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Macht
Die offenen Geheimnisse der Macht. »Man muss den Machtbegriff entdämonisieren, sozusagen systemtheoretisch abkühlen«1, sagt Karl-Heinz Bohrer – und Rechtsanwälte werden ihm leichter zustimmen können als viele andere. In unserer Arbeit begegnen wir unmittelbar den Machtspielen unserer Mandanten und aller an einem Konflikt Beteiligten. Wir können in unserer Arbeit nur Erfolg haben, wenn wir die Machtverhältnisse besser analysieren können als es z. B. Politikern gelingt. Als ich vor Jahren meine Gedanken darüber in dem Buch Machiavelli in Harvard – Intelligentes Konfliktmanagement zusammengefasst habe, war mir klar: Das ist nur die Spitze des Eisbergs. In den letzten Jahren hatte ich Zeit genug, mich intensiver mit den Grundlagen des Themas zu beschäftigen und festzustellen: Die Machtverhältnisse werden zwar immer verschleiert, aber einige ihrer Geheimnisse liegen offen zutage.
- 1. Macht – die Energie unseres sozialen Lebens
- 2. Chaos, Ordnung und Macht
- 3. Strategien: Horizontale und vertikale Machtverteilungen
- 4. Herrscher, Stellvertreter und Beherrschte
- 5. Lust an der Macht und an der Unterwerfung
- 6. Willkür, Kooperation und Toleranz
- 7. Macht, Moral, Ordnung und Recht
- 8. Das Problem der absoluten Macht
- 9. Der Stil der Macht
- 10. Der Schatten der Macht
- 11. Gewalt und ziviler Ungehorsam
- 12. Macht und Führung
- 13. Gruppendynamik
- 14. Macht im Verhältnis zu anderen sozialen Kräften
- 15. Anarchien und Gleichheitsideen
- 16. Politik und Macht
- 17. Information, Kommunikation und Macht
- 18. Die Grenzen der Macht
- 19. Gewalt und Mitgefühl
- 20. Macht, Ruhm, Charisma und andere Werkzeuge
- 21. Widersprüchliche Regeln der Macht
1. Macht – die Energie unseres sozialen Lebens
»Alles ist Illusion außer der Macht.«2
»Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf diese Chance beruht.«3
Max Webers Definition, über die Unzählige in jeder Hinsicht nachgedacht, sie bestätigt, angegriffen und verfeinert haben, beschreibt das Wichtigste unter den zahllosen Elementen, die unsere sozialen Strukturen bestimmen. Die Macht ist Ausdruck unserer individuellen Freiheit etwas zu entscheiden und gegen andere durchzusetzen – und diese Möglichkeit hat eine total andere Qualität als eine Idee, ein Rat, die Kommunikation, gute oder schlechte Stimmung, Erpressung oder was immer an Tänzen um diesen zentralen Vorgang herum aufgeführt wird.
Es gibt keinen noch so unscheinbaren Teil sozialer Interaktion, der nicht von den Kraftlinien der Macht durchzogen wird. Auf den Feldern der Politik, der Konflikte, der Wirtschaft, der sozialen Auseinandersetzungen ist das offensichtlich. Aber die Machtverhältnisse regulieren auch alle Strukturen des privaten Lebens, der Wissenschaft, der Kunst, sie bestimmen jeden Streit um Theorien, Deutungen, Interpretationen usw. Immer geht es um Widersprüche zwischen dem ICH und der Gesellschaft, bei der einzelne oder Gruppen ihre Interessen gegen andere durchsetzen und/oder koordinieren.
In dieser Definition der Macht sind fünf Perspektiven angesprochen:
- es geht um das Gebiet der sozialen Beziehungen, also nicht unser Verhältnis zu Natur und/oder Technik,
- im Zentrum steht der Wille einer einzelnen Person, auch wenn mehrere Personen sich in einer Gruppe zusammenschließen, Macht auszuüben,
- hinter dem Begriff Chancen stehen immer auch die Risiken, die sich aus unzähligen Elementen ergeben, die eine Entscheidung charakterisieren,
- nur von der Durchsetzung des Willens, der Entscheidung ist die Rede, damit aber auch von den Phasen der Information, Kommunikation, Kontrolle et cetera,
- wobei es im Kern um die Frage geht, wie man mit dem Widerstreben anderer Leute umgehen soll – dahinter steckt das ganze Spektrum der Machtdifferenzen, die ständig zwischen Kooperation und Aggression oszillieren, überwiegend von den Gefühlen gesteuert werden und in der nackten Gewalt enden können.
Im Begriff des »eigenen Willens« werden in Max Webers Definition Wille, Vorstellungen und Interessen der Menschen und der von ihnen gebildeten Gruppen erfasst. Sie bilden die wichtigsten Vektoren, aus denen die Gesellschaft besteht und sie stützen sich auf die kommunikativen Vorgänge zwischen den Beteiligten. Diese Kommunikation beruht nicht nur auf Intelligenz und Entscheidung, sondern vielfältig auch auf instinktiven Reaktionen mit tiefen biologisch/psychologischen Wurzeln. Wir erkennen das an vielen Zuordnungsverhältnissen unter Tieren, die vor allem auf höheren Ebenen durch Machthierarchien gekennzeichnet sind. Schon daraus ergibt sich, dass man über die Wirkung der Macht unter moralischen Gesichtspunkten erst sprechen kann, wenn man diese tiefen Wurzeln verstanden hat und anerkennt, dass die Entwicklung von moralischen Perspektiven eine Kulturleistung ist, die sich auf einer ganz anderen Ebene befindet.
Freiheit bedeutet mindestens: Sich selbst frei zu fühlen (die Frage, ob wir »objektiv« Freiheit besitzen, kann man offenlassen). Das Gefühl unserer Möglichkeiten ist gleichzeitig ihr größter Feind: Wer Freiheit in Händen hat, vermag ihre Grenzen schlecht zu erkennen, neigt zur Willkür und da sie stets – in zahllosen unterschiedlichen Formen – in mehreren Händen ist, wird »der Krieg zum Vater aller Dinge« (Heraklit). Die Mutter aller Dinge ist die Kooperation und die mit ihr untrennbar verknüpfte Fähigkeit zur Kommunikation.
Beide Lösungen sind in uns biologisch/psychologisch zutiefst verankert. Friedrich Nietzsche sprach instinktiv vom »Willen zur Macht«, der den Menschen eigen sei, Konrad Lorenz hatte das Aggressionspotenzial der Menschen im Detail freigelegt, aber keine Grenzen definieren können. Die neuere biologische Forschung zeigt, welche Selektionsvorteile dadurch entstehen, dass unter unseren tierischen Vorfahren die Aggression gegenüber anderen (der unmissverständliche Ausdruck der Macht) in komplexer Weise mit der Fähigkeit verschränkt ist, andere zu respektieren und sich in sie einzufühlen – Gewalt und Mitgefühl halten sich die Waage (Robert Sapolsky). Die menschlichen Fähigkeiten, aus diesen biologischen Wurzeln ein hochkomplexes psychologisches Beziehungsgeflecht zu entwickeln, haben auch uns weitere selektive Vorteile verschafft, die wir im Spannungsverhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft zu nutzen verstehen. Sigmund Freud hat neben den lebenserhaltenden Eros den Todestrieb (Thanatos) gesetzt, die Fähigkeit zur Autoaggression, die am deutlichsten die Grenze zum Verhalten der Tiere aufzeigt.
Diese Definition hat Max Weber unter Rückgriff auf die ältesten Texte von Plato, Aristoteles4 usw. – mit genialem Strich skizziert und so erkannt, dass die Macht im Feld des sozialen Lebens allgegenwärtig ist: es gibt keinen Gegenstand und keine Idee, der sich nicht einzelne Menschen mit ihren individuellen Interessen zuwenden und damit den Versuch verbinden, andere im gleichen Sinn zu beeinflussen. Die eigenen Interessen werden gefördert, die der Anderen abgelehnt, mit Gegenleistungen akzeptiert, bekämpft usw. und Erfolg haben nur diejenigen, die Einfluss auf andere gewinnen können. Denn jeder Mensch endet an seinen Fingerspitzen und an der Reichweite seiner Stimme: Neugeborene haben als einziges Mittel den Schrei, mit dem sie die Aufmerksamkeit ihrer Mütter oder anderer Mitglieder der Gruppe, zu der sie gehören, erringen können. Schon in dieser, wie in jeder der anderen Rollen, die wir im Leben ausfüllen, vergrößern wir unsere Wirkungschancen durch den Einfluss auf andere Menschen und/oder Gruppen.
Allerdings sehen wir uns immer wieder auf individuelle Inseln der Einsamkeit verschlagen: Wir schlafen, wir träumen in den Tag hinein, wir fühlen, wir schwelgen im Luxus des Denkens – auf diesen Feldern bleiben wir zeitweise allein. Aber auch auf diesen Inseln wirkt die Macht: »Disziplin ist Macht« (Helge Timmerberg), sie ist Macht über dich selbst und kann nur in einem Interessenkonflikt entstehen, der in dir tobt und gegen die Disziplin wettert. In der Einsamkeit bist du selbst deine soziale Welt mit allen ihren Widersprüchen.
Selbst Menschen, die das Schicksal auf einsame Inseln verschlägt, können dort nur mithilfe von Kenntnissen und Fähigkeiten überleben, die sie zuvor als Mitglieder einer Gruppe erwerben konnten. Macht ist eine paradoxe Chiffre nicht nur für den Einfluss des Einzelnen auf andere Menschen (einschließlich derer Reaktionen), sie bezeichnet zugleich auch alle »Chancen« diese Einflüsse zu gewinnen oder zu verlieren. Niemand kann alleine Macht gewinnen (dann fehlt es ihm an demjenigen, der sich ihm beugen wollte), er kann sie auch nicht behalten, wenn niemand ihm folgen will: Ein soeben noch allmächtiger Diktator verliert jede Wirkung, wenn er niemanden erreichen kann, der bereit ist, seine Befehle auszuführen.
Aber auch eine ganze Gruppe von Menschen bleibt so lange machtlos, als nicht ein Einzelner Initiativen ergreift und andere bereit sind, sich ihm unterzuordnen. So beruht die Macht der Offiziere auf der Gehorsamsbereitschaft Ihrer Soldaten und die weniger streng organisierten Beziehungen unseres sozialen Lebens kann man nur in komplexen Strukturen abbilden, in denen Machtpositionen bewertet und ausgetauscht werden, also dem Gesetz von Geben und Nehmen folgen. Auf Dauer kann niemand anderen Menschen befehlen, wenn diese Befehle nicht auch ein gutes Maß von Vorteilen für diejenigen enthalten, die ihnen folgen sollen.
Der Begriff der Macht beschränkt sich auf die Verhältnisse unter Menschen, er beschreibt nicht unser Verhältnis zur Natur oder zu den Göttern. Mit der unbelebten Natur können wir nicht kommunizieren und können sie daher in ein soziales Machtkonzept nicht miteinbeziehen. Wir befinden uns mit ihr in einem anderen Spannungsverhältnis: Einerseits sind wir (nicht nur in Katastrophenfällen) völlig von ihr abhängig, andererseits zwingen wir ihr unsere Ordnungen auf, was nur solange möglich ist, als wir sie nicht ruiniert haben. Vermutlich übertragen wir unsere sozialen Modelle auf Zusammenhänge, für die sie nicht geeignet sind. Mit der belebten Natur (Tiere, Pflanzen etc.) unterhalten wir kommunikative Verhältnisse, aber sie sind so unterschiedlich zu jenen, die wir zwischen Menschen entwickeln, dass es nicht sinnvoll ist, den Begriff der Macht auch hier zu verwenden.
Allerdings werden unsere Überlegungen über die Macht auch von der Analyse der sozialen Verhältnisse zwischen Tieren beeinflusst, die wir dort beobachten können. Das gilt vor allem für die uns biologisch nahestehenden Menschenaffen, denn aus deren genetisch verankertem Verhalten haben sich unsere eigenen sozialen Verhältnisse entwickelt. Es wäre allerdings ein Fehler, anzunehmen, dass wir an unsere »tierischen Natur« endgültig gebunden sind, denn wir haben die Möglichkeit, unsere sozialen Verhältnisse durch Selbstbeobachtung und Selbstanalyse zu verändern.5
Wir sprechen auch von der Macht Gottes, den wir zu diesem Zweck vermenschlichen – historisch betrachtet zweifellos aus dem Anblick der schützenden wie überwältigenden Natur (Ludwig Feuerbach: »Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde«). Die Idee, Gott habe Macht über uns, ist jedoch keine des Wissens, sondern des Glaubens. Sie wird aber bemüht, um menschliche Macht aus ihr abzuleiten (»von Gottes Gnaden«6). Tatsächlich werden Macht und Ohnmacht nur von Menschen gemacht und erlitten.7
Machtverhältnisse entstehen zwischen Menschen, ohne dass irgendjemand darüber entscheiden muss. Sie ergeben sich aus den unterschiedlichen persönlichen und allgemeinen Rahmenbedingungen, unter denen wir miteinander leben. Ein auch nur oberflächlicher Blick auf das Verhalten von Menschen, die sich noch nicht kennen, zeigt uns, dass jeder von uns in jeder noch so flüchtigen Begegnung bewusst oder unbewusst versucht festzustellen, ob er sich im Verhältnis zu dem anderen in einer Position befindet, die es ihm erlaubt, den anderen zu beherrschen, oder ob er vor der Frage steht, ob und wie er sich unterwerfen muss: Wir scannen unbewusst die Körpersprache und andere Signale. Das einfachste Beispiel ist die Frage, wer uns auf dem Bürgersteig begegnet und ob wir ihm Platz machen müssen, oder nicht.
Der unbedingte Wille, die Machtverhältnisse zu klären, ist tief in unserer biologisch/psychologischen Konstitution verankert und setzt sich leicht über rationale Argumente hinweg, die einem oft genug raten, sich einem anderen unterzuordnen. Das wird besonders deutlich, wenn staatliche Institutionen, die völlig gleiche Ziele haben, um Kompetenzen kämpfen, denn jede derartige Kompetenz ist mit einem Machtzuwachs der jeweils führenden Menschen verbunden, auf den sie nicht verzichten wollen, auch wenn sie damit die Ziele der Institution gefährden.
Macht wird oft mit Gewalt assoziiert, aber das ist nur eine extreme Form, sich gegenüber anderen durchzusetzen. Tatsächlich zeigt sie sich in »dem Einfluss, den ein Individuum auf die Gruppendynamik hat«.8
Wenn man sie »entdämonisiert« (Karl-Heinz Bohrer), erweist sie sich als reine Lebensenergie, die sich aus allen Quellen speist, die ihr zur Verfügung stehen:
»Sein Auge bannt und fremd ist Stirn und Haar.
Von seinen Worten, den unscheinbar leisen
Geht eine Herrschaft aus und ein Verführen
Er macht die leere Luft beengend kreisen
Und er kann töten, ohne zu berühren.«9
Zur Macht gehören der Wunsch nach Ruhm und Anerkennung, vor allem aber die Libido, der Sex, die Liebe – also die Anziehungskraft, die Menschen aufeinander ausüben. Manchmal bilden sie ein Gegengewicht zur Macht, manchmal verstärken sie sie. Das wird in unzähligen Mythen beschrieben und verdichtet sich etwa in Figuren wie der indischen Göttin Kali, die gleichzeitig die große Mutter und die große Zerstörerin darstellt.
Die Macht entzieht sich jeder Regel, jeder Begründung, jeder Rechtfertigung, sie bestätigt sich geradezu in der Willkür und ist an ihr am leichtesten zu erkennen.
Man sieht in unzähligen Situationen unseres Alltags wie einzelne Menschen anderen ihren Willen aufzwingen: »Die Welt wird beherrscht von Sex, Gewalt und Religion« sagt der niederländische Regisseur Paul Verhoeven auf die Frage nach den Gegenständen, die er in seinen Filmen abbilden wolle. In Wirklichkeit sind das aber keine drei Kräfte, sondern nur eine einzige: Die Macht. Die Möglichkeit, Macht auszuüben ergibt sich auf den unzähligen Plattformen unseres sozialen Lebens wie etwa bei unseren Begegnungen auf der Straße: Es gibt Menschen, die niemand anderem ausweichen und es sind vor allem die Bettler, die das tun! Sie haben zwar keinen Status, aber auch nichts zu verlieren.
An diesen und unzähligen anderen Details – wie etwa der Demonstration der Macht durch die Kleidung – erleben wir, wie der Wille jedes Einzelnen, sich und sein Umfeld nach seinen Wünschen (und immer wieder gegen den Willen der anderen) zu gestalten, an jeder Stelle durchbricht. Es ist nicht einfach, die Zonen zu entdecken in denen um die Entscheidungen und um ihre Durchsetzung gekämpft wird, jene raum – zeitlichen Plattformen, in denen es um den Willen anderer, um ihr Widerstreben oder auch ihre (gegebenenfalls eigensüchtige) Zustimmung geht. Die Macht zeigt ihre Pranke erst in der Sekunde, in der sie sich zur Entscheidung und Durchsetzung entschließt. Sich selbst stellt sie erst in der Handlung oder in der Unterlassung auf die Probe.
Die Verteilung der Macht steht im Zentrum unserer sozialen Welt und gestaltet sich wie diese kommunikativ innerhalb von Systemen/Netzen (Luhmann), unser Denken und Handeln ist immer eine Reaktion auf die Machtverteilung, die wir wahrnehmen:
»Die Macht ist das Elementarphänomen der sozialen Welt, auf der alle gesellschaftlichen Vorgänge beruhen. Was immer man auch von sich und anderen verlangt, was immer mit gesellschaftlichen Mitteln erreicht werden soll und kann: Zu allem wird Macht benötigt.«10
Auf diese Weise reduziert die Macht die Komplexität, die sich unvermeidlich im Spannungsfeld zwischen dem ICH und der Gesellschaft bildet und wird so zum zentralen Ordnungsfaktor des sozialen Lebens und aller seiner Interaktionen. Der Begriff »Ordnung« beschreibt jede denkbare Art von Systemen und Strukturen, ohne sie in irgendeiner Form (und schon gar nicht moralisch) zu bewerten. Viele Theorien über die Macht sehen das anders und versuchen, zwischen guter und schlechter Macht zu unterscheiden, bevor sie das Phänomen selbst in aller Tiefe wirklich verstanden haben. Tatsächlich gibt es eine sensible Beziehung zwischen Macht und Moral (die ich weiter unten erörtere), aber wer auf der Welt etwas Gutes tun will, wird scheitern, wenn er nicht die Macht hat, das umzusetzen, was er will.
Auch der Begriff der Ordnung wird auf ähnliche Weise zu früh mit moralischen Fragen belastet. Ordnung ist zunächst einmal nichts anderes als das Gegenteil von Chaos, er schafft Ruhe statt Bewegung, er schafft Sicherheit statt Freiheit. Es gibt auch die Ordnung des Konzentrationslagers. Chaos, Ordnung, ihr jeweiliger Wechsel und ihre Zwischenformen werden durch die Machtverhältnisse zwischen einzelnen Menschen und Gruppen erzeugt und definieren (bewusst oder unbewusst) das Kräftefeld zwischen dem ICH und der Gesellschaft.
Sobald sich feste soziale Strukturen bilden, entscheidet sehr häufig die Fähigkeit, andere Menschen zu führen darüber, ob jemand Macht entwickeln kann. Und umgekehrt: Es gibt Menschen, die alle Voraussetzungen dafür haben, Macht über andere zu entfalten, aber unfähig sind, sie zu führen. Tragisch, wenn sie in Führungspositionen kommen, weil niemand das erkennt. Macht braucht keine Gegner, aber es erzeugt sie:
»Überall auf der Straße liegt etwas herum, das Macht heißt. In den Buddelkästen, Kneipen, Büros, Straßenbahnen, in den Betten, überall liegt es. Ein bisschen nimmt sich jeder, und manche können nicht genug haben, die werden Polizisten, Pförtner oder Politiker. Mehr gibt es nicht zu verstehen.«11
So erweist sich die Macht als Energie unseres gesamten sozialen Lebens:
Die Machtverhältnisse steuern alle unsere sozialen Beziehungen und zwar auf allen Ebenen.
Als Lebensenergie verhält sie sich genauso organisch wie das Leben selbst: Sie ist allgegenwärtig und passt sich jeder denkbaren Situation an. Wenn sie einmal zu verschwinden scheint, erweist sich bald, dass sie nur in die Hände eines anderen Menschen übergegangen ist. Sie wirkt in den unscheinbaren Situationen bis hin zu den Grundfragen unserer sozialen Existenz:
»Der Begriff ›Macht‹ ist soziologisch amorph. Alle denkbaren Qualitäten eines Menschen und alle denkbaren Konstellationen können jemand in die Lage versetzen, seinen Willen in einer gegebenen Situation durchzusetzen.«12
Die Definition beleuchtet ein Anwendungsfeld, das viel größer ist, als wir allgemein denken. Macht ist weder auf Politik noch auf Militär oder Polizei beschränkt. Dort sehen wir nur
»eine dünne und prekäre Kruste, die sich kraft der Persönlichkeit und des Willens sehr weniger Einzelner gebildet hat und nur durch Regeln und Konventionen intakt bleibt, welche mit Geschick eingerichtet und mit List bewahrt werden.«13
Jeder Mensch erfährt im Lauf seines Lebens, dass er Macht hat. Sie mag nur sehr gering sein, und entfaltet sich sehr oft in trivialen Situationen: Die Kellnerin ist jedem Gast überlegen, weil sie das Hausrecht in der Hand hat (jedenfalls, solange ihr Chef nicht da ist). Jedes unserer Gespräche wird von den Machtdifferenzen charakterisiert, die zwischen den Beteiligten herrschen:
»Wer darf wen ansprechen und wie lange vollabern: Machtfrage. Gespräch stellt Ebenengleichheit her, die der Unter dem Ober nicht in jedem Fall aufdrängen darf. Aber auch der Obere fühlt, dass sein Impulsprä, das Gespräch an jeden richten zu dürfen, mit dem Risiko belastet ist, dass er in der Antwort nur seine formale Machtvorrangstellung zurückgespiegelt bekommt, als Person aber Ablehnung registrieren muss. Dass ihm der Zutritt auf eine gemeinsame Ebene verweigert wird, er kein Eingehen auf das von ihm Gesagte, auch keine Herzlichkeit mitgeteilt, kein direkt persönliches Angenommensein als Mitmensch vermittelt bekommt. So kann auch das Betonen der Rangfrage von unten beleidigend sein. Durch minimal übertriebene Höflichkeitssignale teilt der Untere dem Ober die Gemeinheit mit, dass er am Gespräch nur in seiner Eigenschaft als Unter, also pflichtweise teilnimmt. Affoide Kontakttaktiken.«14
Es mag sein, dass solche Machtperioden nur kurz dauern und sich im Leben eines einzelnen Menschen nicht allzu oft wiederholen. Wer aber z. B. Hausmeister ist, beherrscht jeden Menschen, der sich in diesem Haus bewegt, wenn er ihn darauf hinweist, dass er gegen Sicherheitsregeln verstößt. Dazu gehören auch seine Vorgesetzte oder Menschen, die außerhalb des Hauses unendlich viel Macht haben, weil die Funktion eines Hausmeisters grundsätzlich nicht infrage gestellt werden kann – es sei denn, man ist bereit, sich selbst zu übernehmen.
Michel Foucault beschreibt diese 360°-Perspektive:
»Macht ist: Ein ›Ensemble‹ von Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten, und sie operiert in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten handelnder Subjekte. Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt Wahrscheinlichkeit von Handlungen, und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Handlungen, aber stets richtet sie sich auf handelnde Subjekte, insofern sie handeln oder handeln können. Sie ist auf Handeln gerichtetes Handeln.«15
Wir vermissen hier zwar den Begriff der Chance (und den damit untrennbar verbundenen Begriff des Risikos), aber sie finden sich im »Feld von Möglichkeiten«, deren Realisierung von den Rahmenbedingungen abhängt, die in der jeweiligen Entscheidungssituation gegeben sind.
Macht ist unter allen Umständen ein Resonanzboden und/oder Energiefeld, das alle sozialen Beziehungen in komplexer Vernetzung und nicht nur in einem einfachen über – Unterordnungsverhältnis beeinflusst. Wer sich der Macht aus Selbstachtung nicht unterwirft, kann gar nicht umhin, sie damit gleichzeitig anzuerkennen. Wenn sich die Rahmenbedingungen ändern, kann aus dieser Machtlosigkeit gerade deshalb eine Chance werden, weil sie so unmissverständlich erfahren worden ist.16
Sigmund Freuds Behauptung, die Sexualität sei die wichtigste Energie, die unser soziales und privates Leben bestimmt, scheint dem auf den ersten Blick zu widersprechen. Tatsächlich bildet die Sexualität nur eine der zahllosen Varianten der Macht: Sexuell attraktive Menschen sind mächtiger als andere, und selbst wenn jemand, der sich nicht geliebt fühlt, fähig wird, ein größeres Selbstbewusstsein zu entwickeln, ändert sich damit nicht nur selten auftreten, sondern auch sein Einfluss auf andere.
Die Betrachtung der Macht aus dieser allumfassenden Perspektive ist umstritten. Viele wollen den Begriff enger sehen, ihn also etwa auf Situationen beschränken, in denen Macht und Gewalt identisch sind (Elias Canetti17), in der sich die Macht mit »Sinn« verbindet (Byung-Chul Han18), oder in der es im Wesentlichen um die politischen Auswirkungen der Macht geht (Heinrich Popitz).19
Das Zentrum unseres sozialen Miteinander ist unscharf und von Widersprüchen wie von Überschneidungen gekennzeichnet. Liebe und Gewalt sind beides Erscheinungsformen der Macht, aber wie gegensätzlich sind sie! Und aus den unscheinbarsten Formen der Macht können sich Gewalt und Chaos, oder Struktur und Ordnung entwickeln, oft, ohne dass solche Entwicklungen bewusst gesteuert werden könnten.
Im Kern besteht die Macht aus dem absoluten Wunsch nach Freiheit – nicht nur im politischen Sinn, sondern auch als der Grundzustand jeder menschlichen Entwicklung (André Breton: »Freiheit, Farbe des Menschen«). Diese Freiheit, die in extremen Fällen in der Willkür mündet, will sich sozial in keiner Weise binden lassen und ist allgegenwärtig. Deshalb betrachten viele die Macht nur aus einer negativen Perspektive:
»Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also andere unglücklich machen.«20
Sie übersehen dabei, dass jede unserer sozialen Aktionen – auch diejenigen, die Gutes bewirkt – von den Machtverhältnissen abhängig sind, die ihre Rahmenbedingungen bestimmen. Auch Mutter Theresa braucht Macht, um wirken zu können.
Wieder andere sehen in der Macht vor allem ein Werkzeug zur Erreichung höherer (oder tiefer liegender) Zwecke so etwa beim »Kampf um Anerkennung« (Axel Honneth21). Diese tieferen Verbindungen zeigten sich etwa 2022 beim Angriff Putins auf die Ukraine, mit der er die Anerkennung von Russland als Großmacht zu erzwingen versucht, indem er die Schwächeperiode seit 1986 (Gorbatschow, Jelzin) ungeschehen machen will. Vor allem die Fälle sind interessant, in denen wenig Mächtige (z. B. Nordkorea) die Anerkennung anderer zu erlangen suchen. Aber auch das ist nur ein Teilaspekt des Wunsches, Macht über andere Menschen zu haben.
Hin und wieder wird versucht, die Macht auf einer sehr hohen theoretischen Ebene zu verstehen. Niklas Luhmann etwa meint, Max Webers Definition sei nichts anderes als »sozusagen Kausalität unter ungünstigen Umständen«.22 Er verankert den Machtbegriff in seinem gesellschaftstheoretischen Zusammenhang und bezeichnet Macht als »symbolisch generalisiertes Medium der Kommunikation«.23 Damit wird nur die oben schon dargelegt Funktion der Macht als allgemeiner Ordnungsfaktor bestätigt, ihre Wirkung in der Gesellschaft aber ungenügend beschrieben. Der Begriff der Macht braucht aber einen unbedingten Bezug zur Wirklichkeit. Wenn wir ihn auf einer metatheoretischen Ebene zu bestimmen versuchen, verliert er seine Konturen.
Wenn die unterschiedlichsten Phänomene unter den gleichen Namen »Macht« auftreten, muss dahinter eine tiefe innere Verbindung24 stecken, die wir aufklären sollten. Sprache hängt nicht im freien Raum »Jedes Wort hat eine Bedeutung. Diese Bedeutung ist dem Wort zugeordnet. Sie ist der Gegenstand, für welchen das Wort steht25«. Nach diesen Verbindungen will ich im Folgenden suchen. Dabei sind zwei Begriffsfelder von besonderer Bedeutung: Die Beziehung zwischen Macht, Entscheidung und Handlung und das Verhältnis zwischen Chaos, Ordnung und Freiheit.
2. Chaos, Ordnung und Macht
»Selbstbeschränkung ist die höchste Aufgabe einer sozialen Ordnung.«
Henry Kissinger
Max Webers Definition enthält keine Erklärung, warum wir durch Macht eine soziale Ordnung herstellen wollen; für ihn ist absolut selbstverständlich: Keine Gesellschaft kann im Chaos leben! Ordnung entsteht auf unterschiedlichen Ebenen durch Strukturen, die die Menschen gestützt auf ihre praktischen Erfahrungen überschauen können, weil sie aus kausalen Zusammenhängen, dem Vertrauen auf die Wiederholung und die Einschränkung willkürlicher Entscheidungen beruhen. Ein typischer Beispielsfall: Die Einrichtung öffentlicher Verkehrsmittel, die ihren Zweck nur erfüllen können, wenn es Fahrwege, Fahrzeuge und Fahrpläne gibt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eingehalten werden. An diesem Beispiel wird die Ordnungsfähigkeit entwickelter und weniger entwickelter Gesellschaften gemessen und ihr Versagen in hochtechnisierten Gesellschaften wirkt besonders provozierend (Deutsche Bundesbahn).
Dietrich Dörner begründet unser Bedürfnis nach Ordnungen in der Verschränkung von Motivation und Emotion auf psychologischer Ebene, die vier Bedürfnisse befriedigen soll:
- Die Notwendigkeit zu überleben (essen, trinken, kleiden, Sex, fortpflanzen, kämpfen, fliehen, Schmerzen vermeiden entspannen, usw. – das zweite Chakra),
- das Zusammenleben mit anderen Menschen, die damit notwendig verbundene Suche nach Geselligkeit und der dazu gehörenden Regeln (Moral),
- die Suche nach Bestimmtheit der Informationen, die wir benötigen (Verstand, Kausalität, vorhersagen und zurückblicken, Sicherheit), angetrieben durch Neugier (Risikobereitschaft, Versuch und Irrtum),
- den Aufbau von Kompetenz und der damit verbundenen Kontrolle (Durchsetzungskraft, Führungswille, Kreativität und Freiheit).26
Die Befriedigung dieser Bedürfnisse ist nur innerhalb einer relativ stabilen Ordnung möglich, die nicht durch willkürliche Entscheidungen einzelner mächtiger Menschen beliebig zur Disposition steht. Macht ist nur dann ein Ordnungsfaktor, wenn sie sich selbst innerhalb der Schranken des Rechts bewegt. Anarchisten verkennen das: »ni dieu, ni maitre« (Louis Auguste Blanqui (1805-1881). Hinter diesem Satz steht die Vermutung, die Macht werde verschwinden, wenn man Gott beseitigt, von dem alle Macht stammt. Aber als man ihn beseitigt hatte, war damit Macht nicht verschwunden. Anarchisten ist auch die Erkenntnis schwer zugänglich, dass es unter ihnen Mächtige und Ohnmächtige gibt, Einflussreiche und Bedeutungslose – und jede andere Variante, die wir aus dem sozialen Leben kennen: Mit der Behauptung, wir könnten ein soziales Leben ohne Ordnung haben, verschwinden die Machtdifferenzen nicht, vielmehr sind die an die Macht, die den Versuch, Ordnung zu schaffen, wirksam unterdrücken können.
Jedes dieser Bedürfnisse kann situationsbedingt die anderen dominieren, zu ihnen im Widerspruch stehen und sich gegenseitig beeinflussen. So bilden sich Machtlinien, vor allem zwischen der Bestimmtheit und der Kompetenz:
»Das ist einerseits ein Bedürfnis nach der Fähigkeit möglichst viel vom Geschehen in der Umwelt vorauszusagen. Das ist also das Bedürfnis nach Bestimmtheit, übrigens auch Bestimmtheit der Innenwelt – ich muss mich selbst auch verstehen. Das andere kognitive Motiv ist das Bedürfnis nach Kompetenz, oder, altertümlich gesprochen: Nach Macht. Macht ist die Fähigkeit, etwas zu bewirken, etwas machen, die Welt so verändern zu können, dass ich meine Bedürfnisse befriedigen kann. Das sind die beiden kognitiven Bedürfnisse, sie führen nämlich beide zu Erkenntnissen … Deshalb kann man Kommunikationstheorie nicht ohne Motivationstheorie betreiben; wenn man diese kognitiven Motive weglässt, dann fehlt etwas ganz Entscheidendes«.27
Häufig finden sich in der politischen und wissenschaftlichen Diskussion die Vorstellungen, gravierende Änderungen in den Machtverhältnissen würden ins Chaos führen:
»Wenn Hitler siegt – ich glaube niemand macht sich auch nur im entferntesten eine Vorstellung von der weltrevolutionären Umwälzung, die dann eintreten wird. Nicht bloß in Europa, in der ganzen Welt werden alle inneren und äußeren Ordnungen umstürzen. Es wird geschehen, was nie zuvor in der Geschichte des menschlichen Geschlechtes geschehen ist: Ein universaler Zusammensturz aller Ordnung!«28
Diese Voraussage war falsch: Es wurde lediglich eine zivile durch eine militärische Ordnung ersetzt, die am Ende scheiterte. Wie uns die Geschichte gezeigt hat, sind zwar in den letzten 80 Jahren unvorstellbar zerstörerische Kriege geführt worden, die aber nur vorübergehend zum Chaos, und dadurch zu einer Neuverteilung der Macht geführt haben. Menschen schaffen sich unter allen Umständen eine Ordnung, weil sie nur in gesellschaftlichen Strukturen überleben könnten und diese Strukturen eine Ordnung haben müssen, um hinreichend stabil zu bleiben.
Häufig finden sich bis heute in der Diskussion die Vorstellungen, die Natur befinde sich in einem Chaos, dem die Menschen ihre Ordnungsvorstellungen entgegensetzen müssten. Dem entgegnen andere Stimmen, die natürlichen Ordnungen würden durch menschliche Eingriffe dauernd zerstört und könnten sich dagegen nicht wehren. Wieder andere weisen darauf hin, dass die Natur letztlich stärker sei als alles, was der Mensch mit seinen Kräften verändern könne – so etwa im Mythos vom Turmbau zu Babel: Technische Anmaßungen dieser Art würden letztlich an sich selbst scheitern, so etwa an der Unmöglichkeit, innerhalb der divergierenden gedanklichen Konstruktionen, die Menschen entwickeln könnten, eine einheitliche Konzeption (wie sie sich z. B. einer gemeinsamen Sprache ausdrücken) zu entwickeln. In der asiatischen Formel Wu-Wai: »Durch Nichtstun bleibt nichts ungeordnet«29 treffen wir auf die Erkenntnis, dass Ordnungen und Strukturen aus unterschiedlichen Perspektiven auch unterschiedlich gesehen werden:
»Da er keinen Namen hat, tut er nichts;
da er nichts tut, bleibt nichts ungetan.
Die Jahreszeiten haben ihren Anfang und ihr Ende;
die Zeitalter haben ihre Wandlungen und Entwicklungen.
Unglück und Glück sind in ständigem Fluss;
wo sie sich einstellen, bringen sie hier etwas
Angenehmes, da etwas Unangenehmes.
