einzelnen) drückt sich dieses Spannungsverhältnis aus.

Innerhalb dieser Bezugssysteme hat der Begriff eine viel weiter gefasste Bedeutung102 als innerhalb eines Rechtssystems. Als politische Forderung hat sie fast keine Konturen bis hin zur Beliebigkeit, als moralischer Maßstab unterliegt sie nahezu keinen formalen Beschränkungen, im Recht hingegen ist sie der Maßstab für jede Entscheidung, die in dessen Rahmen gefällt wird. Um diesen Zwecken zu genügen, reichen die drei moralischen Kernelemente (Interdependenz/Reziprozität/Empathie) nicht aus. Sie müssen weiter präzisiert werden.

Wenn wir anerkennen, dass die Maßstäbe der Gerechtigkeit sich aus der Urgrammatik der Moral entwickeln, bedeutet das: Die Gerechtigkeit ist ohne einen moralischen Kern nicht denkbar. Mithilfe der Urgrammatik der Moral können wir moralische »Sprachen« entwickeln, die uns helfen, eine soziale Ordnung zu definieren und aufrechtzuerhalten. Die Urgrammatik der Gerechtigkeit bietet uns eine noch differenziertere Sprache, die uns vor allem den Begriff der Gleichheit als Werkzeug anbietet, der in den moralischen Sprachen nur angedeutet ist.

Während wir die Kernelemente der Moral – wie oben gezeigt – in ihrem Kern schon bei den Tieren vorfinden, ist das bei den Maßstäben der Gerechtigkeit nicht der Fall. Die Fähigkeit, gleich, fair und angemessen zu urteilen, setzt voraus, dass man fähig ist, sich selbst bei dieser Entscheidung zu beobachten, seine Interessenkonflikte wahrzunehmen, und die Widersprüche, die sich in Einzelfällen immer wieder zeigen, aufzulösen.

Dazu brauchen wir Verstand, Gefühl und Willen auf einer anderen Ebene als sie den Tieren zur Verfügung stehen. Hier bewegen wir uns auf dem Hintergrund der spezifisch menschlichen Eigenschaften auf einer völlig neuen Plattform. Sie ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass Menschen ihrem Instinktverhalten nicht ohne Kontrolle ausgeliefert sind, nicht nur die Gegenwart, sondern auch Vergangenheit und Zukunft überblicken (also in der »»Sekundärzeit« leben) können und über Strategien wie Versuch und Irrtum, Problem und Lösung, Spannung und Entspannung etc. verfügen, die jenen der Tiere überlegen sind103. So können Menschen die Macht – das Grundmuster aller sozialen Systeme – die Moral und Recht miteinander verknüpfen.

Es gibt zahllose Versuche, diese Verbindung aufzulösen. Man sieht die Gefahr, dass es moralische Normen gibt, die von großen Mehrheiten geteilt werden, aber keine Rücksicht auf die Ansprüche jedes Einzelnen nehmen, auch Schutz für seine individuellen Interessen zu finden. Das »gesunden Volksempfinden« nimmt darauf keine Rücksicht und das kann sich in Einzelfällen tragisch auswirken. Der Versuch, Moral von Recht zu trennen, würde dieses Problem auf theoretischer Ebene lösen. Aber er lässt sich nicht begründen104:

»Nihilistische Versuche, Normativität auf Faktizität zu reduzieren oder das juridische Normensystem unüberbrückbar von nichtjuridischer Kritik und Rechtfertigung zu trennen, missachten, dass die menschliche Suche nach rechtsethischer Rechtfertigung nicht unterdrückt werden kann: Jedes menschliche Handeln – und damit auch juridisches – wirkt angesichts kaum bestreitbar menschlicher soziale Beziehungen und der Möglichkeit je individuell alternativen Handelns auf die jeweils anderen Betroffenen nicht nur kausal bzw. funktional ein, sondern auch normativ, und zwar über alle Systemgrenzen hinweg«.

Von der Pfordten kritisiert dabei skandinavische Rechtstheoretiker auf gleicher Ebene wie Niklas Luhmann. Luhmanns Versuche spielen sich aber auf einer hohen metatheoretischen Ebene ab, die nicht dadurch entwertet wird, dass sie sich auf der Rechtsebene als unzutreffend erweist.105

Die Lösung des Problems gelingt, wenn wir berücksichtigen, dass moralische Regeln mehr oder weniger organisch wachsen und daher nicht zu jedem Zeitpunkt wiedergeben können, was in individueller oder in allgemeiner Hinsicht als ausgewogen betrachtet werden kann. Oft geben sie die Ansicht früherer Zeiten und Kulturen wieder und können sich nur in der Aufarbeitung individueller Konflikte ändern. Der Begriff der Gerechtigkeit ist für die Entwicklung und Auslegung des moralischen Vokabulars unverzichtbar, seine Durchsetzung kann aber allein mit moralischen Sanktionen nicht erzwungen werden. Innerhalb der Gesellschaft mag das nie gelingen, wenn nicht durch Rechtsnormen (und ihre Vollstreckbarkeit!) eine Änderung dieser moralischen Ansichten erzwungen werden kann.

Die Maßstäbe der Gerechtigkeit stellen Anforderungen, die über die Urgrammatik der Moral in all jenen Fällen hinausgehen, in denen allein die Maßstäbe der Interdependenz, der Reziprozität und Empathie nicht ausreichen, um eine Entscheidung zu treffen, die allgemeine Anerkennung in den jeweiligen sozialen Systemen finden kann. Eine moralische Entscheidung kann gleichgeartete Sachverhalte ungleich behandeln, sie kann die Interessen einzelner Beteiligten ignorieren (also unfair sein) und sie muss nicht ausgewogen sein.

Das zeigt sich deutlich an dem Satz, dass »Gnade vor Recht ergehen« soll. Mit diesem Satz appellieren wir an das Mitgefühl eines Mächtigen, sich nicht auf die Strenge des Rechts zu berufen. Recht und Gerechtigkeit folgen der Urgrammatik der Moral, aber sie gestatten es auch, sie nicht in allen Situationen abzubilden. Die Begnadigung ist nicht unmoralisch, auch wenn sie nicht der Forderung nach Gleichheit entspricht.

Gleichwohl stellen wir im Alltag immer wieder den Anspruch, auch moralische Entscheidungen sollten gerecht sein. Diese Forderung ist nicht sinnlos, denn damit wird nichts anderes verlangt als die höchste Qualitätsstufe, die moralische Entscheidungen erreichen können. In diesem Fall entspricht die moralische Entscheidung auch noch dem Prinzip der Gleichheit, der Fairness und der Ausgewogenheit.

Da gerechte Entscheidungen – auf welcher Ebene auch immer – immer auf dem untrennbaren Zusammenspiel von Vernunft, Gefühlen und Willen entstehen, sind sie unvermeidbar mit Fehlern behaftet, die teilweise aus unserer uns unbewussten biologisch/psychologischen Verfassung entstehen106, andererseits durch moralische Defekte, Interessenkonflikte und andere Entscheidungsfehler bestimmt sind. Man kann z. B. behaupten, dass »einige Tiere gleicher sind als die anderen« (George Orwell), man kann als fair nur die eigenen Perspektiven bezeichnen und als ausgewogen ein Ergebnis nur dann, wenn man es selbst als günstig betrachtet.

In manchen Gesellschaften werden Werte wie Reinheit, Scham, sozial angepasstes Verhalten, Unterdrückung der individuellen Wünsche zu moralisch hochwertigem Verhalten107. Sie lassen sich ohne weiteres sowohl in die Elemente des oben beschriebenen Moralbegriffs einordnen (Interdependenz/Reziprozität/Empathie) sondern harmonieren auch mit den Elementen der Gerechtigkeit, wie sie hier dargestellt werden. Aber aus ihnen ergeben sich andere Schwerpunkte.

Die Unterschiede in den Auffassungen über moralische Inhalte führen immer wieder zu gesellschaftlichen und damit politischen Auseinandersetzungen. Moralische Differenzen werden vor allem in politischen Diskussionen als die einfachste Form verwendet, um die Zustimmung anderer zur eigenen Position zu erreichen. Auf diesem Feld kann sich jeder darauf berufen, seine Position sei gerecht, so wie der Gott die Waffen aller Parteien segnet. Es ist ein mythischer Vorgang, der Argumenten nicht zugänglich ist.

Die Anerkennung fremder Maßstäbe bedeutet nicht, dass die eigenen irrelevant werden. Will man eigene Maßstäbe gegenüber anderen durchsetzen, die sie nicht anerkennen, entscheiden die Machtverhältnisse oder die Verhandlungen. Aber auch sie haben nur eine mittelbare und zeitlich begrenzte Gewalt über das Denken und Fühlen.

Die Forderung nach absoluter Gerechtigkeit ist eine Illusion, denn hinter jeder Interpretation der Elemente der Gerechtigkeit stecken – bewusst oder unbewusst – Machtverhältnisse, Interessen und Moden. Die Suche nach dem »richtigen Recht« (Larenz) ist nichts weiter als eine Verdeckungsstrategie der Interessen, die es bestimmen. Die Aufgabe von Rechtssystemen ist es, solche Strategien kommunikativ aufzudecken. Wenn das gelingt, kann eine Gesellschaft den Zustand »gerechter Verhältnisse« näherkommen, als eine andere, in der es misslingt.

Wer umgekehrt nach einer Gerechtigkeit sucht, die ohne moralische oder rechtliche Strukturen auskäme, kann die Willkür nicht verhindern und unterwirft sich am Ende beliebigen politischen ästhetischen, mythischen oder gar »göttlichen« Maßstäben. »Das Recht kommt von der Gerechtigkeit, gleichsam wie von seiner Mutter; also war die Gerechtigkeit vor dem Recht108«.

Für den Bereich der Moral haben wir erkannt, dass der Begriff der Gerechtigkeit sich darauf beschränkt, dass wir anerkennen, alle voneinander abhängig zu sein (Interdependenz), dass jeder, der etwas gibt, erwarten kann, dass auch ihm etwas gegeben wird (Reziprozität) und dass wir die Gefühlslagen der Beteiligten respektieren und nicht willkürlich über sie hinweg gehen (Empathie).

Die Rechtssysteme greifen auf den gleichen Kern des Gerechtigkeitsbegriff zurück wie die Moral, eine kulturelle Konstruktion, die auf unseren biologisch/psychologischen Wurzeln beruht und ihren Ausdruck in der jeweiligen sozialen Ordnung findet. Das Recht entsteht »erst durch Sitte und Volksglaube, dann durch Jurisprudenz …, überall also durch innere, still wirkende Kräfte, nicht durch die Willkür eines Gesetzgebers109». Aber die Sprache des Rechts ist eine andere als die der Moral, sie ist entschiedener und endgültiger. Wir können fünf Bereiche unterscheiden, in denen der Begriff der Gerechtigkeit seine Ordnungsfunktion entfaltet:

  • Im persönlichen Verhalten und den moralischen Konflikten zwischen Menschen/Gruppen in privaten und wirtschaftlichen Beziehungen,
  • im Bereich der Politik, in der um die Machtverteilung gerungen wird, die jede soziale Ordnung definiert, sie aufrechterhält und die Maßstäbe für die Verteilung von Gütern. Hier hat er allerdings nur rhetorische Funktion: Die politischen Parteien benutzen den gleichen Begriff für jede Position, auf die sie sich kontrovers berufen.
  • als Richtschnur für den Erlass von Gesetzen oder anderen allgemeingültigen Normen, an der die Arbeit der Parlamente oder anderer Institutionen gemessen werden kann,
  • als Maßstab für die Entscheidungen der staatlichen Administration oder privater Unternehmen unter dem »Schatten des Rechts«, und vor allem:
  • als formaler und inhaltlicher Maßstab für die Entscheidungen von Gerichten in den ihnen vorgelegten Konflikten.

Schon oben habe ich angedeutet, dass der Maßstab der Gerechtigkeit innerhalb politischer oder moralischer Systeme eine andere Funktion hat als innerhalb von Rechtssystemen, sodass er – innerhalb gewisser Grenzen – weiter oder enger definiert werden muss.

22. Moral gegenüber sich selbst – Innen und Aussen

Moral ist ein Maßstab für die Qualität unserer Entscheidungen in sozialen Systemen. Er entwickelt sich zunächst in den Beziehungsgeflechten der Menschen, mit denen man aufwächst – typischerweise innerhalb einer Familie. Wir haben heute meist das Bild einer Kleinfamilie (Vater, Mutter, Kinder) vor Augen, aber diese Strukturen sind abhängig von der jeweiligen Kultur, in der wir leben und können sehr viel komplexer, aber in tragischen Fällen auch sehr viel kleiner oder sehr viel fremder sein. Jeder Mensch wächst mit dem Alter in andere Gruppierungen ein, die sich ebenfalls Regeln gegeben haben, so die Schule, Vereine, das Militär, die Gemeinde, der Staat, Völkergemeinschaften usw. innerhalb einer gemeinsamen Kultur werden diese Regeln ähnlich sein, es kann aber auch offene Widersprüche geben.

In jeder der unzähligen Kulturen und auf den unterschiedlichen sozialen Plattformen, auf denen wir uns bewegen, gelten unterschiedliche moralische Regeln, die eines gemeinsamen haben: Innerhalb der jeweiligen Gruppe gelten andere Regeln als gegenüber Menschen, die nicht dieser Gruppe angehören. Diese Unterscheidung zwischen innen und außen (Japanisch: uchi/soto) ist in uns biologisch/psychologisch tief abgesichert110 und wird vor allem von jenen schmerzlich erfahren, die keiner hinreichend starken Gruppe angehören, und sich daher in der Regel von außen beurteilt sehen (Einwanderer, Auswanderer, Flüchtlinge). Schon aus Notwehr schließen sie sich häufig zusammen, um auf diese Weise ihre eigene Identität zu sichern und genau diese Bemühungen macht es ihnen umso schwerer, Teil der Gruppe zu werden, die sie als fremd betrachtet. Die Geschichte des jüdischen Volkes bildet einen jahrtausendelangen Anschauungsunterricht, die der US-amerikanischen Sklaven zeigt das Bild über mehrere 100 Jahre.

Die meisten Menschen entwickeln – gestützt auf ihre genetischen Anlagen und die Erfahrungen aus ihrem sozialen Umfeld – moralische Maßstäbe, die es ihnen erlauben, sich individuell zu entscheiden, wie sie sich im Spannungsfeld zwischen dem ICH und der Gesellschaft verhalten sollen (Max Weber: »Gesinnungsethik« gegen »Verantwortungsethik«).