Da jedes Einzel-Ich einen anderen Standpunkt bezieht,
gibt es das Rechte und das Falsche.«
Wir könnten weder als einzelne noch in der Gesellschaft überleben, wenn wir nicht versuchten, die Rahmenbedingungen zu bestimmen, die uns letztlich die Kontrolle über Gegenstände und Menschen verschaffen. Das geschieht im Spannungsverhältnis zwischen dem Ich und der Gesellschaft. Wenn nicht im Lauf der Jahrtausende genügend Menschen die Fähigkeiten und den Willen dazu entwickelt hätten, gäbe es uns heute nicht mehr. Aber jeder Mensch, jede Gruppe und jeder Staat entwickelt jeweils eigene Ordnungskonzepte. Sie stoßen nicht nur auf die Ordnungen innerhalb der Natur (denen wir auch selbst unterliegen), sondern auch auf die Ideen anderer Menschen, gegenüber denen es sich mehr oder weniger erfolgreich durchsetzt. So entstehen Machtdifferenzen.
Bewusst und unbewusst fragen wir uns in jeder Lebenssituation, in der wir mit anderen Menschen zusammentreffen: Werde ich meinen Willen durchsetzen können oder muss ich mich dem Willen anderer anpassen? Wir checken die Machtdifferenzen, die wir – abhängig von der jeweiligen Situation – nicht immer realistisch einschätzen können. Theoretisch haben wir in allen Lebenssituationen den unbedingten »Willen zur Macht« (Friedrich Nietzsche), denn, wie er schreibt, richtet sich unser »Wille zur Wahrheit« nicht auf die Erkenntnis der Wirklichkeit, sondern auf die »Denkbarkeit alles Seienden«. Die Realität solle sich uns »fügen und biegen«, unser Wille zur Wahrheit sei nichts anderes als ein »Wille zur Macht«30. Tatsächlich können wir uns nie sicher sein, in welchem Umfang die Fragen, die wir stellen, von unbewussten Motiven beeinflusst werden, die uns dazu bringen, (manchmal haarscharf) an der Realität vorbeizuzielen. Aber wir lernen schon sehr früh, dass es Machtdifferenzen gibt, die wir – jedenfalls in der aktuellen Situation – nicht überwinden können (Alter, Geburtsrang, Kapital, Wissen, Beziehungen usw.).
Um Fehler zu vermeiden, orientieren wir uns an äußeren Zeichen (Uniformen, Herolde, Entourage, Sprache usw.) und wer sie nicht lesen kann, wird sie oft genug unter Schmerzen lernen müssen: Es gibt keinen unerträglicheren Angriff gegen einen Menschen mit überlegener Macht, als sie nicht wahrzunehmen, oder zu leugnen. Eine Macht, die nicht anerkannt wird, besteht nach außen hin ohne jeden Zweifel weiter, wird aber von denen, die sie in Händen halten, nicht mehr als uneingeschränktes Potenzial empfunden. Nur der Hofnarr hat die Erlaubnis, die Macht unter kontrollierten Bedingungen lächerlich zu machen.
Ein noch so hochgestellter Beamter, Politiker oder Soldat wird einer Gruppe von Schulmädchen ausweichen, die im Pulk auf ihn zukommen; der Präsident einer Universität ist zwar formal mächtiger als der Pförtner, aber er muss sich dem Pförtner beugen, wenn es um den Feuerschutz oder andere Sicherheitsfragen geht; Gruppen von mehr als 15 Personen, die gemeinsam über die Straße oder über Kreuzungen gehen, können jede Ampel ignorieren, wie Feldforschung gezeigt hat. Alte Leute, die ohne Rücksicht auf andere und großer Selbstgefährdung halb blind über die Straßen stolpern, sind ebenfalls mächtiger als der Straßenverkehr, sie treffen eine Entscheidung, die anderen widerstrebt, fordern unverhohlen die Rücksicht der Verkehrsteilnehmer und zwingen ihnen so ihren Willen auf. Die Macht der Hilflosigkeit kann jede andere Form überragen, wie wir an unseren Reaktionen gegenüber Kleinkindern sehen können.
Wir beobachten dieses Phänomen sehr deutlich in staatlichen Bürokratien und in großen Unternehmen, die bürokratische Strukturen nicht hinterfragen. Wie oft ist zu beobachten, dass große politische oder strategische Entscheidungen getroffen werden und nichts davon umgesetzt werden kann. Die Schließung der Lücke zwischen Idee und Wirklichkeit ist die zentrale Führungsaufgabe, an der viele scheitern.
Selbst strenge Hierarchien, sogar absolut totalitäre Regime, die – wie etwa die Nazis – durch »Gleichschaltung« versuchen, jedes Feld unseres sozialen Lebens zu besetzen, sind nicht in der Lage, ihre Macht lückenlos innerhalb der sozialen Systeme durchzusetzen. Immer wieder gibt es Lücken, in denen sich machtresistente Inseln bilden. Sie können aus einzelnen Menschen bestehen, aber auch aus Gruppen und sie finden sich nicht zuletzt auch in den eigenen Reihen der Machthaber: Einige von ihnen haben individuelle Interessen, die sie im Rahmen der gesamten Machtkonstruktion durchsetzen, so vor allem die Bereicherung, die Ruhmsucht, die soziale Anerkennung usw. Wenn Sie diese Interessen unter dem Schleier der ihnen verliehenen Macht durchsetzen können, schaden sie ihr gleichzeitig, denn das Verhalten der Amtsinhaber wird immer der ihr übergeordneten Hierarchie zugerechnet.
Und schließlich: Eine Überlegung als literarischer Perspektive:
»Vielleicht ist die Macht ein zu wenig beachtetes Tabu? Allgegenwärtig bis in unsere höchsten Fragen, tiefsten Themen, heiligsten Gefühle, dabei meist ignoriert, verkitscht oder verbrämt, scheint sie an korrumpierender Kraft der sexuellen mindestens ebenbürtig, wenn nicht überlegen. Der Machttrieb löst sich so wenig wie der andere in Luft auf, wenn man ihn identifiziert. Doch verleugnet ist er so gefährlich wie jener, im gesellschaftlichen wie im privaten Bereich. Lernt, wer sich ihm stellt, besser mit sich umzugehen, vielleicht sogar bis hin zu den Letzten Dingen.«31
Die Möglichkeiten, innerhalb einer sozialen Beziehung seinen Willen durchzusetzen, werden von der statistischen Wahrscheinlichkeit (der Chance) bestimmt, die in der jeweiligen konkreten Situation vorliegt:
»›Kausal adäquat‹ soll … ein Aufeinanderfolgen von Vorgängen in dem Grade heißen, als nach Regeln der Erfahrung eine Chance besteht: daß sie stets in gleicher Art tatsächlich abläuft. … Kausale Erklärung bedeutet also die Feststellung: daß nach einer irgendwie abschätzbaren, im – seltenen – Idealfall: zahlenmäßig angebbaren, Wahrscheinlichkeitsregel auf einen bestimmten beobachteten (inneren oder äußeren) Vorgang ein bestimmter anderer Vorgang folgt (oder: mit ihm gemeinsam auftritt).
Eine richtige kausale Deutung eines konkreten Handelns bedeutet: daß der äußere Ablauf und das Motiv zutreffend und zugleich in ihrem Zusammenhang sinnhaft verständlich erkannt sind. … Fehlt die Sinnadäquanz, dann liegt selbst bei größter und zahlenmäßig in ihrer Wahrscheinlichkeit präzis angebbarer Regelmäßigkeit des Ablaufs (des äußeren sowohl wie des psychischen) nur eine unverstehbare (oder nur unvollkommen verstehbare) statistische Wahrscheinlichkeit vor.«32
»Nur das Vorliegen dieser Chance: – der mehr oder minder großen Wahrscheinlichkeit also, daß ein sinnentsprechendes Handeln stattfindet, und nichts darüber hinaus – bedeutet der »Bestand« der sozialen Beziehung…«33
Einzelne Menschen haben ohne ihr Zutun mehr Macht als andere, weil sie bestimmte persönliche Eigenschaften (Schönheit, Kraft, Alter, Wissen, Intelligenz, Machtwillen etc.) haben, einen höheren gesellschaftlichen Rang einnehmen als andere (Beziehungen, Reichtum etc. – teils geerbt, teils erworben) oder ihnen bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden, die sie in den Augen der Anderen haben (Priester, Magier, charismatische Personen). Andere haben sich durch bestimmte Leistungen die Anerkennung erworben, die zu ihrer Machtposition führt. Alle diese Faktoren, die Art und Umfang unserer Macht bestimmen, können wir nur in sehr geringem Maße selbst beeinflussen.
Wir können auch versuchen, gegen diese Einsichten zu leben, indem wir sie verdrängen oder psychisch so verändert sind, dass wir sie nicht mehr mit der uns umgebenden Realität in Einklang bringen können.
Mitten im Überfluss lebend kann es sein, dass wir uns verzweifelt um das Überleben bemühen, im Besitz aller Macht suchen wir sie zu vergrößern und wir unterdrücken jeden Zweifel, dem wir aber nachgehen sollten, wenn die Informationen, die wir haben, nicht zur Wirklichkeit passen. Oft stehen wir vor einer tragischen Wahl, in der wir uns falsch entscheiden.
3. Strategien: Horizontale und vertikale Machtverteilungen
»Die Strategie ist ein System der Aushilfen.«
Helmuth von Moltke
Es gibt zahllose historische und soziologische Theorien darüber, wie sich Machtverhältnisse historisch entwickelt haben könnten. Mit hoher Wahrscheinlichkeit folgt die Verteilung der Macht den Grundsatz des Gebens und Nehmens: Wer Macht ohne Anwendung von Gewalt beansprucht, muss Qualitäten haben, die denjenigen, die sich seiner Macht unterwerfen, einen Nutzen bringen. Die wesentliche Qualität besteht in der Fähigkeit, einen Schutz zu bieten, auf den nicht jeder einen Zugriff hat34. Eine besondere Verbindung zu höheren Mächten, wie sie die Priesterkönige alter Kulturen innehatten, kann dazu gehören, die auch das Erbe einer Machtposition begünstigt, aber auch besondere Führungsqualitäten, die bei der Jagd und im Krieg nützlich sind, in jüngerer Zeit muss jemand überragende Kommunikationsfähigkeiten haben, um sich gegenüber anderen durchsetzen zu können.
Wer die Macht mit Gewalt an sich reißt, braucht zunächst nur die Fähigkeit, Gewalt erfolgreich anzuwenden. Aber danach folgen »die Mühen der Ebene«, also die Aufgabe, die Macht aufrechtzuerhalten. Das kann mit Terror viele Jahrzehnte lang gelingen (UdSSR, DDR usw.), aber irgendwann implodieren diese Systeme.
Macht verteilt sich auf den sozialen Plattformen je nach den Umständen in beliebige Richtungen: In einer Universität z. B. ist der Rektor formal die Person mit der meisten Macht, die alltäglichen Organisationsabläufe hingegen liegen in der Hand der Hausmeister – und die sind (auch gegenüber dem Rektor) mächtiger: wenn er z. B. in seinem Vorlesungssaal ein Fenster geöffnet haben will, das laut Hausordnung geschlossen bleiben muss.
Die Machtverteilung orientiert sich dabei entweder von oben nach unten oder umgekehrt. Seitwärtsbewegungen sind selten, in diesen Fällen entwickeln sich meist schräge Vektoren, die zwar seitwärts laufen, aber sich gleichzeitig nach oben oder unten orientieren. In politischen Systemen sind autoritäre und totalitäre Systeme (bei denen die Macht von oben nach unten verteilt wird) häufiger als demokratische Systeme, jedenfalls dann, wenn man hinter die Kulissen der jeweiligen Bezeichnungen blickt. In vielen Demokratien gibt es zwar die Fassade einer Wahl, aber sie wird manipuliert und selbst wenn die Wahlen in Ordnung sind, ändern sie oft an der Machtverteilung nichts. Zudem gibt es hier unzählige Zwischenformen (direkte und indirekte Demokratie).
Auch innerhalb von Systemen, die die Macht grundsätzlich von unten nach oben verteilen, bilden sich Zwischenebenen, in denen es genau umgekehrt vor sich geht. So bilden die ins Parlament entsandten Abgeordneten untereinander Hierarchien (Fraktionen), die die Gewissensfreiheit der Abgeordneten nicht unerheblich einschränken können. Ohne solche Systeme der Abschottung können auch Demokratien kaum funktionieren.
Die meisten Menschen gelangen in die von ihnen gehaltenen Machtpositionen aufgrund der Zufälle des Lebens. Wenn sie in eine Entscheidungssituation beraten, folgen sie meist instinktiv entwickelten taktischen Überlegungen und nur wenige denken strategisch darüber nach, welche Positionen sie innerhalb des ihnen zugänglichen Machtgefüges einnehmen können oder wollen. Und noch weniger Menschen haben Fantasien darüber, wie sie in unzugängliche Positionen gelangen könnten. Wenn sie gleichzeitig tiefe Kluft zwischen Denken und Handeln überwinden können, gehören sie zu den in der Außenwelt erfolgreichsten Menschen, die wir kennen.
Clausewitz definiert die Strategie als den »Gebrauch des Gefechts zum Zweck des Krieges« und erkennt, dass sie nicht allein am Schreibtisch entworfen, sondern den jeweiligen Lagen angepasst werden muss.35 Sie ist aber, wie Helmuth von Moltke später erkannt hat, immer nur ein System der Aushilfen:
»Sie ist mehr als Wissenschaft, ist die Übertragung des Wissens auf das praktische Leben, die Fortbildung des ursprünglich leitenden Gedankens entsprechend den stets sich ändernden Verhältnissen, ist die Kunst des Handelns unter dem Druck der schwierigsten Bedingungen.«36
Schon die Umsetzung einfacher Ideen in geeignete Handlungen ist – wie Clausewitz stets hervorhebt – keine einfache Aufgabe, umso schwieriger ist sie zu lösen, wenn man unter Druck gerät. Die Begabung dazu kann sich nur unter immer neuen Erfahrungen entwickeln, denen nicht jeder sich stellen will. So erklärt sich die Vielzahl von hochbegabten Menschen, die es vorziehen, in den Hinterzimmern der Macht als Graue Eminenzen zu wirken, weil sie öffentliche Angriffe nicht aushalten.
Wie Machtverteilungen (unabhängig von den jeweiligen Bezeichnungen) sich tatsächlich entwickeln, kann nur durch Analyse der jeweiligen Systeme ermittelt werden. Das ist allein durch Meinungsumfragen schwer möglich, die in autoritären Systemen ohnehin kaum durchführbar sind. Denn die wirkliche Machtverteilung bedient sich häufig einer Verkleidung, die die wirklichen Verhältnisse verstecken soll.
Häufig wird auch von den formalen Möglichkeiten, die ein System bietet, keinen Gebrauch gemacht, weil damit persönliche Interessen verbunden sind. Wer z. B. in einer politischen Partei zu einer Abstimmung aufruft, obwohl die Beschlüsse, die zur Debatte stehen, hinter den Kulissen längst gefasst worden sind, gerät bereits durch den Wunsch nach der Einhaltung formaler Regeln ins Abseits. Oder in einer wissenschaftlichen Akademie: Über ein umstrittenes Thema soll abgestimmt werden, eine große Zahl der Beteiligten will aber keine Klärung der Verhältnisse – aus welchen Motiven auch immer.
4. Herrscher, Stellvertreter und Beherrschte
»Dass Könige philosophieren oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: Weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.«37
Macht kann sich niemals ins Leere hinein entwickeln. Die Macht, die Einzelnen übertragen wird (oder die sie sich nehmen) hebt sie aus der Menge der anderen heraus bis hin zu mythischen Verbindungen, die ihnen zu höheren Kräften nachgesagt werden. Schon einer, der die Initiative ergreift (Führen ohne Auftrag), weil das kein anderer tut, regelt damit die Machtverhältnisse und unterscheidet Herrscher und Beherrschte. Dieser Zustand mag nur sehr kurze Zeit dauern, bis die Machtdifferenz sich wieder ändert und der bisherige Herrscher zum Beherrschten wird. Aber sie kann sich auch absolut verfestigen, denn eines der zentralen Probleme der Macht ist ihre Tendenz, sich absolut auszuweiten und damit Grenzen zu überschreiten, die die soziale Ordnung zerstört, die Macht schaffen soll. Wenn solche Verhältnisse absolut unerträglich werden, sind sie noch mit Gewalt zu ändern.
In alten Kulturen, wie etwa in Ägypten oder bei den Maya, in denen der Herrscher eine mythische Verbindung zu den Göttern unterhält, ist die Bildung solcher Mythen leicht verständlich. Im alten China wurde der Herrscher in einer Sänfte getragen, um damit anzudeuten, er schwebe zwischen Himmel und Erde, eine Metapher, die auch in anderen Kulturen sofort verstanden – und satirisch verzerrt – wird: »Es gibt gewisse Orte, auf die auch der Kaiser zu Fuß hingeht«. Aber selbst wenn solche Mythen und Metaphern vergangen sind, neigen wir dazu, die ohnehin schon vorhandene Macht führender Personen in unseren Augen zu vergrößern und zu steigern. Wir sprechen Ihnen – oft genug unbewusst – magische Fähigkeiten zu, so die Erythraeische Sibylle: »Er lebt und er lebt nicht«38. Und so entsteht dann neben dem physischen Körper des Königs auch ein ideeller Körper, der seine soziale Funktion darstellt.39
Das Streben nach Macht ist eine individuelle Eigenschaft, in der sich Verstand, Gefühl und Wille in einer einzigartigen Mischung auf dieses Ziel richten. Niemand kann mächtig werden, der nicht bewusst oder unbewusst danach strebt, dass andere Menschen sich seinem Willen beugen. Das kann nur gelingen, wenn andere sich spiegelbildlich – aus welchen Motiven auch immer – dem Willen anderer unterwerfen. Und zwar nur seinem Willen, nicht seinen Argumenten, nicht seinem Charme, nicht aus Liebe oder sonstigen Motiven, sondern nur »weil ich das will«!
Oft wird Machtlosigkeit im sozialen Leben dadurch kompensiert, dass im engen Kreis der Familie Macht ausgeübt wird. Macht ist moralisch neutral, sie kann im Guten wie im Schlechten angewendet werden. In beiden Fällen und so gering wie Macht auch sein mag – man wird süchtig von ihr. Macht vermittelt Dir das Gefühl der Sicherheit, ja sogar die Illusion den Tod zu beherrschen, wenn Du z. B. anderen den Tod gibst. Geschieht das in einer Gruppe, verstärkt die Gruppendynamik diese Illusion40.Das ist der wesentliche Grund, warum es so schwierig ist, Menschen aus langjährig besetzten Machtpositionen zu verdrängen – sie kämpfen mit allen denkbaren Mitteln darum, dieses Gefühl nicht mehr zu verlieren. Vor allem dann, wenn die Macht dem Guten dient – so vor allem in Ehrenämtern – ist sie die einzige Kompensation dafür, dass jemand etwas für andere leistet ohne eine unmittelbare Gegenleistung zu verlangen. Stattdessen erhält er das Gefühl der Macht, ein wertvolles Geschenk.
Jemand der Macht hat, ohne sie erkämpft zu haben (eine geerbte Königswürde, ein in Krisenzeiten zum Politiker berufener Dichter), kann sich dieser Rolle nicht entziehen, er muss seine Selbstzweifel und seine Intellektualität im Griff halten, wenn er führen will. Wer gleichzeitig »der Herr der Welt und ihr Verneiner«41 ist (wie es von dem römischen Consul Sulla gesagt wurde), kann nichts Positives für andere Menschen bewirken.
Als Inhaber der Macht wird einfachheitshalber immer derjenige benannt, der die Entscheidung nach außen hin kommuniziert, auch wenn er sie – z. B. als Mitglied einer Gruppe nicht allein in Händen hält. Aber selbst wenn ein Diktator eine nur von ihm allein getroffene Entscheidung verkündet, ist seine Macht doch davon abhängig, dass eine Vielzahl anderer Menschen sie akzeptiert und an ihrer Umsetzung mitwirkt. Wer seine Entscheidung in den leeren Raum hinaus ruft, hat keine Macht.
Wenn Menschen dem Willen anderer Menschen folgen, geschieht dies ganz überwiegend durch Unterordnung innerhalb definierter Systeme, seltener im Weg einer individuellen Entscheidung und noch seltener in der Auseinandersetzung. Dies in der richtigen Erkenntnis, dass die die eigenen Chancen auch durch Unterordnung unter andere Menschen gesteigert werden, deren Macht größer ist als die eigene.
Macht realisiert sich nicht nur in aktuellen Entscheidungen, die den Willen einzelner Menschen oder Gruppen bestimmen, sondern beeinflusst das Verhalten der Menschen (einschließlich ihres Unterbewusstseins) durch den »Schatten« früher getroffener oder künftig geplanter Entscheidungen.
4.1. Die Reichweite der Macht ist begrenzt
Wenn jemand nicht die Fähigkeit hat, andere Menschen davon zu überzeugen, dass es ihnen selbst nützlich ist, wenn sie ihren Willen mit dem eines anderen mindestens koordinieren, wenn nicht sogar sich ihm beugen, kann er keine Macht entwickeln. Auf den ersten Blick ist es unwahrscheinlich, dass jemand sich einem anderen unterordnet und nicht selbst den Willen entwickelt, diese Position einzunehmen. Hochintelligente Menschen ziehen es vor, sich weniger intelligenten unterzuordnen, denen sie aber den Willen zutrauen, den sie selbst nicht entwickeln können. Jeder spürt solche Differenzen und lernt im Lauf der Zeit, dass es für ihn besser ist, sich auf seiner eigenen Kernkompetenzen zu besinnen und im Übrigen mit anderen zu kooperieren. Da das durch Tierversuche jedenfalls auf der Ebene der Primaten zweifelsfrei nachgewiesen ist (Frans de Waal/Michael Tomasello), können wir davon ausgehen, dass ein solches Verhalten bereits in unseren Genen angelegt ist und wir bereits instinktiv bestimmte Machtstrukturen akzeptieren oder ablehnen.
Der Wirkungskreis der Macht ist nicht beliebig vergrößerbar: »Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit« (russisches Sprichwort). Wer mehr als seine unmittelbare Umgebung beherrschen will, muss Menschen finden, denen er einen Teil seiner Macht anvertrauen kann, ohne sie damit mehr als nötig zu gefährden. Abhängig von den jeweiligen Rahmenbedingungen kann es beiden Seiten nützlich sein, Macht auszuüben oder sich zu unterwerfen, so vor allem, um einen gemeinsam angestrebten Erfolg zu sichern, der etwa beim Zusammenschluss von Gruppen und ihrer Abgrenzung zu anderen Einzelnen oder Gruppen durch Bildung von Ordnungen, Hierarchien und innerer Geschlossenheit notwendig ist. Dieses Vertrauen entsteht aber nur auf der Ebene der Reziprozität auf beiden Seiten: Wer ein Teil der Macht werden will, muss Solidarität zeigen, wer Solidarität erhalten will, muss die Leistung mit einer Gegenleistung für geltend. Das gilt vor allem für jene, die ein Mächtiger im Weg der Delegation einzelner Teile seiner Macht zu seinen Stellvertretern erklärt hat.
Zwischen denen, die Macht besitzen und allen anderen, die sich ihrem Willen beugen, besteht ein Verhältnis der Gegenseitigkeit. Wer sich der Macht beugt, will an ihr teilhaben. Friedrich Nietzsche hat diese Einsicht in der Moderne völlig neu durchdacht und im Zarathustra zur Sprache gebracht:
»Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein. Dass dem Stärkeren diene das Schwächere, dazu überredet es sein Wille, der über noch Schwächeres Herr sein will: Dieser Lust allein mag es nicht entrathen«.42
Diese Teilhabe ist der Beginn der Konkurrenz zu dem Mächtigen. Je näher man ihm kommt, umso leichter wird man seine Schwächen entdecken und für sich selbst Chancen sehen, die Macht zu übernehmen. Selbst der Gefolterte oder Ermordete zwingt den Täter zu der Einsicht, dass er ihn nicht mühelos überwinden konnte. Noch weniger kann der Täter die Wirkung seiner Tat auch nur annähernd einschätzen. In bestimmten Situationen ist eine einzige politische Untat der Flügelschlag des Schmetterlings, der Systeme zum Einsturz bringt.
Mitglieder einer Gruppe (vor allem: einer Familie) stehen sich untereinander näher als in ihren Beziehungen zu Dritten. Carl Schmitt hat das als Freund/Feind – Relation bezeichnet und vielleicht auch wegen dieser Begriffswahl viel Widerspruch hervorgerufen. Die Begriffe machen aber klar, dass Machtbeziehungen nicht dazu dienen, Theorien aufzustellen, sondern seinen Willen durchzusetzen. Sie definieren den Unterschied zwischen Denken und Handeln, ein Unterschied, der etwa durch den Begriff der »Kritik« oft genug verschleiert wird: Sie kann der Bezeichnung kontroverser Theorien dienen oder eine Revolution einleiten43. Wer auf politischer Korrektheit in der Sprache besteht, zieht die Grenzen bereits dort – und beeinträchtigt damit das offene Denken.
So werden wir mit dem Fremden konfrontiert und erkennen die Strategien von Aggression und Kooperation. Sie verstärken sich in der Gruppendynamik, denn nur in wenigen Ausnahmefällen begegnen wir uns als einzelne, meist aber in einer definierten Rolle, die wir in einer Gruppe gefunden haben. Jeder einzelne wie jede Gruppe muss mindestens zwischen sich, der eigenen Gruppe und anderen als Fremden, im Kern also immer zwischen Freund und Feind unterscheiden und geeignete Wege finden, mit den Freunden zu kooperieren und die Ziele der Feinde zu durchkreuzen44. Ob er dazu Kooperation oder Konfrontation wählt, ist eine offene Frage und nicht zuletzt von den Machtdifferenzen abhängig.
Aufgrund der Interdependenz aller Beteiligten können sich einseitige Positionen allerdings nie auf Dauer durchsetzen: Zwar »stehen alle Räder still, wenn Dein starker Arm es will« – aber wenn diese Räder lebensnotwendig sind, muss jemand sie wieder in Bewegung setzen. Wer immer das ist, er tritt in die formalen Fußstapfen seines Vorgängers und erzeugt damit, ob er will oder nicht eine neue, wenn auch andere Machtdifferenz, in der die Distanzen zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft auf andere Weise Ausdruck finden.
Es kann auf Zufall45 beruhen, ob jemand eine Machtdifferenz zu seinem Nutzen ausnutzt, oder nicht, es ist jedenfalls nicht immer eine bewusste Entscheidung, das zu tun (die Interessenlage, nach der ein Mensch sich richtet, muss ihm nicht immer bewusst sein). Vieles hängt von dem sozialen Resonanzboden ab, auf dem jeder steht (oder nicht steht). Die meisten Menschen haben keine Naturbegabung beim Umgang mit der politischen Macht und die Lehrzeiten sind lange und oft wenig ergiebig. Aber in einer Krise werden Menschen zu Politikern, die das sonst nie getan hätten.
4.2. Graue Eminenzen
Zur Anerkennung und Durchsetzung der Macht gegenüber anderen dienen Rollen, Rituale usw. der unterschiedlichsten Art (Geßlers Hut). Häufig bleibt unklar, ob derjenige, der die Macht nach außen repräsentiert, auch derjenige ist, der sie in Händen hat, denn wesentliche Chancen der Macht ergeben sich auch daraus, dass sie die Möglichkeit hat, unerkannt zu bleiben. (Graue Eminenzen). Wie die Machtlinien und Machtdifferenzen verlaufen, denen wir täglich begegnen, ist also nicht offensichtlich.
Wer zwar die Macht in Händen hat, aber nicht führen kann oder will, beschränkt sich auf wenige, ihm bequeme Aufgaben, delegiert alles, was Mühe macht und erwartet entsprechende Gegenleistungen – ein für beide Seiten nützliches Verhältnis. Das Prinzip von Leistung und Gegenleistung, eines der Grundelemente der Moral, entsteht auf diese Weise und so kommt es, dass die Regeln der Macht unser soziales Verhältnis in jeder Hinsicht bestimmen.
Diese Aufgabe ist nicht einfach. Natürlich wird jede Institution nach außen hin erkennbar von Menschen geführt, denen die dazu nötigen Kompetenzen übertragen worden sind. Ob hinter diesen Kompetenzen aber tiefer gestaffelt ganz andere Kompetenzen liegen, die von anderen Menschen gehalten werden, die wir nicht sehen, ist allzu oft zu beobachten.
Häufig bleibt unklar, ob derjenige, der die Macht nach außen repräsentiert, auch derjenige ist, der sie in Händen hat, denn wesentliche Chancen der Macht ergeben sich auch daraus, dass sie die Möglichkeit hat, unerkannt zu bleiben. Wie die Machtlinien und Machtdifferenzen verlaufen, denen wir täglich begegnen, ist also nicht offensichtlich.
Man kann sich fragen, warum solche Grauen Eminenzen nicht offen um die Macht kämpfen, die sie aus dem Hintergrund ausüben. Der Grund: Sie hätten niemals Chancen, sich diese Macht persönlich zu erobern, sei es durch Gewalt, sei es durch Wahlen. Ihr Gefühl, wirklich am Steuer zu sitzen, verschafft ihnen eine größere Gewissheit ihres Einflusses, als die Vorstellung, sich in den Fond setzen zu können. Sie träumen nicht einmal davon, denn das Gefühl, Mächtige zu beherrschen ist oft faszinierender, als die Macht selbst auszuüben.
Wer sich in einer intimen Nähe zu einem Menschen befindet, der Macht hat, kann an dieser Macht teilnehmen, er kann selbst Macht gewinnen (auch gegenüber den Mächtigen), aber er läuft gleichzeitig Gefahr, von ihr direkter erfasst zu werden als andere. Intimität verändert die Machtverhältnisse auf beiden Seiten.
5. Lust an der Macht und an der Unterwerfung
»Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht; und noch im Willen des Dienenden fand ich den Willen, Herr zu sein.«46
5.1. Die Gefühlslagen der Macht
Die Steuerung der Macht durch das Unterbewusstsein wird nur selten diskutiert, sie ist aber ohne weiteres an unseren Gefühlen zu beobachten, wenn wir durch Zufall in eine Machtposition geraten. Wer die Macht bewusst an sich reißt, tut das, weil er weiß, dass die anderen sich ihm unterwerfen werden, wenn es gelingt. Wem aber die Macht zufällig in den Schoß fällt, wird von den Gefühlen überrascht werden, die ihn begleiten, wenn andere ihm dann die Türen öffnen und ihn unterstützen:
»Wer noch nie den berauschenden Geschmack der Macht gekostet hat, kann sich diesen plötzlichen Adrenalinstoß nicht vorstellen, der den ganzen Körper durchfährt, Harmonie in die Bewegungen bringt, jede Müdigkeit auslöscht, jede Realität, die sich nicht dem Gebot der eigenen Lust unterwirft, diese schrankenlose Ekstase der Macht, wenn man nicht mehr kämpfen muss, sondern nur noch genießen kann, was man erreicht hat, und den Rausch, Furcht einzuflößen, endlos auskostet.«47
Solche Gefühle können nur in der Realität wachsen und sie entstehen nur auf der Basis von konkreten Erfahrungen des Einflusses, den Du selbst auf andere hast. Manche merken ihre Macht nicht, manche nutzen sie unbewusst aus, so vor allem dann, wenn sie selbst in einer untergeordneten Position sind, aber die Möglichkeit haben, Höherrangige in Verlegenheit zu bringen (die Macht der Toilettenfrauen, der Kellner, der Taxifahrer usw.).
Umso schmerzlicher wirkt sich der Verlust der Macht auf unsere Gefühle aus. Obwohl wir genau verstehen, dass die Zeichen der Macht nur zeitweise verliehen werden, gewöhnen wir uns an sie und leiden unter dem den Entzug des Status: Politikerinnen steigen auch nach ihrer Entmachtung instinktiv nach hinten in den Fond ihrer Autos, obwohl sie jetzt keine Fahrer mehr haben. Und nehmen dann an Tanzwettbewerben teil, die im Fernsehen übertragen werden, um wieder von Blitzlichtern gestreift zu werden.
Auch die Unterwerfung wird von starken Gefühlen begleitet. Wer sich einem Mächtigen unterwirft, nimmt an dessen Macht teil: »Der Herrscher braucht Knechte, und diese sind ebenso gut seine Herren, wie er der ihrige«.48 Das ist die Belohnung für die Erkenntnis, dass er selbst keine Chancen hätte, die Macht zu ergreifen. Wer sich unterwirft, ahnt:
»Keine Aggression diabolischer als die Unterwürfigkeit. Sie bringt, à la longue, jeden Herrscher zu Fall, weil sie seine Hybris fördert.«49
Die Gefühlslandschaft, in der wir uns im Umkreis der Macht aufhalten, folgt dem gleichen Schema wie die sexuellen Gefühle. Auch im Sex erleben wir Macht und Ohnmacht schon in den ersten Annäherungen (dort: in zarten Andeutungen) wie später in Extremfällen in sado-masochistischen Rollenspielen. Macht und Sexualität sind deshalb mindestens formal enger miteinander verbunden, als man allgemeinen denkt.
Wie stark die Beziehung zwischen den Mächtigen und denjenigen ist, die ihnen dienen, kann man am besten in den besonderen Strukturen erkennen, die eine Gruppe bildet, die sich als Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft betrachtet, ihre eigenen Regeln aufstellt und damit die Führungskraft anderer Gruppen bis hin zu staatlichen Organisationen wirksam infrage stellt:
»Mehr als den physischen Tod fürchten viele Mafiosi aus einfachen Verhältnissen den Zustand, lebendig tot, ›tot im Ei‹, eine Totgeburt zu sein: ›Ein mit nichts vermischter Niemand‹. Diese sizilianische Redewendung bezeichnet ein Leben in völliger Anonymität und sozialer Unsichtbarkeit, das einen fast durchsichtig und für andere unsichtbar macht, als würde man nicht existieren, als würde man den gemeinschaftlichen Raum nicht bewohnen. Sich die Achtung anderer zu erwerben, ein ›uomo di rispetto‹ zu sein, wie sich die Mafiosi gern selbst definieren, war und ist für viele der Ansporn zum Eintritt in einer Organisation, die mit nahezu magischer Kraft die Ohnmacht des Einzelnen in die Allmacht des Kollektivs verwandelt – eine Allmacht, an dem man selbst partizipiert… Man ist ›Cosa Nostra‹, man gehört zu denen, die nicht beherrscht werden, sondern herrschen.… Die Mafia verbreitet den Mythos der ›uomini d‘onore‹ Ehrenmänner, welche die bestehende Ordnung schützen, eine parallel zur staatlichen Gerichtsbarkeit existierende eigene Gerichtsbarkeit praktizieren und die politische und ökonomische Macht so ausüben, dass die Gewinne sozial verteilt werden.«50
5.2. Zweck und Nutzen der Unterwerfung
Warum dulden diejenigen, die keine Machthaber sind, dass andere die Macht ergreifen, warum kooperieren so viele, warum unterwerfen sie sich der Macht? Dafür gibt es individuelle und gesellschaftliche Gründe. Wir akzeptieren Ordnungen, die andere geschaffen haben, weil wir sie selbst nicht schaffen könnten und sie für die Verwirklichung eigener Interessen brauchen. Einzelne ordnen sich anderen unter, weil jeder sich in einer stabilen und geordneten Gesellschaft besser entwickeln kann, als im Chaos, auch wenn er nur einen indirekten Anteil an der Macht hat.
Man sieht die Macht nicht vollständig, wenn man in ihr nur die Chance eines Menschen sieht, Macht auszuüben, man muss stets ihr notwendiges Gegenstück sehen, nämlich die Chancen derjenigen, die sich diesem Willen beugen, davon profitieren und so ihre eigenen Interessen besser durchzusetzen können als in anderen Strukturen. Erst wenn man die Unterwerfung als den Erfolg betrachten kann, an der Macht teilzuhaben, jedenfalls aber von Gewalt verschont zu werden – erst wenn man das Motiv mit dem Gegenmotiv verbindet, hat man alle Dimensionen des Begriffs richtig erfasst (Yin/Yang). Mächtige Menschen haben nur wenig Gelegenheit, ihre Macht wirklich zu genießen und reagieren übermäßig empfindlich auf Kritik, weil sie spüren, dass ihre Macht von der stets vergänglichen (und von egoistischen Interessen getriebenen) Zustimmung der anderen abhängt.