Häufig stützen sie sich auf religiöse Konzepte. Wenn die innere Stimme des Gewissens (Sokrates: daimonion; Wang Yangming: »Verwirklichung des ursprünglichen Wissens«) mit den von der Gesellschaft allgemein akzeptierten moralischen Bedingungen übereinstimmt, entstehen harmonische Beziehungen. In einzelnen meist krankhaften Fällen kommt es zu diesen Fähigkeiten nicht111, in anderen kollidieren die eigenen Maßstäbe mit jenen der Gesellschaft.

Das ICH versucht – gestützt auf seine Begabungen und erworbenen Fähigkeiten – sein Überleben und seine Identität zu sichern, wir streben nach Selbstverwirklichung (Entelechie: Aristoteles Metaphysik IX, 8). Wir spüren in uns die moralische Verpflichtung, unsere Persönlichkeit zu entwickeln, wir wollen unsere Talente nicht brachliegen lassen. Das zentrale Problem: Wie können wir erkennen, wer wir sind? Das gelingt nur in Beziehungen zu anderen Menschen. Die Gefahr: Ein ICH, das völlig in den Interessen und der Ordnung der Gesellschaft aufgeht, verliert seine Identität, wer aber versucht, seine subjektive Ordnung in der Gesellschaft durchzusetzen, wird auf Widerstand stoßen:

»Manchmal scheint ihm, jeder Mensch habe zwei Leben: Das alltägliche aktive, in dem er sich mehr instinktiv als bewusst mit der Welt herumschlägt, und das moralische, in dem er seine Handlungen und Erlebnisse bewertet, in seine Biografie einordnet, mit seinen Träumen vergleicht und durch eine mehr oder weniger gewaltsame Interpretation erträglich macht. Beide Leben bedingen und durchdringen einander, aber das »moralische«, wie willkürlich und korrupt auch immer, scheint mehr Bedeutung zu haben als der unverständliche Rohstoff des Alltags, von dem er doch in jeder Hinsicht abhängt.«112

Die moralischen Regeln, denen jeder von uns in den sozialen Systemen, in denen er sich bewegt, für richtig hält und um deren Einhaltung er sich nach außen hin bemüht, bleiben nicht ohne Wirkung auf Dich selbst. Man kann (mit Kant) davon sprechen, dass man sich schon aus Gründen der Selbstachtung in dieser oder jener Form sich selbst gegenüber moralisch verhalten oder die Moral zu Gunsten der Selbstachtung vergessen solle113. Es liegt auf der Hand, dass niemand moralische Maßstäbe entwickeln oder überprüfen kann, dem sein eigener Charakter dabei im Weg steht. Jede moralische Frage ist gleichzeitig ein Ausdruck dessen, was man für seine eigene Identität hält. Aber jede moralische Frage, die man sich selbst gegenüberstellt, lässt sich nur aus dem Spannungsverhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft definieren.

Jeder Mensch gewinnt im Lauf seines Lebens unterschiedliche Erfahrungen mit den verschiedenen Regelsystemen, mit denen er umzugehen gelernt hat, entwickelt daraus seine eigene Identität und individuelle Ansichten darüber, welche Regeln er für (absolut oder relativ) richtig oder für falsch hält:

»Dies über alles: Sei Dir selbst treu
und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage
Du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen«114.

Die moralischen Regeln, die die Gesellschaft aufstellt, sollten in der Regel die Selbstachtung jedes Einzelnen nicht verletzen. Das geschieht hin und wieder und manchmal findet man sich in einer Gesellschaftsstruktur vor, die mit den eigenen moralischen Vorstellungen fast nichts mehr gemein hat. So wird man sich in manchen Entscheidungssituation fragen, wie weit die eigene Kompromissbereitschaft geht, wenn Dir ein Regelwerk aufgezwungen werden soll, dem Du persönlich nicht zustimmen willst – Du stehst vor einer Gewissensentscheidung.

Die moralischen Kriterien, die der Einzelne dabei akzeptiert und anwendet, müssen zuvor in ihm selbst verankert sein. Jede Art Erziehung hat diesen Zweck und aus ihr erwächst die Fähigkeit, die so erworbenen Regeln zu übernehmen, abzulehnen oder eigene zu entwickeln. Davon waren schon die frühesten Denker überzeugt. Die dazu erforderliche Selbstdisziplin (»Übungsethik« (Peter Sloterdijk)115 ist eines der Werkzeuge, aus der moralisches Handeln entsteht, aber es ist mit ihm nur indirekt verbunden: Zahllose andere Elemente wirken auf moralische Entscheidungen ein, von denen nicht wenige dem Unterbewusstsein entstammen.

Auch Nietzsche definiert moralische Begriffe, die sich auf den ersten Blick nicht auf das Verhältnis des ICH zur Gesellschaft beziehen, sondern Eigenschaften beschreiben, die ein Einzelner sich selbst gegenüber schuldig sei: Freiheit, Verantwortung, Redlichkeit, Tapferkeit, das große Lachen, die Liebe zum Leben. Zwar trägt die Bemühung darum, ein solches Verhalten zu entwickeln, zunächst denjenigen, der es versucht, aber diese Versuche laufen nur dann nicht leer, wenn sie sich auf die Außenwelt beziehen. Die Berechtigung moralischer Fragen entwickelt sich also erst an der Schnittstelle zwischen mir und den anderen, kann sich aber absolut auf die Frage beschränken, ob ein bestimmtes Verhalten anderen gegenüber der Darstellung meines Selbstwertgefühls und/oder der Selbstverwirklichung dient, also ein Spiegelbild dessen ist, was der Einzelne für sich als Entwicklung und Ausprägung seines Charakters für relevant hält116.

Es gibt keinen Zweifel daran, dass vieles, was wir entscheiden, Ausdruck unseres Selbstbewusstseins und des Willens ist, sich in seiner individuellen Eigenart in der Welt darzustellen. Da das ICH und die Welt nicht identisch sind, entsteht zwischen beiden unvermeidbar ein Spannungsverhältnis. Dass ICH kann sich selbst nur wahrnehmen, wenn es eine Vorstellung und hinreichende Erfahrung über seine eigene Identität gewinnt. Manche Menschen haben nur eine sehr vage Vorstellung davon, wer sie sind, bei anderen ist sie so stark ausgeprägt, dass sie andere Menschen kaum wahrnehmen. So ist das Ausmaß der Selbstachtung und des Respekts vor anderen sehr unterschiedlich. Manche Leute sind es sich selbst gegenüber schuldig, andere zu quälen.

Ein solches Charakterbild könnte durchaus einer Allmachtsphantasie entspringen, wie sie unter anderem von Nietzsche, Bataille, de Sade und anderen als ein grundsätzlich überlegenes ICH beschrieben worden ist, das sich niemanden gegenüber zu rechtfertigen habe. Es gibt einige wenige Menschen (Hitler, Stalin usw.) bei denen man annehmen kann, dass sie weder sich selbst noch anderen gegenüber moralische Werte und/oder Maßstäbe anerkannt haben und auch kein Schamgefühl entwickeln konnten.

Er wird dabei seinem Gewissen folgen, also der Fähigkeit, seine eigenen Gedanken, Gefühle und Wertvorstellungen als Teil seines ICH wahrzunehmen und sich so zu verhalten, dass er nicht mit sich selbst in Konflikt gerät.

Das Gewissen kann mit mehrheitlichen Ansichten der Gesellschaft kollidieren117. In solchen Situationen wird Dein Gewissen zur Leitlinie der Entscheidung. Der Bruch mit Regeln, von denen wir wissen, dass sie von Anderen mehrheitlich gebilligt werden, die Verletzung von Tabus usw. bedeuten für jeden, der sich in solchen Situationen entscheiden muss, eine tragische Wahl. Individuelle Moral, die sich nicht für einen Ausgleich innerhalb der Gesellschaft interessiert, kann absolut antisozial sein.

Seit jeher zeigt uns die Geschichte solche Pflichtkollisionen, die sich besonders in der jüngeren Vergangenheit (NS-Zeit) ereignet haben. Die übliche Verteidigung gegen moralische Vorwürfe schildert die Unmöglichkeit der »Befehlsverweigerung«. Es hat aber nur relativ selten ausdrückliche Befehle dazu gegeben, z. B. Juden zu erschießen und in einigen Fällen wurde den Tätern freigestellt, sich an der Tat zu beteiligen (Polizeibatallion 111). Nur wenige haben das abgelehnt, denn für sie war die Aussicht emotional unerträglich, von der mehrheitlich andersdenkenden Gruppe, der sie selbst angehörten, ausgeschlossen zu werden. Viele haben nicht einmal ihre Beteiligung an einem Verbrechen erkannt, so etwa ein 19-jähriger Buchhalter in Auschwitz (Gröning).

In Japan gab es über Jahrhunderte hinweg die sichere Überzeugung, dass die Anweisungen eines höher gestellten Repräsentanten der Staatsgewalt auch dann befolgt werden muss, wenn sie sich gegen das eigene Gewissen richtet. Dieser Grundsatz hat sich teilweise auch in das Privatleben ausgedehnt, so z. B. bei der Missbilligung einer geplanten Liebesheirat. Der Bruch dieser Regel konnte nach japanischer Auffassung nur durch einen Selbstmord gesühnt und gleichzeitig kritisiert werden. Es dürfte keine andere Kultur geben, die sich im Fall einer tragischen Wahl solche Konsequenzen zugemutet hat.

23. Gut und Böse – Reinheit und Schmutz

Den Werten, die innerhalb einer Gesellschaft als für sie (und ihr Überleben) überwiegend nützlich anerkannt werden, nennt man »gut/richtig/anständig/angemessen/« usw., diejenigen, die sie ablehnt, »böse/unrichtig/unanständig/unangemessen/schlecht, gemein« usw.

Schon die frühesten Denker haben sich mit der Frage beschäftigt, ob die Erkenntnis dieser Werte und die Fähigkeit, gut oder böse zu handeln, uns von Natur aus gegeben ist, oder ob wir sie in der Gesellschaft mehr oder weniger nach Belieben erwerben. In der chinesischen Diskussion prallte etwa Xunzi (310-255 v.Chr.): der Mensch ist schlecht auf Mengzi (300-239 v.Chr.): Der Mensch ist gut. Beide Denker versuchten die Frage aus ihren jeweils unterschiedlichen eigenen Erfahrungen heraus zu beantworten. Tatsächlich wird niemand ein Mensch mit der Fähigkeit, moralische Unterscheidungen zutreffen, wenn er nicht innerhalb einer Gesellschaft (der Familie oder ähnlich nahestehenden Menschen) aufgewachsen ist und die von diesen verwendeten Kategorien auf seine eigenen Entscheidungsmöglichkeiten überträgt. Die Neurowissenschaften haben entdeckt, dass es im menschlichen Gehirn bestimmte Areale gibt, die auf moralische Probleme reagieren, aber sie werden nur aktiviert, wenn sie auf entsprechende Reize von außen treffen. Jeder von uns entwickelt aufgrund seiner individuellen biologisch/psychologischen Konstitution ein Gefühl dafür, welche Interessen er selbst hat und unter welchen Bedingungen er sich der Interessen anderer anpassen will und/oder kann:

»Wir haben aber für das (sittlich-) Gute und Böse ebenso wenig einen besonderen Sinn, als wir einen solchen für die Wahrheit haben, ob man sich gleich oft so ausdrückt, sondern Empfindlichkeit der freien Willkür für die Bewegung derselben durch praktische reine Vernunft (und ihr Gesetz), und das ist es, was wir das moralische Gefühl nennen.«118

Bei der Diskussion über die Frage, ob ein bestimmter Wert (z. B. die Freiheit) gut oder schlecht genannt werden soll, ist die Einsicht von entscheidender Bedeutung, dass das Gute nicht definiert werden kann, ohne eine Vorstellung vom Bösen zu haben (und umgekehrt). Beide sind die verschiedenen Seiten der gleichen Medaille – und so kann es nicht verwundern, dass nicht allzu selten die Beurteilung eines bestimmten Wertes abhängig von den politischen Machtverhältnissen die Seiten wechselt.

Die Idee, Gut und Böse könnten voneinander getrennt werden beruht auf einer überwiegend christlich geprägten Metapher von »Gott und Teufel«, die die Vorstellung, Gut und Böse seien in einem einzigen Zusammenhang (Gott) zu sehen, grundsätzlich ablehnt. Nach dieser Vorstellung liegen beide Begriffe im ständigen Kampf gegeneinander, werden aber nicht als Ergänzung gesehen. In Asien hingegen versteht man diese Zusammenhänge, wie sie etwa im Motiv von Yin und Jang zum Ausdruck kommen.

Eine ewige Frage ist es, ob wir das Böse aus der Welt schaffen können, sodass nur noch das Gute übrigbleibt. Das ist aus folgenden Gründen nicht möglich: Jeder einzelne von uns ordnet seine Interessen auf der Skala, die zwischen dem ICH und der Gesellschaft verläuft, unterschiedlich ein. Einige betonten ihre Autonomie, andere die Solidarität zu anderen, wieder andere haben nahezu keinen Zugang zu irgendeinem moralischen Empfinden. Physisch oder psychisch Kranke oder auch Menschen, die nie gelernt haben, die Interessen oder die Würde anderer zu beachten, werden keine Entscheidungen treffen können (oder wollen), die den moralischen Maßstäben derjenigen genügen, die sie bei ihren Entscheidungen beschädigen. Der Versuch, die Freiheit dieser Menschen einzuschränken, sie also weitgehend aus der Gesellschaft auszuschließen, würde die Freiheit aller anderen in gleichem Maße einschränken. Wir müssten uns alle mehr oder weniger ins Gefängnis stecken, wenn wir solche Ziele erreichen wollten. Das Böse ist der Preis der Freiheit (Rüdiger Safranski), den extreme Individualisten zu zahlen bereit sind, moralische Anstrengungen hingegen erfordern Selbstdisziplin.

Es gibt Beispiele, die uns zeigen, wohin solche Tendenzen führen (vor allem in den asiatischen und arabischen Ländern), in denen die Interessen des Einzelnen (sich asozial zu verhalten) grundsätzlich hinter jenen der Gesellschaft zurücktreten müssen. Die Idee, das Böse aus der Welt zu schaffen, ist absolut fiktiv und selbst wenn wir es erreichten, hätten wir gleichzeitig auch das Gute vernichtet, das ohne sein Gegenstück nicht definierbar ist.