Zwischen denen, die Macht besitzen und allen anderen, die sich ihrem Willen beugen, besteht ein Verhältnis der Gegenseitigkeit. Wer sich der Macht beugt, will an ihr teilhaben:
»Die herrschten wollten in die Köpfe derer, die beherrscht wurden – die beherrscht wurden, wollten das, was in ihre Köpfe wollte, aus ihren Köpfen heraushalten; dadurch begannen auch sie zu herrschen, auf die dubiose, unerklärliche Weise, die den Gejagten Züge der Jäger verleiht. Insofern ist Macht eine Geisteswissenschaft.«51
Wer nicht führen kann oder will übernimmt die ihm zugewiesenen oder von ihm akzeptierten Aufgaben und erwartet entsprechende Gegenleistungen – ein für beide Seiten nützliches Verhältnis. Das Prinzip von Leistung und Gegenleistung, eines der Grundelemente der Moral, entsteht auf diese Weise und so kommt es, dass die Regeln der Macht unser soziales Verhältnis in jeder Hinsicht bestimmen.
Diese Teilhabe ist der Beginn der Konkurrenz zu dem Mächtigen. Je näher man ihm kommt, umso leichter wird man seine Schwächen entdecken und für sich selbst Chancen sehen, die Macht zu übernehmen. Selbst der Gefolterte oder Ermordete zwingt den Täter zu der Einsicht, dass er ihn nicht mühelos überwinden konnte. Noch weniger kann der Täter die Wirkung seiner Tat auch nur annähernd einschätzen. In bestimmten Situationen ist eine einzige politische Untat der Flügelschlag des Schmetterlings, der Systeme zum Einsturz bringt.
Das gilt vor allem für jene, die ein Mächtiger im Weg der Delegation einzelner Teile seiner Macht zu seinen Stellvertretern erklärt hat. Der Wirkungskreis der Macht ist nicht beliebig vergrößerbar: »Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit« (russisches Sprichwort). Wer mehr als seine unmittelbare Umgebung beherrschen will, muss Menschen finden, denen er einen Teil seiner Macht anvertrauen kann, ohne sie damit mehr als nötig zu gefährden. Dieses Vertrauen entsteht aber nur auf der Ebene der Reziprozität auf beiden Seiten: Wer ein Teil der Macht werden will, muss Solidarität zeigen, wer Solidarität erhalten will, muss die Leistung mit einer Gegenleistung für geltend.
Menschen, deren Macht darin besteht, an der Macht anderer teilzunehmen, Parasiten, die mit ihren Wirtstieren untrennbar verbunden sind (Türhüter, Sekretäre, Funktionäre usw.), versuchen, nach außen umso unbeugsamer und mächtiger zu erscheinen, als ihre Befehlsabhängigkeit offenkundig ist. Sie können sich nicht nur im Abglanz der Macht sonnen und bessere Lebensbedingungen für sich aushandeln als andere, sie gestalten auch durch ihre Einzelentscheidung den Rahmen ihrer Machtbefugnisse. Daraus entsteht eine paradoxe Wirkung: Nur wer unmittelbaren Zugang zu ihren Vorgesetzten hat, kann sie korrigieren und ggf. sogar entmachten. Oft ist zu sehen, dass solche Versuche nur deshalb unternommen werden, um die Rangordnung im Verhältnis zu den Vorgesetzten klarzustellen oder zu korrigieren.
Nicht jeder entwickelt in einer definierten Situation den gleichen Willen und die gleiche Energie, ungeordnete Verhältnisse zu gestalten. Nicht alle leiden unter Unordnung und/oder Chaos gleichermaßen, nicht alle wollen mehr Freiheit als Sicherheit, nicht alle sehen Chancen, wo andere sie handgreiflich vor sich sehen und bei weitem nicht alle sind fähig, andere zu führen, selbst wenn diese sich kooperativ verhalten – geschweige denn, wenn sie auf Widerstand stoßen. Kooperation und Teilnahme an der Macht gehören zu unseren selbstverständlichen sozialen Strukturen, in denen es nichts zu kritisieren gibt, solange die Macht nicht missbraucht wird.
Staatliche und private Institutionen, Gruppen, Unternehmen usw. sind in der überwiegenden Zahl der Fälle hierarchisch organisiert, weil es in diesen Fällen am einfachsten möglich ist, gleichzeitig Macht auszuüben und sich anderen zu unterwerfen, so vor allem, um einen gemeinsam angestrebten Erfolg zu sichern, der etwa beim Zusammenschluss von Gruppen und ihrer Abgrenzung zu anderen Einzelnen oder Gruppen durch Bildung von Ordnungen, Hierarchien und innerer Geschlossenheit notwendig ist. Diese Aufgabe ist nicht einfach. Natürlich wird jede Institution nach außen hin erkennbar von Menschen geführt, denen die dazu nötigen Kompetenzen übertragen worden sind. Ob hinter diesen Kompetenzen aber tiefer gestaffelt ganz andere Kompetenzen liegen, die von anderen Menschen gehalten werden, die wir nicht sehen, ist allzu oft zu beobachten.
Manche haben die Chance, unmittelbar an der Macht teilzunehmen und sich andere unterzuordnen. Vor allem im Bereich politischer Macht ist das offensichtlich. Wer sich je um ein politisches Amt beworben hat, weiß aus Erfahrung, wie andere Menschen auf diese Bewerbung reagieren. Er hat sich vielleicht zur Wahl gestellt, diese Wahl aber verloren. Er ist über seinen Bemühungen älter geworden, als es ein Kandidat sein sollte. Er hat zahllose politische Beziehungen, die er aber nicht mehr nutzen kann. Er hat ganz persönliche Gründe, sich nicht mehr zur Wahl zu stellen… Liegt es in so einer Situation nicht nahe, die Kandidatur eines anderen zu unterstützen? Die Situationen, in denen sich Einzelnen die Chance bietet, ihre Macht zu etablieren oder an fremden der Macht teilzuhaben, sind unüberschaubar.
Der Wunsch nach Unterwerfung kann sich sogar dann noch aufrechterhalten, wenn er im Kern nur noch masochistische Qualitäten hat (sie sind statistisch häufiger als sadistische). Oder er kann sich unter geänderten Rahmenbedingungen seinerseits ändern und ins Konkurrenzdenken, den Wettbewerb und den Wunsch nach eigenen Ordnungen umschlagen, um selbst an die gewünschte Stelle zu geraten.
Wer mit mächtigen Menschen nicht kooperieren will, wer kein Teil der Macht werden will, wer sich gegen unfaire oder rechtswidrige Machtausübung wehrt, sieht, muss sich entscheiden, ob er flieht oder standhält, ob er widerspricht oder sich unterwirft. Auch wer sich aus Furcht unterwirft, auch wer in die innere Emigration geht, hat davon einen größeren Nutzen als jeder, der flieht oder widerspricht.
Aus diesen Wurzeln wachsen eine Vielzahl psychologisch gesteuerter Verhaltensweisen, die zwischen dem Wunsch nach Ordnung und der Sehnsucht nach individueller Freiheit schwanken. Freiheit macht trotz aller mit ihr verbundenen Gefahren süchtig, die Unterwerfung unter eine Ordnung hingegen schafft Sicherheit und Entspannung. Beide sind nicht in vollem Umfang gleichzeitig zu verwirklichen, wir müssen uns in vielen Situationen entscheiden, ob wir eher das eine oder das andere wollen. In sicheren Zeiten plädieren wir für maßlose Freiheit, in den Zeiten des Krieges wird der Begriff nicht einmal mehr in den Mund genommen, denn da kann nur die Ordnung siegen. Die Entscheidung, sich unterzuordnen, kann sich zweckrational auf einzelne Situationen beschränken (und sich dann wieder auflösen), aber wir können uns anderen auch bedingungslos unterwerfen, ohne nach einem solchen Kotau jemals wieder die Frage nach unserer eigenen Identität und unseren eigenen Interessen zu stellen.
6. Willkür, Kooperation und Toleranz
»Wer auf dem Tiger geritten ist, kann nicht mehr zu Fuß gehen.«52
Ohne den Einsatz von Macht kann keine soziale Ordnung entstehen, aber durch den Einsatz von Macht kann sie auch jederzeit zerstört werden. Das geschieht, wenn die Machthaber nicht fähig oder Willens sind, ihre Macht zum Aufbau einer Ordnung einzusetzen, sie etwa durch das Recht selbst zu begrenzen, sie mit anderen zu teilen. Häufig sind sie nur daran interessiert, die Macht für ihre eigenen Zwecke zu nutzen und anderen gegenüber willkürlich einzusetzen: Sie verwenden ihre Macht nur dazu, sie aufrechtzuerhalten, aber nicht, eine Ordnung im Interesse anderer zu schaffen.
Viele Überlegungen zur Macht sehen in erste Linie die Phänomene der Über – und Unterordnung und bewerten sie allein deshalb negativ. In den alltäglichen Diskussionen heißt es oft, sie sei »abscheulich, wo immer sie beansprucht oder erlistet, erkämpft, erzwungen oder wohlerworben sei« (Günther Eich)53. Mit solchen moralischen Bewertungen erfassen sie die Komplexität des Phänomens nicht, denn die Bildung von Machtdifferenzen ist im sozialen Leben unvermeidlich und beruht nur selten auf ausdrücklichen Entscheidungen. Sie entsteht und verfällt geradezu organisch (biopouvoir).
Die oben skizzierten Fehlerpotenziale finden sich nicht nur im Bereich absoluter Macht sondern – in weniger ausgeprägter Form – in jeder Situation, in der Macht ausgeübt wird: Ziele und Mittel können fehlerhaft definiert sein, die Kommunikation kann leiden, Zufälle treten auf und die Rahmenbedingungen, unter denen die Entscheidung getroffen wurde, können sich verändern. In all diesen Fällen wird die Entscheidung oder ihr Ergebnis von Einflüssen verzerrt sein (bias), die – ob bewusst oder unbewusst – die nur in geringem Umfang durch kleine Anstöße (nudge) verändert werden können54. Aber selbst dann widersprechen sie oft genug dem, was man als statistisch durchschnittlich richtig feststellen kann (noise (Rauschen= zufällige Abweichung vom Standard)55.
In der Macht laufen die Spannungen zwischen dem ICH und der Gesellschaft in außerordentlich komprimierter Weise zusammen, und zwar unabhängig davon, wie jemand die Macht erlangt hat. Diese Spannungen haben sehr häufig ihre Ursache darin, dass jemand die Macht, die ein anderer innehat, respektlos bestreitet oder auch – oft in ironischer Form – andeutet, sie nicht anzuerkennen, obwohl er absolut keine Chance hätte, die Macht anzugreifen. Das könnte den jeweiligen Inhaber der Macht im Grunde völlig kaltlassen. Wir sehen aber vor allem beim Verhalten von Polizisten und Soldaten, dass solche Provokationen nie ohne Wirkung bleiben und sehr schnell eskalieren. Man sollte sich von Menschen, die keine Macht haben, nicht beeindrucken lassen.
6.1. Willkür
Noch bevor wir geboren sind, üben wir Macht aus, denn die Mutter und die sie umgebende Familie sorgen sich um das Wohlergehen des Kindes schon im Mutterleib. Sie reagieren auf jede noch so unscheinbare Äußerung des Foetus. Nach der Geburt steigert sich diese Macht noch: Allein durch Äußerungen des Unmuts provozieren Kleinkinder hilfreiche Reaktionen anderer Menschen, auch wenn sie als willkürlich empfunden werden, werden sie befriedigt. Ein Privileg, das wir später nicht mehr genießen: Wer sich als Erwachsener lauthals beschwert, beweist damit nichts anderes als seine Ohnmacht und erfährt Verachtung.
Je höher der Rang in der Gesellschaft steigt, umso wahrscheinlicher ist es, dass die Macht des Einzelnen sich vergrößert. In jedem Fall wird dem, der an der Spitze einer Gesellschaft oder sonstigen Organisation steht, sehr viel mehr Spielraum gelassen als jedem anderen – denn gerade in der Möglichkeit, willkürlich zu handeln, besteht die Definition seiner Macht.
So wird die Macht missbraucht und der tiefste Grund für diese Fehler ist der im Unterbewusstsein verankerte Wille, die Welt möge um Dich kreisen – und nicht umgekehrt. Wer Macht hat, will immer noch mehr Macht, weil jedem unbewusst klar ist, dass jede noch so große Macht sich in nichts auflösen kann. Die Idee, man könne Sicherungsmaßnahmen treffen, die das verhindern, ist illusorisch, weil die Energien der Welt sich immer auf zahllose Akteure und Einflüsse aus nicht beherrschbaren Rahmenbedingungen zusammensetzen. Macht heißt: Einfluss auf andere Menschen und jeder Mensch kann sich diesem Einfluss entziehen, wenn er sich zu stark eingeschränkt fühlt (notfalls durch Suizid).
Viele Menschen und Institutionen versuchen Art und Umfang der Macht, über die sie verfügen, vor anderen über Treuhandverhältnisse oder andere komplexe Konstruktionen zu verstecken. Es mag sein, dass sich hinter den Fassaden der Macht das Nichts verbirgt (die potemkinschen Dörfer), aber es kann auch sein, dass die Fassade nur einen Bruchteil der Machtzusammenballung zu verdecken versucht, die sich in ihrem Untergrund befinden. Wer selbst an den Spielen der Macht teilnimmt, muss diese wichtige Regel kennen.
6.2. Toleranz
Jeder, der sich in einer mächtigen Position befindet, wird erfahren, dass es neben, über oder unterhalb seiner Einflussbereiche andere Machtlinien gibt, die er nicht beeinflussen kann. Er kann versuchen, sie sich zu unterwerfen, kann sie aber auch tolerieren. Toleranz bedeutet die Fähigkeit, zu ertragen, dass die Anderen anders sind und andere Ziele haben.
Toleranz kann sich auf ein taktisches Verhalten mit dem Ziel beschränken, Auseinandersetzungen in der Gegenwart zu vermeiden; man kann sie dann jederzeit fallen lassen und zur Verteidigung oder zum Angriff übergehen. Sie kann aber auch eine moralische Leistung sein, mit der man – sich in seinen Möglichkeiten selbst beschränkend – anerkennt, dass die eigene Macht stets beschränkt ist und diese Erkenntnis führt nach dem Gegenseitigkeitsprinzip unvermeidlich zu der grundsätzlichen Anerkennung fremder Macht.
Toleranz gibt es unter beiden Aspekten nur in einer Situation des Machtgefälles zwischen einem Mächtigen und einem Unterlegenen, dessen Existenz von den Mächtigen aber anerkannt, wenn nicht sogar unterstützt wird. Wer Toleranz übt, geht daher implizit immer von diesem Machtgefälle aus. Darin wird in der jüngeren politischen Diskussion eine Abwertung dessen gesehen, der unterlegen ist. Statt Toleranz wird Akzeptanz auf Augenhöhe verlangt. Wer aber sollte sie herstellen? Minderheiten können genügend Rechte haben, um in der Gesellschaft Anerkennung zu finden, aber die Ideen die Mehrheiten über sie entwickeln, werden sich erst dann ändern, wenn sie aus den Köpfen der Mehrheiten verschwinden. Ideen folgen der Realität – nicht umgekehrt. Das Gleiche gilt auch für alle Versuche, über die Beeinflussung der Sprache eine formale Toleranz zu erreichen; politische Korrektheit ändert nicht die Realität.
Die Idee der Toleranz ist eine Frucht der westeuropäischen Aufklärung, sie ist eine Kampferklärung gegen jede Art von Intoleranz, wie sie damals vor allem vom Adel und von den Kirchen gepredigt worden ist. Überall dort, wo Westeuropäer ihren Einfluss außerhalb Europas geltend machen konnte (USA und einige sich selbst organisierende Kolonien) wird die Idee verstanden, wenn auch nicht unter allen Umständen realisiert.
Anders in Indien, im arabischen, im russischen und im asiatischen Raum: Dort ist die Idee einer Gleichberechtigung der Menschen, ihrer Rechte, ihrer Menschenwürde und zahlloser anderer Grundrechte bis heute nicht angekommen56. Die Europäer fühlen allerdings einen Sendungsauftrag der Aufklärung, der eine Kopie des christlichen Missionsauftrages zu sein scheint. Sie sollten sich daran erinnern, dass ihre Macht nicht so weit reicht, in diese Länder gegen deren Willen hineinzuwirken und dass Toleranz auch die Fähigkeit bedeutet, die Dinge, die man nicht ändern kann, so zu lassen, wie sie sind. Man sollte nie vergessen, dass den Preis für die Revolutionen nur wenige von denen bezahlen, die dadurch beseitigt werden. Und wie lange das dauert57! Den USA ist es bis heute nicht gelungen, ihr Demokratiemodell zu exportieren und die Versuche dazu haben unendlich viel Tod und Leid verursacht.
Wer die Toleranz verteidigt, dem wird hin und wieder vorgeworfen, gerade dadurch seine Intoleranz zu zeigen: Man müsse so tolerant sein, auch die Abschaffung der Toleranz hinzunehmen. Diese These ist nur dem ersten Anschein nach logisch. Wir haben hier die gleiche Situation wie bei der Verteidigung von Rechtsstaat und Demokratie: Wenn wir sie behalten wollen, müssen wir sie gegen Angriffe verteidigen. Das ist gerechtfertigte Notwehr und kein Angriff.
7. Macht, Moral, Ordnung und Recht
»Niemand kann einem anderen die Freiheit rauben, ohne die eigene Freiheit zu verlieren.«58
»Das Recht kann bestritten werden, die Macht ist deutlich kenntlich und unbestritten.«59
7.1. Historische Überlegungen
Seit jeher ist die Frage diskutiert worden, ob die Durchsetzung der eigenen Interessen unter allen Umständen losgelöst von moralischen Bewertungen gerechtfertigt werden könne. Sie findet sich theoretisch ausgearbeitet schon in sehr frühen Texten der altchinesischen Literatur, so etwa dem Shangjun-Shu des Fürsten von Shang (circa 350 v.Chr.) und wird in Europa mit größter Gedankenklarheit von Niccolò Machiavelli (1469-1527) und später in der Aufklärung formuliert.
Wer die Macht nur aus historischer Perspektive betrachtet und von dem ständigen Missbrauch dieser Werkzeuge fasziniert ist, sieht in ihr nur Negatives:
»Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muß also andere unglücklich machen.«60
Aber: Die Macht ist der einzige Ordnungsfaktor, den wir haben, um die innerhalb jeder Gesellschaft auftretenden unvermeidbaren Konflikte aufzulösen. Ohne Macht kann man zwar niemanden unterjochen, aber auch keinen Frieden stiften und den Missbrauch der Macht nicht abwehren. Die Entscheidungen der Macht können moralisch und unmoralisch getroffen werden, weil sie nur Werkzeuge darstellen, die wie ein Messer unterschiedlichen Zwecken dienen können (Machiavelli61). Man könnte sogar zugespitzt sagen: Moralische Entscheidungen, die leugnen, dass sie zutiefst nach der Macht streben, sich durchzusetzen, beruhen auf Heuchelei, denn »Moral ist das Ausüben von Macht, ohne von Macht zu reden«.62
»Moralische Entrüstung ist eine Methode, um auch Idioten Würde zu verleihen«, sagt Marshall McLuhan provozierend. Er plädiert nicht für eine von Moral freie Politik, sondern nur gegen eine Entrüstung, die sich nicht darum bemüht, einen Sachverhalt in aller Tiefe zu ermitteln und zu verstehen. Wer sich vorschnell entrüstet, arbeitet fast immer mit »alternativen Fakten« und der Lüge.
Die überragenden Fähigkeiten und Möglichkeiten Einzelner sind historisch gesehen oft mit einer Verbindung dieser Person zu den Göttern assoziiert worden (Priesterkönige). So sind Deutungsmonopole entstanden, die auch die Übertragung der Macht vor allem im Erbgang ermöglichten. Es gab Gesellschaften (Eskimos, Piraha), in denen die Ausbildung von Machtverhältnissen wenig klare Konturen zeigt, weil jeder einzelne im Wesentlichen autark überleben kann. Andere Gesellschaften (das alte Ägypten), die ihr Überleben z. B. nur durch Regulierung komplexer Wassersystem sichern konnten, haben frühzeitig klare politische Machtverhältnisse und vor allem hierarchische Strukturen entwickelt.
Macht und Unterwerfung sind in der Theorie moralisch neutral, das ändert sich aber in der Sekunde, in der über Entscheidungen diskutiert wird, denn schon über diese Diskussionen legt sich der Schatten unseres Bewusstseins moralischer Normen und es manifestiert sich in der Handlung oder Unterlassung, die die Folgen von Entscheidungen sind. Das Gleiche gilt in verstärktem Maße, wenn unsere Überlegungen oder Entscheidungen zu rechtlichen Konsequenzen führen und innerhalb von Rechtssystemen zu entscheiden sind.
7.2. Moral und Recht als Grenze der Macht
»Denn ihr wisst so gut wie wir, dass von Gerechtigkeit seit Menschengedenken nur dann die Rede ist, wenn die Macht gleich verteilt ist, und dass diejenigen, die mehr Macht haben, andere unterdrücken, so viel sie können, und die Schwachen ihnen gehorchen«.63
Wer Macht in Händen hat, verbindet damit immer eine bestimmte Vorstellung von Ordnung, der unvermeidlich auch die von ihm selbst geteilten Auffassungen von Moral zugrunde liegen und alle anderen abgelehnt werden. Moralische Kriterien schränken Macht und Ordnung ein und obwohl wir die Begriffe Recht und Ordnung instinktiv miteinander verbinden, unterscheiden sie sich in einem wesentlichen Punkt: Ordnung kann man sich ohne moralische Kriterien vorstellen (die Ordnung eines Konzentrationslagers), das Recht hingegen stützt sich auf Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit der Entscheidungen. Diese drei Elemente sind unmittelbar mit den moralischen Maßstäben der Interdependenz (Bewusstsein der Abhängigkeit aller von allen), (Anerkennung der Verbindung zwischen Leistung und Gegenleistung), und der Empathie Entscheidung auf der Basis des Mitgefühls)64, verbunden, die Willkür nicht zulassen.
Das Recht ist eines der stärksten kommunikativen Elemente, die unsere Kulturen entwickelt haben. Es schafft unter günstigen Umständen die notwendige Ausgewogenheit zwischen Macht und Freiheit und kann auf diese Weise Rahmenbedingungen erzeugen, unter denen sich alle anderen Elemente (Wissenschaft, Kunst etc.) entwickeln können. Nur selten wird es direkt angewendet, der Schatten des Rechts bestimmt sie oft nur indirekt. Das Recht braucht selbst Macht, um wirksam werden zu können, denn es stützt und begrenzt in einer widersprüchlichen Doppelfunktion die Macht wie die Freiheit. So steht das Verhältnis zwischen einzelnen Menschen/Gruppen und anderen Menschen/Gruppen im Spannungsfeld zwischen Macht, Freiheit und Recht.
Deshalb unterscheiden sich Moral und Recht nur in formaler Hinsicht: Moralische Normen regeln die Gesellschaft auf informelle Weise, rechtliche Regeln hingegen können sich erst entwickeln, wenn es Machtmonopole gibt, die sich formal in der Form positiven Rechts und mit der Möglichkeit seiner Vollstreckung durchsetzen können. Das geschieht in der Regel in Staaten, die ein, von der Bevölkerung gestütztes Gewaltmonopol haben, dass sich nicht gegen das Recht selbst richtet (Radbruch‘sche Formel).
Wer Macht entfaltet, tut dies im eigenen Interesse und im besten Fall als Interessenvertreter derjenigen, die ihm zur Macht verholfen haben und darin stützen. Dagegen ist nichts zu sagen, solange die Inhaber der Macht sich bewusst sind, dass innerhalb der von ihnen entworfenen und durchgesetzten Ordnung auch die Interessen derjenigen berücksichtigt werden müssen, die andere Interessen haben. Wird eine Regierung von reichen Menschen dominiert, muss sie an die Armen denken, hat eine Regierung nur die soziale Umverteilung im Auge, muss sie dafür sorgen, dass es etwas zu verteilen gibt. Führung muss immer an »das Ganze« denken.
Die Erfahrung zeigt uns, dass willkürliche Machtausübung sich über kurze und mittlere (zeitliche und räumliche) Distanzen gegenüber jedem anderen Einfluss durchsetzen kann. Sie kann aber nur stabil bleiben, wenn sie das Recht als Stütze und Grenze ihrer Handlungsmöglichkeiten begreift, weil Willkür keine Ordnung stiften kann und Systeme jeder Art sich ohne Ordnung selbst zerstören. Die Macht muss ihre unendlichen Möglichkeiten selbst beschränken, wenn sie bestehen bleiben will, aber die Inhaber der Macht fühlen die Fesseln, die sie sich dadurch selbst anlegen müssen und empfinden sie oft genug als unerträglich.
Die Funktion des Rechts, die Macht gerade dadurch zu stabilisieren, dass es sie begrenzt, um Willkür zu verhindern, lässt sich nur dann einrichten, wenn die Normen, aus denen das Recht besteht, allgemein bekannt sind und die Inhaber der Macht sich im Wesentlichen an sie halten. Auch wenn die Normen nicht in allen oder sogar nur in wenigen Fällen durchgesetzt werden, sorgt allein die Möglichkeit, sich auf sie zu berufen, für einen »Schatten des Rechts«, der willkürliche Machtausübung wenigstens einschränkt.
Diese Funktion lässt sich an jeder bekannten nachhaltigen Staatsgründung nachweisen. Es beginnt bei den von Hammurabi und 1900 v.Chr. aufgezeichneten Gesetzen, denen in allen Teilen der Welt – oft unabhängig voneinander entstanden – vergleichbare Systeme folgte. Selbst Nomadenvölker wie die Mongolen haben um 1200 n.Chr. unter Dschingis Khan eine eigene Schrift entwickelt und unmittelbar in diesem Zusammenhang erste Norm definiert, die dem Reich auch für seine Nachfolge eine bemerkenswerte Stabilität verliehen haben.
Die Einrichtung eines Rechtssystems, dass die Macht gleichzeitig stützt und begrenzt, ist ein Widerspruch in sich, der schwer auflösbar ist. Moralisch fragwürdig eingesetzte Macht oder blinder Gehorsam, der nicht nach den moralischen Konsequenzen seines Verhaltens fragt, können sich nach aller Erfahrung nicht nachhaltig entwickeln: Entweder zerstören sie sich selbst, oder die Gegenkräfte wachsen. Der Verzicht auf eigene Machtpotenziale oder die bewusste Verweigerung, sich zu unterwerfen, sind seltene moralische Leistungen und oft haben die Versuche, Normen einzurichten, phasenweise Rückschläge erlitten. Alle staatlichen Systeme, denen die Einrichtung von Rechtssystemen nicht gelungen ist, sind untergegangen.
7.3. Selbstbegrenzung im Krieg
Politische Ordnungen, die Stabilität anstreben, müssen deshalb ein Mindestmaß moralischer und rechtlicher Normen anerkennen, also dafür sorgen, dass die Macht Einzelner beschränkt wird oder im Idealfall die Selbstbeschränkung der Macht durch das Recht als zentrales Element jeder Ordnung erkannt wird. Mit der Einführung rechtlicher Kategorien beschränkt die politische Macht sich selbst, weil nur so ihre Stabilität zu sichern ist – Das Recht ist Stütze und Grenze der Macht zugleich. Durch Gewaltenteilung muss abgesichert sein, dass das Recht relativ unbeeinflusst von den Machtverhältnissen herrschen kann, die im Übrigen die Entscheidungen des Staates bestimmen.
Seine Inhalte müssen mit den in der jeweiligen Gesellschaft relevanten moralischen Maßstäben verbunden sein, um Anerkennung zu finden. Eine völlig von moralischen Maßstäben freie Politik kann nur ins Chaos oder zur Ordnung eines Gefängnisses führen. Man erkennt es meist erst, wenn man selbst drinsteckt. Die so aufrechterhaltenen Ordnungen genießen gleichzeitig das Vertrauen derjenigen, die an der Macht nur geringen Anteil – z. B. nur durch Wahlen – haben und sonst weiter keinen Einfluss haben. Berühmte historische Beispiele (der indische König Ashoka ca. 300 v. Chr.) zeigen uns Herrscher, die fähig waren, die blutig erkämpfte Macht durch veröffentlichte Gesetze zu stabilisieren und auch weitere Kriege zu verzichten.
Jeder Politiker hat persönliche moralische Maßstäbe, die er allerdings nicht unverändert auf seine politische Arbeit übertragen kann, wie Machiavelli gezeigt hat. Der Grund: Die wichtigste Aufgabe eines Politikers ist es, die Strukturen des Gemeinwesens in einer funktionsfähigen Ordnung zu halten. Dieses Ziel gerät häufig in Konflikt mit persönlichen Wertvorstellungen und nicht selten stehen Politiker vor einer tragischen Wahl, ob sie ihrem eigenen Gewissen folgen sollen, oder nicht.
Diese Ordnung entsteht nur dann in stabiler und nachhaltiger Form, wenn sie sich auf ein Rechtssystem stützen kann. Im politischen Bereich brauchen wir eine Verfassung, jeder denkbaren Regierungsentscheidung bestimmte Grenzen setzt. Das Recht begrenzt zwar die Macht (oft genug durch denjenigen, der sie in Händen hält), aber durch den Schutz, den sie den Menschen gewährt, die die Macht anerkennen sollen, beteiligt sie sie (oft nur in homöopathischen Dosen) an dieser Macht. In der US-Unabhängigkeitserklärung (1776) werden die Fehler der englischen Regierung hauptsächlich darin gesehen, dass sie willkürlich handelt und sich dem von ihr selbst definierten Recht zu entziehen versucht65.
Nach 1945 haben sich diese Beschränkungen im Kalten Krieg als wirksam erwiesen, vor allem in Bezug auf die Verwendung atomarer Waffen. Die Hoffnung, die Staaten würden sich international durch geeignete Abkommen (Verzicht auf Angriffskriege, Einhaltung der Menschenrechtskonventionen usw.) auf dieser Art Selbstbindung beschränken, ist spätestens durch den Angriff Russlands auf die Ukraine im März 2022 erloschen. Russland behauptet, dieser Angriff sei erforderlich gewesen, um sich gegen die Machtdemonstrationen der NATO und der USA wirksam zu wehren.
Tatsächlich ist die Anwendung von kriegerischer Gewalt nicht selten die Antwort auf Provokationen, die nicht über Gewalt, sondern über die Macht der Märkte und der Netzwerke ausgeübt werden können. Das einzig wirksame Mittel, um die dabei unvermeidbar entstehenden Interessenkonflikte nachhaltig zu lösen, sind Moral und Recht. Innerhalb der staatlichen Strukturen entstehen zahllose Handlungsalternativen und die Auswahl unter ihnen hängt in hohem Maß von den persönlichen moralischen Kriterien der Politiker ab, die diese Entscheidungen treffen. Schopenhauers Neuformulierung der seit der Antike bekannten Tatsache, dass ein Wille uns antreibt, den wir selbst kaum beherrschen oder definieren können hat die Illusionen zerstört, wir könnten im Regelfall rational handeln. Tatsächlich gelingt das nur in seltenen Ausnahmefällen, die relativ wenig vom Unterbewusstsein und den Gefühlen bestimmt werden. Was der Wille will, können wir schlecht erkennen, aber er ist in unseren Handlungen sichtbar. Nietzsche hat nahezu unwiderlegbar gezeigt, wozu es führt, wenn diesem Willen keine Grenzen von außen oder innen gesetzt werden.
7.4. Demokratie als Hüterin der Moral
Die Demokratie hat sich bisher allen anderen Formen gegenüber durch ihre Flexibilität als überlegen erwiesen, denn sie setzt von vornherein auf die institutionalisierte Idee des Machtwechsels ohne Gewaltanwendung. Sie kann nicht dafür sorgen, dass die besten Politiker an die Macht gelangen, kann aber ungeeignete wieder aus diesen Positionen entfernen, ohne einen Bürgerkrieg zu riskieren. Aber auch sie wird durch außerparlamentarische Kräfte gefährdet, denen sie die politische Relevanz abspricht, oder denen sie die Kommunikation verweigert usw. Die modernen Kommunikationsmittel (social media) ermöglichen es, außerparlamentarische Stimmen hörbar zu machen, die Autorität der Abgeordneten, der Parteien und der Parlamente kritisch betrachten. Hier entwickelt sich eine »fünfte Gewalt«, die erst in jüngerer Zeit möglich geworden ist. Der Umgang mit ihr stellt eine besondere Herausforderung an die Kommunikationsfähigkeit der etablierten politischen Kräfte dar.
Ein Diktator, der jede Gegenwehr gegen ihn abgeschafft hat, kann lange regieren, er kann Dynastien gründen, die viele Generationen lang die Macht nicht verlieren. Schwieriger ist es schon innerhalb von Oligarchien, weil die dort unvermeidlichen internen Machtkämpfe die Machtverhältnisse immer wieder verschieben. Allerdings kann sie Außenstehende ebenso wirksam von einem Machtwechsel abhalten.
Solche Kräfte entwickeln sich, wenn die Stellvertreter des Volkes ihre Verbindung zu ihren Wählern verlieren, so vor allem, weil sie ihre Entscheidungen an die Machtverhältnisse ihrer Parteien anpassen: Die innerparteilichen Möglichkeiten, einen Abgeordneten zu disziplinieren wirken unmittelbar, der Wähler hat solche Möglichkeiten nicht. Kleinere Länder, die sich einen erheblichen Einfluss des Volkes auf politische Entscheidungen neben parlamentarischen Formen gesichert haben (Schweiz) können solche Entwicklungen einigermaßen im Griff halten. Auch in der Kommunalpolitik ist diese Form der Machtbalance möglich.
Solange die Demokratie sich noch von anderen Gesellschaftsformen bedroht sah, haben alle Menschen, die sich selbst als Demokraten interpretiert haben, jenseits aller politischen Unterschiede doch wenigstens in dem einen Punkt übereingestimmt, keine andere Gesellschaftsordnung zuzulassen. In jüngerer Zeit hat sich das geändert, nicht zuletzt aufgrund der Möglichkeit, dass heute jeder über die sozialen Medien seine politischen Ansichten zum Ausdruck bringen kann, ohne gezwungen zu sein, die Qualität seiner Äußerungen parlamentarisch zu rechtfertigen. In den sozialen Medien wird jeder, der die eigene Meinung nicht teilt, als »fremd« wahrgenommen und die Gefahr, durch extreme Positionen gemeinsame demokratische Basis zu gefährden, nicht realisiert. Ob die parlamentarische Demokratie insgesamt fähig ist, diese Entwicklung abzuwehren, ist offen.
Wir sehen nämlich, dass zwischenzeitlich einzelnen Menschen, die in den Medien als Schauspieler oder in anderen Eigenschaften, nicht zuletzt als Familienmitglieder berühmter Politiker bekannt werden, charismatische Fähigkeiten zugesprochen werden, ohne dass ihre Fähigkeit, sich politisch als Vertreter anderer zu artikulieren oder zu bewähren, nicht einmal dann infrage gestellt wird, wenn sie selbst kein politisches Amt anstreben (Michelle Obama 2024). Das kannten wir zuletzt im erblichen Königtum. Auf diese Weise wird die Verbindung zwischen den Mächtigen und den Göttern wiederhergestellt, eine Verbindung, die gerade durch die Demokratie für endgültig unterbrochen betrachtet wurde.
Die geordnete Abwicklung funktionsunfähig gewordener Institutionen erscheint außerhalb der Demokratie und der Insolvenz kaum möglich, obwohl sie chaotischen Umbrüchen vorzuziehen sind (die Abwicklung des Brexit wird uns zeigen, in welchem Umfang das möglich oder unmöglich ist). Die friedlichen Machtwechsel in den Ostblockstaaten in der jüngeren Vergangenheit ab 1986 beruhten im Wesentlichen auf der Erkenntnis, dass die Sowjetunion ihre Macht nicht mehr stützen würde und ihre eigenen Kräfte dazu nicht ausreichten. Solche Einsicht ist selten.
Solche Änderungen treten dann jäh und plötzlich revolutionär zutage. Selten sind sie von Logik begleitet, denn in solchen Phasen geht es nur um den Wechsel der Macht, nicht aber um die danach entstehende neue Ordnung. Auch wenn Revolutionen keine tieferen Wurzeln haben oder auf besonderen Theorien beruhen, auch wenn niemand sagen kann, wie die Zukunft sich gestalten soll, werden sie gespeist von der Gewissheit in vielen Köpfen, dass es so wie bisher nicht bleiben kann. Diese Ideen befinden sich oft auch in den Köpfen derjenigen, die die Macht haben, aber vorher versucht haben, kleinere Reformen durchzusetzen. Wenn Revolutionen vom Militär ausgehen, oder das Militär die Beseitigung des Systems nicht verhindern will, hat kein bestehendes System mehr eine Chance, weil es die Machtmittel nicht besitzt, sich zu verteidigen.