Leibnitz und Hegel haben versucht, das Problem durch die Überlegung zu lösen, dass die Welt – ganz unabhängig davon, wie sie tatsächlich eingerichtet ist – auch dann »die beste aller Welten«119 sei, wenn in ihr viel Böses vorhanden ist:

»Unsere Betrachtung ist insofern eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes, welche Leibnitz metaphysisch auf seine Weise in noch abstrakten, unbestimmten Kategorien versucht hat: Das Übel in der Welt überhaupt, das Böse mit inbegriffen, sollte begriffen, der denkende Geist mit dem negativen versöhnt werden; … Diese Aussöhnung kann nur durch die Erkenntnis des Affirmativen erreicht werden, in welchem jenes negative zu einem Untergeordneten und Überwundenen verschwindet, – durch das Bewusstsein, teils was in Wahrheit der Endzweck der Welt sei, teils dass derselbe in ihr verwirklicht worden sei und nicht das Böse neben ihm ebenso sehr gleich mit ihm sich geltend gemacht habe«120.

Aber diese Idee können wir aus unserer menschlichen Perspektive nicht prüfen, dafür müssten wir eine Position außerhalb unseres Selbst finden (den archimedischen Punkt der absoluten Moral).

Es kann also durchaus sein, dass die Welt an zu viel fehlerhaften Entscheidungen für das »Böse« ihre Balance verliert und untergeht. Bei diesem »Bösen« muss es sich nicht um ein singuläres Ereignis handeln (Auschwitz), es kann eine Summe von kleinen Fehlentscheidungen sein, die das Leben einer Gesellschaft Schritt für Schritt ersticken, als sei sie von einem Geflecht von Pilzen überwuchert, die ihr die Luft nehmen121.

Die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten eher als gut oder als böse zu beurteilen ist, wird nicht allein durch den Verstand, sondern auch durch das »moralische Empfinden« und den Willen bestimmt, dieses Empfinden für die eigenen Handlungen als maßgebend zu betrachten.

Ob die Regeln, die wir in moralischen Systemen entwerfen den Werten entsprechen, die wir für richtig halten, können wir anhand der drei Elemente der universellen Moralgrammatik (Interdependenz/Reziprozität/Empathie) beurteilen. Wir vergleichen die Grammatik mit der konkreten Sprache. Dabei gibt es eine große Bandbreite der Möglichkeiten. Aufgrund der äußerst unterschiedlichen Rahmenbedingungen, die wir im Lauf der Jahrtausende in menschlichen Gesellschaften kennengelernt haben, sind zahllose moralische Systeme entstanden, die sich in einzelnen Punkten widersprechen. Und trotzdem lässt sich der Satz: »Auge um Auge, Zahn um Zahn« (Talionsprinzip), ebenso wie die Regel, dass Folter oder Todesstrafe verboten sein sollen aus diesen drei Elementen entwickeln. Eine der zentralen Rahmenbedingungen ist die Grundauffassung einer Gesellschaft, ob sie (wie im Westen) das ICH oder (wie im Osten) die Gesellschaft in das Zentrum ihrer moralischen Überlegungen stellt.

Im Endergebnis zeigt sich: Der Mensch verhält sich besser zu anderen Menschen, zu denen er persönliche Beziehungen unterhält und/oder zu Gruppen, denen er sich zurechnet und er verhält sich abweisender und oft genug moralisch verwerflicher zu allen anderen: Wir sind gut und die anderen sind schlecht. Das ist die instinktive Grundeinstellung, die biologisch/psychologisch in uns fest verdrahtet ist, weil wir die Erfahrung gemacht haben, dass wir mit Menschen besser auskommen, denen wir nahestehen und dass Fremde immer gefährlicher sind als die, die man schon kennt. Diese Haltung ist bei Menschen besonders ausgeprägt, die auf Inseln leben. Sie empfinden sie den Besuch anderer nur dann als bereichernd, wenn er auf jahrzehntelang aufgebauten Verhältnissen beruht. Es gibt gastliche (Italien) und ungastliche Länder (China).

Diese Grundeinstellung ist aber korrigierbar. Wir sind fähig, die anderen in unsere Gruppen aufzunehmen und uns selbst anderen Gruppen anzuschließen. Es gibt Menschen, denen das leichter fällt als anderen. Unter Einwanderern z. B. sieht man jene, die sich bemühen, Kontakt zum Aufnahmeland und seinen Menschen zu finden, während andere lebenslang in ihren Gruppen verbleiben, mit deren Hilfe sie ihr neues Leben zu organisieren versuchen.

Immanuel Kants zweite Grundsatzfrage – Wie sollen wir leben? – kann auf diesem Hintergrund folgendermaßen beantwortet werden:

Bei unseren moralischen Entscheidungen müssen wir uns stets bewusst sein, dass jeder Mensch von anderen abhängig ist (Interdependenz), dass wir alles, was wir auf Kosten anderer Menschen tun oder lassen, ausgleichen müssen (Reziprozität) und richtige Entscheidungen nur treffen können, wenn wir Mitgefühl (Empathie) mit anderen haben.

Natürlich verfügt jedes dieser begrifflichen Werkzeuge über eine Bandbreite, die nicht unter allen denkbaren Rahmenbedingungen gleich sein kann: Unter bestimmten sozialen Bedingungen kann es schwierig sein, Interdependenz, Reziprozität oder Empathie von Zuständen abzugrenzen, in denen man sie nicht feststellt. Die ethnologische Forschung bietet zahllose Beispiele vor allem im Bereich der Körpersprache. Dieses Spektrum lässt sich aber beschreiben und wird jedenfalls durch die Negation der Begriffe bestimmt. Wir werden später sehen, dass sich aus ihnen auch der Begriff der Gerechtigkeit ableiten lässt, einer der zentralen Werte des Rechtssystems, der sich aus moralischen Regelwerken entwickelt und seinerseits seinen Schatten auf die moralischen Systeme der Gesellschaft zurückwirft.

Der Unterschied zwischen moralischen Werten und den Maßstäben, an denen sie gemessen werden können, ist daran zu erkennen, dass die Werkzeuge selbst nicht an den Kategorien von Gut und/oder Schlecht gemessen werden können: Die Abhängigkeit der Menschen voneinander ist ebenso eine messbare Tatsache wie die Reziprozität oder die Empathie und diese Maßstäbe stellen selbst keine moralischen Werte dar.

Moralische Regeln gelten geschrieben oder ungeschrieben, bewusst oder unbewusst und daher bewegen sich die Sanktionen zwischen einfachen Standards und komplexen Reaktionen, die nicht immer sicher vorausgesagt werden können. Das beruht auf zwei Gründen:

  1. In zahllosen Mythen, und Erzählungen über richtiges und falsches Verhalten sind moralische Regeln mündlich tradiert worden, aber eine gesicherte Auffassung über ihren Inhalt konnte so nicht entstehen. Noch bis in die jüngste Vergangenheit hat sich in entlegenen Kulturen die Übung erhalten, über die Verletzung moralischer Regeln und ihrer Folgen im Palaver (oder vergleichbaren Formen) kommunikativ abzustimmen, wobei die Entscheidung in vergleichbaren Fällen ganz unterschiedlich ausfallen kann.
  2. Auch wenn moralische Regeln unter Menschen sich schon sehr differenziert entwickeln, geschieht das – im Unterschied zu Rechtssystemen – überwiegend auf informeller Basis. Auch heute noch sind die meisten moralischen Regeln ungeschrieben und die Verfahren, in denen sie ausgelegt oder durchgesetzt werden entwickeln sich aus der jeweiligen Gruppenkultur. Es lässt sich schwer feststellen, unter welchen Bedingungen sich moralische Regeln bilden und noch weniger, wann und wie sie sich zu moralischen Normen (Regeln, die in der Regel nicht mehr hinterfragt werden) verdichten122. Ähnlich wie bei technischen Normen wird es dafür häufig wiederkehrende Bedürfnisse geben, die Regeln anzuwenden.

Alle diese unterschiedlichen Vorstellungen von Ordnung und anerkennungsfähigen Werten werden auch an den jeweils geltenden Schönheitsidealen gemessen, denn »Ethik und Ästhetik sind eins« (Ludwig Wittgenstein123): Tatsächlich kann man sich keine moralische Regel vorstellen, die von der gleichen Mehrheit, die sie aufstellt, als abstoßend empfunden würde. Wer allerdings der Ansicht ist, dass Ethik und Ästhetik keine relativen Maßstäbe sind, sondern objektiv definierbare Inhalte haben, könnte mit dem Satz nichts anfangen.

24. Frei konstruierte Moralvorstellungen

24.1. Moral als göttlicher Befehl

Moralische Regeln sind innerhalb menschlicher Kulturen über viele Jahrtausende als Anweisung von Göttern interpretiert worden, deren Sprachrohr die Priester und Könige waren. So ist die früheste Verbindung zwischen der Religion und der politischen Macht entstanden, die im europäischen Mittelalter als »Verbindung von Kreuz und Schwert« bekannt geworden ist. Sie war das große Angriffsziel der Aufklärung. Viele der Enzyklopädisten (vor allem: Diderot) haben ihren Kern in der Ablehnung aller religiösen Konzepte gesehen, andere, wie Rousseau konnten die Anerkennung der Vernunft als Leitschiene mit dem persönlichen Glauben an Gott verbinden. Wer die Moral als göttlichen Befehl interpretiert und gleichzeitig nicht mehr an Gott glaubt, muss – wie Nietzsche oder der Marquis de Sade – zu dem Schluss kommen: Es gibt keine moralischen Regeln. Dieser Schluss ist jedoch falsch, denn die moralischen Regeln entwickeln sich ohne jedes theoretische Konzept aus der uns von den selbst gestellten Aufgabe, mit anderen Menschen in enger Verbindung zu leben und dafür zu sorgen, dass diese Verbindung nicht durch einzelne gestört wird, die diese Regeln zerbrechen. Im folgenden werden wir sehen, dass die Entwicklung moralischer Regeln nicht allein als bedeutende Kulturleistung betrachtet werden muss, sondern auch in uns biologisch/psychologisch tief abgesichert ist.

All das spricht dafür, den Begriff »Moral« nur auf ein Sozialverhalten zu beziehen, dass unter Menschen zu beobachten ist. Das wird schon von den frühesten Denkern als Grundstruktur des Verhaltens innerhalb der Gesellschaft erkannt und drückt sich etwa in der buddhistischen Regel aus, wir sollten Mitgefühl mit allem haben, was existiert. Dieser Satz wird in zweierlei Hinsicht oft missverstanden: Die einen sprechen von »Mitleid«, übersehen aber die darin liegende Herablassung, andere beziehen den Satz allenfalls auf Menschen und Tiere, nehmen aber nicht war, dass die anorganische Natur die Voraussetzung für unser aller Leben ist (kata physin zen)124. Auch sie ist auf unser Mitgefühl angewiesen, wie wir an den unfassbaren Schäden sehen können, die ein Raubbau von Rohstoffen für die Natur mit sich bringt.

24.2. Moralische Normen außerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge

Wenn man davon ausgeht, dass moralische Normen nicht in religiösen Vorstellungen verankert sein müssen, stellt sich die Frage, ob sie auch außerhalb gesellschaftlicher Zusammenhänge relevant sein können. Das behauptet die Systemtheorie:

»Moral ist eine symbolische Generalisierung, die volle reflexive Komplexität von doppelkontingenten Ego/Alter – Beziehungen auf Achtungsausdrücke reduziert und durch diese Generalisierung (1) Spielraum für Konditionierungen und (2) die Möglichkeit der Rekonstruktion der Komplexität durch den binären Schematismus Achtung/Missachtung eröffnet.«125

Gegen diese formale Beschreibung der Funktion von Moral ist nichts zu sagen, denn die oben beschriebenen Grundelemente Interdependenz, Reziprozität und Empathie genügen auch ihnen. Aber Moral erschöpft sich nicht in der Form, sie kann sich nur innerhalb der Strukturen bewegen, die unsere biologisch/psychologischen Wurzeln und unsere Sozialisation zulassen. Aus ihnen ergeben sich konkrete Wertvorstellungen, die wir entweder einhalten oder zerbrechen wollen. Moralische Regeln sind nicht beliebig, sie entstehen nicht nach den Mustern der Spieltheorie mehr oder weniger zufällig, sondern sie sind Versuche, die innerhalb der jeweiligen Rahmenbedingungen von Raum/Zeit/Kultur etc. als geeignet angesehen werden, um das Zusammenleben der Menschen innerhalb ihrer sozialen Beziehungen zu gestalten. Allerdings: Nietzsche hat schon recht: Wenn die Moral der Bourgeoisie nur aus nicht so ganz verstandenen Versatzstücken und Ritualen besteht, fesselt sie Dich und hindert Dich daran, zu erkennen, wo sie faul, brüchig und überholt ist und den Menschen mehr schadet als nützt.

Mit »Gesellschaft« ist in diesem Kontext jede Gruppierung gemeint, die die Fähigkeit entwickelt hat, den Individuen, aus denen sie besteht, eine soziale Identität zu vermitteln, die ebenso wie jede persönliche Identität eine Systemgrenze beschreibt. Das bedeutet gleichzeitig: Es muss erkennbare Grenzen zu anderen Gesellschaften geben, die eine jeweils abweichende Identität aufweisen. Die Identität kann sich aus kulturellen, sprachlichen, politischen oder anderen Eigenschaften zusammensetzen, und sie erreicht ihre Wirkung nicht zuletzt durch die Abgrenzung zu anderen, nicht mit ihnen identischen Gesellschaften.126

Aus dieser Einsicht entsteht eine Kommunikationskultur, die einen Schatten von Moral und Recht über die gesamte Gesellschaft legt, an dem die Gesellschaft sich instinktiv orientiert. Sie entwickelt ihre Stärke aus tiefen biologisch/psychologischen Wurzeln, die uns mit der Natur verbinden, und gleichzeitig aber eine Position außerhalb der Natur einzunehmen gestatten. Marquis de Sade127, der verzweifelt nach Gründen sucht, seine sado/-masochistischen Neigungen zu rechtfertigen, schreibt:

»Ich habe mich schon früh von den Hirngespinsten der Religion freigemacht und habe so schon in jungen Jahren die Überzeugung gewonnen, dass die Existenz des Schöpfers eine empörende Absurdität ist, an die selbst kleine Kinder nicht mehr glauben. So muss ich meinen Neigungen keinen Zwang antun, um der Natur zugefallen. Von der Natur habe ich diese Neigungen erhalten, also würde ich die Natur stören, wenn ich mich ihnen widersetzte. Wenn sie mir böse Neigungen verliehen hat, dann, weil sie diese braucht. In ihren Händen bin ich nur eine Maschine, die sie nach ihrem Belieben betätigt; so dient ihr jedes meiner Verbrechen.«

Der Fehlschluss, der in diesen Überlegungen liegt, ist offensichtlich: Ohne moralische Maßstäbe gibt das Wort »böse« gar keinen Sinn und es ist zwecklos, diese Maßstäbe zu leugnen, weil man in sich selbst immer eine der beiden Seiten wahrnimmt. Wenn jemand so geistesgestört ist, dass er überhaupt keine moralischen Maßstäbe mehr bilden kann (wie dies bei Serienmördern der Fall zu sein scheint), ist das kein Gegenbeweis, denn dann bewegen wir uns außerhalb moralischer Systeme. Zwar hat die Natur jedem seine Neigungen gegeben, aber sie hat ihm auch die moralischen Maßstäbe geliefert, um sie zutreffend zu beurteilen.

Die ungeheure Spannbreite, die wir zwischen einzelnen moralischen Systemen z. B. von hochkomplexen Industriegesellschaften bis hin zu einfach strukturierten Stammesgesellschaften beobachten, ist unverkennbar, aber in jedem dieser Systeme sind nur eine Handvoll Werte relevant: Einerseits werden sie von unseren biologischen und psychologischen Wurzeln beeinflusst, andererseits von gesellschaftlich definierten und eingeübten Verhaltensmustern. Die Behavioristen (Skinner und andere) sind immer wieder heftig dafür kritisiert worden, dass sie nur diesen Mustern Relevanz zuschreiben. Aber völlig ignorieren kann man sie keinesfalls.

Die oben zitierte Studie von Schwartz zeigt gleichwohl Ähnlichkeiten, also eine gewisse übereinstimmende Verankerung in der Realität (ethischer Realismus). Zwar kann der Einzelne für sich selbst die Entscheidung treffen, sich an keinerlei ethischen Werten zu orientieren, die andere akzeptieren (de Sade, Nietzsche), aber sobald er solche Gedanken in die Tat umsetzt, überschreitet er die Grenze des Ichs und betritt den Raum der Gesellschaft. Und in diesem Raum gelten jene Werte, die die Gesellschaft, in der er sich befindet, für richtig hält.

25. Moralische Regeln verändern sich in Gruppen

Wer handelt, wirkt immer – bewusst oder unbewusst – auf sich selbst und andere ein. Das eigene Denken wirkt sich nicht immer auf andere Menschen aus, verändert aber immer den Charakter des Handelnden. Die moralischen Maßstäbe, nach denen wir handeln, entwickeln sich zunächst in der Situationsanalyse und Gefühlswelt des Einzelnen in Bezug auf andere (denn von dort werden die Handlungen ausgelöst!) und kann auch ohne konkrete Formen kommunikative Wirkung entfalten. Man spürt, was für einen selbst (oder für die Gruppe) richtig oder falsch, was gut oder böse ist, ohne es begrifflich erfassen oder beschreiben zu können – Sozialisation entwickelt sich ähnlich wie die biologische Entwicklung überwiegend durch unbewusste Anpassung.

Um moralische Vorstellungen eines Einzelnen wirksam werden zu lassen, müssen sie sich mit einer erkennbaren Mehrzahl anderer decken und fähig sein, Macht zu entwickeln. Moral setzt sich innerhalb einer Gesellschaft in dem Maß durch, als die Gesellschaft Verstöße gegen die Regeln wirksam sanktioniert – oder dazu nicht fähig ist. Im Bereich des menschlichen Zusammenlebens ist Macht die relevanteste Kraft und damit befinden wir uns schon mitten in den politischen Ordnungen, die mit dem menschlichen Zusammenleben untrennbar verbunden sind.

Besonders wirksam sind der Gruppendruck und andere Elemente, die die Gesellschaft durch eine »unsichtbarer Hand«128 (Adam Smith) steuern. Nicht jeder Impuls des Willens, nicht jeder Aufruhr der Gefühle, nicht jeder Gedanke führt zu einer Entscheidung und nur sehr wenige Entscheidungen veranlassen uns zu einem individuellen Handlungsentschluss. Vor allem gewöhnliche Stereotype und gruppendynamische Zwänge veranlassen uns, so zu handeln, wie auch andere handeln. Aber auch in ungewöhnlichen Situationen, in denen die Gruppe gerade nicht weiß, was sie will, gleichwohl aber spontan reagiert, fehlen Zeit und Orientierung für eine eigene Entscheidung. Die Gruppendynamik kann die Qualität der Entscheidung steigern oder mindern und hat außerdem einen unmittelbaren Einfluss auf die Verantwortung, die wir für eine Entscheidung empfinden: Wer den Eindruck hat, die Gruppe habe moralisch wirksam für ihn entschieden, fühlt sich damit weniger verantwortlich für das, was geschieht129. Noch seltener sind Handlungen, die sich gegen allgemein verbreitete Muster, stereotype usw. wenden, Entscheidungen also in denen das ICH sich gegen die Gesellschaft stemmt. Fällt eine moralische Entscheidung gegen die Gruppe aus, steht jeder Einzelne unausweichlich vor einer tragischen Wahl: Mitmachen oder den Halt der Gruppe verlieren.

Schuld und Scham entfalten ihre Wirkungen abhängig von der Größe der Gruppe, auf die sie sich beziehen. Es sind Werkzeuge der Kommunikation, die die Struktur der Gruppe bestimmen. Bis zu einer Größe von unter 100 Menschen kann man davon ausgehen, dass alle relevanten moralischen Regeln bekannt sind und jeder jeden kennt – das Dorf. Wächst die Gruppe auf über 100-250 Menschen, wächst langsam die Unkenntnis der Regeln und die Anonymität130. Dann reicht die Moral allein nicht mehr zur Steuerung der Gruppe. Entweder bilden sich Untergruppen oder in größeren Einheiten müssen sich moralische Regeln zu Normen verdichten und andere Sanktionen entwickelt werden.

Wenn die Notwendigkeit einer moralischen Entscheidung nicht allein Sache des Einzelnen ist, sondern Bestandteil einer Gruppenentscheidung, ändern sich die moralischen Maßstäbe in Richtung auf das kleinste gemeinschaftliche Vielfache. Wer ein sensibles Gewissen hat und sich in der Gruppe mit großzügigeren Maßstäben konfrontiert sieht, steht häufig vor der tragischen Wahl, mit der Durchsetzung eigener Maßstäbe gleichzeitig gegen das Gebot der Solidarität mit den anderen zu verstoßen. Diesen Konflikt muss man vor Augen haben, wenn man das Verhalten des Einzelnen im Verhältnis zur Gruppe beurteilen will. (Die Mörder Caesars verabredeten, dass jeder von ihnen zustechen müsse, um so den gemeinsamen Entschluss und die Rechtfertigung der Tat zu besiegeln).

Die Experimente von Milgram131 und anderen haben gezeigt, dass die Einflüsse anderer Menschen, die Gruppendynamik und nicht zuletzt auch unbewusste Faktoren einen erheblichen Einfluss auf die Beurteilung eines bestimmten Verhaltens als moralisch und unmoralisch haben. Unter bestimmten Rahmenbedingungen ist es extrem schwierig, seine individuellen Moralvorstellungen aufrecht zu erhalten, so dass Menschen unter solchen Bedingungen anders entscheiden als im Übrigen (damit ist nicht gesagt, wie weit die persönliche Verantwortung für die eigenen Entscheidungen reicht – Kadavergehorsam ist heute moralisch nicht mehr unanfechtbar).

Die Tatsache, dass jede Gruppe sich aus den Grundelementen der Interdependenz, Reziprozität und Empathie sehr unterschiedliche moralische Systeme entwickelt, zeigt sich am deutlichsten im internationalen Vergleich. Unverkennbar haben sich in den modernen westlichen Gesellschaften beginnend mit der Renaissance, spätestens aber seit der Aufklärung andere moralische Werte etabliert, als wir sie z. B. in Asien kennen. Der Wert des ICH wird bei uns den Werten der Homogenität der Gesellschaft (ihrer »Reinheit«, wie manche Theorien sagen132) im Zweifel übergeordnet. Die Betonung individueller Rechtspositionen schwächt die Identität einer Gesellschaft und kann sich ihren Platz nur so lange erobern, als die Gesellschaft insgesamt davon profitiert, weil der Einzelne das, was er sich an Rechten erobert hat, bereit ist, auch anderen Einzelnen zukommen zu lassen.

Wenn diese Bereitschaft zusammenbricht, wie es vor allem in Zeiten der Krise, in zerfallenden Staaten und unter vergleichbaren Rahmenbedingungen der Fall ist, treten die Rechte des Einzelnen wieder zurück, vor allem die als allgemein gültig angesehenen Menschenrechte werden restriktiv interpretiert oder ganz geleugnet. Wer verstanden hat, dass die Idee einer Harmonie oder Reinheit der Gesellschaft der Erhaltung ihrer Identität dient, die sie vor allem in Krisenzeiten dringend nötig hat, wird solche Veränderungen besser verstehen und vor allem darauf vertrauen, dass sie sich ihrerseits wieder ändern werden. Aber da das länger als ein Menschenleben dauern kann, sind die Auseinandersetzungen erheblich. Kurz: Die moralische Schwierigkeit, Nein zu sagen ist unter den von der Gruppendynamik geschaffenen Rahmenbedingungen schwieriger als bei einer Einzelentscheidung.

26. Moral zwischen Pflicht und Neigung

»Es ist von der größten Wichtigkeit, in allen moralischen Beurteilungen auf das subjektive Prinzip aller Maximen mit der äußersten Genauigkeit acht zu haben, damit alle Moralität der Handlungen in der Notwendigkeit derselben aus Pflicht und das Achtung fürs Gesetz, nicht aus Liebe und Zuneigung zu dem, was die Handlungen hervorbringen sollen, gesetzt werde… Wenn der unglückliche, stark an Seele, über sein Schicksal mehr entrüstet als kleinmütig oder niedergeschlagen, den Tod wünscht und das Leben doch erhält, ohne es zu lieben, nicht aus Neigung oder Furcht, sondern aus Pflicht: Alsdann hat seine Maxime einen moralischen Gehalt.«133

Diese Überlegungen stützen sich auf Kants kategorischen Imperativ, dass jede von Dir selbst anderen gegenüber geforderte moralische Regel auch zum allgemeinen Gesetz werden und damit auch von Dir selbst ertragen werden muss. Das ist aus seiner Perspektive des Vernunftsrechts theoretisch überzeugend abgeleitet, aber in ihr erschöpfen sich moralische Regel nicht. Zwar entspricht sie dem Grundgesetz jeder sozialen Ordnung: Handlung und Reaktion müssen gleichgewichtig sein, jedem Nehmen muss ein Geben entsprechen und niemand darf einen anderen Menschen als Mittel zu seinen Zwecken gebrauchen, auch wenn es »gute« Zwecke sind. Aber unsere Entscheidungen werden nur äußerst selten von dieser Art Vernunft initiiert, viel häufiger entspringen sie aus instinktiv gesteuerten Reaktionen oder Gefühlslagen, die die Vernunft nicht immer korrigieren kann. Und sie versagt völlig im Bereich der Umkehrung der Werte134.

Jacques Lacan ist aufgefallen, dass Kants kategorischer Imperativ genauso unmenschlich ist, wie das Verhalten des Marquis de Sade, der die den Menschen wie einen Gegenstand behandelt, denn Kant stützt sein Modell allein auf die Vernunft, während ethische Regeln die Verhältnisse zwischen den Menschen auf die Erkenntnis unserer Abhängigkeit voneinander, auf das Gleichgewicht unsere Beziehungen und das Mitgefühl stützen. Dass all das unter anderem auch vernünftig ist, kann man nicht bestreiten, es ist nur eine Verstärkung des Modells, aber nur die Vernunft allein kann ethische Regeln nicht begründen. Jacques Lacan:

»Jedwedes Urteil über die infame Ordnung, die unsere Maxime inthronisieren würde, ist also indifferent, wenn es darum geht, dieser den Charakter einer als allgemeingültig angenommenen Regel zuzugestehen oder zu bestreiten, seit die Moral mit Kant als unbedingte Praxis der Vernunft gilt.
Man wird ihr diesen Charakter schon aus dem einfachen Grunde zuerkennen müssen, da ihre bloße Kundgabe (ihr Kerygma) zugleich die Kraft hat, sie zu etablieren – diese radikale Abweisung des Pathologischen, jeglicher Rücksicht auf ein Gut, eine Leidenschaft und sogar auf Mitleid ist eben jene Abweisung, durch die Kant das Feld des moralischen Gesetzes befreit –, und da die Form dieses Gesetz zugleich ihre einzige Substanz ist, sofern sich der Wille ihr verpflichtet, einzig indem er aus seinem Handeln jedweden Bestimmungsgrund/raison ausschließt, der nicht aus seiner Maxime selber folgt.
Zwar sind uns diese beiden Imperative, zwischen denen sich die moralische Erfahrung bis zum Zerreißen des Lebens spannen läßt, in der Form des Sadeschen Paradoxons wie vom Anderen und nicht wie von uns selbst auferlegt.«135

Dieser Text ist, wie so oft bei philosophisch schreibenden Franzosen (große Ausnahme: Jean-Jacques Rousseau!) praktisch unlesbar. Ich verstehe ihn nicht, ahne aber, was der Autor uns sagen will. Fest steht jedenfalls, dass die Art und Weise, wie der Marquis de Sade die Willkür gegenüber anderen Menschen feiert, gegen jede ethische Regel verstößt. Sie ist der Ausdruck des extremsten Individualismus, den man sich denken kann. Kann man also wie Jacques Lacan von »de Sades Ethik« sprechen? Das kann man, wenn man den Begriff Ethik genauso behandelt wie »Mathematik« – da gibt es auch negative Zahlen.

Über Kants nicht nur an der oben zitierten Stelle seines Werkes geäußerten Standpunkt, die Moral beginne erst dort, wo es weh tut136, hat sich schon Schiller in den Xenien 388 und 389 lustig gemacht. Die meisten Alltagsentscheidungen verlangen keinen ausdrücklichen Rückgriff auf moralische Kriterien, auch (und gerade) wenn wir uns unbewusst an ihnen orientieren. Wenn wir aber unsicher sind, wie wir uns entscheiden sollten, müssen wir die Pflichten, die sich aus moralischen und gesetzlichen Regeln ergeben, unter allen Umständen bedenken und bei unserer Entscheidung berücksichtigen.

Wir dürfen uns nicht leichtfertig über sie hinwegsetzen und wenn wir den Stachel im Fleisch spüren, können wir jedenfalls sicher sein, dass wir eine moralisch relevante Entscheidung getroffen haben: z. B. dem Bettler, der Dich in der U-Bahn erpresst (oder noch schlimmer, wenn Du eine Kirche verlässt), trotzdem Geld geben! John Rawls hat dieses Problem dadurch zu lösen versucht, dass er den Schleier des Unwissens um die eigenen Interessenkonflikte vor die Entscheidung hängt. Aber das funktioniert nur für die hochgerechnete Zukunft.