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine (2022) und den nahezu willkürlichen Eingriffen des US-Präsidenten in seiner zweiten Amtszeit (ab 2025) wird immer wieder davon gesprochen, dass jetzt Machtpolitik betrieben werde.66 Vermutlich ist das ein Hinweis darauf, dass die Politik sich früher mehr an das Recht gehalten habe. Politik ist aber unter allen denkbaren Umständen nichts anderes als die Realisierung vorhandener Machtverhältnisse und zwar auch dann, wenn sich selbst rechtliche Grenzen gesetzt hat.
8. Das Problem der absoluten Macht
»Macht korrumpiert und absolute Macht korrumpiert absolut.«67
»Fantasie oder Vorstellungskraft – das ist in Wahrheit nur ein anderer Name für absolute Macht und die klarste Einsicht; die höchste Schwingung des Geistes und der Vernunft in ihrer erhabensten Form.«68
In den meisten Situationen unseres sozialen Lebens steht die Macht inmitten eines komplexen Geflechts von Machtbeziehungen auf unterschiedlichen Ebenen, die sich alle gegenseitig mehr oder weniger begrenzen. Wer mehr Macht hat als andere, kann sich zwar in vielen Situationen durchsetzen, aber nicht in allen: Auch der mächtige Gulliver kann von vielen Zwergen gefesselt werden.
Hin und wieder jedoch sehen wir die Macht ungefesselt, ohne jede Begrenzung, weit und breit ist niemand zu sehen, der sich in irgendeiner Weise beschränken oder auch nur beeinflussen könnte. Das geschieht vor allem unter revolutionären Bedingungen oder sonstigen seltenen Rahmenbedingungen: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« (Carl Schmitt).
Auch außerhalb dieser Voraussetzungen hat Macht immer die Tendenz, sich über alle Grenzen hinweg auszuweiten: »Wenn einem Menschen Macht verliehen wird, fällt es ihm schwer, sie nicht zu mißbrauchen.«69 Bei einer psychischen Lebensenergie, die so nahe an unserer biologischen Ausstattung liegt, ist das kein erstaunlicher Befund: auch Pflanzen und Tiere, die keine natürlichen Feinde haben, vergrößern ihre Wirkungskreise beliebig. Diese Grundtendenz wird in unseren sozialen Systemen dann verschärft, wenn man die Konkurrenz einzelner Genies gegenüber der breiten Masse deutlich machen will (The winner takes it all). Das geschieht nicht zuletzt in der Werbung: »Impossible is nothing«70 wird gesagt, aber die landläufige Erfahrung verschwiegen, dass oft genug gar nichts möglich ist.
Absolute Macht entsteht, wenn sie alle sozialen Beziehungen beherrscht, die in ihrer Reichweite liegen, etwa wenn ein einzelner (Diktator) oder mehrere (Oligarchen) nicht bereit sind, die von ihnen gehaltenen Positionen gewaltlos aufzugeben. In der Politik heißt das: sich einer möglichen Abwahl zu stellen. Wenn innerhalb formaler demokratischer Strukturen absolute Macht angestrebt wird, ist das an der Veränderung von Verfassungen, der Manipulation von Wahlen und anderen illegalen Eingriffen zu erkennen.
Absolute Macht versucht absolute Ordnungen zu erschaffen, also alle anderen vom Zugang zur Macht wirksam auszuschließen. Diese Idee ist realitätsfremd. Zwar unterwerfen sich Menschen anderen Menschen, weil sie an deren Machtposition teilhaben wollen, um nicht zuletzt ihre eigenen Interessen wirksam verfolgen zu können. Sie verschaffen sich Kompetenzen, haben aber nicht die Möglichkeit, zu verhindern, dass auch andere solche Kompetenzen anstreben, die sich mit ihren eigenen Interessen überschneiden. Nur der Mächtige an der Spitze hat die Möglichkeit, solche Knoten zu zerschlagen und wenn er das nicht tut, verliert er stückweise seinen eigenen Einfluss.
Dieses Problem kann auch nicht dadurch gelöst werden, dass einzelne Aufgaben nur an langjährige Weggenossen delegiert werden, deren Verhalten man einschätzen kann, die völlig vom Inhaber der Macht abhängig sind und wirksam kontrolliert werden können (»Küchenkabinett«). Ob diese Leute gleichzeitig auch für die ihnen übertragenen Aufgaben fachlich gut ausgerüstet sind, ist die erste Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt.
Darüber hinaus wird der Blick dieser Leute unvermeidlich durch die Nähe zum absoluten Machthaber korrumpiert, denn sie erleben ihn – völlig anders als Menschen außerhalb des Kreises – oft genug als freundlichen und empathischen Menschen, der seine Haustiere küsst und mit den Enkelkindern spielt. Was auf seinen Befehl hin draußen, geschieht, wissen die Leute nicht oder verdrängen es. Da sie von der Willkür des Diktators seltener betroffen werden, weil sie nicht beim leisesten Widerspruch entfernt oder gar umgebracht werden, interpretieren sie seinen Charakter oft auf merkwürdige Weise:
»Großmutter hatte ihre besonderen Lebensregeln; es waren die Prinzipien eines religiösen alten Menschen, deren strenges und schweres, ehrliches und würdiges Leben gelebt hat. Ihre Festigkeit und Aufrichtigkeit, ihre Strenge gegen sich selbst, ihre puritanische Moral, ihr harter, fast männlicher Charakter – das alles war auf Vater übergegangen.«71
Zudem erfahren sie schnell, dass sie ihre eigenen Interessen im Verhältnis zu anderen, die außerhalb des Kreises stehen, wirksam durchsetzen können. Sie genießen die Teilhabe an der Macht und wollen sie unter keinen Umständen gefährden. So werden auch unerträgliche Diktatoren letztlich unangreifbar.
Absolute Macht zeigt sich in erster Linie an ihrer Willkür. Sie zerstört damit jede, für andere berechenbare und verlässliche Ordnung, sie verachtet alle Regeln (vor allem diejenigen, die ihr zur Macht verholfen haben); soweit eine Fassade des Rechts aufrechterhalten wird, dient sie nur als Stütze, niemals aber als Grenze der Macht.
Sehr oft wird zur Veränderung von Machtverhältnissen ein Kompromiss zwischen den Beteiligten geschlossen, weil sie eine gewaltsame Auseinandersetzung befürchten. Allein die Tatsache, dass jemand sich auf eine Verhandlung einlässt, zeigt, dass das Stadium der absoluten Macht noch nicht erreicht ist. Von dieser Grundregel gilt allenfalls die Ausnahme: Die Verhandlung wird nur aus taktischen Gründen zur Verdeckung der Tatsache geführt, dass man sich jedem Ergebnis verweigern wird, das die absolute Macht einschränkt. Tatsächlich zeigen z. B. das Harvard-Verhandlungsmodell und viele ähnliche Verfahren, das Verhandlungen allein durch die Tatsache, dass sie – wenn auch ohne jedes Ergebnis – stattfinden, zu einer Veränderung der Perspektiven auf beiden Seiten führen können, die letztlich eine Durchsetzung absoluter Machtpositionen verhindern.
Wer absolute Macht hat, ignoriert die Grenzen, auf die er trifft, nicht einmal sein Tod soll die Machtbeziehungen beenden, die er aufgebaut hat, sein Ruhm soll nie enden: »Machtmissbrauch ist ein Pleonasmus« (Albrecht Fabri). So kommt es, dass manche Nachfolger mächtiger Politiker als erstes deren Denkmal stürzen und versuchen, ihr Andenken zu vernichten (damnatio memoriae). Womit sie gleichzeitig das Menetekel beseitigen, das sie mahnen könnte, sich anders zu verhalten.
Durch dieses Verhalten verstößt ein absoluter Herrscher gegen die sozialen Grundregeln, die unser Zusammenleben ermöglichen: Wir können nur Mensch durch andere Menschen werden und wenn wir deren Interessen mit Füßen treten und absolute Macht anstreben, verstoßen wir damit gegen unser genetisches Erbe: Unsere biologisch/psychologischen Rahmenbedingungen befehlen uns nicht den Kampf aller gegen alle, sie lassen zwar Gewalt zu, federn sie aber durch die Moral ab72. Moral ist nicht »lebensfeindlich«, sondern eine der wichtigsten Grundlagen unseres Lebens. Wir können zwar unmoralisch handeln, weil unsere Freiheitsgefühle uns das gestatten, aber diese Haltung zerstört uns selbst, wie das Schicksal zahlloser Diktatoren zeigt.
Jedes Zusammenleben von Menschen beruht auf Vertrauensverhältnissen, deren Intensität von zahllosen Faktoren abhängig ist, von denen nur die wenigsten von Vernunft geleitet werden (»Blut ist dicker als Wasser«). Vertrauen reduziert Komplexität (Niklas Luhmann), aber vor Komplexität hat ein Diktator keine Angst, weil er der Ansicht ist, immer allein situationsgerecht reagieren zu können. Wer absolute Macht anstrebt, steckt keine Energie in den Aufbau von Vertrauen zu irgendjemandem, nicht einmal zu jenen Menschen, an die er Teile seiner Macht delegiert, weil er sich mit bestimmten Problemen nicht beschäftigen will. Sein fehlendes Vertrauen zeigt sich an ständigen Eingriffen in die Entscheidungen derer, denen er die Lösung des Problems anvertraut hat und die es nicht so in den Griff bekommen, wie er sich das wünscht.
Man braucht eine Vielzahl von Eigenschaften, um absolute Macht zu erreichen, aber welche dazu im Einzelfall erforderlich sind, hängt von den Rahmenbedingungen ab, unter denen jemand handeln kann. Weder ein glänzender Verstand noch Charme, gutes Aussehen, emotionale Stärke, Charisma oder andere herausragende Begabungen können allein dazu verhelfen. Drei Eigenschaften scheinen wesentlich zu sein: Die Fähigkeit, andere Menschen richtig einzuschätzen73, ein gutes Gedächtnis (um Rache zu üben) und die innere Bereitschaft, sich durch moralische Regeln in keiner Weise zügeln zu lassen (Näheres ist bei Machiavelli nachzulesen).
Der Blick in zahllose Biografien von Diktatoren zeigt, dass der Erwerb der Macht viel spannender ist als ihre Aufrechterhaltung. Die Mühen der Ebene (Bertolt Brecht) interessieren keinen von ihnen. Vielleicht ist Alexander der Große nur vor seiner drohenden Langeweile bis nach Indien geflohen (warum hat er sich nicht in Persepolis zur Ruhe gesetzt, wo man ihm die Füße küsste)? Und gewiss war es Hitler zwischen dem Angriff auf Polen und dem Befehl, Frankreich anzugreifen, auch ein bisschen langweilig. Er hatte nichts zu tun, außer abends Hollywoodfilme anzusehen, eine Leidenschaft, die er mit Josef Stalin teilte.
Wer absolute Macht hat, kann gleichwohl nicht verhindern, dass die Verhältnisse sich ändern. Wer die oben skizzierten Maßnahmen getroffen hat, ruiniert damit seine Anpassungsfähigkeit an neue Situationen. Er macht sich dümmer, als er sein könnte, er schneidet sich von Informationen ab, die eine Entscheidungen verändern oder gar gefährden könnten. Diese Einschränkung seiner Fähigkeiten bemerkt der Mächtige aber deshalb nicht, weil er im Lauf der Zeit die Tendenz entwickelt, Probleme überhaupt zu leugnen. Was immer er will, geschieht ja seiner Meinung nach und er hat die Möglichkeit, jede seiner Entscheidungen wieder umzustoßen. Warum sollte er also Probleme vermeiden?
Ganz im Gegenteil: Wenn durch das Machtwort des Diktators alle Kräfte auf einen Punkt gelenkt werden, erweisen sich tatsächlich viele Schwierigkeiten als überwindbar, die ohne sein Wort unlösbar geblieben wären. Diese Erfolgserlebnisse schreibt der Diktator nur sich selbst zu, und das ist nicht ganz falsch, weil nur er die Kräfte in dieser Form bündeln konnte – das zeigt sich etwa an Diktatoren auf Zeit, wie Sulla (* um 138 v. Chr.; † 78 v. Chr.), aber auch an Diktatoren wie dem Caudillo Franco (1892-1975), der immerhin fähig war, einen von ihm kontrollierten Machtwechsel auf die neue spanische Monarchie durchzuführen. Viele Menschen wünschen sich statt der Demokratie einen gütigen Diktator, weil ihnen Sicherheit wichtiger ist als Teilnahme an politischen Entscheidungen: repräsentative Demokratie wird in der letzten Zeit (2023 ff.) sehr oft als bloße Fassade wahrgenommen.
Diese Erfahrung ist der Grund für den Wunsch vieler Menschen nach Alleinherrschern, deren Gefährlichkeit sich erst zeigt, wenn man sie loswerden will. Auch deshalb haben Diktaturen unter bestimmten Rahmenbedingungen für eine gewisse Dauer Bestand, so vor allem, wenn sie in Zeiten des absoluten Chaos gebildet werden und man alle ihre Nachteile gegenüber einer Unordnung in Kauf nimmt, die weit mehr Schaden anzurichten imstande ist, als eine nicht vollständig willkürliche Diktatur (die letztlich nichts weiter als Chaos bedeutet).
Wenn Macht sich ohne Regeln willkürlich ausagiert, ist und bleibt sie instabil, weil sie die Folgen ihrer Entscheidungen nicht mehr überblicken kann und auch für andere nicht planbar ist. Im Bereich des Staates bilden die Strukturen des Rechts eine gewisse Sicherheit für den Ausschluss von Willkür, vor allem dann, wenn das Recht aufgrund einer Gewaltenteilung nicht von den anderen staatlichen Einflüssen korrumpiert wird. Das Recht ist die Stütze und Grenze der Macht. Wer absolute Macht anstrebt und das Recht ignoriert wird dadurch seine Macht ruinieren. Wer hingegen versucht, Willkür zu vermeiden und gerechte Entscheidungen zu treffen, hat die besseren Chancen, an der Macht zu bleiben.
9. Der Stil der Macht
»Es gehört... zum Wesen der Macht, sich gerade da, wo sie am stärksten ist, zu verbergen. Ihr Vermögen, sich durchzusetzen, entspricht ihrem Vermögen, die Mechanismen ihres Wirkens zu verhüllen.«74
Jeder Machthaber (und jede Machthaberin) entwickeln – abhängig von den jeweiligen kulturellen Rahmenbedingungen – einen für sie unverwechselbaren Stil, der sie entweder überdeutlich zeigt, oder ihr hilft, sich hinter bestimmten Fassaden zu verbergen. Die Macht nimmt Gestalt an, sobald sie sich in konkreten Situationen manifestiert. Wenn wir in die Geschichte zurückblicken und versuchen, solche stilistischen Elemente zu verstehen (Ikonographie), werden wir auf große Differenzen stoßen, aber auch auf Verhaltensformen, die sich im Kern in allen Kulturen gleich bleiben: Wer sich seiner Macht gewiss ist, strömt eine Selbstsicherheit aus, die man nur auf diese Weise gewinnen kann; so auch die Gleichgültigkeit gegenüber Ereignissen, die andere Menschen verunsichern, so auch die Ignoranz gegenüber Tatsachen, die die Macht gefährden könnten – einer der wesentlichen Gründe, warum sie nicht ewig dauern kann.
Die Entwicklung dieses Stils ist nicht unabhängig von den Menschen, die eine mächtige Person umgeben. Wer die Macht in Händen hat, kann die Reaktionen der Menschen, die ihn umgeben, nur in einem gewissen Umfang bestimmen und erkennt nicht immer, wer sich in seinem Umfeld im Schatten der Macht als »graue Eminenz« aufhält. Es gibt unendlich viele Informationen, die für die Erhaltung der Macht notwendig sind, aber es ist schwer zu beurteilen, welche es sind. Zudem neigen Menschen im Umfeld der Macht immer dazu, den Mächtigen von unerfreulichen Informationen fernzuhalten (oft genug wird es ihnen auch befohlen), sie verstärken die Blase, in der er sich unvermeidlich befindet.
Der Stil, den mächtigen Menschen entfalten und den sie den von ihnen beherrschten Systemen oktroyieren, zeigt sich unverkennbar in den Entscheidungen, die sie treffen, und Art und Umfang ihrer Macht wird sichtbar, wenn man die Reaktion auf diese Entscheidungen beobachtet: Wird sie fraglos akzeptiert oder sogar von deutlichen Mehrheiten unterstützt, hat der, der die Entscheidung trifft große Macht, wird sie offen kritisiert oder gar abgelehnt, ist seine Macht geringer.
Diese Tatsache führt zu zahllosen Versuchen, Opposition und öffentliche Meinung so zu manipulieren, dass die Macht größer erscheint, als sie tatsächlich ist. Denn obwohl die Macht sich zeigen muss, um wirken zu können, will sie sich doch im Grunde unsichtbar machen, um sich möglichen Angriffen zu entziehen. Jeder, der Macht ausübt, steht in diesem tragischen Dilemma: Er kann nicht handeln, ohne sich gleichzeitig zu gefährden.
Um Zweifel an ihrer Macht von vornherein auszuschließen, bedienen sich mächtige Menschen unzähliger Signale und Rituale (Kleidung, architektonischer Rahmen, Herolde, Sprachformen usw.), die sich nicht nur in Hierarchien zeigen, sondern auch und gerade bei Minderheiten, die durch diese Muster ihre Identität (und damit ihre Chancen) gegenüber anderen hervorheben (die Uniformen der Underdogs, Penner, Anarchisten usw.). So legt sich der Schatten der Macht auf (reale oder virtuelle) Gegenden, die weit von ihrem Kern entfernt sein können, überall dorthin, wo die Wahrscheinlichkeit der Unterwerfung sehr hoch ist.
Max Weber nennt diese Unterform der Macht »Herrschaft«, aber es besteht kein wirklicher Bedarf für einen Unterbegriff dieser Art: Eine Macht, die keinen Schatten vorauswirft, die sich also nicht sichtbar macht und der nicht prophylaktisch gehuldigt wird, kann ihre Kraft nicht entfalten.
Ich habe früher (auch unter dem Einfluss des Denkens der 68er) jeder Art förmlicher Zurschaustellung der Macht für überflüssig und schädlich gehalten. Wozu sollte es in irgendeiner Regierung einen Protokollchef geben? Sollte nicht ein Kanzler oder Präsident auf seine Autorität vertrauen und ohne Herolde auskommen? Manche Politiker, die ihre Dienstwagen gegen Fahrräder vertauschen, andere, die versuchen, ihre Briefe selbst zu schreiben oder in Turnschuhen auftreten, glauben, sie hätten damit ein Problem gelöst. Tatsächlich senden Sie auf diese Weise nur sehr deutliche politische Signale an ihre Anhänger und lassen die anderen Wähler wissen, dass sie deren Bedürfnisse nicht so recht ernst nehmen können. Kanzler Scholz trägt im Dienst Krawatte, redet er aber bei der Gewerkschaft, kommt er im Hemd. Das sind zweideutige Signale, die den Respekt schwächen.
Der Stil, den die Macht entwickelt, nicht nur zur Darstellung der Macht genutzt werden, sondern auch zur Verschleierung der Machtverhältnisse und der inneren Einstellung. Ein korrekt angezogener Manager war noch vor wenigen Jahren ohne Krawatten nicht denkbar, der Blick auf seine blanke Haut wäre geradezu als Eingriff in die Privatsphäre empfunden worden. Nur in Israel gehörte das offene Hemd zu den wichtigen politischen Symbolen der – heuchlerisch behaupteten – Identität von Politikern mit dem Volk. Das ist der tiefere Grund, warum heute auf allen möglichen Ebenen die Krawatten aus der Mode gekommen sind (solange die jeweiligen Vorgesetzten diese Mode mitmachen).
Zu den Rollen, Ritualen usw. der unterschiedlichsten Art gehören auch Symbole der Macht, die den Herrscher zeigen, ohne dass er anwesend ist. In den Amtsstuben hängt das Bild des Präsidenten (Geßlers Hut). Man will damit zeigen, wessen Befehlen man auch dann gehorcht, wenn er nicht anwesend ist. Deshalb hängen in manchen Schulstuben oder Gerichtssälen noch christliche Symbole.
10. Der Schatten der Macht
»Die offensichtlichen, allgegenwärtigen, wichtigsten Realitäten sind oft die, die man am schwersten erkennen und über die man am schwersten reden kann …«75
David Foster Wallace
Die Macht nimmt Gestalt an, sobald sie sich in konkreten Situationen manifestiert. Um Zweifel an ihrer Macht von vornherein auszuschließen, bedienen sich mächtige Menschen unzähliger Signale und Rituale (Kleidung, architektonischer Rahmen, Herolde, Sprachformen usw.), die sich nicht nur in Hierarchien zeigen, sondern auch und gerade bei Minderheiten, die durch diese Muster ihre Identität (und damit ihre Chancen) gegenüber anderen hervorheben (die Uniformen der Underdogs). So legt sich der Schatten der Macht auf (reale oder virtuelle) Gegenden, die weit von ihrem Kern entfernt sein können, überall dorthin, wo die Wahrscheinlichkeit der Unterwerfung sehr hoch ist. Max Weber nennt diese Unterform der Macht »Herrschaft«, wir verwenden aber auch (sogar in der Biologie76) Begriffe wie »Dominanz« oder »Prestige« um einzelne Quellen der Macht voneinander zu unterscheiden. Gewalt z. B. kommt immer von oben (das Machtmonopol des Staates), Prestige hingegen (die Bewunderung eines Stars) von unten. Diese begrifflichen Unterscheidungen sollten aber die Tatsachen nicht verdecken, dass Herrschaft, Dominanz, Prestige und andere Unterscheidungen nur Variationen sind, die aus der gleichen Quelle stammen und den gleichen Regeln unterworfen sind.
Macht hat also jeder, der die Regeln des Spiels – auf welche Weise auch immer – bestimmen kann, auch wenn er seine Chancen nicht wahrnimmt und damit seine Macht nicht auf die Probe stellt. Gelegentlich wird behauptet77, Webers Begriff der Macht werde durch die Verbindung mit dem Begriff der Chance entwertet, Macht dürfe man nur eine tatsächlich ausgeführte Handlung nennen. Dabei wird der oben beschriebene Schatten der Macht übersehen, durch den sie sich im Vorfeld jeder Entscheidung bereits realisiert. Diese Schere in den Köpfen manipuliert unsere Gedanken und sorgt unter anderem für politische Korrektheit der Sprache – einem wesentlichen Ziel nicht nur der Unterdrückten, sondern vor allem auch der Machthaber.
Macht ist allgegenwärtig, sie beeinflusst bewusst oder unbewusst all unserer Gedanken, Gefühle und Handlungen, soweit sie sich auf die Gesellschaft beziehen, sie ist die Grundenergie unseres sozialen Lebens. Macht kann sich auch ohne Gewalt allein durch ihre Präsenz durchsetzen – ihr Schatten (oder ihr Glanz) liegt bewusst oder unbewusst über der Gesellschaft und jedem Einzelnen. Sie bedient sich aller physischen und psychologischen Mittel der Kommunikation, über die wir verfügen.
Die Erkenntnis, dass Macht allgegenwärtig ist, hat sich aus intuitiven Anfängen, beginnend mit Plato – und immer konkreter werdend – Machiavelli, Schopenhauer, Nietzsche bis hin zu den modernen Erkenntnissen der Psychologie entwickelt. Lenin hat diese Erkenntnis in dem berühmten Zitat zusammengefasst: »Alles ist Illusion, außer der Macht«. Selbst jemand, der die Macht leugnen würde, könnte es nur dann, wenn er dazu die Macht hätte.
Wenn Machtverhältnisse noch ungeklärt sind, offenbaren sie sich in jeder Entscheidung über ein Tun/Unterlassen. Dabei steht jeder Chance ein Risiko gegenüber, deren Bewertung in der Entscheidung zum Ausdruck kommt. Die Macht hängt nicht von Meinungen ab, sondern von der Möglichkeit, seine Chancen durch eine Entscheidung zu realisieren. Dabei drängt sich die Erkenntnis auf hat so den Kern des Politischen definiert: »Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt«. (Carl Schmitt)
Wird die Chance verwirklicht, erhält derjenige, der die Macht realisiert hat (der Machthaber) eine Vielzahl materieller, intellektueller und emotionaler Vorteile, denen gleichwertige Nachteile gegenüberstehen, die ihm jedoch meist nicht bewusst sind. Goethe hat es so ausgedrückt: »Majestät ist das Vermögen, ohne Rücksicht auf Belohnung oder Bestrafung recht oder unrecht zu handlen.«78
Ich habe mich oft gefragt, woher Menschen mit geringen Fähigkeiten, aber auch charakterschwache, anmaßende und arrogante Personen die innere Stärke nehmen, anderen gegenüber mächtig aufzutreten, wenn ihre äußere Stellung ihnen die Möglichkeit dazu gibt. Der Grund: Sie spüren ihre tatsächliche Macht und übersehen ihre Schwächen, vor allem aber sind sie nicht fähig, dass Machtpotenzial anderer zu begreifen und sich Sorgen zu machen, dass ihre eigene Macht ihnen zwischen den Fingern zerrinnen kann.
11. Gewalt und ziviler Ungehorsam
Vor allem flüchten Mächtige sich in die Gewalt. Sie ist die einfachste Art der Kommunikation, sie ist die Sprache der Arroganz. Sie wird sehr häufig gegenüber Menschen angewendet, die nicht verstehen, wie die Machtverhältnisse verteilt sind oder mit provozierenden Mitteln versuchen, ihren Unmut über diese Verteilung zum Ausdruck zu bringen (vor allem in Demonstrationen, Beleidigungen, aggressiven Verhalten usw.). Als Inhaber der Macht müsste man theoretisch auf diese Menschen mit kommunikativen Angeboten zu gehen und versuchen, die eigene Perspektive zu vermitteln. Das ist aber mühevoll und vermittelt ihm selbst und allen anderen den Eindruck, dass er bereits dadurch einen Teil seiner Macht verliert. Er will sie aber augenfällig machen und so greift er selbst zur Gewalt.
Auf den ersten Blick ist es erstaunlich, dass Menschen sich zu Demonstrationen zusammenrotten, obwohl sie wissen müssten, dass solche Mittel allein keinen Machtwechsel herbeiführen können und für sie selbst sehr gefährlich sind, weil sie damit die Gewalt der Herrschenden provozieren. Demonstrationen haben aber einen erheblichen Effekt nach innen: Zum einen sehen die Demonstranten, dass sie mit ihren politischen Ideen nicht mehr allein sind, zum anderen führt die gemeinsame Aktion zu zahllosen hormonellen Reaktionen, die typischerweise mit der Verteidigung eigener Positionen unabhängig von jeder rationalen Analyse verbunden sind. In der Menge fühlt man »sich aus allen Bindungen der alltäglichen Welt heraus – und emporgehoben«, wie Konrad Lorenz (Das sogenannte Böse) schreibt.
Wir sind biologisch/psychologisch darauf programmiert, auf Gewalt mit Gewalt oder Flucht zu antworten. Zwar sind wir auch in fast jeder Lage zur Kooperation fähig, aber nicht, wenn unsere Existenz grundsätzlich infrage gestellt wird. Denn dann ist es relativ einfach, sein Leben aufs Spiel zu setzen: Man hat nichts mehr zu verlieren, wir fühlen uns in die Ecke getrieben und haben oft auch nicht mehr die Kraft die Anmaßung zu ertragen, die uns durch Gewalt zugemutet wird.
Gewalt ist aber auch die Sprache der Dummheit. Wenn jemand seinen Willen durchsetzen will, dazu aber mit kommunikativen Mitteln nicht in der Lage ist (er kann sich sprachlich nicht ausdrücken, die Körpersprache allein genügt nicht, er interpretiert die Informationen, die anderen ihm geben, nicht richtig usw.) – kurz: Er ist nicht intelligent genug, seinen Willen durchzusetzen, kann nur noch zur Gewalt als dem letzten Mittel greifen; und häufig ist es das erste Mittel, weil er zu arrogant ist, es mit anderen Varianten zu versuchen.
Der unerträglichste Angriff, den jemand gegen mächtige Menschen und/oder Institutionen vortragen kann, ist es, deren Macht zu ignorieren, sich ihr weder inhaltlich noch formal zu beugen, sie lächerlich zu machen, sie nicht anzuerkennen – all das auch ohne die Absicht, die Macht selbst oder für andere übernehmen zu wollen. Auch der zivile Ungehorsam kann dazu gehören. In solchen Situationen kann es zu Machtexzessen kommen, die völlig außerhalb des Verhältnisses zum Anlass stehen.
Auch deshalb war es eine besondere Leistung von Mahatma Gandhi, neben die Möglichkeit der Gewalt den »zivilen Ungehorsam« zu setzen. Dieses Modell konnte allerdings nur unter Rahmenbedingungen aufgehen, unter denen die Gegenseite (die englische Regierung) ein festes Grundverständnis von Rechten und Pflichten besaß. Auch wenn dieses Grundverständnis sich nicht darauf erstreckte, den Indern die gewünschte Freiheit zu geben, so hat sie doch bei den Machthabern Zweifel genug geweckt, ob das Festhalten an der absoluten Macht politisch zu rechtfertigen sei. So wurde die innere Bereitschaft dazu ausgehöhlt und führte letztlich zu Befreiung. Gandhi hat diese Idee mit seinem Leben bezahlt und damit auch beglaubigt. Wie traurig, dass zwischen Hindus und Moslems die Gewalt die einzige Sprache ist, in der sie bis heute miteinander kommunizieren wollen. Beide Seiten entwickeln hier keine Zweifel, die zu einer ähnlichen Entwicklung führen könnte, wie sie beim Verzicht auf die Macht durch Großbritannien eingetreten ist.
12. Macht und Führung
Führung ist die Fähigkeit, Macht so zu strukturieren und organisieren, dass Menschen bestimmte Ziele erreichen und Probleme vermeiden können. Strukturieren bedeutet: Ein Ziel oder ein Problem für alle sichtbar zu machen, die zu ihrer Lösung eingesetzt werden sollen. Organisieren bedeutet: Ziele und Wege zu definieren, die Bereitstellung von Mitteln und Werkzeugen, die Verteilung von Kompetenzen, die Zuweisung von Verantwortung und die Kontrolle der Ergebnisse.
Soziale Ordnungen bilden sich aus der Erfahrung, dass es in vielen Situationen des menschlichen Lebens nützlich ist, wenn Menschen sich zu gemeinsamen Aktivitäten zusammenschließen, einige wenige Führungsposition übernehmen und die anderen sich ihnen unterordnen. Führungspositionen werden von denen übernommen, die bestimmte Fähigkeiten haben (oder von anderen zugesprochen erhalten), die sie anderen überlegen machen. Andere anerkennen diese Führungsqualitäten nicht zuletzt, weil sie selbst davon profitieren, wenn sie sich um einen führungsbegabten Menschen scharen. Eine unauffällige Form der Führung ist es, die Menschen dazu zu bewegen, sich selbst zu organisieren. Es hat in der Vergangenheit unzählige – teils anarchistische – Modelle des menschlichen Zusammenlebens gegeben, die versucht haben, ohne Führung auszukommen. Keines von ihnen hat Nachhaltigkeit entwickelt, denn auch Selbstorganisation bedarf der Führung.
In den historischen Anfängen der Bildung einzelner Gruppen werden einzelne Menschen, deren Fähigkeiten die der Anderen überragen, durch formlose Anerkennung ihrer Führungsqualitäten identifiziert und unterstützt, aber auch durch die Erfahrungen des Alters, die Zuschreibung bestimmter Qualitäten und Verbindungen vor allem zu höheren Mächten, die Einzelnen teils aufgrund tatsächlicher Leistungen, teils aufgrund mythischer Behauptungen zuteilwird.
Es ist eine große Frage, ob auch Intelligenz und Bildung zu den Führungsqualitäten gehört. Wenn man Intelligenz als die Fähigkeit interpretiert, sich wechselnden Situationen anzupassen und Querverbindungen zwischen einzelnen politischen Elementen ziehen zu können, die andere nicht sehen, liegt die Vermutung nahe, dass Intelligenz ein wesentliches Element der Begabung zur Führung ist. Das Problem: Intellektuell begabte Menschen lassen wegen ihrer Neugier und der Lust, auf Veränderungen zu reagieren, sehr häufig die Stabilität vermissen, die erforderlich ist, wenn man führen will.
Ganz ähnlich ist es mit der Bildung: Gebildete Menschen neigen zu einer ironischen Betrachtung der Welt, die nie so ist, wie sie sein sollte, Führung hingegen muss alles ernst nehmen, was die Führung in irgendeiner Form beeinträchtigen könnte. Ein gewisses Maß an Sturheit (um nicht zu sagen: Dummheit) kann die Führungsqualitäten entscheidend steigern. (Konrad Adenauer: »Je einfacher Denken ist oft eine gute Gabe Gottes«). Intelligenz und Bildung dürfen also nicht die einzigen Begabungen sein, über die jemand verfügt, der die Macht beansprucht.
Entscheidend ist demgegenüber der unbedingte Wille, eine mächtige Position zu erreichen und zu verteidigen und ein untrügliches Gespür dafür, welche Menschen diesen Willen unterstützen und welche ihm gefährden.
Die Führung von Gruppen ist unverzichtbar, sobald Pläne komplex werden und nicht nur auf Zuruf gearbeitet werden kann. Pläne kann man nur verwirklichen, wenn jemand bereit ist, die Verantwortung für deren Ausführung zu übernehmen und die notwendigen Kompetenzen und Mittel von anderen erhält. Ist auch nur eines dieser drei Elemente nicht in der notwendigen Qualität vorhanden, kann aus einem Plan nichts werden. Nach außen ist das oft schwer erkennbar, vor allem dann, wenn formal verantwortliche Personen sich gegenseitig blockieren. Führung bedeutet:
- Ziele und Pläne definieren,
- Aufgaben verteilen, zusammenfassen und Durchführung lenken
- Pläne den Änderungen der Rahmenbedingungen anpassen
- Widerstände, Krisen und Kritik kommunikativ bewältigen,
- Ergebnisse kontrollieren, Leistungen anerkennen.
Auch wer sich entschließt, Projekte allein durchzuführen, muss die Fähigkeit haben, sich selbst zu führen, d. h. also, Ablenkungen zu erkennen und im Griff zu halten.
Wer Führung übernehmen will, muss sich darüber im Klaren sein, aus welchem Interesse heraus er handelt: Will er nur seine eigenen Interessen durchsetzen, oder handelt er im Interesse anderer? Selbst wenn letzteres der Fall ist, kann man das eigene Interesse, als mächtiger Beschützer anderer aufzutreten, niemals leugnen. In beiden Fällen muss man sich selbst und andere davon überzeugen, dass ein Problem nur durch die eigenen Ideen, Entscheidungen und inhaltlichen Beiträge lösbar ist und dafür sorgen, mindestens so viel Macht in der Hand zu halten, dass das möglich ist. Das kann nur gelingen, wenn man die mit der Macht verbundene Autorität auch nach außen hin zum Ausdruck bringt. Wer das nicht verstanden hat, wird die Führung verlieren: »Was macht es schon, wenn meine Autorität leidet, wenn nur mein Volk glücklich ist«79 sagte Ludwig XVI 1789 wenige Wochen vor seinem Sturz. Schon Machiavelli hat diese Haltung kritisiert.
Seit etwa 2000 Jahren ist die demokratische Wahl eines der Mittel, um Führung einzurichten und zu wechseln. Wenn diese Verfahren allgemein anerkennt werden, können sie zwar nicht dafür sorgen, dass die richtigen Menschen ins Amt kommen, aber ungeeignete durch Abwahl wieder beseitigen – ohne dass dies in einem Bürgerkrieg endet. Das ist die innere Rechtfertigung der Demokratie, die trotz all ihrer Mängel einen hohen Wert hat80. Natürlich können auch Wahlen manipuliert oder durch Gewalt beeinflusst werden. Venedig hat ein interessantes System entwickelt, das jahrhundertelang gut funktioniert hat81: Wahlen wurden mit Losentscheidungen kombiniert, aus einer Reihe gewählter Personen konnten nur diejenigen das Amt antreten, die das Los durch Zufall dazu bestimmt hat.
Führung ist nur dann wirksam, wenn sie die Probleme, mit denen sie konfrontiert ist, entweder lösen kann oder fähig ist, ihre Unfähigkeit zu verbergen. In einer Struktur, die von der absoluten Macht eines einzelnen oder einer Gruppe geprägt ist, kann dieses Ziel nur von denen erreicht werden, die unmittelbar der Spitze stehen. Alle anderen können sich nur retten, wenn sie wenigstens nur Maßnahmen ergreifen, die von der Führung nicht kritisiert werden. Das Ziel des Managements ist dann nur, die Zustimmung des Mächtigen zu erreichen und Strafen zu vermeiden. Für die Probleme interessiert sich im Kern niemand mehr.
Führung und Kritik sind Gegensätze, die für den Erfolg unverzichtbar sind. Vor allem in der Planungsphase ist jede denkbare Kritik eine unbedingte Voraussetzung für den Erfolg. Aber auch später muss jeder, der Führung übernommen hat, für Kritik offenbleiben (was erfahrungsgemäß sehr selten geschieht, weil damit eine Infragestellung der eigenen Macht verbunden ist). Es gibt Leute, die nur für Kritik begabt sind, selbst aber nichts schaffen können. Für sie ist es besonders schwer, Führung zu akzeptieren, vor allem dann, wenn führungsbegabte Menschen im Übrigen wenig begabt sind. Glücklich sind jene, die wissen, dass ihr Beitrag in der Gruppe wertvoll ist, denen aber auch bewusst ist, dass sie selbst allein nichts zuwege bringen. Die meisten allerdings sind wie jene auf dem Kopf des Büffels sitzende Fliege, die den anderen zuruft: »Wir pflügen«! Eine wichtige Aufgabe der Führung ist es, solche Menschen gleichzeitig zu kritisieren, den nützlichen Kern ihrer Ideen zu übernehmen und ihren Beitrag anzuerkennen.
Intellektuelle, Freiberufler, Künstler, Wissenschaftler und alle Leute mit hohem kreativem Potenzial sind schwer zu führen. Hierarchisch funktionsfähige Methoden greifen bei ihnen nicht. Es geht um Katzen hüten.
Mit der Macht, die wir einzelnen Führungspersonen übertragen (oder die sie sich nehmen) erzeugen wir soziale Ordnungen. Wir haben alle ein tiefes Interesse daran, zu überleben und damit jeder Art von Gewalt auszuweichen, die das Leben und seine Potenziale gefährdet. Die Überlebensfähigkeit und zahllose andere Potenziale eines einzelnen Menschen steigern sich, wenn er innerhalb einer Gruppe lebt, die die unterschiedlichen Begabungen ihrer Mitglieder austauschen und ergänzen kann. Das kann nur gelingen, wenn es Menschen gibt, die bereit und fähig sind, andere zu führen.
13. Gruppendynamik
Machtverhältnisse umfassen immer eine Vielzahl von Menschen, die sich auf den ersten Blick in zwei Gruppen teilen: Die Einen, die die Macht ausüben können (und wollen) und die anderen, die sich ihnen unterordnen und davon für sich selbst profitieren. Der genaue Blick zeigt, dass es zwischen diesen beiden Positionen zahllose Mischformen gibt. Die höchsten Positionen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Machthaber sich niemand anderem unterordnen und Kritik oder Widerspruch, ja sogar guten Rat und am Ende jeder Art von Information ablehnen, die ihrer eigenen Ansicht widerspricht. Dieser Haltung ist letztlich der Anfang vom Ende, weil der Bezug zur Wirklichkeit verloren geht.
In der Mehrzahl nehmen aber diejenigen, die sich anderen unterwerfen, selbst eine Doppelfunktion ein: Sie selbst dienen ihren Herren, versuchen aber alle, die unter ihnen stehen, ihrem Willen zu unterwerfen. Dadurch entstehen zahllose Konflikte, die höherrangig gelöst werden müssen. Wenn das nicht gelingt, erleidet die gesamte Gruppe ein Informationsdefizit.
Wie diese Gruppendynamik sich entwickelt, hängt in erster Linie von der Größe der Gruppe ab. Die – durch die Forschungen von Robin Dunbar teilweise bestätigten – Erfahrungen zeigen, dass Gruppen unter zwölf Menschen sich informell auf Zuruf abstimmen können und Gruppen unter 150 nur eine geringe Organisation ihres Informationsaustausches benötigen. Danach wird es kompliziert.
Menschen, die innerhalb einer Gruppe Macht haben, können die Machtverhältnisse innerhalb der Gruppe nicht unter allen Umständen beliebig steuern. Häufig entwickelt sich eine Gruppendynamik, die die Machtverhältnisse ändert, die notwendigen Informationen verzerrt und so die Gruppe zerstört oder das Erreichen der Ziele verhindert.
In der Politik wie in der Wissenschaft stellen wir uns auf die Frage, ob die Entwicklungen mehr von den Entscheidungen Einzelner abhängen (Alexander der Große, Napoleon, Hitler, Stalin, Mao Tse Dong etc.) oder ob diese Entscheidungen nur der Ausdruck eines allgemeinen Zeitgeistes sind, den sie nur repräsentieren, aber letztlich nicht gestalten. Die Antwort: Beide Phänomene interagieren und werden nicht zuletzt durch Zufälle beeinflusst. Nur wenn die Rahmenbedingungen der jeweiligen historischen Situation es ermöglichen, kann der Einzelne seine Entscheidungen durchsetzen und der Zufall kann beides verhindern.
14. Macht im Verhältnis zu anderen sozialen Kräften
»Wo ich Lebendiges fand, da fand ich den Willen zur Macht«82
Friedrich Nietzsche
Im privaten Leben wird die Existenz von Machtverhältnissen oft geleugnet, weil sie nur indirekt zutage treten. Dabei ist es offensichtlich, dass Eltern mächtiger sind als ihre Kinder, Lehrer mächtiger als die Schüler, reiche Verwandte mächtiger als ihre armen Familienmitglieder. Auch die Forderung der Emanzipation der Frauen gegenüber den Männern ist nichts anderes als eine Forderung nach mehr Macht. Ja sogar in den Liebesbeziehungen sind die Geliebten mächtiger als die Liebenden.
Soziale Ordnungen haben dann eine Chance auf Stabilität, wenn sie durch eine Vielzahl von Machtströmungen gestaltet und durch den Zusammenbruch alter Strukturen und das Entstehen von neuen lebendig gehalten werden, die sich teils widersprechen, teils ergänzen und den Bezug zur Realität nicht verlieren. Wenn das gelingt, und die sozialen Strukturen durch die Moral strukturiert werden, hat die Entwicklung absoluter Macht wenig Chancen.
Gesellschaftliche Strukturen verwandeln Chaos in Ordnung und jede Definition von Machtverhältnissen und Machtdifferenzen schafft solche Strukturen. Nur zur Erinnerung: Auch im Gefängnis herrscht Ordnung! Die Regeln der Macht bilden das Grundgesetz jeder sozialen Ordnung. Und so entsteht unabhängig von den jeweiligen Theorien, die eine soziale Ordnung beschreiben, Strukturen der über – und Unterordnung. In revolutionären Ausnahmezuständen gibt es hin und wieder machtleere Räume, aber nur für kurze Zeit. Die Anerkennung von Macht ist weit mehr als eine bloße Idee, ein Rat, eine kommunikative Abstimmung, gute oder schlechte Stimmung, Erpressung oder was immer im Vorfeld von Entscheidungen und Handlungen vor sich geht.
»Was das Gefühl der Sicherheit vor den Menschen anlangt, so sind Macht und Herrschaft eines der naturgegebenen Güter, von denen aus man sich Sicherheit verschaffen kann. Manche streben nach Ruhm und Ansehen in dem Glauben, sich damit Sicherheit vor den Menschen verschaffen zu können. Leben Sie nun in Sicherheit, so haben sie dieses natürliche Gut auch bekommen. Ist ihr Leben aber nicht gesichert, so besitzen sie nicht einmal das, worum sie, ihrer Natur gehorchend, sich zuallererst so eifrig bemüht haben.«83
Wenn Systeme, die eine bestimmte Ordnung aufweisen, zerfallen, entwickelt sich auf den ersten Blick ein Machtvakuum. Bei genauer Betrachtung zersplittert die früher einheitliche Ordnung nur in unterschiedliche macht Felder, die von Warlords beherrscht werden. Immer gibt es irgendjemanden, der etwas entscheiden und danach handeln kann. In den Tagen nach der deutschen Kapitulation im Mai 1945 bis zur Einrichtung der jeweiligen Besatzungsregime sind Wochen vergangen. Berlin etwa war in unendliche Fraktale zerbrochen, aber innerhalb jedes dieser kleinen Systeme wurden die Machtverhältnisse jeweils nach Sachlage verteilt. Auf dem Schwarzmarkt stellten sie sich anders dar als auf der Straße, in den Kellern anders als unter den Dächern.
In solchen Übergangsphasen können sich ganz neue Systeme etablieren, wie etwa die Mafia in Italien, die sich zwischen 1820 und 1860 unter den Statthaltern der Großgrundbesitzer (sog. Gabellotti) entwickelte, deren Auftraggeber sich genauso wenig wie die Kommunalverwaltung, die Gerichte oder andere Behörden um die Interessen der Menschen kümmerten, die dort lebten und arbeiteten. Möglicherweise gab es schon vor diesem Zeitpunkt Mafia – ähnliche Strukturen, denn Sizilien war immer ein von Karthagern, Griechen, Römern und anderen Interessenten beanspruchtes, aber nie durchgängig beherrschtes Gebiet: »Es ging um das Recht, dass die Sizilianer nie bekommen haben«84. Die Gabelotti erklärten die Ordnung für ihre Sache (cosa nostra) und gestalteten sie mehr oder weniger willkürlich. Im Befreiungskampf Garibaldis85 profitieren sie von weiteren Erschütterungen und Verwerfungen der Machtverhältnisse. Ähnlich geschah es nach dem Zweiten Weltkrieg durch den Import der US-Mafiosi nach Palermo und Neapel.
In solchen Situationen ist die Macht schwerer erkennbar. Irgendjemand trifft Entscheidungen, aber viele wissen nicht, wer das ist und wie das System funktioniert. Also müssen die Beteiligten selbst einen Weg finden, um festzustellen, wie die Machtverhältnisse sich zwischen ihnen darstellen. Äußere Anzeichen wie die Kleidung, das Verhalten und das Auftreten enthalten die entsprechenden Signale, die häufig aber missverstanden werden. Wenn alle anderen Methoden versagen, wird am Ende immer die Gewalt dafür sorgen, Klarheit zu schaffen.
Konflikte zwischen der Gesellschaft und dem Einzelnen sind unvermeidbar. Diese Konflikte ergeben sich aus den sich ständig ändernden Machtdifferenzen zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft, von denen viele durch Status, Erbanlagen usw., andere durch Arbeit und Kommunikationsfähigkeit etc. bestimmt werden. Die Begriffe »Kommunismus« und »Kapitalismus« z. B. sind nichts anderes als schiefe Fassaden, hinter denen sich diese Konflikte verstecken: Die Beseitigung privater Eigentumsverhältnisse verschiebt nur Machtpositionen, ändert sonst aber gar nichts, schon gar nicht die »Entfremdung« und genauso ist es mit der Anhäufung von Kapital. Immer kommt es darauf an, wie von der jeweiligen Macht Gebrauch gemacht wird.
Die gegenseitige Abhängigkeit zwischen den Individuen, die Mitglieder einer Gruppe sind, schränkt jedoch in gleichem Maß deren individuelle Entfaltungsmöglichkeiten ein. Dazu gehört vor allem die Identifikation des eigenen ICH, das damit verbundene Mindestmaß an Freiheit für Denken und Handeln und die Erkenntnis der ANDEREN als Subjekte mit identischem Anspruch.
Dies gilt sogar für jede Entscheidung für oder gegen einen bestimmten theoretischen Begriff, den wir verwenden. Wir wissen, was ein politisch korrekter Begriff ist und wenn wir ihn verwenden, akzeptieren wir (oft unbewusst) auch das politische Konzept, das hinter dem Begriff steht. Kritisieren wir hingegen den Begriff, dann kritisieren wir auch das System, das ihn erzeugt hat. Das Beharren auf politisch korrekten Begriffen ist ein zentraler Angriff gegen jede Art freier Kommunikation und ein deutliches Zeichen dafür, wer die Macht hat.
Mit der These, die Macht sei das ausschlaggebende Ordnungsprinzip unserer sozialen Strukturen werden andere Motive, die unser Verhalten bestimmen, nicht etwa geleugnet. Die psychologische Forschung hat zahllose Kräfte entdeckt, die unser Verhalten in der Gesellschaft bewusst und unbewusst prägen. Als besonders wichtig werden neben der Macht genannt:
- Bindung/Intimität,
- Leistung/Anerkennung86.
Wenn wir nach Bindung und Intimität zu anderen Menschen suchen oder wenn wir ihre Anerkennung erstreben, ist die Richtung unseres Motivs zwar weit entfernt von z. B. politischer Macht, aber auch in diesen Fällen versuchen wir, mächtiger zu sein als andere: entweder wollen wir uns andere innerhalb der intimen Bindung oder der Sucht nach Anerkennung unterwerfen – oder selbst an deren Glanz teilhaben.
Die jüngere psychologische Forschung definiert deshalb den Begriff der Macht enger und unterscheidet daneben eine Vielzahl von anderen Einflüssen auf unser Verhalten, so etwa die »Geltungshierarchie« (Wertschätzung eigener Leistungen durch andere, die nicht erzwungen werden kann) oder das »Selbstwertstreben« (innere Empfindung eines Wertes in den Augen anderer, ohne damit Einfluss auf sie zu verbinden)87. Aber alle diese Einflüsse sind nicht unabhängig von unseren Beziehungen zu anderen Menschen denkbar, sie beziehen sich mittelbar immer auf unser soziales Leben. Dazu gehören nicht nur die Verhältnisse in hierarchisch gegliederten sozialen Ordnungen, sondern auch die Beziehungen zwischen Menschen in den Welten des Geistes, der Kunst, der Wissenschaft: Wer wegen seiner künstlerischen oder wissenschaftlichen Leistungen Anerkennung findet, übt auch dann Macht aus, wenn er keinerlei politische Ämter oder strukturellen Einflüsse besitzt. Man sieht es an den Toten (Sokrates, Leonardo Da Vinci, Einstein usw.), ja sogar an Gestalten, von denen wir nicht einmal wissen, ob sie existiert haben (Lao Tse, Buddha, Christus). So rechtfertigt sich eine breitere Begriffsbildung.
Die von den Machtverhältnissen gestaltete Ordnung entsteht dadurch, dass jede Beziehung, die zwischen Menschen (bewusst oder unbewusst) entsteht, durch drei mit ihrem jeweiligen Gegenstück und untereinander vektoriell verbundene Kräfte definiert wird:
- Chancen und Risiken
- Leistung und Gegenleistung
- Zuneigung und Abneigung
Auf jeder dieser drei Ebenen entwickeln sich die Kräfte je nach Sachlage mehr zugunsten der einen als der anderen Seite, die Machtverhältnisse sind also niemals statisch. Das geschieht in Zweier-Beziehungen und jeder Art Beziehung, die von Sexualität geprägt ist, auf andere Art, als wenn drei oder mehr Menschen sich in Machtverhältnissen befinden. Unter Zweien (Dyade) wirken die Machtverhältnisse in höherem Maße auf unterbewussten Ebenen und sehr selten werden ausdrückliche Entscheidungen getroffen.
Unter drei oder mehr Menschen hängt es davon ab, ob die Beziehungen durch bestimmte soziale Rahmenbedingungen vordefiniert sind. Ein Offizier wird sich selten fragen, ob er gegenüber einem Vorgesetzten gehorchen soll und er wird erwarten, dass sein Untergebener das auch nicht tut. Max Weber hat solche Verhältnisse als »Herrschaft« bezeichnet, also einen Unterfall der »Macht«. Da es sich um einen anderen Begriff handelt, erwartet man nicht, dass Herrschaft einen Unterfall von Macht sei, sondern eher etwas anderes. Außerhalb von Hierarchien oder gut definierter formaler Ordnungen (Gesellschaften, Vereine, Genossenschaften, politische Parteien usw.) liegen die Dinge zwar komplexer, unterscheiden sich aber von Herrschaftsverhältnissen nur dadurch, dass die Machtverhältnisse undurchsichtiger sind. Man sollte also auf einen besonderen Begriff der »Herrschaft« für eine bestimmte Machtkonstellation verzichten, sondern besser von »hierarchischen Machtverhältnissen« sprechen, denn nur innerhalb von Hierarchien kann man erwarten, dass die Macht selbst weniger infrage gestellt wird als in anderen Verhältnissen.
Vor allem bei Liebesbeziehungen scheint der Begriff der Macht der Besonderheit dieser Beziehung nicht Rechnung zu tragen. Dazu ist anzumerken: Liebesbeziehungen sind dyadisch, beschränken sich also auf zwei Menschen und in solchen Beziehungen verändern sich die Regeln einer sozialen Ordnung, wie sie ab drei und mehr Personen gültig sind. Diese Veränderungen gehen aber nicht so tief, dass es dort keinerlei Machtverhältnisse gibt. Die oben genannten Vektoren sind auch hier wirksam. Äußerlich schöne Menschen haben große Chancen geliebt zu werden, aber diese Chancen hindern sie oft, andere Eigenschaften zu entwickeln, die sie liebenswert machen. Und umgekehrt: Wer auf den ersten Blick wenig Chancen hat, ist diesen Risiken nicht ausgesetzt, aber er wird es schwerer haben, dass andere sich in ihn verlieben.
Die Geschenke, die Liebende einander machen, finden auf der Ebene von Leistung und Gegenleistung statt. Zuneigung und Abneigung werden unmittelbar von den Machtdifferenzen gesteuert, denn derjenige, dessen Liebe nachgefragt wird, ist stärker als jener, der ihm zugeneigt ist. Auch hier spielt die Unterwerfung die größte Rolle – und wird aus unterschiedlichen Gründen besonders tief versteckt. Nur in der Unterwerfung kann man herausfinden, ob das Vertrauen fehlinvestiert ist. Macht, die nicht mit einem Versprechen verbunden ist, läuft ins Leere, aber über diese Zusicherungen wird in persönlichen Beziehungen selten offen gesprochen. Im klassischen Griechenland wurde der Liebende als Erastes (ἐραστής), der Geliebte hingegen als Eromenos (ἐρώμενος) bezeichnet, um diesen Unterschied klarzumachen.
15. Anarchien und Gleichheitsideen
Der Blick in die Natur zeigt uns überall selbstregulierende Systeme Flora und Fauna und bei oberflächlicher Betrachtung finden sich sehr wenige individualisierende Merkmale – Tiere und Pflanzen sehen sich innerhalb der einzelnen Gattungen sehr ähnlich. Deshalb liegt die Idee nicht fern, dass einzelne Menschen sich in den von ihnen notwendig gebildeten Gruppen unabhängig von deren Größe mit allen anderen in vergleichbarer Weise organisieren könnten. Dabei wird immer vorausgesetzt, dass alle Menschen jedenfalls in Bezug auf ihre Stellung innerhalb einer Gesellschaft als gleich betrachtet werden müssten.
Bei solchen Visionen wird außer Acht gelassen, dass die Bandbreite der Unterschiede zwischen einzelnen Menschen erheblich größer ist, als wir sie bei Fauna und Flora feststellen und dass Menschen mindestens das Gefühl der Freiheit ihres Willens, vielleicht sogar eine tatsächliche Willensfreiheit haben, die eine absolute Unterwerfung unter die Interessen einer Selbstorganisation der Gesellschaft wirksam verhindern – Menschen streben nach Macht!
Schon die Staatstheorien Platons, die einen Ständestaat auf hohem Ordnungsniveau beschreiben, beruhen auf der Grundidee, ausufernde Macht und ihren Missbrauch zu verhindern. Die damit einhergehende unvermeidliche Einschränkung der Freiheit des Einzelnen haben die zynischen Philosophen kritisiert (Diogenes).
Unter dem Einfluss des Christentums wird das Spannungsverhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft neu interpretiert: die Gleichheit der Menschen vor Gott könne in einer sozialen Ordnung auf Erden gespiegelt werden, einer Ordnung, in der die Machtdifferenzen beseitigt und eine größere Gleichheit zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gesellschaft hergestellt werden könne. In Thomas Morus‘ Utopia (1516), Campanellas Sonnenstaat (1623), den südamerikanischen Jesuitenstaaten und auf der protestantischen Seite in zahllosen Glaubensgemeinschaften (Amish, Hutterer) sind solche vereinheitlichenden Elemente zu finden.
In der Aufklärung trennen sich diese Ideen unter den Parolen der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit von ihrer christlichen Basis, die neue Ordnung soll nur noch von der »Göttin der Vernunft« bestimmt werden. Jetzt erhält der Einzelne zwar ein besonderes Gewicht (wie Rousseau beschreibt), aber er muss sich in die Standards der Gesellschaft so einpassen, dass die Machtverhältnisse keine allzu großen Differenzen bilden (Gesellschaftsvertrag). Im Umfeld dieser Ideen hier bilden sich erste anarchistische Forderungen nach völliger Beseitigung aller Machtverhältnisse: Man müsse die Menschen nur sich selbst überlassen, sie würden dann eine machtfreie Ordnung finden (Louis-Auguste Blanqui).
Karl Marx griff über die politischen Verhältnisse hinaus auch die wirtschaftliche Macht an: Gegen seine Analyse, dass innerhalb ungeregelter wirtschaftlicher Strukturen die Kapitalansammlungen zu einer unkontrollierbaren Macht werden, innerhalb deren andere Menschen ausgebeutet werden und andere politische Ziele als die Anhäufung von Geld und Macht nicht mehr realisierbar werden, ist ebenso wenig zu sagen, wie zu seiner Forderung, das müsse sich ändern.
Diese Forderung ist zum einen in moralischen Überlegungen verankert: Jede moralische Idee muss der Forderung genügen, Interdependenz, Reziprozität und Empathie zu realisieren, und alle drei Ziele werden in einem ungeregelten kapitalistischen System verfehlt. Mit noch besserem Recht stützt sich Marx‘ Forderung aber auf die Erkenntnis, dass sehr starke Machtdifferenzen zu einer Instabilität des Gemeinwesens führen, die sich letztlich auch und vor allem gegen die Inhaber der Macht richten wird.
Die Diagnose ist also richtig, problematisch sind seine therapeutischen Vorschläge, wie man das ändern könne. Auch heute erscheinen immer wieder neue Bücher, in denen behauptet wird, Marx habe Recht (Terry Eagleton). Sie unterscheiden aber nicht zwischen Diagnose und Therapie. Marx‘s Ideen, wie man die Ungleichheit verändern könne, haben sich in der Praxis als nicht tragfähig erwiesen.
In dem größten sozialpolitischen Experiment der Geschichte, nämlich der Ausbreitung kommunistische Ideen in der UdSSR, China und vielen anderen Ländern hat sich gezeigt, dass unterdrückende Machtstrukturen zerschlagen werden können, wenn man die Menschen, die diese Machtpositionen innehaben, tötet und verjagt und ihr Eigentum einzieht. Die dadurch entstehenden Ressourcen sind aber nur zu nichts anderem verwendet worden, als neue Machtstrukturen zu errichten, die nun von den Revolutionären bestimmt werden. Es ist leicht, bestehende Strukturen zu zerschlagen, weil dafür nur Gewalt vonnöten ist, der Aufbau einer anderen Ordnung setzt jedoch konstruktive Fähigkeiten voraus, über die die Revolutionäre nicht verfügt haben.
Linke Extremisten erscheinen deshalb viel gefährlicher als rechte, weil sie jede Art Ordnung grundsätzlich ablehnen. Sie wollen die absolute Freiheit, sie zerschlagen bestehende Strukturen und schaffen Chaos in der irrigen Vorstellung, auch komplexe Gesellschaften könnten sich selbst regulieren. Das geht aber nur in kleinen Gruppen, die zudem meist durch zahllose soziale Beziehungen eine Umgebung eingebunden sind, die solche Versuche toleriert. Wer Ordnungen zerschlägt schafft nur für kurze Zeit Chaos, und danach fällt die Macht allen in die Hände, die sie greifen können. Rechte Extremisten hingegen haben Ordnungsvorstellungen, die kein Chaos, aber auch keine Freiheit zulassen. Oft wird sogar jede Diskussion über Art und Umfang der Freiheit wirksam unterdrückt. Innerhalb einer noch so falschen Ordnung lassen sich aber immer wieder Lücken finden, in denen sie überlistet werden kann. In den drei langjährigen faschistischen Modellen, die wir kennen (Italien, Deutschland, Spanien) aber auch in den zahllosen autoritären Regime Südamerikas lässt sich das beobachten. Wird hingegen jede Art von Ordnung zerschlagen, ist auch das nicht mehr möglich. Deshalb hat es bis heute kein anarchistisches Modell geschafft, ein Versuchsstadium zu überleben.
Die sozialistischen Staaten haben sich (auch mit menschlichem Antlitz) nur begrenzte Zeit halten können, weil die damit verbundene Planwirtschaft keinen nachhaltigen Mehrwert schaffen konnte und nur eine neue Herrschaftsschicht gebildet hat. Auch die Zufälle des Alltags ruinieren jeden Plan. Die Interessen des Einzelnen und seine Freiheit sind mit Füßen getreten worden, Gleichheit ist nicht entstanden.
China allerdings ist bisher nicht zusammengebrochen. Das liegt an dem hohen Geschick seiner politischen Führer, das Rückgrat des Staates (Industrie, Finanzen, Grund und Boden etc.) in der Hand zu behalten, aber in den kleineren Strukturen so viel Flexibilität zuzulassen, dass auch die großen Strukturen von ihnen gestützt werden.
Hin und wieder entstehen auch außerhalb religiöser Strömungen kleinere Gesellschaften, die soziale Ordnungsmodelle mit höherer Gleichheit als im Allgemeinen beobachtet wird, verwirklichen. Das gelingt dann, wenn die Gruppen relativ klein sind, von einer einheitlichen Theorie getragen werden, die alle akzeptieren, von außen nicht angegriffen werden und sich durch gewachsene Beziehungen in die »Außenwelt« lebensfähig halten können.
16. Politik und Macht
»Durch eine Notwendigkeit der Natur übt jedes, ganz gleich welches Wesen, soweit es kann, all die Macht aus, über die es verfügt.«
Thukydides
Die politischen Beziehungen, die Menschen untereinander bilden, haben keine andere Funktion als diejenige, die Macht unter sich zu verteilen. Zwei Menschen bilden untereinander immer eine besondere soziale Beziehung (die Dyade), die sich ändert, wenn ein Dritter (das erste Kind!) dazu stößt. Machtverhältnisse und Machtkämpfe innerhalb der Gentry werden zwar immer anders verlaufen als unter Dritten oder gar im Verhältnis zu Fremden, aber es geht um die Macht, die Überordnung, die Unterordnung, und zahllose parallele Zuordnungen, die sich in die eine oder andere Richtung entwickeln können. Politik beginnt bereits in der Familie und in den frühesten Stadien der Kultur.
Es ist allerdings nicht unproblematisch, den Begriff der Politik auf alle Phänomene zu erstrecken, denen wir begegnen (ähnlich geht es der Behauptung: Alles ist Kunst (Joseph Beuys). Man kann sagen, dass der Kampf um die »richtige« Ordnung immer ein politischer Kampf ist, auch wenn es um Machtfragen geht, die sich nicht auf dem Feld der Politik abspielen. Wer z. B. Vegetarier ist, weil er damit die Umwelt schützen will, handelt politisch. Nicht aber, wenn er Gemüse geschmacklich dem Fleisch oder Fisch vorzieht. Die Grenzziehung im Einzelfall ist schwierig. Wenn man »alles« für politisch erklärt, wird der Begriff überlastet. Das gilt vor allem dann, wenn man nicht nur das Handeln, sondern auch das Unterlassen als »Politik« versteht. Ordnung entsteht aber auch durch Unterlassen, es ist die Kehrseite des Handelns und von ihm nicht trennbar.
In dem Spannungsverhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft versucht jeder für sich selbst so viel Macht zu erhalten, wie es ihm möglich ist. Da aber alle dieses Ziel im Auge haben, relativieren sich die Möglichkeiten, sich durchzusetzen. Wer dabei Gewalt einsetzen kann, ist anderen überlegen, setzt er sie aber tatsächlich ein, ruiniert er seine kommunikativen Beziehungen und setzt seine Macht aufs Spiel.
Auf den ersten Blick vermissen wir bei diesen Elementen irgendwelche moralischen Kriterien. Natürlich kann man Macht niemals betrachten, ohne gleichzeitig ihre Verbindung zur Moral zu überprüfen. Das darf aber nicht am Anfang geschehen, denn dadurch entstünden Denkverbote, die unsere Entscheidungen stark beeinträchtigen können. Wenn eine Entscheidung dann aber so weit vorbereitet worden ist, dass sie getroffen werden kann, darf sie nicht allein deshalb verworfen werden, weil sie als unmoralisch gilt. Nicht selten stehen wir nämlich vor einer tragischen Wahl, uns zwischen zwei oder mehreren Alternativen zu entscheiden, die alle mehr oder weniger unmoralisch sind.
Das ist im Kern die These Machiavellis und sie ist häufig missverstanden worden:
»Machiavellis Problem war die Auflösung der Frage, wie sich der Fürst unbedingt auf dem Thron erhalten könne trotz inneren und äußeren Feinden. Sein Problem war also keinesfalls das ethische, ob ein Fürst als Mensch dergleichen wollen solle oder nicht; sondern rein das politische, wie er, wenn er es will, es ausführen können. Hierzu nun gibt er die Auflösung, wie man eine Anweisung zum Schachspielen schreibt, bei der es doch töricht wäre, die Beantwortung der Frage zu vermissen, ob es moralisch rätlich sei, überhaupt Schach zu spielen. Dem Machiavelli die Immoralität seiner Schrift vorwerfen ist ebenso angebracht, als es wäre, einem Fechtmeister vorzuwerfen, dass er nicht seinen Unterricht mit einer moralischen Vorlesung gegen Mord und Totschlag eröffnet.«88
Drei Begriffspaare strukturieren das Problem. Sie zeigen uns, dass jede politische Entscheidung zwangsläufig eine Entscheidung über moralische Fragen ist. Jede politische Entscheidung
- eröffnet Chancen und Risiken
- führt zu Leistungen und Gegenleistungen
- erzeugt Zuneigung und Abneigung
Hier erkennen wir die drei Grundelemente der Moral: Interdependenz, Reziprozität und Empathie, die wir später noch im Einzelnen erörtern werden. Interdependenz: Jede politische Entscheidung verbindet die Chancen einer Seite mit den Risiken, die oft genug andere Seiten zu tragen haben. Die Reziprozität muss das ausgleichen: Wer die Chancen erhält muss jenen, die die Risiken tragen, einen fairen und angemessenen Ausgleich bieten. Ausgewogenheit lässt sich nur mit Empathie erreichen: Wie sich das Machtspiel zwischen den Beteiligten entwickelt, hängt in hohem Maß von den Gefühlslagen ab, von denen die Beteiligten ergriffen werden. Wenn wir die Machtverhältnisse also mit hinreichender Aufmerksamkeit analysieren, werden wir – wie der nächste Abschnitt zeigen wird – am Ende auch die damit verbundenen moralischen Fragen lösen können.
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als ob im Kampf um die Machtverhältnisse immer diejenigen begünstigt werden, die die Gewalt in Händen haben. Wir kämpfen zwar um die Macht, aber wir kämpfen auch um den Frieden, den wir nur genießen können, wenn er nicht durch Machtkämpfe überlagert ist. Sehr oft wird der Kampf um die Macht mit Argumenten geführt, die sich aus unterschiedlichen »Systemvorstellungen« ergeben, die die jeweiligen Parteien abstrakt formulieren und in die Wirklichkeit umgesetzt sehen wollen. Aber jeder von uns kann den Machtansprüchen anderer allein dadurch Grenzen setzen, dass er sich seiner eigenen Identität versichert (auch ohne sie in irgendeiner Weise theoretisch zu rechtfertigen) und dem Machtanspruch ausweicht oder zivilen Ungehorsam entgegensetzt.89 Auf diese Weise sind in einigen der früheren Ostblockländer (Polen, Tschechoslowakei, Ungarn) kleine, aber kulturell wirksame Gruppen von Menschen entstanden, die sich in dieser Haltung gegenseitig gestützt und dafür gesorgt haben, dass sie mehr oder weniger in Ruhe gelassen wurden. Bis dann der Zeitpunkt kam, an dem die jeweiligen Machtsysteme abgewirtschaftet hatten. In der DDR ist diese Entwicklung ist mit großer Verzögerung eingetreten.
Die schwierige Aufgabe, das Spannungsverhältnis von Ordnung und Freiheit wie zwischen Skylla und Charybdis zu steuern, ist nicht einfach zu lösen. Auch wenn unser soziales Zusammenleben durch diese tief in uns genetisch und epigenetisch verankerten Verhaltensweisen bestimmt ist, überwiegt doch zu Zeiten die Gewalt gegenüber der Empathie, der Wunsch nach Einzigartigkeit verdeckt die Einsicht, wie vergänglich wir sind und der Wille zur Dominanz die Notwendigkeit nachzugeben. Machtkämpfe sind unvermeidbar und enden oft im Chaos, im Bürgerkrieg, in der Unordnung, im Untergang ganzer Kulturen.
Dem kann man nur dadurch entgegenwirken, dass alle Menschen in der Gesellschaft von dem Mehrwert profitieren, der durch eine Ordnung entsteht. Ein Staat kann seine Souveränität nicht bewahren, die auch zur Identität der Menschen in der Gesellschaft beiträgt, die in diesem Staat leben, wenn niemand da ist, der diesen Mehrwert schafft. Wenn mehr Menschen da sind, die den von anderen geschaffenen Mehrwert für sich verzehren und allenfalls mit ihren Kommentaren begleiten, kann eine Ordnung nicht aufrechterhalten bleiben. Sie darf nicht den Sonderinteressen Einzelner dienen, vor allem nicht derjenigen, die die Macht tatsächlich in Händen haben. In dem berühmten Satz Friedrichs des Großen, er sei der »erste Diener seines Staates« (nicht etwa: seiner Untertanen!), drückt sich diese Erkenntnis aus und unter den historischen Rahmenbedingungen, unter denen er herrschte, war es nicht nur ein Propagandasatz.
Aus diesen jahrtausendealten Erfahrungen erwächst schon in segmentären Gesellschaften, spätestens aber im Zuge der Staatenbildung die Vorstellung einer Politik, die versucht, solche Zustände zu vermeiden und Gesellschaften so zu gestalten, dass die Menschen miteinander leben können. Langsam verstehen die Menschen, dass sie ihre Macht jedenfalls gegenüber fremden nur vergrößern können, wenn ihre eigene Gesellschaft eine belastungsfähige Struktur hat, die nicht von der Willkür der herrschenden abhängig ist, sondern von der Bevölkerung getragen wird. Mit Demokratie oder der Vorstellung von Grundrechten, Menschenrechten oder die Idee, die Politik habe die Aufgabe, die Menschenwürde zu schützen, hat das noch lange nichts zu tun.
Zu der Zeit, als die Schrift entwickelt wurde (circa 5000 v.Chr.), waren die Regeln der Machtverteilung in den damals existierenden segmentären Gesellschaftsstrukturen schon vollständig entwickelt:
»Ohne Machtposition, die Respekt und Ehrfurcht genießt, ohne Gesetze, die mit Sanktionen bewehrt sind, könnte selbst ein Yao oder Shun nicht für Ordnung sorgen90«.