Kants These geht aber erheblich weiter. Er erklärt jede Entscheidung, die den eigenen Neigungen entspricht, für moralisch irrelevant, weil man sie nicht im Kampf gegen seine Neigungen getroffen hat: Die französischen Unternehmer, die von ihren Belegschaftsmitgliedern gefangen gesetzt werden, handeln nicht moralisch, wenn sie daraufhin die Löhne erhöhen, denn sie wollen sich damit ihre Freiheit erkaufen! Dieses Konzept übersieht, dass moralische Regeln – völlig unabhängig von ihrem jeweiligen Inhalt – stets das Spannungsverhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft im Auge haben. Manchmal begünstigen sie das Ich, manchmal fordern sie von ihm Verzicht auf eigene Interessen, manchmal betonen sie den Gedanken der Solidarität mit anderen. Moralische Regeln sind ebenso wie Gesetze abstrakt und schematisch, was gleichzeitig bedeutet, dass sie auf den jeweiligen Einzelfall nicht immer passen können. Auch eine im allgemeinen richtige moralische Regel kann in einer bestimmten Situation gegen das individuelle Gewissen verstoßen. Diesen Konflikt kann Kant mit seinen Überlegungen nicht lösen. Er fordert, dass man sich in jeder denkbaren Situation ausschließlich an den moralischen und gesetzlichen Regeln orientiert, auch wenn sie mit dem persönlichen Gewissen nicht übereinstimmen. Wir können die Gewissenslage nicht ignorieren, weil sie unsere Vorstellung von unserer individuellen Identität angreift. Kants These hingegen fordert Identifizierung mit dem Gesetz in allen Lebenslagen.137

Wenn wir aus Gründen von Fairness und Toleranz alle individuellen moralischen Maßstäbe für gesellschaftlich relevant erklärten, gefährdeten wir damit die Maßstäbe selbst. Immer geht es um ein komplexes und empfindliches Gleichgewicht zwischen der Freiheit des Einzelnen und den Rahmenbedingungen, unter denen sie sich in der jeweiligen Gesellschaft entwickeln kann.

Es gibt Fälle, in denen eine Entscheidung gleich welcher Art gegen moralische Regeln verstößt. Der typische Fall ist der Abschuss eines von Terroristen gekaperten Flugzeugs durch Streitkräfte. Diese Handlung ist rechtlich verboten und doch wird mancher Kampfpilot für sich persönlich eine andere Entscheidung treffen, die man für ihn selbst als moralisch gerechtfertigt ansehen kann.

27. Moralische Sanktionen – Schuld und Scham

Moralische Normen erstrecken sich über die gesamte Bandbreite menschlichen Verhaltens, sie umfassen die Ebenen des Privaten ebenso wie jene des Öffentlichen, sie machen nicht an den Grenzen des Staates halt. Verstöße gegen moralische Normen werden auf den unterschiedlichsten Ebenen sanktioniert. Moralische Sanktionen unterscheiden sich von rechtlichen Urteilen im Kern dadurch, dass sie keine ausdrückliche Entscheidung voraussetzen und niemand die absolute Autorität hat, sie zu vollstrecken. Das geschieht meist auf informelle Weise dadurch, dass die Gesellschaft durch einzelne – gelegentlich koordinierte – Maßnahmen der Verachtung Ausdruck gibt, die der Verstoß bei anderen Menschen ausgelöst hat. Das geschieht meist durch direkte oder indirekte Kritik, Isolierung, zeitweisen Ausschluss aus gesellschaftlichen Institutionen usw.

Die Grenze zu rechtlichen Verstößen erkennt man daran, dass die Sanktion nach definierten Regeln verläuft. Bei rechtlich relevanten Verstößen muss irgendjemand von Anderen das Recht erhalten, den ersten Stein zu werfen, auch wenn er selbst nicht schuldfrei, aber an dem Konflikt nicht beteiligt ist. Wenn der Verstoß gegen eine moralische Norm gleichzeitig eine Rechtsnorm verletzt, gilt in modernen Systemen die Regel: Wird der Normverstoß rechtlich geahndet, sollte er nicht auch noch moralisch bestraft werden.

Ob eine Verletzung sanktioniert wird oder nicht und wie die Sanktionen ausfallen, ist nicht nur von der moralischen Norm selbst abhängig, sondern von den Machtverhältnissen und vielen anderen Rahmenbedingungen – vor allem den persönlichen Beziehungen – die Grenzen sind fließend und es gibt große undefinierte und undefinierbare Bereiche, in denen die Anwendung dieser Normen bewusst oder unbewusst ungeklärt bleibt. Einer der klassischen Fehler ist unsere Neigung, den Splitter im Auge des anderen wahrzunehmen, den Balken im eigenen aber zu verdecken. Es gehört ein ordentliches Stück Selbstkritik dazu, sich selbst zum Gegenstand moralische Untersuchungen zu machen und dabei nichts zu beschönigen.

Moralische Sanktionen ändern sich in dem Spannungsfeld zwischen dem ICH und der Gesellschaft ständig. Einzelne bezeichnen das Verhalten und die Entscheidungen anderer als gut, wenn sie in ihrem Interesse liegen und als schlecht, wenn sie sie nicht respektieren. Andere hingegen Bedenken von vornherein den Einfluss ihrer Entscheidungen auf andere. Gruppen von Menschen verhalten sich vergleichbar gegenüber anderen Menschen und Gruppen.

Art und Umfang von Sanktionen hängen nicht zuletzt von der Frage ab, in welchem Umfang die Interessen Einzelner und jene der Gesellschaft übereinstimmen: Der Mörder, der Dieb, der Beleidiger verletzen nicht nur die Interessen eines einzelnen, sie stören gleichzeitig in nahezu allen Fällen auch den Frieden der Gesellschaft. In anderen Fällen verlangt die Gesellschaft von einzelnen ein Verhalten, das dessen Interessen völlig missachtet, ja sogar sein Leben gefährdet (z. B.: Wehrpflicht) und beurteilt alle, die sich solchen Regeln nicht fügen wollen, als schlecht.

Besonders problematisch sind moralisch äußerst rigide Menschen, die nicht mehr sehen können, dass auch andere Beurteilungen als ihrer eigenen möglich sind. Sie setzen ihre Maßstäbe durch, bis alles in Scherben fällt, unabhängig davon, welcher Schaden dadurch entstehen kann (St. Just, Robbespierre, Savonarola usw.).

Moralische Regeln werden allenfalls in sehr groben Zügen schriftlich niedergelegt (Zehn Gebote), aber welches Verhalten aus ihnen konkret abzuleiten ist, unterliegt den jeweiligen – selten dokumentierten – Konventionen. Die Erziehung der Kinder soll dafür sorgen, dass sie als selbstverständliche Elemente unseres täglichen Lebens verstanden werden, wobei die beste Art der Erziehung das Vorbild ist. (Die meisten Erziehungsprobleme entstehen, wenn die Erzieher etwas anderes tun, als sie sagen). Auf Verletzungen dieser Regeln reagieren wir mit Schuld und/oder Scham. Schuld ist Abgrenzung, Scham Verlust der Abgrenzung.

Schuld knüpft an die Erkenntnis, dass wir anders hätten handeln können, dass jeder einzelne über den freien Willen verfügt, moralisch zu handeln und es im konkreten Fall nicht getan hat. Auch wenn wir nicht wissen können, ob wir tatsächlich über einen freien Willen verfügen, so haben wir doch ein »Freiheitserlebnis«, an das die Sanktionen anknüpfen können. Schuldgefühle kann man ganz für sich selbst entwickeln, so vor allem, wenn man gegen eigene moralische Regeln verstoßen hat, die aber niemandem bekannt geworden sind. Schuld konzentriert sich auf das ICH.

Die Scham138 lässt die Frage einer persönlichen Verantwortung überwiegend offen, manchmal verdeckt sie sie sogar. Sie entsteht erst, wenn andere von einem Bruch moralischer Regeln erfahren139. Hier geht es nur um die Reaktion der Gesellschaft. Es kommt nicht darauf an, ob und inwieweit ein Einzelner Schuld auf sich geladen hat, sondern inwiefern er durch sein Verhalten die Harmonie der Gesellschaft stört. Scham ist die Reaktion auf den Gesichtsverlust. Sie «regt sich typischerweise dann, wenn das Ich die Gefahr spürt, dass seine Grenzen sich auflösen.«140

Im Spannungsverhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft steht die Schuld also aufseiten des ICH und die Scham aufseiten der Gesellschaft. Schuld ist Abgrenzung, Scham Verlust der Abgrenzung. Stellt man beide gegenüber, so ergibt sich folgendes Bild141:

Schuld Scham
Wollen Sein
Gerechtigkeit Reinheit
Vernichtung Verachtung
Stärke Schwäche
Abgrenzung Auflösung

Wenn ein moralisches System sich mehr an der Schuld als an der Scham orientiert, wird es der Gerechtigkeit mehr Aufmerksamkeit widmen als der Idee der Reinheit, es wird einen stärkeren moralischen Willen verlangen und es wird der Strafe mehr Raum geben als der Verachtung. Die Voraussetzung dafür ist das Bestehen eines allgemein anerkannten Rechtssystems und ein überwiegendes Verständnis für die Rechte und Pflichten des einzelnen. In segmentären Gesellschaften, in denen es mehr auf die Wahrung des Gesichts ankommt, überwiegen die Schamkulturen.142

Die Unterschiede zwischen beiden Kulturen erkennt man überdeutlich an den moralischen Strukturen von Minderheiten, also kleineren Gesellschaftssystemen, die innerhalb größerer Systeme um ihre Identität ringen müssen. Sie können nur überleben, wenn sie in hohem Maß nach innen geschlossen sind und sich nach außen abgrenzen. Beide Haltungen – führen zwangsläufig seinem starken Spannungsverhältnis zu den sie umgebenden Gesellschaften. Wir sehen sie bei ethnischen Minderheiten, kleinen religiösen Gruppen, Einwanderern, sozial ausgegrenzten Menschen (Punker, Obdachlose, Jugendgruppen), nicht zuletzt aber in jeder Art von Geheimgesellschaft, die sich wie etwa die Mafia, libanesische Gangster, die chinesischen Triaden oder die japanischen Yakuza in den jeweiligen Gesellschaften einnisten. Sie verfügen über starke Rituale (Uniformen, Tätowierungen, Körperschmuck, Kleidung, Auftreten in der Öffentlichkeit und im eigenen Kreis usw.) und entwickeln einen intern gültigen Gerechtigkeitsbegriff, der immer die Hierarchie und die Stärke der Gruppe als höchsten Wert definiert und den Interessen des Einzelnen wenig Raum gibt. Schamgefühle dürfen sich nur nach innen, niemals aber nach außen richten.

Wenn man diese Gruppierungen von außen betrachtet, würde man ihnen eine moralische Haltung vollkommen absprechen, weil ihr Verhalten sich gegen die Gesellschaft richtet, die sie umgibt. Man muss aber immer verstehen, dass die starke Abgrenzung dieser Gruppen es möglich macht, einen gespaltenen Moralbegriff zu verwenden.

28. Die Relativitätstheorie von Moral und Gerechtigkeit

Ich habe oben im Einzelnen beschrieben, dass unsere Urteile über das Verhalten von Menschen im Kern von den kulturellen, politischen, sozialen Vorstellungen über die Inhalte von Moral und Gerechtigkeit geprägt werden, die auch das Verfahren umfassen, in dem solche Entscheidungen getroffen werden. Diese Rahmenbedingungen werden innerhalb jeder einzelnen Gruppe, in der sie relevant sind, anders behandelt als außerhalb der Gruppe, wechseln ständig, sind inhaltlich unklar und das vieles von dem, was unsere moralischen und rechtlichen Vorstellungen beeinflusst, liegt im Unterbewussten.

Es gibt keinen Begriff von Moral oder Gerechtigkeit, der in allen Räumen und Zeiten unter den unterschiedlichsten Lebensbedingungen der Menschen Gültigkeit gehabt hätte. Niemand hätte im antiken Rom die Berechtigung der Sklaverei angezweifelt, nur wenige im alten Russland die Leibeigenschaft, obwohl sie zu Beginn des 19. Jahrhunderts in allen anderen Ländern abgeschafft worden war. Analysiert man aber das Verständnis dieser moralischen Regeln auf dem Hintergrund der jeweiligen Zeit, kann man erkennen, dass auch die für uns heute unakzeptablen moralischen Auffassungen nicht gegen die auch damals schon gültigen Grammatiken von Moral (Interdependenz, Reziprozität, Empathie) und Gerechtigkeit (Gleichheit, Fairness, Empathie) verstoßen haben. Das gilt auch für die Gegenwart: Auch heute gibt es keine Einigkeit darüber, ob z. B. die Todesstrafe der Moral und/oder dem Recht im Allgemeinen entspricht. In vielen Ländern wird hält man sie für gerecht – und damit auch für moralisch richtig.

Um herauszufinden, was wir heute unter Moral und Gerechtigkeit verstehen, muss man versuchen alle Faktoren, die diese Begriffe beeinflussen zu ermitteln. Dazu gehören unsere Natur, die Umwelt, in der wir leben, die gesellschaftlichen Strukturen, deren Teil wir sind und schließlich unsere persönlichen Eigenschaften und Entscheidungen. Noch schwieriger ist es, uns eine Vorstellung von der relativen Bedeutung dieser Begriffe für andere Räume und Zeiten zu verschaffen, die uns nur unvollkommen überliefert worden sind.

Aber in allen Räumen und Zeiten werden diese Begriffe Interdependenz, Reziprozität und Empathie (Moral) und Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit (Gerechtigkeit) umfassen. Aus diesen wenigen Elementen entstehen unter stets wechselnden Rahmenbedingungen unseres sozialen und politischen Lebens aus ein und denselben Grundelementen verschiedene Produkte. Auf ähnliche Weise stellen wir Bier und Brot her: Es kann hell oder dunkel, süß oder salzig, weich oder hart ausfallen und trotzdem dürfen alle diese Produkte denselben Oberbegriff tragen, weil die Elemente, aus denen sie bestehen, die gleichen sind.