Eine, um etwa 200 v.Chr. in China entstandene Theorie schildert es folgendermaßen91:
»Im Altertum, zu der Zeit, als es weder Fürsten und Minister noch Obrigkeit und Untertanen gab, waren Menschen anarchisch und ungeordnet. Daher organisierten die Weisen Ehrwürdigen und Ehrlose hierarchisch, bestimmten Ränge und Posten, etablierten Ruf und Namen, um auf diese Weise Standesregeln für Fürst und Minister sowie Obrigkeit und Untertanen zu schaffen. Weil das Gebiet weit, die Menschen zahlreich und der Dinge viele waren, teilten sie die fünf Ämter92 ein, um sie zu verwalten. Als die Menschen zahlreicher wurden kam es zu Verbrechen und betrug: Um das zu verbieten, stellten sie Gesetze und Bestimmungen auf schufen Maße und Gewichte.«
Das sind Stimmen der frühen »politischen Realisten«93, die in der sinologischen Wissenschaft bisher meist als »Legalisten« gekennzeichnet werden, weil sie die Steuerung der politischen Ordnung durch Gesetze forderten, an die auch die Herrscher sich halten müssen94:
»Daher behandelt ein erleuchteter Herrscher die Gesetze und Bestimmungen sorgsam… Aufgaben, die nicht den Gesetzen entsprechen, führt er nicht aus. Wenn aber Worte den Gesetzen entsprechen, dann hört er auf sie; wenn Verhalten den Gesetzen entspricht, schätzt er es hoch; wenn Dienste den Gesetzen entsprechen, führt er sie aus. Auf diese Weise wird der Staat geordnet und das Gebiet erweitert, dass Heer wird stark und der Herrscher genießt Ansehen. Das ist die höchste Ordnung: Ein Fürst der Menschen muss sie sich unbedingt klarmachen.«
Die Leistung der politischen Realisten beruht allerdings auf ihrem analytischen Blick, der sich den Blick auf die Verhältnisse der Welt und der Menschen nicht von ideologischen, ja nicht einmal moralischen Gesichtspunkten trüben lässt. So erst konnte es gelingen, zu entdecken, dass Normenwerke, die sich ausschließlich darauf fokussieren, den Verhältnissen zwischen den Menschen Rechnung zu tragen, eine Ordnungsfunktion in der Gesellschaft übernehmen können. Im Westen hat erst Machiavelli eine vergleichbare Position übernommen.
Um zu erreichen, dass Gesetze von allen Beteiligten befolgt werden – so vor allem von der Beamtenschaft, die sich nicht bestechen lassen darf – sind vielfältige Maßnahmen getroffen worden, um die Gesetze einer Bevölkerung bekanntzumachen, von denen nur wenige lesen und schreiben konnten:
»Sobald (die Gesetze) den Amtmännern und dem Volk, die nach den gesetzlichen Verordnungen gefragt hatten, die linke Abschrift des Dokuments übergeben haben, archivieren die Amtmänner, die gesetzliche Verordnungen hüten, die rechte Abschrift des Dokuments sorgsam in einer Holztruhe.«95
So hätte sich niemand auf eine gefälschte Version berufen können Aus ähnlichen Motiven haben schon zuvor Hammurabi (um 1900 v.Chr.) in Mesopotamien und kurz zuvor Ashoka in Indien ihre Gesetze in Stein gemeißelt bekannt gemacht.
Politische Realisten wie Shang Yang, Han Fei, Thomas Hobbes, Machiavelli, Montaigne, Abraham Lincoln, Eric Voegelin, Niklas Luhmann, Henry Kissinger und andere definieren Politik als die Aufgabe, funktionsfähige Ordnungen zu schaffen, die das Verhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft so regeln, dass die Interessen beider auf einem von der jeweiligen Kultur definierten Niveau gleich, fair und ausgewogen geregelt und – gestützt von allen Mitgliedern der Gesellschaft – aufrechterhalten werden können.
Das ist nur möglich, wenn Willkür und Egozentrik der Herrschenden durch Gesetze verhindert werden, die die Macht beschränken. Ordnungspolitik setzt also die Einsicht in die Doppelfunktion des Rechts voraus, gleichzeitig die Stütze und die Grenze der Macht zu bilden. Solche Gesetze können nur von denen erlassen und durchgesetzt werden, die zu dem jeweiligen Zeitpunkt die Macht haben – notfalls von Revolutionären.
Die kommunikativen und andere Methoden, mit denen die politische Machtverteilung vorgenommen wird, müssen wirksam sein. Diese Wirksamkeit ist gefährdet, wenn die Alternativen der möglichen Entscheidungen durch ideologische Zielvorstellungen eingeschränkt wird. Jede Entscheidung sollte die Optionen vergrößern und nicht beschränken. Wenn aber z. B. die Idee, Privateigentum zu schaffen, dadurch verhindert wird, dass man sie grundsätzlich als Möglichkeit ablehnt, entfällt diese Alternative. Ähnlich, wenn religiöse Vorstellungen bestimmte Entscheidungen erzwingen, die sich für wirksame politische Regelungen als hinderlich erweisen.
Das größte emotionale Problem entsteht aus der Überlegung, dass auch moralische Vorstellungen nicht im Vordergrund der politischen Machtverteilung stehen dürfen. Das beruht zum einen darauf, dass die Urgrammatik der Moral (Interdependenz, Reziprozität, Empathie) alle unsere Handlungen bestimmt und daher die politische Machtverteilung nicht ausgenommen werden kann. Zum anderen aber auch, weil wir wenigstens theoretisch wünschen, uns in jeder Hinsicht moralisch zu verhalten. Die Forderung, sich gleichwohl kritisch über das Verhältnis zwischen Machtverteilungen Moral klar zu werden, bedeutet also nicht, dass wir die Moral aus unseren Entscheidungen ausklammern sollten. Wir dürfen diese Überlegungen aber nicht am Anfang, sondern erst am Ende stellen, wenn wir uns endgültig entscheiden müssen, wie wir handeln wollen. Wenn wir dann merken, dass eine moralische Entscheidung unsere Entschlüsse unwirksam macht, stehen wir vor einer tragischen Wahl, der wir uns stellen müssen.
16.1. Revolution und Restauration – ein ewiger Wellenschlag
»Wer der Revolution dient, der pflügt das Meer.«
Simón Bolívar
16.1.1. Das Entstehen der Revolution
Macht, die sich auf einige wenige Punkte konzentriert und die Neigung entwickelt, absolut zu werden, unterdrückt vor allem die Möglichkeit des Unterlegenen, seine Positionen kommunikativ durchzusetzen:
»Es gibt keine Götter in den Straßen der gemäßigten Zone, an ihrer Stelle gibt es Revolutionen. Wenn die Hitze das Maß des Erträglichen übersteigt, brechen Revolutionen aus, überraschend wie Gewitter, vorhersehbar oder unvorhersehbar, und die Temperaturen fallen auf den normalen Stand zurück. Es gibt Revolutionen und Erinnerungen an Revolutionen, daraus sich Revolutionen entfalten. Es läuft eine Taktstraße der Revolte durch die Zone der Zivilisation, von Zeit zu Zeit wird Blut in die Gewebe gesponnen. Und die Maschen werden entknüpft, die Ränder entsäumt, die Labyrinthe werden zerrissen. Neue Maße werden zur Geltung gebracht, ehe der Höllengesang der Spulen wieder beginnt. …«96
Diejenigen, die die Macht – und damit auch viele Informationen, die anderen nicht zugänglich sind – in Händen haben, können diese Informationen nicht mehr zweckmäßig verwenden und lehnen Informationen, die außerhalb ihrer Reichweite liegen (vor allem die Argumente der Gegenseite) als irrelevant ab. Nur sehr selten kann einigermaßen zeitgleich (z. B. auf wissenschaftlicher Ebene) erkannt werden, woran das liegt. Immer ist es jedoch eine Mischung von persönlicher Inkompetenz, die es verhindert, ein langsam instabil werdendes System zu stützen und zu reformieren. All das hat man beim Zusammenbruch der früheren Ostblockländer beobachten können, man sieht es jetzt (2024) aber auch an der Präsidentschaftswahl in den USA.
Wenn die Mächtigen anderen zu wenig Spielraum lassen, ihre Macht aber gleichzeitig instabil wird, bricht Gewalt aus (Revolution): »Kampf oder Tod, blutiger Krieg oder das Nichts, so ist die Frage unerbittlich gestellt«97. In vielen Fällen gelingt es den Mächtigen, aufgrund ihres tatsächlich oder rechtlich eingerichteten Gewaltmonopols, Revolutionen zu verhindern.
Das zentrale Versprechen der Revolutionäre lautet: Wir werden Gerechtigkeit schaffen! Dieses Versprechen wird gegenüber denen, die ihre Macht verlieren, als ersten gebrochen (der Zweck heiligt die Mittel), im Kern geht es immer nur um eine Änderung der Machtverteilung. Das zentrale Problem jeder Revolution besteht darin, dass es leicht ist, Ordnungen zu zerstören, aber extrem schwierig, eine andere Ordnung aufzubauen: Wir sterben, können aber keinen vergleichbaren Menschen herstellen. Jede Ordnung bildet ein System ab, das auf die Realität antwortet und diese Realität ist immer komplex. Eine vergleichbar leistungsfähige Ordnung kann nicht auf dem Reißbrett rekonstruiert werden: Folgt sie einer bestimmten Theorie, wird sie die Wirklichkeit verfehlen.
Eine Revolution gibt es nur, wenn auch die Gefühle des Dümmsten eindeutig sind. Also wenn jeder fühlt: jetzt gehts um meine Haut! Und sobald das wieder hergestellt ist, »was der Mensch zum Leben nötig hat«, ist es aus mit der Revolution. Das hat Mao Tse Dong schmerzlich erfahren müssen. Denn des Menschen Geist macht keine Revolution. Es sei denn, der Einzelne merkt, dass er sich seiner Haut gegen sich selbst wehren muss. Übrigens: Die Mächtigen fallen ja auch nur deshalb, weil sie ihre Unterdrückung nur noch ornamental vortragen, selbst aber mit der Herrschaft keine Idee mehr verbinden. Nur Epigonen werden gestürzt, die anderen scheitern an sich selbst.
Menschen mit neuen revolutionären Gedanken kommen fast immer »von den hereinbrechenden Rändern« (Ludwig Hohl). Das kann man wörtlich nehmen (Eingewanderte, Flüchtlinge aus anderen Ländern), aber auch im übertragenen Sinn: Menschen, die nicht dem Durchschnitt entsprechen, die entweder äußerst begabt oder äußerst unbegabt sind, dafür aber Durchsetzungskraft haben; Menschen, die die Regeln der Nomenklatura entweder nicht kennen oder nicht beachten, die andere daran hindert, sie infrage zu stellen. Diese Regel gilt nicht nur für die ganz großen Namen (Hitler, Stalin, Mao Tse Dong), sondern auch für zahllose politisch oder kulturell Engagierte. Die jüngere Literaturszene in Deutschland (2022) wird völlig von Autoren dominiert, die mit den Deutschen ihre Probleme haben.
Wenn Machtverhältnisse sich aufgrund von Revolutionen ändern, wird die bis dahin bestehende Ordnung im Wesentlichen durch Chaos und Gewalt beseitigt. In solchen Situationen tritt Vernunft in den Hintergrund und emotional gesteuerte Gewalt auf den Plan. Das ist unvermeidlich, weil wir in kritischen Situationen immer auf unsere biologisch/psychologischen Wurzeln zurückgreifen, bei denen der Wunsch, die Macht zu seinen Gunsten zu sichern, immer stärker ist als die Vernunft. Jede Revolution frisst ihre Kinder.
Revolutionen können sich erst entwickeln, wenn Ideen sichtbar werden, die sich gegen die bestehenden Verhältnisse richten. Die Unterdrückten selbst können solche Ideen oft nicht in Form bringen. Es sind selbstkritische Intellektuelle aus den Klassen der Unterdrücker (und sehr selten intellektueller Aufsteiger aus den Reihen der unterdrückten Menschen), die diese Aufgabe übernehmen. Die Französische Revolution hatte Erfolg, als ein Neffe Ludwig XVI der Duc d‘ Orleans (Philippe Égalité (1747–1793)) sie begrüßte. Die Intellektuellen befreien die Arbeiter oft genug auf eine Weise, die auf Irrtümern beruht. Sie übertragen ihre Sensibilität auf Menschen, die andere Empfindlichkeiten haben. Und sie verstehen von Machtverhältnissen zu wenig. So werden sie die ersten Opfer der Revolutionen. (Saturn frisst seine Kinder).
Eine unbedingte Voraussetzung ist, dass die Menschen nicht nur über die Revolution nachdenken oder sprechen, sondern auch bereit sind, ihr Leben für sie aufs Spiel zu setzen, ohne auf die Chancen des Erfolgs zu achten, weil ihnen ihr bisheriges Leben unerträglich erscheint (»Etwas Besseres als den Tod werden wir immer finden«). Diese Einschätzung ist wesentlich von einer Gruppendynamik bestimmt, die das individuelle Urteil für gering erachtet, weil allgemeine Siegesgewissheit herrscht. Sie entsteht durch Kommunikationen aller Art (vor allem öffentliche Demonstrationen), durch die die Gewissheit entsteht, dass es Gleichgesinnte gibt.
Wie soll man sich persönlich in einer Revolution verhalten? Soll man teilnehmen, fliehen oder standhalten? Wer verstanden hat, dass auch das Nichthandeln politisch ist, dass, wie Brecht gesagt hat, in den Kriegszeiten ein Gespräch über die Bäume politischen Inhalt hat (weil es den Krieg verschweigt), kann der Frage nicht ausweichen. Die Antwort lautet: Es ist eine Gewissensfrage, die jeder für sich selbst entscheiden muss. Es gibt keine moralische Verpflichtung, sich einer Mehrheit oder einer Minderheit anzuschließen und ebenso wenig kann man beurteilen, ob die eine oder die andere Seite sich zu Recht auf ihre Perspektive beruft, denn niemand hat die dazu erforderlichen Informationen.
Einer der großen Meister des Spiels mit den Machtverhältnissen, Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord (* 2. Februar 1754 in Paris; † 17. Mai 1838), hat sechs Regimen gedient und ihnen allen (nicht zuletzt auch sich selbst) genützt: »Grundsätze sind die herrschsüchtigsten aller Tyrannen, wenn man sie gewähren lässt.« Er hat seine Entscheidungen weder an Ideologien noch an moralischen Kriterien ausgerichtet, sondern allein an den Interessen Frankreichs und seinen eigenen. Seine Verhandlungspartner waren ihm dauernd unterlegen.
In revolutionären Zuständen muss man sich nach Sachlage entscheiden und auch bereit sein, diese Entscheidung zu ändern. Wie so oft wird man eine falsche Entscheidung bitter bereuen, ohne daran etwas ändern zu können. Weswegen man sich auch die Reue sparen kann. Nicht aber das Mitgefühl und das Schuldbekenntnis denen gegenüber, denen Du geschadet hast. Wenn Du auf der »richtigen« Seite gestanden hast, musst Du wissen, dass Du auch dort ein Henker warst. Möglichst ein trauriger Henker, der nach errungenen Sieg Waffe und Schild nicht im Triumph erhebt, sondern sinken lässt. Immer ist es eine tragische Wahl.
Rhetorik ist in revolutionären Situationen deshalb eine überlegene Fähigkeit, weil die Machtverteilung über rhetorische Demonstrationen vorgenommen wird. Das gelingt aber nur, wenn die wirklichen Machtlinien sich mit den rhetorischen Bemühungen im Wesentlichen decken. Niemand kann die Machtverteilung allein durch Gerede verändern. Die wirklichen Entscheidungen werden nicht am Verhandlungstisch getroffen, sondern in den Hinterzimmern, in denen offener über die Macht gesprochen werden kann.
Geld ist fast gleichrangig und wenn es um Gewalt geht, ist militärische Macht immer überlegen. Wer in einer revolutionären Situation solche Möglichkeiten durch die (oft stillschweigende) Zustimmung anderer für sich ergreift oder sich erkämpft, übernimmt Führung – ob ihm oder den anderen das bewusst ist, oder nicht.
Mit welcher Zielrichtung das geschieht, welche Mittel gewählt werden und wie die Macht gegenüber anderen verteidigt wird, die sie nicht akzeptieren wollen, hängt von den Interessen und anderen Rahmenbedingungen ab, unter denen die Beteiligten denken, entscheiden und handeln können.
Revolutionen werden sehr oft von Ideen beeinflusst, wie die Gesellschaft sich in Zukunft entwickeln könne. Ohne den selbstironischen aber keinesfalls revolutionären Voltaire und den von seinen Gefühlen hin und her geworfenen Rousseau ist die Französische Revolution nicht denkbar. In solchen Situationen denkt man intensiver über das Ziel der Geschichte nach und stellt dabei vor allem die Begriffe »Fortschritt« und/oder »Entwicklung« gegeneinander. Wenn man religiöse Interpretationen bewusst ausschließt, weil sie sich auf den Glauben und nicht auf die Vernunft stützen, kann man zu vielfältigen Ergebnissen kommen. Hegel etwa war der Ansicht, es sei das Ziel der Geschichte, dass die Vernunft sich zur alles beherrschenden Macht unseres Denkens und Handelns entwickeln werde, weil Ordnung im Kern sich gegen jede denkbare Willkür durchsetzen werde. Er sah zutreffend das Ende absolutistischen Herrschaft voraus, ahnte aber nicht, dass sein Heros (Napoleon) sich alsbald selbst zum Kaiser krönen und damit das Freiheitswerk willkürlich zerstören werde.
Marx, der Hegel »vom Kopf auf die Füße gestellt« hat, definierte den Kommunismus als das Ziel der Geschichte, wobei er möglicherweise seine jugendliche Definition nie aus dem Kopf verlor, dass darunter die ideale Freiheit des Einzelnen zu verstehen sei (»morgens fischen, abends jagen«). Wenn man, um diesen Zustand zu erreichen, vorher die meisten Menschen umbringen oder gleichschalten muss, die diese Illusionen nicht teilen, und wenn am Ende nur eine Funktionärselite übrigbleibt, die sich von den kapitalistischen Eliten in keiner Weise unterscheidet, darf man annehmen, dass dieses Ziel offenbar nicht erreichbar ist.
16.1.2. Die Folgen der Revolution
Der Zusammenbruch der Systeme fordert Menschenopfer – aber nicht nur von jenen, die sie verursachen. Es gibt Rahmenbedingungen, in denen der geringste Auslöser zum Zusammenbruch von Systemen führt und dann ist die Frage, wie viel Schuld damit verbunden war, irrelevant (so etwa bei der Ursachenforschung über den Ersten Weltkrieg). Vor allem aber gelangen durch Revolutionen Menschen an die Macht, die sich unter stabilen Verhältnissen niemals hätten durchsetzen können. Oft stammen sie »von den hereinbrechenden Rändern« (Ludwig Hohl) wie etwa Josef Stalin, Adolf Hitler oder Mao Tse Dong: Keiner von ihnen ist in den jeweiligen Machtzentren, die sie später gestürzt haben, sozialisiert worden.
Seltsam, dass Revolutionen immer über das Territorium hinausgreifen wollen, in dem sie entstehen. Schon die Französische Revolution (1789) wollte ihre Wertvorstellungen weltweit verbreiten, ebenso die russische (1917). Lenin wusste, wie schwierig es sein würde, die russische Revolution gegen die vermuteten Angriffe der anderen Monarchien zu verteidigen. Die Partei entschloss sich erst zur Oktoberrevolution, nachdem Lenin wahrheitswidrig behauptet hatte, die deutschen Arbeiter und Bauern würden sich sofort anschließen. Stattdessen kam ein fünfjähriger Bürgerkrieg. Dieser maßlose ideologische Anspruch hat tiefen Schrecken und schreckliche Verwüstungen nach sich gezogen.
Auf der Oberfläche entsteht oft der Eindruck, dass ein revolutionärer Machtwechsel auf der Überlegenheit der Angreifer beruht. Tatsächlich aber können sie nur erfolgreich sein, wenn das Selbstbewusstsein der überlegenen Parteien von innen her zusammenbricht.
16.1.3. Das Scheitern der Revolutionen
Revolutionen scheitern, wenn die Machtverhältnisse keine Veränderung zulassen und wenn sie siegen, gibt es immer wieder Rückfälle (Restaurationen) bis eine einigermaßen stabile Lage erreicht wird. Revolutionäre übernehmen die damit verbundenen Risiken, weil sie wissen: Die neue Macht- und Kapitalverteilung sorgt zunächst für die Befriedigung ihrer eigenen Interessen, weil diese Interessen aber nicht einheitlich sind, gehen viele in den Verteilungskämpfen unter – die Revolution frisst ihre Kinder. Was umso unsinniger ist, als die danach folgende Phase der Restauration nur abgewartet werden muss, in der sich die früheren Eliten wieder um die früheren Positionen bemühen. Das dabei notwendig entstehende Chaos wird in Europa weniger gefürchtet als in Asien. In den Ländern Asiens gilt dieses Ablaufschema nur alle paar 1000 Jahre, weil die Leute sich im Allgemeinen mit den Chancen abfinden, die sie vorfinden.
Das zentrale Problem der Revolution besteht darin, dass die revolutionäre Erfahrung sich nicht über die Generationen hinweg mitteilen lässt (individuelle Erfahrung lässt sich nur in Umrissen kommunizieren). Die Kinder der Revolutionäre genießen das Ergebnis der Risiken, die ihre Vorfahren eingegangen sind, verbinden sie aber nicht mehr mit den erforderlichen opfern. Und deren Kinder haben Risiken und Opfer längst vergessen. Auch im Kapitalismus ist das so: Im Verhältnis zum Gründer eines Unternehmens sind seine Enkel und Großenkel meist keine Unternehmer mehr, sondern Verbraucher.
So sorgen spätestens die Enkel der Revolutionäre für die Restauration und deren – davon enttäuschte – Enkel wühlen die nächste Welle der Revolution hoch. Dieses Hin und Her könnte man sich nur ersparen, wenn man bereit wäre zu erkennen (und zu akzeptieren), dass Revolutionen nur die Machtverhältnisse ändern, aber keines der Probleme beseitigen können, die ihre Ursachen sind. Das können Menschen nicht akzeptieren, die – aus welchen Gründen auch immer – davon überzeugt sind, dass es Menschen gelingen wird, auf dieser Erde konfliktfrei zu leben. Aber wie könnten sie zementierte Machtverhältnisse, die sich gegen sie richten, ertragen?
Schon in der französischen Revolution ist der Gedanke diskutiert worden, es müssten permanent revolutionäre Zustände herrschen, um damit der Gefahr von Restaurationen entgegenzuwirken. Mao Tse Dong hat den Gedanken dann versucht, mit der Kulturrevolution in die Tat umzusetzen und ist dabei in jeder Hinsicht gescheitert. Der Grund: Diese Idee macht die Revolution zum Selbstzweck und verliert vollkommen den Bezug zur Realität, die stetem Wandel unterliegt, nicht zuletzt deshalb, weil sie von immer neuen (jüngeren) Menschen anders gesehen wird als von denjenigen, die Revolution zum Ziel erklären.
Der Wellenschlag zwischen Revolutionen und Restaurationen zeigt sich augenfällig an dem hin – und her der französischen Revolution. Nimmt man 1789 als ihrem Beginn, so hat die endgültige Verfestigung der parlamentarischen Demokratie bis 1871 gebraucht und wäre vermutlich noch sehr viel später geschehen, hätte nicht Napoleon III sich durch Bismarck provozieren lassen und einen unsinnigen Krieg geführt. Ungefähr 100 Jahre sind also ein ganz normaler Zeitraum. Hundert Jahre nach dem Sturz dreier europäischer Monarchien (1918) haben sich zwar in allen betroffenen Ländern keine Monarchien mehr gebildet, aber viele der Demokratien, die wir heute in Europa und im russischen Einflussbereich vor uns sehen bestehe nur aus der Fassade von Wahlen, hinter denen sich Oligarchien und/oder Diktaturen verbergen.
Das Hin-und-Her zwischen diesen beiden Zuständen wird sich in Zukunft allein deshalb stark beschleunigen, weil die Informationen sich innerhalb der Medienlandschaften, die sich durch die Informationstechnologie gebildet haben, auch durch starke Bilder sehr beschleunigen. Die Illusionen, man könne in Sekunden dorthin gelangen, wofür andere Jahrhunderte gebraucht haben, nehmen zu – und werden entsprechend schnell desillusioniert.
In diesem Kontext können einzelne Figuren (Donald Trump!) auch ohne direkten politischen Einfluss überdimensional große Schatten werfen, werden aber in gleicher Schnelligkeit wieder völlig bedeutungslos.
16.1.4. Revolutionen von oben
Eine nur selten beantwortete Frage: Warum finden wir in der Geschichte fast keine gelungene Revolution »von oben«? Revolutionen gibt es nur, wenn Reformen von denjenigen, die die Macht in der Hand halten, nicht als nötig erkannt oder nicht durchgesetzt werden können. Revolutionen von oben scheitern in aller Regel, weil diejenigen, die an der Spitze stehen, Verbindung zur Basis verloren haben.
Die Revolutionäre kommen immer von unten:
»An der Spitze das Herrscherhaus, das mit keiner Fiber mehr mit irgendeinem Volk oder irgendeiner Rasse außer der eigenen Ahnenreihe zusammenhängt; von der Menschheit Abgesprengte, Einsame, in sich selbst, ohne Kontakt mit anderen, hinbrütend, von Pfaffen bewacht und eingekäfigt, sympathienlos, außer mit Lakaien oder Mätressen. So wird ihnen jede erzwungene Berührung mit der Außenwelt zum Schicksal … Darunter eine Aristokratie, die, ähnlich wie das Herrscherhaus von der Menschheit so vom eigenen Volk abgesprengt ist, und die sich oben erhält durch rücksichtsloses Schüren des Nationalitätenhasses … Alles Menschen, deren ›Patriotismus‹ nur ihrem Geschlecht nicht ihrem Volk oder ihrem Lande gilt; und darunter große, verwirtschaftete, feindliche Massen, auf denen Jene wie auf den Wellen eines Meeres schaukeln … unfähig sich über ihre gemeinsamen Interessen zu verständigen …«98
Hin und wieder wurde sie versucht, so etwa von Joseph II (Österreich) und immer war das Ergebnis das gleiche: Kaum wurden die Fesseln gelockert, kaum hat man den Menschen Rechte zugestanden, haben sie mehr von dem verlangt, was angeboten wurde, zeigten große Undankbarkeit und all das führte zu einer schnellen Restauration, die die Zustände meist noch schlimmer machte als zuvor. Ähnlich ging es den Reformzaren Alexander II, der einem Attentat zum Opfer fiel. Auch die Illuminaten in Bayern konnten sich nicht durchsetzen. Eine Ausnahme sehen wir nur in der jüngsten Vergangenheit in China: Dort gelang es Deng und seinen Nachfolgern, die Herrschaft der kommunistischen Partei aufrechtzuerhalten, gleichzeitig aber in einem gewissen Umfang den freien Wettbewerb zuzulassen und das neue System stabil und erfolgreich zu etablieren.
Vermutlich ist es so: Um von oben etwas zu ändern musst Du bestimmten Menschen Privilegien wegnehmen, weil du sonst nicht genügend Ressourcen hast, um sie denjenigen zukommen zu lassen, die bisher gar nichts oder sehr wenig haben. Diesen Leuten aber bist Du persönlich verbunden und im Übrigen können sie Dir sehr schaden, dich sogar in Deiner Stellung bedrohen und eigene Ideen entwickeln. Der Herrscher müsste sich also immer mit dem Proletariat verbinden – und zu ihm hat er keinerlei Beziehung. Und selbst wenn er sie hätte: Wie man am Beispiel von Ludwig XVI sieht, kann niemand eine Menge beherrschen, die ihren Zerstörungswillen noch nicht ausgetobt hat. Der Revolutionär von oben hingegen entwickelt diesen Zerstörungswillen nicht. Er will das System nicht instabil machen, sondern nur gleitend verändern.
Zudem lebt die Revolution von unten immer vom Ertrag der Verbrechen, die sie unvermeidlich begeht. Sie enteignet ohne Entschädigung, sie nimmt Menschen bisherige Rechte ohne Kompensation, sie zerstört zahllose individuelle Leben in viel höherem Maße, als ein funktionierendes System es tun würde. Hätten die Menschen in der DDR ihre Freiheit durch eine Revolution erreicht, wäre die Zahl der Opfer weit höher gewesen als die Zahl der Mauertoten (circa 1000). Sie wurde ihnen aber von Gorbatschow und dem darauf folgenden wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch des Regierungssystems der DDR geschenkt.
Immer wieder werden politische Ideen von einem Land ins andere getragen, teils zufällig, teils als Teil einer außenpolitischen Strategie. Typische Beispiele sind die französische und die russische Revolution, aber auch die Verbreitung des Gedankens der Demokratie und/oder der Menschenrechte aus den USA in Länder mit anderen Systemen. Solange solche Transfers mit machtpolitischen Interessen verbunden werden, müssen sie scheitern, da sie immer als fremde Interventionen wahrgenommen werden. Erst wenn solche Gedanken in anderen Ländern »von unten« aufgegriffen und als Teil der eigenen Identität verstanden werden, können sie Erfolg haben.
16.1.5. Das neue System
Wenn Revolutionen tatsächlich zu einem Machtwechsel führen, beginnt der Lebenszyklus des neuen Systems. Genauso wie das vorherige wird es sich von den frühesten Anfängen bis zu einem Erfolg entwickeln und dann wieder zerbrechen. Nur sehr wenige Menschen sind imstande, diese Entwicklung zu verlangsamen oder gar einen weiteren Systemwechsel ohne Revolution in Gang zu setzen. Normalerweise ist es anders:
»Sofort, wenn die neuen Tische gedeckt werden, werden auch die Sklaven beginnen, dick zu werden und sich zu betäuben. Und dann werden andere gequälte Massen wieder aus der Erde sich aufrichten, und wieder werden der Hunger und die Chimäre, diese Anführer der Seelen, vorangehen. Und so wird es ewig im gleichen Rhythmus ohne Unterlass geschehen. Das ist das Gesetz, nur so kann das Leben sich erneuern und vorwärtsgehen…… Es gibt kein hungrigeres Raubtier als die neue Idee. Doch gleichzeitig beginnt auch das unerbittliche Gesetz zu wirken: Je mehr der lebendige Organismus seine Pflicht erfüllt, sich auszubreiten und die Herrschaft zu übernehmen, desto mehr nähert er sich seiner Vernichtung. Die Hybris ist vielleicht die einzige Sünde, die die Weltharmonie für tödlich hält und nicht verzeiht; die Gipfelung der Kraft eines Organismus gebiert in schicksalhafter Weise seinen Untergang.«99
Selbst im Nachhinein können wir niemals feststellen, wie die Geschichte sich entwickelt hätte, wären bestimmte Entscheidungen anders ausgefallen sind, als wir sie rekonstruieren konnten. Natürlich hätten Ludwig XVI oder Franz Joseph I die Möglichkeit gehabt, eine konstitutionelle Monarchie zu gründen, natürlich hätte es ohne Versailles keinen Zweiten Weltkrieg gegeben, natürlich auch keinen Stalin ohne seinen Johannes den Täufer (Lenin) – aber was es stattdessen gegeben hätte, können wir nicht wissen. Nur eines ist sehr unwahrscheinlich: Dass es heute in Frankreich, Russland, Österreich oder Deutschland noch eine absolute Monarchie gäbe. Oder dass wir auf anderen Sternensystemen bessere Bedingungen vorfinden als hier.
Gibt es irgendein Ziel der Gesellschaft, das man vernünftigerweise anstreben könnte? Um diese Frage zu beantworten, müsste man die Komplexität der denkbaren Varianten so weit reduzieren können, dass die Antworten wenigstens überschaubar wären. Das ist aber kaum denkbar. Ferner müsste man sich– wie bei so vielen grundsätzlichen Fragen – selbst weit außerhalb aller denkbaren Systeme befinden, was uns nicht möglich ist, weil wir in irgendeinem der Systeme, die uns umgeben, immer gefangen bliebe. Sollte es also ein Ziel der Geschichte geben, werden wir es nie erkennen können. Und schließlich: Selbst wenn wir irgendeine Ziel – oder Ordnungsvorstellung definieren könnten, kann sie zerbrechen, entweder durch Angriffe von außen oder durch Zusammenbruch nach innen (zuletzt: Perestroika).
Was für jeden Einzelnen bedeutet: Wir können richtige oder falsche persönliche Entscheidungen treffen, falsche Ziele, falsche Wege usw., aber was in diesem Zusammenhang richtig oder falsch ist, wird uns in den meisten Fällen verborgen bleiben.
16.2. Krisen, Machtwechsel und Systemwechsel
»Was seinen Höhepunkt erreicht hat, ist seinem Zusammenbruch nahe.«100
Jeder Art Ordnung unterliegt der Veränderung. Sie kann sich organisch entwickeln, sie kann geplant werden, manchmal entwickelt sie sich offensichtlich, manchmal verdeckt und unbewusst. Jedes System hat eine Geschichte. Ob die erzählte Geschichte der Wirklichkeit entspricht, können wir nicht wissen, denn jede Erzählung ist immer eine Interpretation aus einer bestimmten Perspektive. Erfahrungsgemäß lernen wir aus der Geschichte nicht auf bewusste Weise, aber die Vergangenheit schreibt sich in das Unterbewusstsein der Gegenwart ein.
Jede Idee, jeder Gegenstand, jedes Projekt hat einen eigenen Lebenszyklus101 (life cycle), der von den frühesten Anfängen bis zur Bedeutungslosigkeit und zum Untergang reicht. In der Betriebswirtschaft hat man diese Zusammenhänge klar erkannt. Die prächtigsten Kutschen finden wir im Nymphenburger Museum, sie wurden zu einer Zeit erbaut, als das Automobil schon erfunden war. Die leistungsstärksten Automobile bauen wir heute (2023), aber sie stehen im Stau.
Veränderungen von Systemen entwickeln sich aus internen oder externen Einflüssen, die die Menschen entweder erkennen und sich ihnen auf geeignete Weise anpassen, oder die sie nicht erkennen (können) und so die Verbindung zwischen Realität und ihren eigenen Intentionen (Wille und Vorstellung) verlieren. Anpassungsfähigkeit ist ein Nachweis von Intelligenz, wobei dieser Begriff niemals auf die Vernunft beschränkt werden darf, sondern unser gesamtes Verhalten einschließt, so vor allem die emotionale Intelligenz. In klug organisierten Systemen wird dafür gesorgt, dass mächtige Menschen sich freiwillig aus ihren Positionen zurückziehen, wenn die Ihnen lieb gewordenen Rituale, Respektsbezeichnungen, Ehrungen usw. diesen Übergang emotional akzeptabler machen.
Wenn Systeme auf Ideologien aufgebaut sind (der Begriff stammt vermutlich von Condorcet (1743-1794)), fehlt es an dieser Fähigkeit und weil neue Informationen unter diesen Verhältnissen bevorzugt unter dem Aspekt geprüft werden, ob sie die Machtverhältnisse unterstützen oder gefährden, kommt es unvermeidlich zur Fälschung der Tatsachen – und damit zur Erstarrung des Systems:
»Wenn man in die Tiefe ginge, würde man die darin enthaltenen Widersprüche freilegen bis zum Zusammenbrechen des ganzen Gedankensystems. Niemand möchte sich mit einer solchen Diagnose konfrontieren. Bevor das Haus nicht kollabiert ist, wird niemand im Haus dir zustimmen, wenn du die Stützpfeiler austauschen willst.«102
Sechs Faktoren sind es, die auf jedes System in mehr oder minder großem Maß verändernd einwirken und damit die Machtverhältnisse verändern:
- Die in der jeweiligen Ordnung des Systems vorgesehenen Änderungen (vor allem: Die Veränderung zeitlich begrenzter Machtpositionen)
- Veränderungen in der Natur,
- Erfindung neuer Technologien,
- Entwicklung neuer Gedanken und Theorien
- Änderung der sozialen Rahmenbedingungen (z. B. Überbevölkerung)
- Entscheidungen von Menschen, das System auf eigenes Risiko und gegen Widerstände zu ändern, so vor allem durch Revolutionen und Kriege.
Unter ihnen sind Naturereignisse und neue Technologien von hoher Wirksamkeit, weil sie unmittelbar auf das Bewusstsein einer Vielzahl von Menschen einwirken und durch die bestehenden Machtverhältnisse – wenn überhaupt – wenig beeinflussbar sind. Die Erfindung des Automobils und des Flugzeugs haben die Welt stärker verändert als manche Ideen. Zwar gibt es Ideen (Christentum, Marxismus, Islam usw.) die auf unerhörte Weise in die sozialen Strukturen eingreifen, aber ihre Möglichkeiten dazu hängen auch von Technologien und Naturereignissen ab. »Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes«103. Man kann auch sagen: Die repräsentative Demokratie hat ihr Selbstbewusstsein erst verloren, seitdem die Menschen über ihre Smartphones einen unmittelbaren – an den Repräsentanten vorbeilaufenden – Kontakt zueinander aufbauen können. Auf ähnliche Weise ist die Emanzipation der Frauen durch die vielfältigen technischen Unterstützungen der Haushaltsführung erheblich beschleunigt worden.
Alle sechs Elemente sind eng miteinander verknüpft: Veränderungen der Natur führen zu Erfindungen, diese wiederum zu theoretischen Erklärungen (und Moden), die neue Erfindungen anstoßen, die wiederum die Natur und die Gesellschaft verändern, der Austausch von Informationen beschleunigt alle diese Vorgänge usw. und schließlich gibt es immer Menschen, die die jeweilige Ordnung nicht mehr akzeptieren und bereit sind, die Risiken und Widerstände zu tragen, die mit jeder Änderung verbunden sind. Ob und wie diese Faktoren sich jeweils auswirken, hängt von den Machtverhältnissen ab104.
Beim Blick in die Geschichte ist vor allem immer wieder die Frage aufgetaucht, woran das Römische Reich zerbrochen ist, das von seinen frühesten Erfolgen bis zu seinem Untergang ungefähr 800 Jahre stabil gewesen ist. Die Bandbreite der Theorien ist erstaunlich: Von einer Bleivergiftung der Wasserleitungen über den Einmarsch der Hunnen, der Germanen, der Vandalen usw bis hin zu zahllosen Wirtschaftstheorien und kulturellen Szenarien (»spätrömische Dekadenz«) ist fast alles vertreten. Der entscheidende Punkt ist in diesem – wie vermutlich in allen künftigen Fällen – immer der gleiche: Das System selbst hat fast nichts gemerkt, weil es die Komplexität der einzelnen Einflüsse, die von außen wie von innen ihre Wirkung entfalteten, nicht erkennen konnte, und zwar nicht einmal dann, wenn sie zur Sprache gekommen sind. Im Nachhinein könnte man theoretisch einzelne Elemente identifizieren, bei deren Veränderung ein Untergang vielleicht hätte vermieden werden können. Aber tatsächlich haben alle Beteiligten die Gesamtsituation nur als einen Wechsel empfunden, den sie zwar teilweise erkannt haben, auf den sie aber nie in geeigneter Weise einwirken konnten. Selbst wenn wir heute erheblich bessere Erkenntnismöglichkeiten haben, wird sich an diesem systemischen Problem kaum etwas ändern, denn einen denkbar stabilen Standpunkt von außen kann man in der Gegenwart nie einnehmen.
Im »Arabischen Frühling« (2010) und jüngst bei den Demonstrationen in Weißrussland (September 2020) konnte man sehen, wohin es führt, wenn die Leute glauben, Demonstrationen zahlloser Menschen könnten an den Machtverhältnissen etwas ändern. Es mag sein, dass andere an die Macht kommen, aber nicht die Demonstranten, wenn sie nichts anderes im Portfolio haben als ihre Schlachtrufe. Wer nicht um die Macht kämpft und sich selbst damit aufs Spiel setzt, kann nichts gewinnen, denn: Wenn es um gar nichts geht, geht gar nichts.
Wenn nur einzelne Veränderungsfaktoren wirksam werden und nicht die Grundlagen eines Systems infrage stellen, verändert das System sich in vielen Fällen organisch von Fall zu Fall und ohne bewusste Steuerung. Ein seit vielen Jahren oder Jahrzehnten gepflegter Regierungsstil (der sich vor allem in der Art der Kommunikation äußert) kann ausreichen, um einen Wechsel nahezulegen. Das ist der tiefere Grund für die Begrenzung von Wahlperioden und der Amtsdauer in den Führungspositionen. Der sehr an Logik, Vernunft und Technik orientierte Stil etwa von Angela Merkel hat gleichzeitig eine lebendige Kommunikation über ihre Regierungsziele erstickt. Die Behauptung der Alternativlosigkeit ihrer Entscheidungen (deren teilweiser Erfolg kaum bezweifelt werden kann) wird bestritten und wir sehen immer klarer, dass sie in Situationen, die sie emotional bewegen, fehlerhaft entschieden hat (Europapolitik, Flüchtlingspolitik, Atomausstieg, Abschaffung der Wehrpflicht und Homo-Ehe allein gestützt auf die Mehrheitsverhältnisse ohne vertiefte parlamentarische Diskussion).
Grundsätzlich kann es sehr nützlich sein, formale Elemente – ohne sie äußerlich zu ändern – mit neuen Inhalten zu verbinden. Die z. B. im britischen Parlament gepflogenen Rituale haben nichts mit ihren Ursprüngen zu tun, erinnern aber jeden daran, welche Stellung das Parlament auch heute noch beansprucht. Nach einem berühmten Satz von Jean Jaurès geht es darum, das Feuer lebendig zu erhalten und nicht die Asche zu verehren.
Mit hoher Wahrscheinlichkeit werden sich in jeder Umbruchsituation Modelle durchsetzen, die von den stärksten Faktoren bestimmt werden. Einzelne Einflüsse bilden immer das schwächste Glied in der Kette – und doch können sie wie der Flügelschlag des Schmetterlings entscheidende Impulse geben. Alle dazugehörigen Theorien können sich nur aus der Anschauung der Praxis entwickeln:
»Alles gesellschaftliche Leben ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus veranlassen, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und in dem Begreifen dieser Praxis«105.
Anders als Marx gemeint hat, ist es aber nicht die Aufgabe der Philosophen, die Welt zu verändern (11. Feuerbachthese), weil sie zur Welt des praktischen Entscheidens wenig beizutragen haben. Die hegelsche Idee, die Wahrheit aus den Ideen und Begriffen abzuleiten, wenn sie nur in gehöriger Weise durch die Vernunft verbunden sind, übersieht, dass wir auch dann, wenn wir uns nur in der Welt der Begriffe aufhalten, entscheiden müssen, welchen Begriff wir verwenden und wie wir ihn Wirklichkeit werden lassen wollen. Jede Entscheidung aber beruht auf einer emotionalen Zustimmung oder Ablehnung, auch wenn sie innerhalb eines – der Vernunft folgenden und Emotionen soweit als möglich eliminierenden – Systems erfolgt. Natürlich kann ich auf 2x2 nichts anderes sagen als 4, aber nur deshalb, weil ich mich im Dezimalsystem bewegen will. Auch in der Welt der Ideen und Begriffe entstehen Machtdifferenzen dadurch, dass einzelne sich durchsetzen, andere aber nicht. Das ist auch abhängig von Moden (Thomas Kuhn).
Da wir nicht in die Zukunft sehen können, wissen wir nicht, ob frühe Anfänge zum Erfolg führen werden oder unter welchen Umständen der Erfolg beginnt, zu bröckeln und in den Untergang kippt. Die tönernen Füße, auf denen der Koloss steht, sind schwer zu erkennen, denn die Menschen, die an der Spitze eines Systems stehen, sind nur sehr selten in der Lage, die eigenen Schwächen realistisch zu analysieren und vielleicht (noch einmal) zu Stärken zu machen. Interessante Beobachtung: Alle Systeme, die um ihre Macht kämpfen, sind untergegangen, andere (wie der Buddhismus) scheinen ewig zu leben.
Viele Veränderungen finden hinter den Kulissen statt, ihre ersten Anzeichen geraten selten in die öffentliche Wahrnehmung, denn diejenigen, die sie wahrnehmen, sind sehr häufig auch Teilhaber der Macht und daran interessiert, jede Veränderung zu verhindern. Eine Einschränkung von Medien ist immer eines der ersten Anzeichen dafür, dass es etwas zu verstecken gibt.
Wenn ein System so konstruiert ist, dass es institutionellen Machtwechsel vorsieht (Demokratie), bedeutet der Verlust der Macht nicht gleichzeitig eine Zerstörung des Systems. Diejenigen, die die Macht verlieren, erleben krisenhafte Zustände, nicht aber die anderen, die die Macht gewinnen. Insgesamt gleichen die Machtverhältnisse sich aus, denn wer sich jetzt im Gegensatz zur Macht befindet, übt nur eine andere Art der Macht aus, solange er Teil des Gesamtsystems bleibt. Das gilt nicht nur für Demokratien, sondern auch für Erbmonarchien, oligarchisch strukturierte Systeme (Venedig) und im privaten Bereich die durch rechtliche und/oder kommunikative Strukturen abgesicherte Weitergabe von finanziellen Mitteln und/oder Beziehungen an die nächsten Generationen.
Ist in den jeweiligen Systemen ein Machtwechsel aber nicht eingeplant, wird er immer eine Krise auch des Systems oder einen Systemwechsel auslösen und sehr oft gewalttätig sein. Solche Gewaltausbrüche können leichter beherrscht werden, wenn die Fassaden des alten Systems erhalten bleiben, auch wenn hinter ihnen ein Systemwechsel stattfindet. Ein gutes Beispiel ist die Ablösung der Herrschaft des römischen Senats durch Kaiser Augustus, ein Gegenbeispiel die französische Revolution, die gerade durch die Zerstörung der Fassaden (Mord an Ludwig XVI und seiner Familie) einen hektischen Wechsel der Regierungsformen erlebt hat.
Krisenhafte Zustände entstehen auch dann, wenn bestehende Systeme den Versuch machen, sich zu verbessern, sich auszuweiten usw. Die Europäische Union etwa hätte nicht gegründet werden können ohne die traumatischen Erfahrungen der beiden Weltkriege. Die Deutschen haben die damit verbundenen finanziellen Lasten jahrzehntelang klaglos getragen, weil sie sich ihrer Schuld am Zweiten Weltkrieg und der Mitschuld am Ersten Weltkrieg bewusst waren. Seit vielen Jahren ist mit der Stärkung der Europäischen Union auch die Idee einer Abschaffung der »Nationen« verbunden, die vor allem für die Kriege der Vergangenheit verantwortlich gemacht werden.
Nationen sind historisch gewachsene Gruppen, die sich durch zahllose kulturelle Eigenschaften – so vor allem der gemeinsamen Sprache – definieren. Die oft genug ideologisch getriebene Behauptung, sie seien überflüssig, verstößt gegen die praktische Erfahrung ihrer Nützlichkeit, die nicht zuletzt dazu dient, Identität zu vermitteln und wegstrebende Kräfte trotz aller Autonomiebestrebungen zusammenzuhalten. Die Rückkopplung zur täglich erfahrenen Realität der Menschen ist in dieser Diskussion praktisch nicht erkennbar.
Vor allem totalitäre und/oder autoritäre Systeme scheinen ihre Autonomie stärker verteidigen zu können als etwa eine Demokratie, in der der Machtwechsel von den Systemstrukturen her vorgesehen ist. Auf den ersten Blick ist das ein Widerspruch, denn die Fähigkeit zur Anpassung ist nicht nur in der Natur, sondern auch in unseren sozialen Systemen die überlegene Strategie zum Überleben. Tatsächlich beobachten wir hier nur eine zeitliche Verzögerung: In Demokratien ändern sich die Machtverhältnisse schneller und die Anpassungsstrategien folgen der Wirklichkeit unmittelbarer. Totalitäre Systeme können sich für eine gewisse Zeit der Anpassung verweigern, die Wirklichkeit aber können sie nicht ändern.
Man sieht es am Vergleich des Zusammenbruchs der kommunistischen Planwirtschaft in Russland und China. In Russland ist nie ein wirklicher Markt entstanden, während die Chinesen es fertiggebracht haben, ein Hybridsystem zu installieren, in dem planwirtschaftliche Elemente neben den marktwirtschaftlichen Steuerungssystemen koexistieren können.
Krisenhafte Zustände entstehen auch immer dann, wenn unterschiedliche Kulturen zusammenstoßen (Clash of civilizations -Samuel Huntington), die unterschiedliche Identitäten verteidigen und sich jeweils angegriffen fühlen. Das jüngste Beispiel sind die überall aufflammenden halbrevolutionären Zuständen in den islamisch geprägten Ländern, die versuchen, an den Errungenschaften des Westens teilzuhaben und gleichzeitig eine Kultur zu verteidigen, die ins frühe Mittelalter zurückreicht:
»Wo immer eine nationale Kultur ihre Totalität wiederzugewinnen versucht, kommt es zu fast irrsinnigen Vorfällen.«
(Yukio Mishima über die Modernisierungsversuche der Meji-Regierung).
In vielen Fällen bricht Macht ohne starke Gegenkräfte in sich zusammen, weil die Mächtigen die Macht, die sie haben, selbst nicht mehr verstehen und deshalb auch nicht aufrechterhalten können. Manchmal können sie die bedrohten Fassaden noch einige Zeit stützen, aber da sie die Fundamente nicht gefährdet sehen, können sie nicht mehr reagieren, wenn diese zusammenbrechen. Das zeigt sich deutlich beim Zusammenbruch der Sowjetunion (Perestroika): Hätte Gorbatschow vorhersehen können, was sich aus seinen zunächst innenpolitischen Entscheidungen entwickeln würde, hätte er vermutlich anders gehandelt. Aber niemand kann in die Zukunft sehen (weil die Einflussfaktoren auf künftige Ereignisse zu komplex und daher weder überblickbar noch beherrschbar sind).
Entscheidend sind immer die Personen, die tatsächlich in der Lage sind die Machtverhältnisse zu steuern (wie bekannt: Nicht immer die formalen Inhaber der Macht, oft genug »Graue Eminenzen«). In hierarchisch aufgebauten und bürokratisch organisierten Systemen jeder Art beobachten wir, dass Menschen in Positionen befördert werden, die sie tatsächlich nicht ausführen können: Ein Spezialist für Software wird Forschungsleiter, kann aber keine intelligenten Menschen führen, ein Finanzchef wird Vorstand, liebt aber die Zahlen mehr als seine Kollegen (Peter-Prinzip: In einer Hierarchie neigt jeder Beschäftigte dazu, bis zu seiner Stufe der Unfähigkeit aufzusteigen (1969)). Wenn ein System alt genug ist, um mehrere Führungspositionen ausgewechselt zu haben, landen ganz oben immer diejenigen, die sich dem herrschenden System am wirksamsten anpassen konnten. Sie verfügen aber nicht über die Fähigkeit, sich etwas anderes als eben dieses System vorstellen zu können.
Immer wieder ist davon die Rede, dass der Flügelschlag des Schmetterlings das Klima bestimmt, dass nichtige Anlässe Revolutionen auslösen, dass der Tropfen das Fass zum Überlaufen bringt usw. So kann ein Gedicht, ein Song die Welt verändern, aber nur, wenn sie ohnehin bereits auf der Kippe steht. Solche kleinen Ereignisse gewinnen nur deshalb Aufmerksamkeit, weil es sehr schwer ist, zu erkennen, ob das Fass halb voll oder halb leer ist. Und zu kleinen Ereignissen gehören auch die Handlungen großer Politiker in solchen Situationen.
Wer Macht besitzt, verzichtet niemals auf sie, wenn er sich nicht anderer Macht beugen muss. Mit einer Ausnahme: Hin und wieder gewinnt ein Mächtiger Einsicht, dass seine Macht Schaden anrichtet und korrigiert sich, häufig allerdings erst, wenn diese Einsicht durch das Auftreten einer anderen Macht oder gar Gewalt hervorgerufen wird. In allen anderen – also den normalen – Fällen wird Macht mit Gewalt verteidigt, spätestens dann, wenn sie mit Gewalt angegriffen wird.
In der Philosophie wird hin und wieder ein freiwilliger Machtverzicht empfohlen, weil sich in ihm die größte Souveränität ausdrücke. Wer das tut, wird allerdings erleben, dass die anderen die souveräne Großzügigkeit, die in der verschenkten Macht ihren Ausdruck findet, nicht verstehen und ihn eher für einen Dummkopf halten (was er oft genug ist).
Häufig werden Ironie, vorgetäuschte Höflichkeit, Heuchelei oder andere Umgehungsstrategien verwendet, um sich dem direkten Einfluss der Macht zu entziehen. Mit diesen Mitteln allein sind Machtwechsel aber nicht zu bewirken: »Ironie ist Rache an der eigenen Ohnmacht…. Ironiker wollen siegen, ohne zu kämpfen«.106
Man möchte annehmen, dass Krisensituationen alle Menschen, die von ihnen betroffen sind, zusammenschweißen. Das Bild von der Schlacht an den Thermopylen (480 v.Chr.), wo eine Handvoll Spartaner gegen eine Übermacht von Persern unglaublich lange durchgehalten hat, schwebt in unserem kollektiven Gedächtnis. So wie 1945 die Schlacht um Iwo Jima107 in den Köpfen der Japaner. Tatsächlich aber ist es anders: Selbst in extremen Situationen hören die Meinungsverschiedenheiten nicht auf. Auch dort herrscht der Alltag. Das sehen wir heute (2024) sowohl in der Ukraine wie in Israel.
Warum es so schwierig ist, irgendeinen Zustand zu verändern: Geht es z. B. darum, in einem Unternehmen, einer Behörde oder anderen Systemen die bestehenden Strukturen zu verändern, weil sie mangelhaft sind, gibt es immer genügend Stimmen, die diese Mängel nicht sehen, anders interpretieren usw. und für das Bestehende eintreten. Erst wenn die Systeme zusammenbrechen, erlöschen diese Stimmen und dann ist es für Reparaturen oft zu spät. Andererseits gibt es nur sehr wenige Menschen, die imstande sind, außerhalb bestehender Strukturen zu denken und sich etwas völlig Neues einfallen zu lassen. Wenn die Eintrittsschwellen für solche neuen Ideen zu hoch sind (wie in alten bisher bewährten Systemen üblich), zerbrechen die neuen Ideen sehr oft. Heute wird daher von der Fähigkeit zum Changemanagement gesprochen, aber diese Ideen können die oben skizzierten Probleme meist erst dann in Angriff nehmen, wenn die Notwendigkeit zur Veränderung gar nicht mehr diskutiert wird. Das zeigt uns unter anderem die Diskussion über den Klimawandel.
Denn das zentrale Problem jeder Art von Veränderung ist die unvermeidliche Komplexität der Machtverhältnisse. Niemand kann in einer gegebenen Situation genau überblicken, wie die Machtlinien verlaufen, und zwar nicht einmal dann, wenn er über besondere geheime Informationen verfügt: Um solche Informationen richtig zu interpretieren bedarf es einer Position, die meist nicht identisch mit jener ist, die mächtige Menschen einnehmen. Diese neigen dazu, alles zu ignorieren, was ihnen nicht passt und da ein drohender Machtwechsel das Letzte ist, was sie sich wünschen, neigen sie in extremem Maß zur Verdrängung und:
»Laurent Gbagbo hat verloren. Die ivorischen Streitkräfte haben seinem Machtspiel ein Ende gesetzt. Er war der Chef. Jetzt ist er allein, sitzt im kurzärmligen Hemd in einem roten Sessel, vor ihm steht ein Soldat in Drillich-Uniform. …Gbagbo starrt in die Kamera. Aus seinem schiefen Blick, der Bedrohlichkeit und Gerissenheit ausdrückte, solange er an der Macht war, sprechen nur noch tiefe Ungläubigkeit und Angst. Gestürtzte Diktatoren haben immer das gleiche Gesicht, eine Mischung aus Traurigkeit, Verwirrung und vollkommener Verständnislosigkeit. Ihres Amts beraubt, erkennen sie sich nicht mehr wieder, denn sie werden, was sie mit allen Mitteln verhindern wollten: Menschen unter Menschen, dem Gesetz unterworfen.«108
16.3. Krieg und Frieden
»Es braucht einen ungewöhnlichen Geist, das Offensichtliche zu analysieren.«109
Historisch kennen wir Kriege erst seit der Zeit, als Menschen sesshaft wurden und den Aggressionen anderer nicht ausweichen konnten.110 Konflikte, die zwischen Menschengruppen ausgetragen werden, haben andere Verläufe als individuelle Konflikte: Während einzelne Menschen fast immer zwischen Gewalt und Mitgefühl schwanken und ihr Verhalten korrigieren können, ist das aufgrund der Gruppendynamik in kriegerischen Situationen nicht mehr möglich. Entsprechend schwierig ist ein Friedensschluss.
Thomas Hobbes ist im Leviathan von der Theorie ausgegangen, jeder Mensch sei der Feind aller anderen Menschen, der Machtkampf werde in erster Linie von den egoistischen Einzelinteressen der Handelnden geprägt. Dahinter stand seine traumatische Erfahrung des britischen Bürgerkriegs, also des Kampfes, der sich nicht gegen einen äußeren Feind richtet, ein Kampf, bei dem jeder Nachbar Dein tödlicher Gegner sein kann:
»Was Bürgerkriege bedrohlicher macht als andere Kriege, ist, dass jeder von uns im eigenen Haus Wache stehn muss… Die Gegend, in der ich wohne, dient unseren Bürgerkriegen stets als erstes und letztes Schlachtfeld, nie zeigt sich der Friede bei uns in seiner reinen Gestalt… Ich lasse den Orkan dieser Kriegswirren mich umbrausen, Jahr, kaure mich in ihn hinein – möge sein Wüten mich blenden, möge er mich mit einem blitzschnellen und unfühlbaren Schlag dahinraffen!...... das Fieber unserer Bürgerkriege hat einen Körper befallen, der vorher nur eine Spur gesünder war: Das Feuer schwelte schon, jetzt brechen die Flammen hervor.«111
Auch Machiavelli hat zu seiner Zeit gleiches erlebt und daraus seine Schlüsse gezogen: Es ist besser, notfalls den Frieden in der Republik durch Lug und Trug aufrechtzuerhalten, als in der Gewalt zu versinken. Man hat ihn fast immer falsch verstanden.
Ein offener gewaltsamer Konflikt signalisiert zum einen, dass alle anderen Formen der Kommunikation über einen Konflikt sich als wirkungslos erwiesen haben, zum anderen aber auch eine zutiefst moralische Entscheidung für die eigene Interessen und die Missachtung aller anderen. Krieg ist Gewalt und Gewalt die primitivste Form der Kommunikation.
Es ist ein grundsätzlicher Unterschied, ob der Krieg von einem Angreifer oder einen Verteidiger geführt wird, denn nicht nur der Beginn, sondern er auch der Verlauf des Krieges und die ihn begleitenden oder beendenden Verhandlungen werden von der Schuldfrage geprägt. Das haben die Deutschen auf tragische Weise im ersten Weltkrieg erlebt. In den ersten Weltkrieg sind sie nur geschliddert, den zweiten haben sie begonnen, um den als Diktat empfundenen Versailler Vertrag zu korrigieren. Eine moralische Rechtfertigung gibt es nur in einer Notwehrsituation und so verstärken sich in der Eskalation der Krise die Bemühungen, nachzuweisen, dass man selbst angegriffen wird. So wird vor allem versucht, die ersten offenen Gewaltanwendungen der anderen Seite die Schuhe zu schieben.
Die Politik entscheidet sich nur dann zum Krieg, wenn sie die sichere Überzeugung hat, dass auch die Bevölkerung den Krieg zu Beginn mindestens hinnimmt. Das gelingt, wenn der Krieg als Notwehr gesehen wird, weil er dann moralisch gerechtfertigt werden kann. Die dazu nötigen provozierenden Ansätze kann eine Regierung fälschen (Angriff auf den Sender Gleiwitz 1939, Vorwurf der Giftgasproduktion gegen Saddam Hussein). Auch Begriffe werden gefälscht, indem man z. B. den Krieg als »Sonderoperation« bezeichnet (Putin 2022) und damit einer Polizeiaktion naherückt, in der es wenig Gefahren für die Polizisten gibt. Moralische Probleme werden dadurch unterdrückt, dass man die Aggression als rechtlich gedeckt bezeichnet, als Notwehr oder in ähnlicher Weise kaschiert. Nirgends wird mehr gelogen als in den Zeiten des Krieges. Eine Verteidigungspolitik, die ihren Namen verdient, darf sich nur Waffensysteme zunutze machen, die nicht zum Angriff taugen – sie muss sich einigeln, nur dann kann man sie nicht der Lüge bezichtigen.
Die Entscheidung der politischen Führung und die Reaktion darauf in der Bevölkerung gehören untrennbar zusammen und beide sind sehr stark von gruppendynamischen Prozessen abhängig. Für einige Teile der Bevölkerung kann der Krieg ein befreiendes Erlebnis sein, wie man es beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges gesehen hat, der die letzten verkrusteten Strukturen des Absolutismus zerschlagen hat: »Der Krieg ist die große Pubertät« (Heiner Müller). Kriegsrausch entsteht aus dem Herauslösen aus den bürgerlichen Bindungen und Hemmungen und so spült jeder Krieg die dunkelsten Elemente nach oben, die in einer geordneten Gesellschaft keine vergleichbaren Chancen haben, ihre Machtbedürfnisse durchzusetzen. Wie der Erfolg des Nationalsozialismus zeigt, treten solche Wirkungen auch nach einem Krieg ein, wenn der Kriegsgrund aktuell geblieben ist.
In der Regierung mag es Tauben und Falken geben, die jeweils eine entsprechende Klientel in der Bevölkerung repräsentieren. Welche der Parteien sich durchsetzt, hängt von der politischen Stimmung ab, die sich – vor allem in Krisensituationen – auch in politischen Gremien irrational entwickeln kann, denn die Regierung und die Bevölkerung befinden sich in einem komplexen System miteinander verbundener Informationen.
Früher war darüber hinaus auch eine förmliche Kriegserklärung zwischen den beteiligten Staaten erforderlich, sie ist im Lauf der Geschichte abhandengekommen und im Fall von Bürgerkriegen nicht möglich, weil die daran beteiligten Parteien und Interessen unübersehbar sind.
Dieses Problem wird offensichtlich, wenn die kriegführenden Parteien die Zivilbevölkerung als Schutzschild für ihre gewalttätigen Aktionen benutzen, so etwa im Gazakonflikt 2023. Würden alle Zivilisten ihre eigenen Soldaten daran hindern, den Krieg fortzusetzen, könnten sie nicht als Schutzschilde dienen. Diese Entscheidung müsste aber in autonom entstehenden Mehrheitsverhältnissen getroffen werden, die praktisch nicht entstehen können, weil vor allem in Kriegszeiten jede Kritik an der Tatsache des Krieges der Kriegsführung verboten ist. So verhindert das Volk, das zum Schutzschild missbraucht wird, gleichzeitig einen möglichen Frieden.
Die Konsequenz: Jeder muss für sich persönlich entscheiden, ob und in welcher Rolle er sich am Krieg beteiligt, dieser tragischen Wahl kann er sich nicht entziehen. Niemand kann sich darauf berufen, dass die Regierung eine falsche Entscheidung getroffen habe, wenn er ihr sich anschließt, ohne das damit verbundene moralische Problem erkannt und darüber entschieden zu haben. Regierungen nützen diesen Konflikt oft genug schamlos aus. Diese Phänomene zeigen sich deutlich beim Ausbruch von Kriegen.
Die Bereitschaft zum Krieg ändert sich aufgrund der Erfahrungen, die alle Beteiligten während seines Verlaufs machen. Sie erreichen ihre Ziele nur teilweise oder mit erheblich höheren Kosten als geplant, sie erleiden Verluste und diejenigen, die an den jeweiligen Fronten unmittelbar betroffen sind, haben »nicht genug Freizeit, um neurotisch zu sein«.112 Das kann sich später ändern, aber es kann sehr schwierig werden, diese Änderungen umzusetzen. Dafür sorgt die Gruppendynamik, die zwischen Soldaten und Zivilisten entsteht. Viele einzelne Menschen werden einem Krieg kritisch gegenüberstehen und können sich ihrer Rolle als Soldat doch nicht entziehen, denn wenn Du nicht bereit bist, mit den anderen zu sterben, ist der Gesichtsverlust so groß, dass Du später nicht mehr mit ihnen leben kannst. So steht der Einzelne im Krieg vor dem Problem einer tragischen Wahl.
Nicht nur Regierungen, auch die Menschen, die von ihnen geführt werden, können in eine Kriegssituation hineinschlittern, wie man das beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs gesehen hat. Das gilt vor allem für provokatives Verhalten, dass die Gegenseite veranlassen soll, mit Aggression und Gewalt zu beginnen, um dadurch eine moralische Rechtfertigung für sich selbst zu erhalten. Sie ist oft nur Fassade, so z. B. die Idee, die Demokratievariante der Vereinigten Staaten müsse weltweit ausgerollt werden. Das hat nach 1945 bis heute zu einer Vielzahl politischer Entscheidungen und Kriege geführt, hinter denen sich neben solchen ideologischen Ansätzen immer auch handfeste Wirtschaftsinteressen verstecken.
Systeme können auch an ihren Siegen zugrunde gehen (Montesquieu), denn jeder Sieg scheint die Richtigkeit des Systems zu bestätigen, schneidet es aber gleichzeitig von notwendigen Anpassungen ab. Nicht selten erkennen die Inhaber der Macht die Notwendigkeit einer Änderung, können sie aber aufgrund interner Konflikte nicht in Handlung umsetzen. In anderen Fällen versuchen sie diese Umsetzung zwar, haben aber keinen genügenden Einfluss auf die Menschen, die das tun sollen. Vor allem wenn bestehende Macht mit Waffengewalt verteidigt werden soll, ist die Gefahr groß, dass die Polizisten/Soldaten den Anweisungen nicht mehr folgen oder sogar ihre Waffen gegen die Mächtigen richten. Das geschieht vor allem, wenn Systeme zwar Gewalt in Anspruch nehmen, aber das Recht missachten, wenn sie die Kommunikation vernichten, aber den Machtwechsel nicht zulassen.
Im Krieg dominiert die Gewalt, bekanntlich die unintelligenteste Form der Kommunikation. Daneben verlaufen andere Informationslinien sowohl zwischen den verfeindeten Parteien, als auch zwischen ihnen und Dritten, die ein Interesse an dem Konflikt haben. So kommt es immer wieder zu Friedensbemühungen, die sich oft genug genauso als Scheingefechte herausstellen, wie die taktischen Winkelzüge auf dem Schlachtfeld. Das zentrale Problem: Jeder, der nicht selbst als Täter oder Opfer in den Krieg verwickelt ist, steht nicht vor der tragischen Wahl derjenigen, die unmittelbar an ihm beteiligt sind und unter ihm leiden. Über den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern hat George Steiner sehr zutreffend gesagt: Darüber sollten sich nur Menschen äußern, die in Israel leben und diesen Konflikt selbst ertragen müssen.
Der wesentliche Grund dafür, dass Frieden so schwer zu erreichen ist, liegt in der Eigendynamik des politischen Geschehens während einer Kriegsphase. In dieser Zeit verfügt die Politik über besondere Vollmachten bis hin zu diktatorischen Eingriffen und jeder Versuch, die Machtverhältnisse zu ändern oder zu relativieren wird als Angriff gegen das eigene Volk interpretiert. Hinzukommt der befürchtete Gesichtsverlust der Parteien in den Augen der eigenen Leute, aber auch Dritter. Jeder will – sowie die Deutschen im Ersten Weltkrieg – einen »Siegfrieden«, also letztlich eine Bescheinigung des Gegners, dass der Krieg durch Notwehr gerechtfertigt worden ist. Weil diese Bestätigung nicht zu bekommen ist, versucht man sie, wenigstens von dritter Seite zu erhalten. Jeder Dritte aber, der sich in dieser Rolle drängen lässt, verliert das Vertrauen der anderen Seite.
Der tiefste Grund dafür, warum es so schwierig ist, zu Kompromissen zu kommen, ist die innere Überzeugung beider Parteien, sie seien keine Angreifer, sondern Verteidiger. Sie beruht oft nur auf Gefühlen und nicht auf Tatsachen und ist deshalb besonders schwer zu beeinflussen. Zwei Beispiele:
1948 haben die Vereinten Nationen den Juden wie den Palästinensern eigene Staaten im früheren britischen Mandatsgebiet angeboten, einem Gebiet also, in dem es vorher keinen Staat dieser beiden Bevölkerungsteile gab. Die Juden haben das Angebot angenommen, die Palästinenser nicht. Sie waren es, die seither bis in die jüngste Zeit angegriffen haben, aber diese Angriffe waren nicht nur historisch motiviert, sondern beruhten auch auf ständigen Unterdrückungsmaßnahmen und Landnahme durch die Juden, die das wiederum (nicht unberechtigt) als vorsorgende Verteidigungsmaßnahmen interpretiert haben. So stehen beide Seiten sich aus ihrer Sicht als Verteidiger gegenüber und nehmen das Recht dazu für sich in Anspruch, obwohl sie die Notwehrgrenzen bei weitem hinter sich gelassen haben. Vor allem das äußerst problematische Verhalten der Israelis gegenüber den Hilfsangeboten der bedrängten palästinensischen Bevölkerung lässt die Palästinenser hoffen, dass ihre Rechnung aufgeht.
Auf ähnliche Weise versuchen die Russen, ihren Angriff auf die Ukraine mit der Behauptung zu rechtfertigen, dass sie sich gegen die respektlose Ausdehnung der NATO gegenüber den russischen Grenzen verteidigen müssten. Dazu stützen sie sich ebenfalls auf historische (aber nur in den Gefühlen abgesicherte) Bezüge (Kiewer Rus). Die Ukrainer hingegen haben alle Rechte, sich dagegen zu verteidigen und überschreiten derzeit nur in einigen Sonderfällen ihre Notwehrrechte. Beide Seiten sind aber – ob zu Recht oder zu Unrecht – der Überzeugung, keine Angreifer zu sein. In dieser Lage ist Vermittlung durch Dritte sehr schwierig.
17. Information, Kommunikation und Macht
»Fantasie oder Vorstellungskraft – das ist in Wahrheit nur ein anderer Name für absolute Macht, die klarste Einsicht; die höchste Schwingung des Geistes und der Vernunft in ihrer erhabensten Form«.
William Wordsworth113
Das wirksamste Mittel Macht zu erreichen ist die Beschränkung der Information und Kommunikation auf Teilaspekte der Probleme, die es zu lösen gilt, sodass niemand außer demjenigen, der die Fäden in der Hand hat, einen Blick auf »das Ganze« gewinnen kann. Der Machthaber gibt jedem, dem er einen Auftrag erteilt, nur begrenzte Informationen, um als einziger den Überblick zu behalten. Das ist aber wegen der Komplexität der Verhältnisse, in denen absolute Macht sich entwickelt, praktisch nicht möglich.
Viele Menschen und Institutionen versuchen Art und Umfang der Macht, über die sie verfügen, vor anderen über Treuhandverhältnisse oder andere komplexe Konstruktionen zu verstecken. Es mag sein, dass sich hinter den Fassaden der Macht das Nichts verbirgt (die potemkinschen Dörfer), aber es kann auch sein, dass die Fassade nur einen Bruchteil der Machtzusammenballung zu verdecken versucht, die sich in ihrem Untergrund befinden. Wer selbst an den Spielen der Macht teilnimmt, muss diese wichtige Regel kennen.
In sehr vielen Fällen können Menschen realistisch beurteilen, ob sie Macht haben oder nicht, denn wenn sie sich hier irren, kann der Preis für diesen Irrtum sehr hoch sein: Wer Macht hat, empfindet auch die harmloseste Infragestellung seiner Macht als unerträgliche Aggression. Daraus entwickelt sich ein spezifisches Lebensgefühl für die unterschiedlichen Situationen, in die wir geraten. Treffen wir auf offensichtlich höherrangige, mächtigere Personen, nehmen wir uns zurück, im anderen Fall reagieren wir selbstbewusst. Wer selten in die Lage kommt, reicheren und/oder mächtigeren Menschen zu begegnen, neigt dazu, von anderen keine Informationen mehr entgegenzunehmen. So entwickelt sich eine ungerechtfertigte Selbstsicherheit, die die Anpassungsfähigkeit beeinträchtigt und häufiger Grund für den Ruin der eigenen Macht wird. Wenige Reiche sind immer noch fähig, durch ein Nadelöhr zu gehen (also nicht nur spaßeshalber unter den Brücken zu schlafen).