Moralische Regeln sind immer das Ergebnis ihrer konkreten Gestaltung unter den jeweiligen Bedingungen von Raum, Zeit und Gesellschaft usw., Wir können dabei nicht versuchen, Moral und Gerechtigkeit »zu erjagen« (wie Platon bemerkt hat), sondern müssen sie in jedem Einzelfall anhand derjenigen Kriterien herstellen, die die im Entscheidungszeitpunkt von uns anerkannten Gesetze und ihre Interpretation, unser Selbstbewusstsein und unsere gesellschaftliche Struktur uns als zutreffend nahelegen. Eine Entscheidung, die wir heute treffen, wäre vor nur 100 Jahren, geschweige denn vor 10.000 Jahren anders ausgefallen als heute. Und heute fällt sie in dem einen Land so und in dem anderen Land anders aus. Gegenüber Menschen, die der gleichen Gruppierung angehören, wie wir selbst, wenden wir andere Maßstäbe an als gegenüber Fremden.

Diese Einsicht ist für viele Menschen unerträglich, die der Meinung sind, ihre jeweilige Interpretation der Begriffe von Moral und Gerechtigkeit müsse sich jedenfalls langfristig als Modell weltweit durchsetzen lassen. Francis Fukujama glaubt, die westlichen Werte wären den anderen so weit überlegen, dass sie sich als endgültiges Modell für alle Menschen unter allen Umständen am Ende durchsetzen würden143. Dieser Meinung waren gewiss auch die Philosophen im klassischen Griechenland (vor allem Platon), denn wenn sie ihre Systeme mit den politischen Systemen der »Barbaren« verglichen, mussten sie sich ihnen weit überlegen fühlen.

Auch heute halten wir die Diktaturen im Osten (und in Südamerika) für barbarisch, weil sie den Wert des Individuums, jenes »Spätlings der Menschheitsgeschichte«144, missachten, aber wir können nicht wissen, ob sie nicht gerade dadurch langfristig erfolgreicher sein werden, als die von der Aufklärung geprägten westlichen Systeme. Die Demokratien und die Marktwirtschaft sind in der Erfahrung der Menschen untrennbar miteinander verbunden und haben sich bisher erfolgreicher gezeigt als andere Systeme. Sobald eine Gesellschaft sich aber gefährdet fühlt, setzt sie ihre Interessen gegenüber dem Einzelnen immer vorrangig durch und wir alle akzeptieren es, weil wir wissen, dass nur die gesellschaftliche Kooperation uns retten wird. Da unsere Erfahrung uns lehrt, dass die Ausfüllung der Leerformeln von Moral und Gerechtigkeit in der Vergangenheit anders ausgefallen ist wie heute, ist zu erwarten, dass sich das Spannungsfeld zwischen dem ICH und der Gesellschaft niemals endgültig auflösen kann.

29. Moralische Probleme gerecht lösen

Wir stoßen fast täglich auf irgendein moralisches Problem, das uns beschäftigt und über das wir nachdenken. Denken heißt aber noch nicht entscheiden und entscheiden noch nicht handeln. Um das zu können müssen wir uns in einem – oft unbewusst nachvollzogenen – zweistufigen Verfahren sechs Fragen stellen. So gewinnen wir Maßstäbe für die politischen und kulturellen Konstruktionen, die wir im Auge haben.

29.1. Erste Stufe: Interdependenz, Reziprozität und Empathie

Auf der ersten Stufe geht es um Interdependenz, Reziprozität und Empathie. Diese Maßstäbe werden aus drei Fragen entwickelt:

Sind wir uns bewusst, dass jeder von uns individuelle Ziele vor Augen hat? Wir wollen die »freie Entfaltung der Persönlichkeit« (Art. 2 GG) oder anschaulicher gesprochen: “the right to define one’s own concept of existence, of meaning, of the universe, and of the mystery of human life”145, müssen aber gleichzeitig akzeptieren, dass dies nur in Abhängigkeit von vergleichbaren Konzepten anderer Menschen/Gruppen/Institutionen und innerhalb von Grenzen möglich ist, die uns die Natur und andere Menschen setzen (Interdependenz). Wer als Einzelner nicht versteht, dass er in einem untrennbaren Zusammenhang mit der Natur und anderen Menschen lebt (kata physin zen – Chrysippos) und sich daraus die Pflicht ergibt, würdig zu leben (honeste vivere – Cicero), kann allgemein gültige moralische Regeln weder entwerfen noch nach ihnen leben.

Wir müssen uns bewusst werden, dass nicht nur alle daran Beteiligten, sondern auch zahllose andere Menschen, die Natur und alle Gegenstände, die auf unser Leben Einfluss haben direkt oder indirekt von der Entscheidung getroffen sein werden? Um dieses Bewusstsein hervorzurufen, müssen wir allerdings die Elemente, die wir berücksichtigen wollen, bewusst beschränken, weil wir sonst keine konkrete Entscheidung treffen können.

Berücksichtigt die geplante Entscheidung das Grundgesetz von Geben und Nehmen, im positiven wie im negativen Sinn? Erhält also derjenige, der gibt, mindestens Respekt und Dank, für das, was einem anderen zugutekommt? Und sind moralische Sanktionen eine äquivalente Antwort auf Verletzungen? (Reziprozität). In vielen Fällen werden Leistung und Gegenleistung nicht direkt zwischen zwei Menschen ausgetauscht werden, und sie werden zueinander nicht immer äquivalent sein. Auch Toleranz beruht auf diesem Prinzip: Wer anderen die »Freiheit für die Gedanken, die wir hassen«146 nicht einräumen will, kann selbst keine Toleranz beanspruchen.

Treffen wir unsere Entscheidung allein nach abstrakten, logischen Regeln, oder entwickeln wir ein Gefühl dafür, wie die Entscheidung von denjenigen gesehen wird, die sie unmittelbar betrifft? Ohne Mitgefühl (Empathie) kann man diese Frage nicht beantworten. Schon jetzt erledigen Maschinen einen Großteil technischer Leistungen und in naher Zukunft werden wir sehen, dass sie auch Probleme lösen können, die Intelligenz erfordern. Aber es ist sehr unwahrscheinlich, dass man Mitgefühl programmieren kann.147

Diese ersten Fragen liefern uns drei Maßstäbe, die wir auch unter hochentwickelten Primaten beobachten, sind grammatische Werkzeuge, (universale Moralgrammatik), die von uns auf eine sehr viel höhere Qualitätsebenen gehoben werden. Mit ihrer Hilfe können wir unter den unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Zeit, Raum, Kultur und anderen Faktoren verschiedene »Sprachen« der Moral entwickeln, die sich zwar untereinander unterscheiden, aber immer an diesen drei Elementen orientieren. Ein Beispiel: In Ländern, die eine Rentenversicherung eingeführt haben, wird die Verpflichtung der Kinder gegenüber ihren Eltern, diese im Alter finanziell zu unterstützen, weitgehend durch staatliche Normen ersetzt. So verändert sich auch das moralische Verhältnis zwischen beiden und deckt sich nicht mehr mit dem Verhalten von Kindern zu Eltern in Ländern, in denen es keine Rentenversicherung gibt. Beide Systeme beruhen aber auf der Grundidee vom Geben und Nehmen. Sie sorgt dafür, dass die Festlegung und/oder Änderung moralischer Normen nicht willkürlich geschieht, sondern unterdefinierten Perspektiven vorgenommen wird, die tief in unserer biologisch/psychologischen Natur verwurzelt sind.

Das geschieht auf weit höheren Qualitätsebenen als unter Primaten, weil wir die Freiheit haben, die Wirklichkeit und uns selbst zu betrachten, zu analysieren und in Extremfällen diese Regeln zu verwerfen. Wir bilden Theorien (und verwerfen sie) und bewerten sie nicht nur nach ihrer Zweckmäßigkeit (Utilitarismus). Wir werden dabei von vielen unbewussten Faktoren gelenkt, die unsere Gefühle bestimmen und lassen uns auch von ästhetischen Kriterien leiten.

Die Begriffe Interdependenz, Reziprozität und Empathie sind so weit gefasst (Leerformeln) dass sie die unterschiedlichsten – auch widersprüchliche – Interpretationen zulassen, erlauben aber immerhin negative Abgrenzungen. Sie sind nicht von Widersprüchen frei: Wer die Verbindung aller mit allen in den Vordergrund stellt, wird Leistung und Gegenleistung anders beurteilen als jemand, der das nicht tut. Für viele Menschen sind fremde Kulturen und die für sie relevanten moralischen Sprachen unverständlich. Aber es ist schwer denkbar, dass irgendein moralisches System sich darüber hinwegsetzen könnte, dass wir alle voneinander abhängig sind, dass in jeder Leistung die Erwartung einer Gegenleistung steckt und wir unsere Gefühle respektiert sehen möchten.

Wenn Menschen in Gruppen auftreten, verändern sich ihre individuellen moralischen Vorstellungen durch Anpassung an das, was die Gruppe für richtig hält. Daraus können sich fehlgeleitete Regeln entwickeln, die schwer zu korrigieren sind, solange sich die Machtverhältnisse nicht ändern.

Für das Zusammenleben von Menschen in kleinen überschaubaren Gruppen, in denen jeder jeden kennt, sind moralische Maßstäbe ausreichend, um für eine soziale Ordnung zu sorgen, weil jeder Einzelfall innerhalb der Gruppe sichtbar geregelt und sanktioniert werden kann (Palaver). In ihnen entwickeln sich keine differenzierten sozialen Systeme, vor allem keine Rechtsysteme.

29.2. Zweite Stufe: Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit

Menschen haben die Freiheit, die Regeln, die sie selbst aufgestellt haben, zu brechen und sorgen so für Konflikte, die wir in der Natur so nicht beobachten können. Interdependenz, Reziprozität und Empathie werden unterschiedlich interpretiert, widersprechen einander oder führen aus zahllosen anderen Gründen nicht zu eindeutigen Ergebnissen. Sehr oft stehen wir vor einer tragischen Wahl, bei der wir uns bei jeder Alternative, über die wir nachdenken, in einem moralischen Dilemma befinden und das Gefühl haben, uns durch jede Entscheidung – sie mag ausfallen, wie sie will – schuldig zu machen. In solchen Fällen brauchen wir drei weitere Maßstäbe, nämlich um Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit. Sie entwickeln sich aus folgenden Fragen:

Ist ein Mensch, sind Tiere, Phänomene und Gegenstände miteinander vergleichbar und können wir hinreichend sicher feststellen, ob die Gleichheit größer ist als die Ungleichheit? (Gleichheit) Die Behauptung, ein Mensch, ein Phänomen, Gegenstand usw. sei gleich mit einem anderen zu behandeln, ist gleichzeitig eine Entscheidung darüber, dass andere Menschen, Phänomene, Gegenstände etc. nicht gleich sind. Allein diese Feststellung kann es sehr schwer machen, über Gleichheit etwas Endgültiges zu sagen.

Berücksichtigt die Entscheidung die Perspektiven aller, die von der Entscheidung betroffen sein werden? Fairness berücksichtigt nicht nur die Äquivalenz des Gebens und Nehmens, sondern eröffnet den Blick auf alle Interessen, die die Beteiligten bewegen. Was darunter im Einzelfall zu verstehen ist, hängt davon ab, in welchem Kontext der Begriff benutzt wird. In der Politik ist er ein rhetorischer Appell; überall da, wo unser soziales Leben verrechtlicht ist (wenn also der Schatten des Rechts über ihm liegt), ist Fairness ein Maßstab, der im konkreten Fall ausgefüllt werden muss.

In welches Verhältnis sollen wir Gleichheit und Fairness zueinander setzen? Ausgewogenheit ist das Gegenstück zu allen Absolutheitsansprüchen, so vor allem ideologisch gesteuerten Argumenten, Prinzipienreiterei usw. Ein Beispiel: Der Konflikt zwischen zwei – jeweils für sich überzeugenden moralischen – Kriterien: »Jedem das Seine« und »Jedem das Gleiche« kann nur aufgelöst werden, wenn man Fallgruppen bildet, in denen entweder der eine oder der andere Maßstab für ausgewogen gehalten werden.

Wenn moralische Entscheidungen den sechs Maßstäben der Interdependenz, der Reziprozität und der Empathie, der Gleichheit, der Fairness und Ausgewogenheit entsprechen, bezeichnen wir sie als gerecht und zwar in jedem denkbaren politischen, sozialen oder kulturellen Kontext.

Innerhalb von Rechtssystemen ist der Maßstab der Gerechtigkeit an jede Entscheidung innerhalb und außerhalb der Gerichtssphäre anzulegen. Sein Inhalt wird durch Normen und Gerichtsentscheidungen ausgelegt, die für nachfolgende Entscheidungen als Vorbilder (Präjudizien) dienen. Hier ist die Forderung nach Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit leichter zu erfüllen als außerhalb von Rechtssystemen, weil Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter ihr ganzes Berufsleben auf die Aufgabe konzentrieren, Gerechtigkeit herzustellen. Wir sind es, die sie gestalten, außerhalb unserer Bemühungen existiert sie nicht.

30. Zwei Beispiele: Israel/Arabien – Russland/Ukraine

Zahllose politische Konflikte werfen moralische Probleme auf, die unter den jeweils herrschenden Rahmenbedingungen nicht lösbar erscheinen. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass unter günstigen kommunikativen Bedingungen Entscheidungen gegen Gewalt und Terror getroffen werden können, die von Mehrheiten akzeptiert werden, wie viele historische Beispiele zeigen:

  • Die Schweiz brauchte nach der Trennung vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation etwa 250 Jahre, um sich von den ersten Anfängen der Unabhängigkeit bis zur jetzigen Staatsform zu entwickeln. Die unbedingte Voraussetzung dafür war die stillschweigende Übereinkunft, dass das Existenzrecht der einzelnen Kantone nicht bestritten würde.
  • Sowohl in Nordirland (Karfreitag 1998) wie in Katalonien (2011/2017) konnten die Forderungen der Separatisten in wichtigen Punkten erfolgreich sein, nachdem eine Vereinbarung über das Ende der terroristischen Aktivitäten getroffen worden war.
  • Die Tschechei und die Slowakei trennten sich 1992 ohne gewalttätige Ausnahmesetzungen in einer Zweistaatenlösung.
  • Mitten in Europa gibt es auch heute wieder zahllose Bestrebungen nach politischer Eigenständigkeit, selbst z. B. im Verhältnis von Schottland und Wales zu England. Man kann sich schwer vorstellen, dass es hier zu terroristischen Akten kommen wird.
    In vielen dieser Konflikte kämpfen einzelne Gruppen um ihre politische Selbstständigkeit, weil der Staat, dem sie leben, ihre kulturelle Identität verachtet, bekämpft und das Existenzrecht dieser Kulturen grundsätzlich bestreitet. Positive Rahmenbedingungen, in denen Gewalt verhindert werden kann, können nur in definierten Verfahren hergestellt werden, in denen sich dieses Verständnis ändern lässt. Dazu kommt es aber solange nicht, als nicht einmal die für ein Verfahren erforderlichen Schritte abgestimmt werden können.

Im Fall des Konflikts zwischen Israel und den arabischen Staaten ist es ebenso wie im Fall Russland/Ukraine nicht gelungen, solche Verfahren so zu beginnen und abzuschließen, dass sie nachhaltig für Frieden sorgen. Der Grund: Allen beteiligten Parteien sind die Maßstäbe nicht klar, anhand deren eine Entscheidung für alle moralisch akzeptierbar ist, und/oder sie wollen sie aus politischen Gründen nicht anwenden.

  • Die erste Grundvoraussetzung wäre es, zu akzeptieren, dass alle Menschen, die in dieser Region leben, voneinander abhängig sind (Interdependenz). Das kann sowohl in einer Zweitstaatenlösung wie in einem einheitlichen Staat mit starkem Minderheitenschutz geschehen.
  • Sodann müsste für jede einzelne Entscheidung eine Lösung gesucht werden, bei der die Seite, die etwas erhält, der anderen Seite auch etwas gibt (Reziprozität). Ein gutes Beispiel für Kämpfe um kulturelle Identität ist der Zugang zum Tempelberg in Jerusalem, um den Juden und Muslime streiten. Lange Jahre spielte dieser Konflikt keine herausragende Rolle, aber die dazu erforderlichen Regeln sind zusammengebrochen.
  • Lösungen werden nur gelingen können, wenn jede Seite die Interessen der anderen Seite nicht nur nach der Logik der Macht, sondern auch nach der emotionalen Akzeptanz (Empathie) bewertet.

Beide Fälle unterscheiden sich von anderen auch durch die Tatsache, dass es einen plötzlichen aktuellen Angriff einerseits Russlands auf die Ukraine (2022) andererseits der Palästinenser auf Israel (2023) gibt. In der Öffentlichkeit wird heftig darüber gestritten, ob und in welchem Umfang man darüber sprechen dürfe, ob die angegriffene Partei ihrerseits zu dem Konflikt beigetragen habe. Tatsächlich gibt es keinen Zweifel daran, dass jeder, der angegriffen wird, sich in einer Notwehr–und/oder Nothilfesituation befindet, was gleichzeitig Notwehrexzesse und Putativnotwehrsituationen rechtfertigt oder entschuldbar macht. Diese Lage besteht jedenfalls so lange, als der Angreifer seine Aggressionen nicht einstellt. Wenn also der Ukraine oder Israel die Verletzung des Völkerrechts gegenüber den Angreifern vorgeworfen wird, so spielt die Frage der Notwehr eine entscheidende Rolle. Die öffentliche Diskussion ignoriert sie. Eine ganz andere Frage ist die Forderung, die Meinungsfreiheit über die Konflikte als politisch unkorrekt einzuschränken. Das halte ich für unzulässig. Es ist allenfalls eine Frage des politischen Stils, ob man diejenigen kritisiert, die die Angegriffenen dazu nötigen wollen, sich in dieser Situation an der Ursachenforschung zu beteiligen.

Auf beiden Seiten gibt es zahllose Initiativen, die bisher von den jeweiligen politischen Institutionen nicht unterstützt werden: »selbst heute gibt es kleine Gruppen jüdisch-palästinensischer Solidarität. Sie müssen die Basis für eine politische Alternative erarbeiten.«148 gegen politische Hauptströmungen und die sich in ihnen bildenden Machtverhältnisse können solche einzelnen Initiativen sich aber nie durchsetzen: Macht ist immer stärker als Moral und Recht, solange sie sich selbst nicht durch sie beschränken lassen will.

Innerhalb dieser Kommunikationsversuche werden unvermeidlich zahllose Konflikte offenbar werden, die man nur lösen kann, wenn man neben der Urgrammatik der Moral auch die differenzierten Elemente der Gerechtigkeit, also die Gedanken der Gleichheit, der Fairness und der Ausgewogenheit in die Debatte zu bringen vermag. Von solchen Versuchen sind wir noch weit entfernt. Sie könnten niemals unter der Drohung von Terrorangriffen gelingen, denn die Ausgewogenheit kann nur jemand finden, der selbst ausgewogen zu handeln imstande ist: »Es gibt weniges auf der Welt, das wirklichen Zorn wert ist und gerade diese Probleme werden allein durch Zorn nicht lösbar«149. Der Grund: Jede denkbare Lösung muss gleichzeitig von den Menschen akzeptiert werden, die tatsächlich gemachten der Hand haben. Wie wir oben gezeigt haben, ist deren Bereitschaft, sich von moralischen und rechtlichen Überlegungen lenken zu lassen, nicht immer vorhanden. Solange das der Fall ist – so scheint es derzeit – müssten wir anerkennen, dass wir tatsächlich vor einem (derzeit) unlösbaren Problem stehen.

  • 1. Gottfried Benn, Gedicht: Menschen getroffen.
  • 2. Kung-Fu-Tse Lunyu (Gespräche) Buch 4.15, Diederichs 2008, S. 63.
  • 3. Immanuel Kant: AA IV, 421[3].
  • 4. Harry Graf Kessler Tagebuch 05.06.1898, Tagebücher Bd. III Cotta 2004, Seite 151.
  • 5. Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit? Reclam 2000 Seite 52.
  • 6. Carl Schmitt hat in seiner Schrift »Der Begriff des Politischen« ((1932) Nachdruck Duncker & Humblodt 5. Aufl. 2002, S. 26 ff.) diese Unterschiede für die allein maßgebenden erklärt. Auch wenn man die Unterscheidung zwischen Freund und Feind nicht als dominant ansehen will, bilden sie doch allein deshalb den Kern des Politischen, weil sie in uns biologisch/psychologisch abgesichert sind (siehe unten zur Urgrammatik der Moral).
  • 7. Max Weber Wirtschaft und Gesellschaft, Grundriss der verstehenden Soziologie (1922), Mohr Siebeck Studienausgabe 5. Auflage 2002, § 16.
  • 8. Hans Kelsen: Reine Rechtslehre (1934), Nachdruck Mohr Siebeck 2008 S. 28.
  • 9. Jan Assmann: Ma'at S. 258.
  • 10. Andreas Anter: Die Macht der Ordnungen, Mohr Siebeck 2004, S. 160 f.
  • 11. Jan Assmann (S. 29, FN. 35) weist auf Wittgensteins Satz hin »Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen« (Tractatus § 6.41), der in diese kosmische Konstruktion nicht hineinpasst.
  • 12. Jan Assmann: Ma'at S. 18 FN. 8.
  • 13. https://www.t-online.de/leben/reisen/reisetipps/id_84206954/geklaute-str...
  • 14. Susan Neimann: Das Böse Denken, aufregendes erlebt Herr Runge richtiger, Kessel die Klage sieht und kann S. 17.
  • 15. von der Pfordten hat diese »Dreizonen – Theorie« in seinem Buch »Rechtsethik« C. H. Beck 2. Aufl. 2011 Seite 461 ff. näher dargelegt und begründet.
  • 16. Marcus Düwell: Bioethik Metzler 2008, Seite 31 ff.
  • 17. Typischer Fall: Wittgensteins Vortrag über die Ethik Vortrag über Ethik – The Ludwig Wittgenstein Project: »Nun, anstatt zu sagen, »die Ethik ist die Untersuchung dessen, was gut ist«, hätte ich sagen können, die Ethik ist die Untersuchung dessen, was wertvoll ist oder was sehr wichtig ist; oder aber ich hätte sagen können, die Ethik ist die Untersuchung des Sinns des Lebens oder des lebenswerten Lebens oder des richtigen Lebens. Ich glaube, wenn Sie sich all diese Phrasen anschauen, bekommen Sie eine ungefähre Idee des Gegenstands der Ethik.«
  • 18. Brief an den russischen Kanzler Graf Golowkin vom 19.11.1724 über die Gründung einer Wissenschaftsakademie in Russland; cit. nach Kertscher: Christian Wolff, Mitteldeutscher Verlag 2018, Seite 156 f.
  • 19. E. O. Wilson: Die soziale Eroberung der Erde. 2013, S. 232.
  • 20. E. O. Wilson: Der Sinn des menschlichen Lebens, C.H. Beck 2015 Seite 33, 58.
  • 21. Hans Kelsen widerlegt jede von ihnen wenigen Sätzen in: Was ist Gerechtigkeit? Seite 32 ff.
  • 22. Robert Sapolsky, Gewalt und Mitgefühl, Hanser 2017.
  • 23. Norbert Bischof, Moral S. 233 ff.
  • 24. Edward O. Wilson: »Moralisches Denken ist auf jeder Ebene naturwissenschaftlich erklärbar« (Die Einheit des Wissens. Siedler, Berlin 1998, S. 317–332)
  • 25. von der Pfordten: Rechtsethik, C. H. Beck, 2. Aufl. 2011 Seite 461 ff.
  • 26. Codex Hammurabi (circa 1900 v.Chr.) Das Gesetzbuch des Hammurabi (@ by Edition Alpha et Omega) (koeblergerhard.de).
  • 27. Robert Sapolsky: Gewalt und Mitgefühl, Hanser 2017, Seite 240.
  • 28. Überblick: Philosophie der Gerechtigkeit – Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Herausgeber: Christoph Horn und Nico Scarano, Suhrkamp 6. Aufl. 2013; Jüngere Einführungen: Otfried Höffe: Gerechtigkeit, CH Beck 4. Aufl. 2010; Ronald Dworkin: Gerechtigkeit für Igel, Suhrkamp 2014.
  • 29. Platon, Politeia IV (432 e).
  • 30. Benno Heussen: Interessante Zeiten – Reportagen aus der Innenwelt des Rechts.
  • 31. Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, 5 Bände, Mohr Siebeck 1975; Modes of thought- A Study in the Anthropology of Law and Religion, Mohr Siebeck 1995; Globale Gerechtigkeit zwischen Rechtsangleichung und Kulturenvielfalt (Vortrag) Universitätsverlag Bamberg: Globale Gerechtigkeit 2001; Zur Anthropologie der Körperschaft: Polis, Genossenschaft, Tewa Pueblo. (ein Feldforschungsbericht). München: Beck (Sitzungsberichte). (1995); Law and anthropology. Outlines, issues, and suggestions. München: Bayerische Akademie der Wissenschaften; In Kommission beim C.H. Beck (Abhandlungen / Philosophisch-Historische Klasse, Bayerische Akademie der Wissenschaften, n.F., Heft 132). (2009).
  • 32. cit.n. Volker Reinhard: De Sade – oder die Vermessung des Bösen, C.H. Beck 2014, Seite 146.
  • 33. Heinrich Heine, Aphorismen und Fragmente, Sämtliche Werke IV, S. 711 ff.
  • 34. Charles Darwin zwei Jahre nach der Rückkehr von der Beagle im Tagebuch, cit.n. Ian McEwan: Erkenntnis und Schönheit, Diogenes 2020 Seite 81.
  • 35. Übersicht: Marcus Düwell, Bioethik, Metzler 2008 Seite 37 ff.
  • 36. Marcus Düwell aaO. S. 89 ff.
  • 37. Joachim Rückert: Rechtsgewohnheiten und Denkgewohnheiten, Rechtsgeschichte 17/2010 Seite 74 ff. (78).
  • 38. Immanuel Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784), 6. Satz, A 397
  • 39. Eckart Voland: Soziobiologie Springer 4. Aufl. 2013 Seite 225.
  • 40. Richard Dawkins: The Selfish Gene. 2. Auflage. Oxford University Press, 1989, S. 192: ‘We need a name for the new replicator, a noun that conveys the idea of a unit of cultural transmission, or a unit of imitation. 'Mimeme' comes from a suitable Greek root, but I want a monosyllable that sounds a bit like 'gene'. I hope my classicist friends will forgive me if I abbreviate mimeme to meme. If it is any consolation, it could alternatively be thought of as being related to 'memory', or to the French word même. It should be pronounced to rhyme with 'cream'.’
  • 41. Eckart Voland: Soziobiologie 4. Aufl. 2013 Seite 13.
  • 42. Eckart Voland: Soziobiologie 4. Aufl. 2013 Seite 11.
  • 43. Abraham Maslow: Motivation und Persönlichkeit (1954).
  • 44. Joseph Henrich, die seltsamsten Menschen der Welt, Suhrkamp 2022 S. 18 ff.
  • 45. Hauser, M.D.: Moral Minds: How Nature Designed a Universal Sense of Right and Wrong, Harper Collins, /Ecco, New York 2006.
  • 46. Übersicht: Benno Heussen: Die Urgrammatik des Rechts.
  • 47. Michael Tomasello, Eine Naturgeschichte der menschlichen Moral, Suhrkamp 2016, S. 240 ff.
  • 48. John Mikhail: Elements of Moral Cognition, Cambridge University Press, 2011, 307 ff.: ”Universal Moral Grammar”.
  • 49. Robert Sapolsky, Gewalt und Mitgefühl, Hanser 2017, S. 501 ff.
  • 50. Jan Assmann: Ma'at, C. H. Beck 3. Aufl. 2020 S. 275 ff.
  • 51. Jan Assmann: Ma'at, C. H. Beck 3. Aufl. 2020 S. 238 ff.
  • 52. Cit.n. Martin Buber: Die Erzählungen der Chassidim, Manesse 10. Aufl. 1987, S. 709.
  • 53. Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle, Teil II, 2. Abschn. 2., Kap. S. 132.
  • 54. E. O. Wilson: Der Sinn des menschlichen Lebens, C.H. Beck 2015 Seite 58.
  • 55. Johannes Gross, Notizbuch vom 8. Oktober 1982, Ullstein 1988 S. 128.
  • 56. Bereits in den Veden findet sich ein, für die Vertragstreue zuständiger Gott: Mitra – Thomas Oberlies (FN 8, 132ff), aus dem später der römische Gott der Gerechtigkeit entsteht (Mithras-Kult).
  • 57. Bernd Rüthers: Rechtstheorie, CH Beck, 7. Aufl. 2013, Rn. 353, 400.
  • 58. Marie Schäfer, Daniel B. M. Haun, Michael Tomasello, Fair Is Not Fair Everywhere, Psychological Science 2015, Vol. 26(8) 1252–1260.
  • 59. Gerechtigkeit als Fairness – ein Neuentwurf (2001), Suhrkamp 2003, S. 139.
  • 60. Gerechtigkeit als Fairness – ein Neuentwurf (2001), Suhrkamp 2003, S. 78.
  • 61. Kant VIII,368 – Zum ewigen Frieden.
  • 62. Zeitlich früher: Ur-Nammu (um 2100 v.Chr.) und Urukagina (um 2400 v.Chr.).
  • 63. Das Gesetzbuch des Hammurabi (@ by Edition Alpha et Omega) (koeblergerhard.de)
  • 64. What are the Shared Values? | JC History Tuition Sie sind in englischer Sprache formuliert, die in Singapur als Amtssprache gilt. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, Goldmann 7. Aufl. 2002 S. 527 ff.
  • 65. Herfried Münkler, Ordnung, Merkur 2016, Heft 809 S. 17.
  • 66. Dschuang-Dsi: »Der Name ist der Gast der Wirklichkeit« (Das Wahre Buch vom Südlichen Blütenland, Eugen Diederichs(Übers:Richard Wilkelm) 1969 Buch. I Kap. 2 S. 31. Ähnlich Ludwig Wittgenstein: »Ein Name steht für ein Ding, ein anderer für ein anderes Ding und untereinander sind sie verbunden, so stellt das Ganze – wie ein lebendes Bild – den Sachverhalt vor.«Tractatus Logico Philosophicus (1922),4.0311, Suhrkamp 2006, S. 83.
  • 67. Meng-Zi (Menzius (c.a 372 -290 vChr ) : Von der Freiheit des Menschen, übersetzt von Richard Wilhelm (Jena 1921) I B 7, marix 2012, S. 42.
  • 68. Platon, Der Staat IV (432 c).
  • 69. Harry G. Frankfurt: Ungleichheit, Suhrkamp 2016 S. 84 ff.
  • 70. Sprüche. In: Gesammelte Schriften, Band 1, Zweite Auflage, Westermann, Braunschweig 1872, S. 148. BSB-MDZ.
  • 71. Dietmar von der Pfordten: Rechtsethik, CH Beck 2. Aufl. 2011 S. 216 unter Bezugnahme auf die klassischen griechischen und römischen Texte.
  • 72. John Rawls : Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971), Suhrkamp 1975 S. 19.
  • 73. Andreas Dieckmann, Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen, Zeitschrift für Soziologie https://doi.org/10.1515/zfsoz-2020-0021 .
  • 74. Axel Ockenfels: Fairness, Reziprozität und Eigennutz, Mohr Siebeck 1999 Seite 26 ff., 138 ff.; grenzenlosen: Das moralische empfinden, Kabel Verlag 1994, 110.
  • 75. Paul W. Glimcher, Collin Camerer, Ernst Fehr und Russell Alan Poldrack (Hrsg.)Neuroeconomics: Decision Making and the Brain 1. Aufl. Academic Press 2008.
  • 76. Marcel Mauss aaO Seite 59 ff.; vergleichbare Rituale sind auch in Melanesien beobachtet worden (S. 62). Der Begriff stammt von »Patshatl«im Chinook = Geben, Gabe s. Ruth Benedict: Urformen der Kultur, Rowohlt 1960 Seite 137 ff.
  • 77. Ruth Benedict, Seite 148
  • 78. Eugen Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913), Duncker & Humblodt 4. Auflage 1989 Seite 43 ff., 318.
  • 79. Friedrich Dürrenmatt: Justiz, Diogenes (Büchergilde Gutenberg) S. 124.
  • 80. Platon, Der Staat IV (432 c).
  • 81. Robert Wilson im Interview mit J. J. Rohwer.
  • 82. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, 1886. Viertes Hauptstück. Sprüche und Zwischenspiele.
  • 83. Johannes Gross, Nachrichten aus der Berliner Republik (1995-1999), Siedler 1999, S. 67.
  • 84. Gottfried Benn Sämtliche Werke VII/2 Seite 120 Notiz vom 03.09.1944.
  • 85. Altes Testament, Buch der Könige, Salomon 3.5-9
  • 86. Norbert Bischof: Moral, Böhlau 2012, Seiten 61 ff., 364 ff.
  • 87. Maggie Martinson, erste Ehefrau von Philip Roth, cit.n. Blake Bailey: Roth, Hanser 2023, S. 962
  • 88. Gustav Radbruch: Über das Rechtsgefühl (1914), Gesamtausgabe Bd. 1 Seite 423; derselbe: Das Güteverfahren und das deutsche Rechtsgefühl (1918), Gesamtausgabe Bd. 1 Seite 430; Erwin Riezler, Das Rechtsgefühl – Rechtspsychologische Betrachtungen, Schweitzer 1921 (1969); Michael Bihler :Rechtsgefühl, System und Wertung, Münchner Universitätsschriften Bd. 43, CH Beck 1979, Seite 59.
  • 89. Dietrich Dörner, Bauplan für eine Seele, Rowohlt 2001, S. 749.
  • 90. Sudhir und Katharina Kakar: Die Inder, CH Beck 2006, S. 7.
  • 91. Max Weber, Wissenschaft als Beruf.
  • 92. Isaiah Berlin , Freiheit – Vier Versuche – Suhrkamp 1995, S. 251.
  • 93. Carl Gustav Jung: Erinnerungen, Träume, Gedanken, Edition C.G. Jung 19. Aufl. 2016 S. 359.
  • 94. https://en.wikipedia.org/wiki/World_Values_Survey (Zitate von Artikeln aus Wikipedia beziehen sich hier und an allen anderen Stellen meiner Texte stets nur auf die dort genannten Quellen, nicht auf die Inhalte, da deren Autoren unbekannt sind).
  • 95. Shalom H. Schwartz hat seit 1990 in 40 Ländern insgesamt 58 »Wertprototypen« ermittelt, sie in diese vier Sektoren eingeteilt und dann mithilfe geeigneter mathematischer Modelle ihre Bedeutung in der jeweiligen Kultur ermittelt: Value orientations: Measurement, antecedents and consequences across nations. In R. Jowell, C. Roberts, R. Fitzgerald, & G. Eva (Eds.), Measuring attitudes cross-nationally – lessons from the European Social Survey. London: Sage. 2006. https://www.researchgate.net/publication/284312721_Values_Cultural_and_i....(2008).
  • 96. https://www.welt.de/kmpkt/article188672651/Oxford-Analyse-Diese-sieben-m... ; https://www.journals.uchicago.edu/doi/full/10.1086/701478
  • 97. https://en.wikipedia.org/wiki/Principlism
  • 98. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (1831–37).
  • 99. Streit der Fakultäten, AA VII, 2. Abschnitt, Ziff.3, Der Streit der Facultäten (projekt-gutenberg.org).
  • 100. Max Weber, Politik als Beruf, in: Gesammelte Politische Schriften, hrsg. von J. Winckelmann, 5. Auflage Mohr Siebeck, Tübingen 1988, 551-552.
  • 101. Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit? (1953), Nachdruck Reclam 2000 Seite 32 Dort überzeugende Widerlegung aller gängigen Leerformeln für Gerechtigkeit. Jüngere, gescheiterte Versuche: John Rawls eine Theorie der Gerechtigkeit (1971),Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit (2009), C.H. Beck 2010.
  • 102. HLA Hart: S. 217 ff.
  • 103. Norbert Bischof: Moral Böhlau 2012, S. 159ff (Coping Apparat).
  • 104. Dietmar von der Pfordten, Rechtsethik, CH Beck 2. Aufl. 2011 S. 123 ff. (148) «Rechtsethischer Nihilismus«.
  • 105. Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Suhrkamp 1995, S. 78 ff.
  • 106. Häufige Fehler beruhen auf der Tatsache, dass wir die gleichen Fragen unterschiedlich beantworten, wenn sie unter divergierenden Rahmenbedingungen gestellt werden(framing): Daniel Kahneman: Schnelles Denken, langsames Denken Siedler 2011 Seite 443 ff.
  • 107. Norbert Bischof, Moral, Böhlau 2012, S. 390.
  • 108. Glosse zu Ulpian 1. 1 pr. Digesten.
  • 109. Friedrich Carl von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, Heidelberg 1814, S. 14 ff. Savigny konnte damals nicht sehen, dass diese These als Möglichkeit missbraucht werden könnte, unter Berufung auf das, was dem Volke nützt, positive Gesetze zu erlassen, die sich gegen das Recht selbst richten könnten und es so seiner Wirkungskraft zu berauben. Tatsächlich kann die Formel als Gegengift gegen solche Tendenzen dienen, ohne sich in einem diffusen Naturrecht zu verlieren.
  • 110. Robert Sapolsky, Gewalt und Mitgefühl, Hanser 2017 S. 501 ff.
  • 111. Patricia S. Churchland: Conscience- The Origins of Moral Intuition, W.W. Norton 2019, 126ff.
  • 112. Petra Morsbach: Opernroman Eichborn 1998, Seite 278.
  • 113. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe Bd. VI, § 13S. 439, Anm. zum biologisch/psychologischen Begriff des Gewissens – Voland/Voland Evolution des Gewissens 2014.
  • 114. Shakespeare Hamlet, I Akt, dritte Szene.
  • 115. Du musst Dein Leben ändern, Suhrkamp 2009.
  • 116. Norbert Bischof, Moral S. 323 ff.
  • 117. Einen typischen Fall schildert Lukas 6,4, wo der Bruch der Sabbatregeln als notwendig geschildert wird. Nietzsche hat die Stelle oft zitiert, um zu zeigen, dass die sozialen Auffassungen von Moral zerstört werden müssen, wenn die individuelle Moral sich durchsetzen will. Der »Übermensch« folgt nur seinen eigenen moralischen Regeln, er steht über der Gesellschaft.
  • 118. Kant VI,399 (MSC) Metaphysik der Sitten.
  • 119. Gottfried Wilhelm Leibniz: Essais de theodicée sur la bonté de Dieu, la liberté de l’homme, et l’origine du mal. David Mortier, Amsterdam 1710.
  • 120. G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, cit.n. Susan Neiman: Das Böse denken S. 142.
  • 121. Hannah Arendt. Briefwechsel mit Gershom Scholem, cit.n. Susan Neiman: Das böse Denken, Suhrkamp 2004 Seite 439.
  • 122. Wolfgang Fikentscher: Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Mohr Siebeck 1975, Band 1 S. 71 ff.
  • 123. Tractatus logico-philosophicus, Satz 6.421.
  • 124. Chrysippos. fr. mor. 14 SVF III p. 5,40-41 griechisch: „κατά φύσιν ζην: = Cicero. de fin. 2,11,34: consentire naturae', quod esse volunt e virtute, id est,honeste vivere'; ferner Chrysippos. fr. mor. 16 SVF III 6, 16-17 ίσοδνναμεϊ το 'κατά φύσιν ζην' και το 'καλώς ζην „(Ulrich Manthe: Beiträge zur Entwicklung des antiken Gerechtigkeitsbegriffes II: Stoische Würdigkeit und die iuris praecepta Ulpians, in Zeitschrift der Savigny Stiftung (Romanische Abteilung) Bd. 114 Seite 12 Anmerkung 37.
  • 125. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Suhrkamp 1993 4. Aufl. S. 320 (Hervorhebung im Original).
  • 126. Norbert Bischof: Moral, Böhlau 2012 Seite 447 ff.
  • 127. cit.n. Volker Reinhardt: de Sade, C.H. Beck 2014 Seite 193.
  • 128. Adam Smith benutzt diese Metapher nur für das Wirtschaftsleben, sie ist aber auf alle anderen Bereiche unseres Lebens ohne weiteres übertragbar.
  • 129. Das tragischste Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist der Mord der Deutschen an den Juden (ab 1939) und die Reaktion der an der Tat Beteiligten. Aber auch bei anderen Völkermorden (Kambodscha (1975), Ruanda (1994) sehen wir die gleichen Muster.
  • 130. Robin Dunbar https://de.wikipedia.org/wiki/Dunbar-Zahl
  • 131. Stanley Milgram: Das Milgram-Experiment – zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität (1969) Rowohlt 1974 15. Aufl. 2000. In dem dortigen Experiment hätten die Versuchspersonen jederzeit ihre Teilnahme am Experiment beenden können (was aber schwer erkennbar war). Unter anderen Umständen ist eine solche Entscheidung nicht möglich.
  • 132. Norbert Bischof: Moral S. 353 ff.
  • 133. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Akademieausgabe Bd. V 1. Tei, 1. Buch., 3. Abs S. 81 ff.
  • 134. Kant, Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff, IV, 423.
  • 135. Jacques Lacan Kant mit SadeÜberarbeitung der Fietkau-Übersetzung durch Mai Wegener – Lacan entziffern (lacan-entziffern.de).
  • 136. „Denn bei dem, was moralisch gut sein soll, ist es nicht genug, daß es dem sittlichen Gesetze gemäß sei, sondern es muß auch um desselben willen geschehen; widrigenfalls ist jene Gemäßheit nur sehr zufällig und mißlich, weil der unsittliche Grund zwar dann und wann gesetzmäßige, mehrmals aber gesetzwidrige Handlungen hervorbringen wird.“ GMS, AA IV.
  • 137. Der Masochist, der das Leiden schätzt, wird innerhalb dieser Kategorien nicht als vernünftig betrachtet. Auch Kants weitere Idee, dass alles, was ein allgemeines Gesetz werden könne, auch moralisch richtig sei, (Kant, Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff, IV, 420) bezieht sich wie alles, was er sagt, nur auf »vernünftige Menschen« und hat daher praktische Grenzen.
  • 138. Der Begriff stammt aus der indogermanischen Wurzel »skam« (Hemd = die Nacktheit verbergen), Bischof a.a.O. S. 378.
  • 139. »In der U-Bahn darf man furzen« (japanisches Sprichwort).
  • 140. Norbert Bischof, Moral, Böhlau 2012, Seite 376.
  • 141. Norbert Bischof, Moral, Böhlau 2012, S. 390.
  • 142. Clifford Geertz u. a.
  • 143. Das Ende der Geschichte, Kindler 1992, S. 383 ff.
  • 144. Jan Assmann: Ma'at S. 270 ff.
  • 145. Anthony Kennedy, Supreme Court Justice (USA) in: Planned Parenthood v. Casey, 505 U.S. 833, Abschnitt 851.
  • 146. Oliver Wendell Holmes, cit. n.: G. Edward White: Justice Oliver Wendell Holmes, Oxford University Press, 1993, 349. Der entscheidende moralische Makel, den Lenin und später Stalin der russischen Revolution aufgedrückt haben, war die Ablehnung dieses Gedankens, der – konsequent zu Ende gedacht – ihre Politik am Ende, weit vor der Perestroika, zum Scheitern brachte.
  • 147. Darüber hat Philipp K. Dick ergreifend geschrieben: Träumen Androiden von elektrischen Schafen? (1968).
  • 148. Omri Boehm, Interview SZ vom 17.10.2023.
  • 149. Henry Jarvis Raymond, Gründer der New York Times (1851), cit.n. Gay Talese: The Kingdom and the Power, e-book S. 148.
Literaturverzeichnis
Zitierte Literatur: 
  • Siehe Fußnoten.