Macht verlangt Anpassung anderer Menschen und gestaltet so auch die soziale Umwelt. Intelligenz passt sich an und ist daher der Macht gegenüber häufig wehrlos. Kritische Intelligenz würde der Macht helfen, sich weiterzuentwickeln, aber mit ihr kommt ein Mächtiger selten zu Recht, denn er neigt dazu, komplexe und unerwünschte Informationen abzuwehren. Das Denken und Empfinden anderer Menschen interessiert einen Mächtigen wenig. Er klammert sich sogar an Formen der Unterwerfung, die offensichtlich Fassade sind. Und wird auf diese Weise immer dümmer, weil keine anderen Informationen mehr durchdringen.
Wer Macht hat, kann es nur schwer dulden, dass diese Chance von anderen bezweifelt wird. Sie soll unter allen Umständen wenigstens formal anerkannt werden, auch und gerade dann, wenn sie bei weitem nicht die Chancen hat, die sie beansprucht. Die Anerkennung wird oft auch dann erzwungen, wenn gar keine konkrete Leistung von demjenigen erwartet wird, der sich der Anerkennung verweigert.
Grundlegende Veränderungen mögen sich dem äußeren Anschein nach unvorhersehbarer und eruptiv entwickeln, tatsächlich aber zeigt sich die Unzufriedenheit mit den Verhältnissen in unzähligen Einzelheiten, die von denjenigen, die Macht haben, aktiv oder passiv unterdrückt oder verdrängt werden. Man interpretiert sie falsch, man versteht die Information nicht. Der Wunsch nach kleinen organischen Veränderungen wird als Angriff verstanden. Das kann – wie sich vor allem in Russland zwischen 1848 und 1918 zeigte, Jahrzehnte so gehen, bis endlich eine Machtdifferenz auftaucht, die eine Änderung erlaubt.
Auf Kritik reagieren mächtige Menschen extrem sensibel, sie belohnen diejenigen, die ihnen nach dem Mund reden und sortieren andere aus, die widersprechen. So bleibt es nicht aus, dass sie im Lauf der Zeit nur noch von Speichelleckern umgeben sind und sich damit von wesentlichen Informationen abschneiden, die sie eigentlich benötigten. Der Machthaber lügt und wird selbst belogen und es gibt niemanden, der das aufdecken könnte.
Ebenso unklar bleibt es in aller Regel, ob der nach außen sichtbare Inhaber der Macht wirklich derjenige ist, der die Kräfte bewegt oder ob es sich nur um eine Marionettenfigur in den Händen Grauer Eminenzen handelt, die von außen kaum zu identifizieren sind. Bei Hitler, Stalin und Mao Tse Dong können wir heute im Rückblick mit Sicherheit sagen, dass es sich um authentische Diktatoren gehandelt hat, bei Putin oder Xi Jinping ist die Situation nicht eindeutig. Sie wird klar werden, wenn sie beseitigt werden. Denn einen freiwilligen Rücktritt kann man sich schwer vorstellen.
Wer immer Macht in Händen hat, verfügt nur über eine begrenzte Zeit, in der er Entscheidung treffen kann. Wer versucht, das, was er erreichen will, nur mit eigenen Kräften zu realisieren, wird schon am Zeitproblem, spätestens aber an der immer größer werdenden Komplexität der Aufgaben und der Widersprüchlichkeit der Ziele scheitern. Delegation aber erfordert Planung und Kontrolle, wenn sie wirksam werden soll. Die Zahl derjenigen, die man delegieren kann, muss überschaubar gehalten werden, weil sonst die Zeit für Planung und Kontrolle nicht reicht. Dieser kleine Kreis um den Machthaber (im »Vorraum der Macht« (Carl Schmitt114) reguliert den Zugang zum Machthaber und damit auch die Informationen, die ihn erreichen. Die Qualifizierung dieser Personen leidet auch unter der Tatsache, dass nur wenige Machthaber die Klugheit haben, nicht nur mit Menschen zu arbeiten, die Ihnen zustimmen, sondern auch Kritik auszuhalten. Besonders wohlmeinende Kritiker haben selbst große Egos und ziehen sich sofort zurück, wenn sie nicht beachtet werden.
So verliert der Inhaber der Macht unvermeidlich den Kontakt zu anderen Informationsquellen und wird immer abhängiger von seiner Entourage. Auf diese Weise führt jede Stärkung einer Machtposition gleichzeitig zu ihrer Schwächung und Isolierung. Dieser »inneren Dialektik« der Machtbeziehungen zwischen denjenigen, die die Macht haben und anderen, die sich ihr im eigenen Interesse beugen115, kann niemand entfliehen, denn in jeder Machtbeziehung sind Widersprüche unvermeidlich und müssen ständig gegeneinander ausbalanciert werden.
Um mächtige Menschen herum bilden sich komplexe Strukturen, die in erster Linie das Ziel haben, den Zugang zu demjenigen, der Entscheidungen trifft, durch die Entourage zu kontrollieren116. Gleichzeitig wird die Entourage durch jederzeit aufflammenden emotionalen Terror in Angst und Schrecken gehalten.
Der alleinige Inhaber der Macht braucht unter diesen Umständen nur seine Entourage zu kontrollieren und das geschieht nicht durch Argumente, sondern durch emotionalen Terror. Von Sachkenntnis kann er sich weitgehend freihalten.117 Wer Informationen anbietet, die nicht ins Schema passen, wird als Verräter disqualifiziert und beseitigt. So wird der Blick auf die Wirklichkeit immer schwächer und ist von zahllosen Irrtümern durchzogen. Daran könnte ein Mächtiger nur dann etwas ändern, wenn er sich für die Probleme, die nur er selbst lösen kann, wirklich interessierte.
Ein Mächtiger kann das schon deshalb nicht verhindern, weil seine eigenen Kapazitäten begrenzt sind. Er muss delegieren und hat oft nicht die Möglichkeit, zu kontrollieren. So verselbstständigen sich seine Subsysteme und verhindern eine wahrheitsgemäße Information und/oder Interpretation, die der Machthaber für seine Entscheidung benötigte. In kurzer Zeit sammelt er nur noch Jasager um sich, die Informationen, die Ihnen unliebsam erscheinen, abwehren. Würde ein Machthaber dazu auffordern, ihm auch solche Informationen vorzutragen, gefährdete er damit seine Entscheidungskraft. Es ist eine Art nahezu unvermeidbarer Selbstamputation.
Die größte und unvermeidbare Verirrung absoluter Macht ist es, die Realität zu ignorieren, zu verfälschen und/oder zu verleugnen – bei Putins Angriff auf die Ukraine 2022 ist das offensichtlich. Die Unvermeidbarkeit dieses Fehlers zeigt sich vor allem bei der Reaktion auf die Meldung von Geheimdiensten. Sie werden eingerichtet, um sich über das gegnerische Lager Informationen zu verschaffen, sobald solche Informationen aber nicht in die eigene Vorstellung passen, werden sie ignoriert. Gute Beispiele: Stalin wusste über den Spion Sorge aus Tokio über den Angriffstermin, den Hitler festgesetzt hatte, glaubte aber dem Spion nicht. Honecker glaubte seinem Geheimdienst bis zuletzt nichts und der Zusammenbruch der DDR erklärt sich unter anderem aus der internen Erkenntnis der Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, dass die DDR führungslos vor sich hin taumelte und der gleichzeitigen Einsicht, dass sie selbst daran nichts mehr ändern konnten. Anders als in der DDR konnte der russischen KGB aber einige Jahre überwintern, sich dann reorganisieren und über Putin die Macht übernehmen118.
Diese und zahlreiche andere Fehlerquellen können in gewissem Maß ausgetrocknet, aber nie vollständig beherrscht werden119. Das liegt im Kern an der Unwahrscheinlichkeit, dass der Machthaber sich instinktiv dagegen sträubt, Fehler zu erkennen und/oder die Fähigkeit zu entwickeln, sie zu beseitigen. Viele Informationen über Fehler werden bereits deshalb unterdrückt, weil der Bote für den Inhalt seiner Meldung verantwortlich gemacht wird. So wird es schwierig, anzuerkennen, dass immer ein Fehlerrisiko besteht und außerhalb von Standardfällen kaum beherrschbar ist. Außenstehende Berater werden nicht eingeschaltet, weil sie Verhältnisse aufdecken könnten, die die Machenschaften der Mächtigen enthüllen; man ist unfähig, die statistischen Werte zu erfassen, die den Vergleich mit Standardfällen erst ermöglichen; man versteht den Unterschied zwischen »schnellem und langsamem Denken«120 nicht; ständig bildet man sich absolute Urteile, die notwendig falsch sein müssen und verweigert sich der Kontrolle der Entscheidungen durch Dritte.
Mächtige Systeme brauchen sehr lange, bis sie instabil werden und zusammenbrechen (too big to fail). Der Grund: Für diejenigen, die die Macht in Händen halten, ist es schwer, die Instabilität zu erkennen, denn die Machtverhältnisse lassen solche Informationen nur selten zu und wenn, werden sie klein geredet oder geleugnet. Ich kenne in der Wirtschaft keinen Fall, in dem ein nach außen mächtiges System (z. B. die Deutsche Bank) sich gefragt hätte, ob es wirklich so stabil ist, wie es zu sein scheint. So schleicht der Verfall langsam fort, auch offensichtliche Symptome werden geleugnet und jede Änderung von der Hoffnung begleitet, dass sich alles ändert. Zudem hängt jedes große System in ebenso großen Netzwerken, die bereit sind, es auch unter schwierigen Umständen zu unterstützen, weil die eigene Existenz vom Weiterbestehen des großen Systems abhängt. Deshalb gibt es oft selbst bei offensichtlicher Insolvenz keine Veränderung vor dem Zusammenbruch (DDR 1989). Ein System, das Traditionen um ihrer selbst willen formal aufrechterhält, obwohl sie längst ihren Sinn verloren haben, verliert die Anpassungs – und damit Lebensfähigkeit.
18. Die Grenzen der Macht
Wer Macht hat, neigt dazu, sie auszudehnen, bis er auf Grenzen stößt, die durch andere Systeme gezogen werden. Wir beobachten diese Entwicklungen aktuell bei den Versuchen, die Technisierung der Welt zu begrenzen, die sie zu zerstören drohen, aber auch bei dem Angriff Russlands auf die Ukraine (2022), mit dem versucht wird, eine als unerträglich empfundene Begrenzung der Macht wieder aufzuheben.
Nietzsche und nach ihm einige andere Denker waren der Meinung, das wahre menschliche Potenzial lasse sich nur von Menschen erreichen, die ihrem Machtstreben keinerlei Grenzen auferlegten:
»Wer darüber nachdenkt, auf welche Weise der Typus Mensch zu seiner größten Pracht und Mächtigkeit gesteigert werden kann, der wird zuallererst begreifen, daß er sich außerhalb der Moral stellen muß: denn die Moral war im Wesentlichen auf das Entgegengesetzte aus, jene prachtvolle Entwicklung, wo sie im Zuge war, zu hemmen oder zu vernichten. Denn in der Tat konsumiert eine derartige Entwicklung eine solche ungeheure Quantität von Menschen in ihrem Dienst, daß eine umgekehrte Bewegung nur zu natürlich ist: die schwächeren, zarteren, mittleren Existenzen haben nötig, Partei zu machen gegen jene Glorie von Leben und Kraft, und dazu müssen sie von sich eine neue Schätzung bekommen, vermöge deren sie das Leben in dieser höchsten Fülle verurteilen und womöglich zerstören. Eine lebensfeindliche Wendung ist daher der Moral zu eigen, insofern sie die Typen des Lebens überwältigen will.«121
Diese »Skizze des Übermenschen« übersieht, dass unsere genetisch festgelegten Anlagen nicht nur auf der Aggression beruhen. Wir konnten biologisch/psychologisch nur deshalb überleben, weil unsere genetischen Anlagen zwischen Gewalt und Mitgefühl (Robert Sapolsky) schwanken und nicht einseitig auf eines dieser Elemente festgelegt sind. Auf der Basis dieser genetischen Anlagen haben die ersten Hominini – schon weit vor Homo sapiens – die Fähigkeit zur kulturellen Selbstbegrenzung entwickelt (Tomasello, Werner Bätzing).
Die so entstehenden Konflikte können die Macht zerstören. Wer fähig ist, seine Macht selbst im Interesse ihrer Stabilität zu begrenzen, kann diese Risiken erheblich vermindern. Anders als Nietzsche gemeint hat, ist die Moral im Alltag ein wichtiges Werkzeug, um die Macht zu begrenzen und gleichzeitig zu erhalten. Das gleiche gilt für das Recht, weil es die Macht einerseits stützt, andererseits aber begrenzt. Solche Grenzen kann man sich selbst durch Übernahme der Verantwortung für andere, die Einhaltung moralischer Regeln und rechtlicher Normen setzen, die nicht von anderen erzwungen werden: Wir müssen lernen, wie man Machtverhältnisse, die man nicht ändern und denen man nicht entfliehen kann, doch in geeigneter Weise begrenzt.
Das zeigt sich vor allem im Bereich privaten Unternehmen. Ihrem Streben nach wirtschaftlicher (und durchaus auch: Politischer) Macht wird durch zahllose Gesetze, vor allem aber das Kartellrecht Grenzen gesetzt. Viele Unternehmen lehnen weitere Selbstbeschränkungen jeder Art ab, so vor allem den Einfluss von Gewerkschaften oder die Anerkennung anderer, ihnen nicht gesetzlich vorgeschriebener Beschränkungen. Sie erkennen nicht, dass Gewerkschaften die Repräsentation der Arbeiter bilden, die ebenfalls Macht besitzen (Streik) und die Verhandlung mit solchen Repräsentanten einfacher ist und bessere Ergebnisse liefert als ein ungeordnetes hin und her von Streik und Aussperrung.
Macht neigt zur Monopolbildung, die vor allem unter politischen Rahmenbedingungen gelingt, die es ermöglichen, sich entwickelnde Widerstände und Wettbewerbskräfte schon in den Anfängen zu unterdrücken:
»Regierungen vereinigen schließlich nur dadurch, dass sie am Ruder bleiben, so viele Interessen in ihrer Hand, dass es Ihnen gelingt, ihren Fortbestand sogar von ihren Feinden wünschenswert werden zu lassen.«122
Es hat Jahrtausende gedauert, um die Sklaverei abzuschaffen, Jahrhunderte, um die Herrschaft der Eisenbahn – und Fleischbarone in den USA oder jene der Rittergutsbesitzer in Deutschland zu brechen.
Erstaunlich, dass solche Zusammenbrüche nicht nur von außen angestoßen werden: Die Ostblockländer haben ab 1986 den Glauben an ihren Erfolg verloren und davon sind auch die Sicherheitsdienste nicht frei geblieben, deren wesentliche Aufgabe es war, das zu verhindern.
Wenn Machtverhältnisse nicht in sich zusammenbrechen, ändern sie sich nur, wenn sie die Einwirkung einer konkurrierenden Macht nicht verhindern können. Jeder Mensch ist ein Machtzentrum, aber er endet an seinen Fingerspitzen und wie immer sich sein Einfluss auf andere gestaltet, hängt im gleichen Maß von seinen eigenen Fähigkeiten ab, wie von den Reaktionen anderer Menschen auf ihn.
Wir sehen das deutlich auf dem Theater: Da steht jemand, der eine goldene Krone auf dem Kopf trägt, aber ob er der König oder der Narr ist, können wir nur an den Reaktionen der Menschen erkennen, die auf ihn reagieren – auch der Narr mag sich zu gewissen Zeiten die Krone aufsetzen! Den König hingegen erkennt man daran, dass er selbst nichts tut, sondern nur etwas anordnet. Häufig werden seine Wünsche geahnt und schon erfüllt, bevor er sie äußert. So wird der absolute Herrscher von allen absolut abhängig, die ihm dienen – und damit gleichzeitig in demselben Maße ohnmächtig, in dem man ihm folgt. Die anderen folgen seinen Willen nämlich nur dann, wenn das mit Vorteilen für sie selbst verbunden ist. Ob einer die Macht hat, hängt also ausschließlich von der Anerkennung seiner Entscheidungsgewalt durch andere ab. Wie kommt es zu dieser Anerkennung?
»Wer die Beziehungen von Menschen mit philosophischen Augen betrachtet, ist mehr als überrascht über die Leichtigkeit, mit der nur eine Handvoll Leute die Massen beherrschen und in welchem Ausmaß die Menschen ihre eigenen Gefühle und Leidenschaften denjenigen zu Füßen legen, die die Regeln machen. Wenn wir uns fragen, wie dieses Wunder geschieht, werden wir zunächst sehen, dass die Macht immer auf der Seite der Herrscher ist und die nichts weiter zu ihrer Unterstützung brauchen als Meinung.«123
Wer in der Opposition steht, ohne die Macht anderer anzuerkennen, besetzt bereits damit sein eigenes Machtfeld und beschränkt die Möglichkeiten der Mächtigeren. Stalin hat – wie viele Diktatoren – diesem Zusammenhang klar erkannt und daher bereits jede Möglichkeit einer Opposition unterdrückt. Er wusste, dies konnte nur gelingen, wenn er jeden möglichen Gegner umbrachte: »Der Tod löst alle Probleme« soll er gesagt haben. Vielleicht beruht die Kraft der Demokratie ausschließlich auf der realistischen Chance der Opposition, selbst an die Regierung zu kommen. Sie kann diese Chancen nur wahrnehmen, wenn sie aus der Opposition heraus das Wirken der Regierung grundsätzlich anerkennt, weil sie nur dann die gleiche Anerkennung erwarten kann, wenn sie selbst an die Regierung kommt.
Wenn Macht oder Unterwerfung exzentrisch ausgeübt werden, kann dadurch das ICH ebenso wie andere Menschen und/oder die von ihnen gebildete Gesellschaft leiden. In manchen Menschen ist der Wunsch, andere zu beherrschen von allen denkbaren Zwecken getrennt und kreist nur um sich selbst. Andere lehnen auch nützliche und akzeptable Machtverhältnisse absolut ab (Anarchismus). In beiden Extremen steckt erhebliches Schadenspotential für alle Beteiligten. Wie die Dinge sich entwickeln, hängt von den Rahmenbedingungen ab, die nicht immer beeinflussbar sind. Besonders gefährlich erweist es sich, wenn Menschen, die Macht haben, die Auswirkungen ihrer Entscheidungen nicht annähernd überblicken können (Atomwaffen, Klimaveränderung etc.). In diesen Fällen kann auch ein Machtwechsel nicht immer zu einer Verbesserung der Entscheidungen führen: Wenn niemand die Komplexität einer Handlung überblicken kann, hat man nur die Auswahl, blind zu entscheiden oder nichts zu tun – und auch die Unterlassung kann der größte Fehler sein. Mit solchen Risiken werden wir uns abfinden müssen.
Eine der wichtigsten Grenzen zeigt sich in unserem sozialen Zusammenleben: Es ist der persönliche Umgang, den wir untereinander pflegen. Sprache und Körpersprache sorgen dafür, dass Menschen, die einander noch nicht sehr gut kennen, Höflichkeit, Respekt und Zurückhaltung wahren. Höflichkeit und gute Manieren sorgen für Distanzen und formalen Respekt. Sobald wir einander besser kennen, wechseln wir die Sprachebene, drücken uns direkter aus, ungeschminkter und ungeschützter. Wer Macht hat, kann diese Regeln ignorieren, er kann sich unter allen Umständen und in jeder Beziehung gehen lassen. Bekannt sind die Wutausbrüche von Politikern im kleinen Kreis, ihre Missachtung guter Ratschläge, die sie in ihrem privaten Verhalten zähmen sollen.
Wer trotz großer Macht über Selbstbeherrschung verfügt, zeigt sich langfristig jedem anderen überlegen. Obwohl der Verlust der Selbstbeherrschung häufig nicht unmittelbar sanktioniert werden kann, erweckt er doch Wut, Zorn und Rachedurst in denen, die darunter leiden. Es ist eine große Gabe, diese Gefahr zu sehen und selbst derjenige zu sein, der sich Grenzen zu ziehen imstande ist. Wer dazu nicht fähig ist, wird von anderen abhängig und gefährdet eine bestimmte Vorstellung, seine eigene Machtposition.
Noch viel wichtiger ist die Fähigkeit zur Selbstbegrenzung unter den jetzt schon gegebenen Möglichkeiten, unsere Umwelt für unsere Interessen auszubeuten. Wenn wir sie in dieser Situation nicht wirksam nutzen können, werden wir unserer eigenen Macht ersticken.
19. Gewalt und Mitgefühl
Macht ist pure Lebensenergie und deshalb am tiefsten in unseren Instinkten und Gefühlen verankert. In vielen Fällen können wir sie zwar rational begründen, aber oft enttarnt die genauere Analyse, dass an diesen Gründen nicht viel dran ist. Der Wille zur Macht rechtfertigt sich durch sich selbst. Das sehen wir vor allem in Situationen, in denen Menschen sich völlig bewusst sind, dass sie sich mit der Ausübung ihrer Macht selbst schaden – aber sie können nicht anders, weil sie nicht anders wollen.
Gewalt ist die primitivste und gleichzeitig mächtigste Form der Kommunikation, denn ihr Ziel ist es, jede andere Form der Kommunikation zu unterbinden: Wer sich auf eine Diskussion einlässt, ist in den Augen vieler nicht mächtig genug, sie durch Gewalt zu verhindern. Darin liegt unter anderem die politische Wirksamkeit von Demonstrationen: Dem Einzelnen kann man den Mund verbieten, wird die Menge aber sehr groß, ist das nicht mehr möglich, ohne Gewalt einzusetzen – womit der offenkundige Beweis angetreten wird, dass die Mächtigen nicht mehr kommunizieren wollen.
Sehr seltsam wirkt es, wenn die Inhaber der Macht gegen die außerparlamentarische Opposition auf die Straße gehen. Diese Politiker haben lange Zeit bevor sie selbst Macht erlangten, an Demonstrationen teilgenommen und verstehen den Rollenwechsel nicht, dem sie unterliegen, sobald sie ins Amt kommen. Wie kommt ein Bundeskanzler dazu, auf die Straße zu gehen, um gegen den Rechtsextremismus zu protestieren? Seine Aufgabe ist es, die Gesetze so umzusetzen, dass Rechtsextreme sich an die Verfassung halten. Ein Gang auf die Straße trägt dazu nichts bei.
Zur Gewalt greifen Menschen, die andere Formen der Kommunikation nicht kennen; Sie sind leicht daran zu identifizieren, dass Sie Ihre Kräfte überschätzen und trotzdem angreifen. Aber es gibt auch mächtige Menschen, die es genießen, ihre Macht gerade auf diese Weise zu demonstrieren und jede andere Art der Kommunikation als zu schwach ablehnen. Sie verlangen von anderen unbegründete Anerkennung und den Verzicht auf jede Diskussion darüber. Hier beweist ihre Möglichkeit, Gewalt anzuwenden unmittelbar ihren Rang.
Thomas Hobbes und andere haben früher angenommen, dass die Menschen generell zu Macht und Gewalt tendierten und nur durch höherrangige Gewalt und Macht in ihre Grenzen gewiesen werden könnten. Heute allerdings wissen wir, dass diesen Energien gleichrangige Kräfte gegenüberstehen, die uns zur Kooperation bewegen. Ständig schwanken wir zwischen Gewalt und Mitgefühl (Robert Sapolsky): Eine Überbetonung des Mitgefühls kann uns genauso schaden, wie ein Gewaltsexzess, er kann uns wehrlos und handlungsunfähig machen124.
Diese traumatische Erfahrung gibt es seit Menschengedenken und die Fähigkeit dazu ist tief in uns biologisch/psychologisch verwurzelt: Wir kämpfen mit allen Energien, die wir haben, ums Überleben, auch wenn wir uns dazu nur auf uns selbst abstützen können.
Schon unsere epigenetische Ausstattung, aber auch zahllose auf ihr aufbauende kulturelle Konstruktionen sorgen dafür, dass wir fähig sind, unsere individuellen Rechte zu verteidigen, aber auch keine Anmaßung zu entwickeln. Gesellschaften, die die Fähigkeit zu dieser Flexibilität entwickelt haben, sind erfolgreicher geworden als andere. In den alten Texten der Edda (Hávamal – um 1000 nach Christus) finden wir bereits ein Konzept, das sich heute unter dem Stichwort »tit for tat« wiederfindet:
»Dem Freunde sollst Du Freundschaft bewahren,
Gabe mit Gabe vergilt!
Doch Hohn soll man mit Hohn erwidern
und die Täuschung mit Trug.«125
Die entscheidende Frage ist: Wer von einem anderen mit Verachtung, Täuschung, Gewalt oder anderen Mitteln konfrontiert wird, kann nur dann zurückschlagen, wenn er mindestens die Macht dazu hat. Wer nicht standhalten kann, muss fliehen. Wie die Sachlage ist, ergibt sich nicht aus Statistiken, es erweist sich nur in der konkreten Situation. Insektenstiche können trivial sein, sie können einen aber auch zum Wahnsinn treiben.
Im Lauf der Geschichte haben sich zahllose Gesellschaftstheorien gebildet von denen die einen dem Individuum, seinen Interessen und seiner Menschenwürde mehr Gewicht beilegen als andere, die die Interessen der Gesellschaft hervorheben, denen der einzelne sich anpassen müsse: Ohne die Gesellschaft könne der Mensch seine individuellen Interessen gar nicht erst entwickeln (»Du bist nichts, Dein Volk ist alles«). Zwischen diesen beiden extremen Positionen gibt es nahezu jede denkbare Schnittstelle uns ebenso zahllose Widersprüche. Tatsächlich haben beide Positionen recht: Das Verhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft ist komplex und bedarf einer Abstimmung, die sich aus dem jeweiligen kulturellen Hintergrund entwickelt:
»Die Auffassung, es gebe nur die Alternative, zwischen einer ›altruistischen‹ (›das Recht des Einzelnen hat Vorrang‹) und einer ›holistischen‹ (›das Recht des Ganzen hat Vorrang‹) Staatskonzeption zu wählen, ist also für die Platoische und aristotelische Staatstheorie zu undifferenziert. Denn in ihrem Sinn ermöglicht das Ausgehen vom Ganzen die spezifische Verschiedenheit jedes Einzelnen in den Blick zu bekommen und in dem die Vielfalt der Möglichkeiten wie ›Menschsein« verwirklicht werden kann, sie in ihrem jeweiligen Eigenwert zu berücksichtigen und zu schützen. Weit entfernt davon, die subjektive Besonderheit als potentielle Ursache des ›Verderbens der gesellschaftlichen Ordnung« (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts § 206) aus dem Staat eliminieren zu wollen oder die subjektive Freiheit der Individuen für nichts geachtet zu haben (ebenda § 262) betrachten Plato und Aristoteles die Freiheit und Individualität der einzelnen Bürger nicht als unterschiedslos gleiche ›Massepunkte« und ihr Verhältnis und Interagieren untereinander dementsprechend nicht als berechenbare Wechselwirkungen zwischen Massenpunkten, sondern entwickeln ein Konzept eines ›geordneten Pluralismus‹, eines Staates, wie er ein in sich vielgestaltig ist, aber harmonisch geordnetes Ganzes sein kann … . ›Totalitär‹ ist das Einfordern des Rechts des Ganzen bzw. ›partikularistisch« oder ›lobbyistisch‹ d. h. egoistisch und letztlich gemeinschaftsschädigend, ist das Einfordern des Rechts des Einzelnen nur dann, wenn diese Bestrebungen selbst fehlgeleitet sind und nicht in einem umfassenden und reflektierten Sinn dem Erreichen ihrer Ziele dienen.‹126
Die Frage, ob man seine egoistischen Interessen durchsetzt oder Mitgefühl für andere entwickelt, hängt in erster Linie von unserer biologisch/psychologischen Konstitution und den sozialen Ordnungen ab, die wir gestützt auf sie entwickeln. Das zeigen die neuesten Forschungen auf diesem Gebiet, die zeigen, dass bereits unsere unmittelbaren biologischen Vorfahren, die Primaten sowohl egoistische wie altruistische Motive verfolgen127. Ob wir in dem Spannungsverhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft den Blick nur auf das ICH richten (und unsere kulturellen Strukturen das zulassen), oder ob wir daneben die Fähigkeit entwickeln, die Welt aus der Perspektive anderer zu betrachten und damit unsere eigene Position zu relativieren, hängt von der konkreten Situation ab – und die wird, wie nun zu zeigen sein wird, von den Machtverhältnissen und unseren Reaktionen auf sie bestimmt.
Thomas Hobbes kam zu dem Schluss, solche traumatischen Kämpfe könnten nur durch einen jedem Einzelnen überlegenen Staat verhindert werden, der dazu ein Machtmonopol besitzt. So kann der Einzelne von der Last seines Kampfes ums Überleben um den Preis seiner (und aller anderen) Solidarität zu diesem Staat entlastet werden.
Einen solchen Staat kann man aber nur bilden, wenn man – wie Aristoteles mit seinem Begriff zoon politikon gezeigt hat, nicht nur auf seine eigenen Interessen achtet, sondern fähig ist, sich mit anderen zu arrangieren und die Welt aus deren Perspektive zu betrachten.
Wir werden zudem sehen, dass stabile Beziehungen zwischen dem ICH und der Gesellschaft nur entstehen können, wenn sie durch die Grundprinzipien der Moral (Interdependenz/Reziprozität/Empathie) und des Rechts (Gleichheit/Fairness/Ausgewogenheit) geprägt sind, das stets die Stütze und Grenze der Macht zugleich bildet.
Seit Plato unterscheiden wir Verstand, Gefühl und Willen, drei Elemente unserer Psyche, die er unter dem Begriff nous zusammengefasst hat (Timaios 69b ff). In vielen Situationen unseres Lebens stützen wir uns nur auf eines dieser Elemente, z. B. in der wissenschaftlichen Arbeit auf den Verstand, im Alltagsverkehr zwischen den Menschen auf das Gefühl und bei bestimmten Entscheidungen auf den Willen. Geht es aber um die Macht, erleben wir, dass plötzlich ein Dreiklang entsteht: Wir können Machtdifferenzen nur dann realistisch beurteilen und auf sie reagieren, wenn bei jeder Entscheidung Verstand, Gefühl und Wille in hohem Maß koordiniert zusammenwirken. Auch dazu braucht man Begabung: wer politische Macht anstrebt, muss fähig sein, gegen seinen Verstand oder sein Gefühl zu handeln, eine Spannung, die nur wenige aushalten. Nur wer diese Fähigkeiten entwickelt, kann auch andere davon überzeugen, dass seine Entscheidungen richtig sind. Sie müssen davon überzeugt sein, dass sie eine ähnliche Analyse getroffen, ein vergleichbares Gefühl entfaltet und einen ähnlichen Willen zur Durchsetzung entwickelt hätten. Nur so entwickelt sich die Gewissheit, auch selbst Teil der Macht zu sein, der man sich unterwirft128.
Niemand kann vorhersagen, ob und unter welchen Rahmenbedingungen er die Neigung entwickelt wird, sich selbst Macht über andere zu verschaffen. Die Möglichkeit dazu hängt weder von Bildung noch dem Geld oder anderen Hilfsmittel ab, wohl aber von bestimmten psychischen Voraussetzungen, vor allem von der Abwesenheit des Selbstzweifels. Wer intellektuell begabt ist wird selten die Fähigkeit entwickeln, sich Macht zu verschaffen. Unter denen, die dazu fähig sind kann man zwei Gruppen klar voneinander unterscheiden:
- Die einen suchen nach Macht um bestimmter Ziele willen, die ohne die Zustimmung anderer nicht erreicht werden können. Sie erkennen, dass das Recht gleichzeitig die Stütze und Grenze der Macht darstellt und akzeptieren diese Doppelfunktion. Sie wollen Macht verwenden, um Ordnung in die Welt zu bringen, sie wissen: Die Sehnsucht nach Ordnung ist biologisch/psychologisch tief in uns angelegt, denn Ordnung sichert das von Chaos und Willkür stets bedrohte Überleben.
- Die anderen streben nach der Macht um der Macht willen, sie genießen die Unterwerfung anderer und erfahren ihre Gottähnlichkeit (Apotheose) in der absoluten Willkür, der Abwesenheit von Recht und der öffentlichen Darstellung ihrer Möglichkeiten, kurz: Nur der Missbrauch der Macht enthält für sie die Energie, nach der sie suchen.
Wer der zweiten Gruppe angehört, wird oft versuchen, seine wirklichen Neigungen zu verdecken, es kann aber auch sein, dass ein öffentlicher Aufruf, sich ihm zu unterwerfen noch wirksamer ist als die Behauptung, man wolle von der Macht nur in angemessener Weise Gebrauch machen.
In diesen Fällen verwirklicht Macht sich nicht in der Umsetzung vernünftiger Ideen, sondern gerade in der Willkür, also der Möglichkeit, gegen die Vernunft zu handeln und seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen129. Macht ist der emotionale Genuss der Tatsache, dass für dich Regeln nicht gelten, die andere beachten müssen. Entweder werden sie vorsorglich weggeräumt (zum Beispiel durch eine Ampelschaltung) oder du brichst sie folgenlos, weil niemand die Position hat, dich ungestraft zu kritisieren. Du schreist, wenn man still sein sollte, du bestellst Nutten, auch wenn du nicht mehr vögeln kannst, du rufst Leute nachts an, wenn sie schlafen wollen (die aber müssen dir zuhören) – und niemand kann dich dafür bestrafen und keiner in deiner unmittelbaren Umgebung will das auch, denn er profitiert von deiner Macht, von den Brosamen der Reichen, die auf ihn herabfallen.
Besonders im Bereich der Politik ist es für den Erhalt der eigenen Macht unumgänglich, zu Menschen Beziehungen zu entwickeln, die dies zum eigenen Nutzen tun, sei es im Wege der Führung, der Kooperation oder der Unterwerfung. Entscheidend sind dabei nicht Vernunft oder Gefühle allein, ausschlaggebend ist der Wille, seine eigenen Ziele in der einen oder anderen Weise durchzusetzen, soweit die Rahmenbedingungen das gestatten:
»Bei der Betrachtung solcher Vorgänge und der Menschen, welche damals an der Spitze der Staatsverwaltung standen, ferner bei näherer Prüfung der Staatsgesetze und sittlichen Gewohnheiten der Bürger schien mir die Verwaltung eines Staatsamtes mit der Vernunft desto schwerer vereinbar, je tiefer ich in diese Zustände blickte und je mehr ich dem reiferen Alter zuschritt. Denn ohne eine politischer Assoziation mit Freunden und treu verbündeten Parteigängern ist es nicht möglich sich mit Politik abzugeben, solche, wenn sie auch vorhanden gewesen wären, waren aber schwer aufzufinden, den unser Staat wurde nicht mehr verwaltet im Geiste der alten guten Sitten und Einrichtungen und ohne Gefahr sich andere neue heranzuziehen war unmöglich«130.
Und schließlich: Die Macht kann leicht verschwinden – auch wenn Du unendlich viel für sie aufgewendet hast, ist sie plötzlich nicht mehr da:
»Die Macht ist wie der Horizont: in demselben Maße, wie sie näherkommt, entzieht sie sich. Aber man muss die Landschaft hinter den Bergen sehen.«131
20. Macht, Ruhm, Charisma und andere Werkzeuge
Macht ist eine Chiffre für eine bestimmte Art von Kommunikation. Wer sich mächtig fühlt, spricht mit anderen, die er für weniger mächtig hält, anders als mit Menschen, der er als gleichrangig (Peers) oder höherrangig ansieht hält. In Kulturen, die strenge kommunikative Rituale haben (Japan und die meisten asiatischen Länder) finden sich strenge Formenkataloge für das jeweilige Verhalten.
Wenn man den Begriff der Kommunikation weit fasst (Luhmann), so gehören fast alle Elemente unseres sozialen Lebens dazu (Anerkennung, Ruhm, Geld, Genuss der Unterordnung anderer, Sexualität, Stil usw.) und sie erstrecken sich über ein Spektrum zwischen Kooperation auf der einen und Gewalt auf der anderen Seite. Das Streben nach Anerkennung und die Sucht nach Ruhm sind dabei die treibenden Kräfte, weit mehr noch als das Geld. Jedes einzelne dieser Elemente kann süchtig machen, so vor allem die Erfahrung, die der Schatten der Macht unvermeidlich vermittelt: Wer mächtig ist, erlebt, dass andere Menschen ihr Verhalten ihm gegenüber ändern und kann kaum vermeiden, dies seinem Charisma zuzuschreiben. Manche durchschauen am Ende die Flüchtigkeit solcher Erfahrungen: »Ich habe alles erreicht – aber genutzt hat es nichts« (Septimius Severus).
Das wichtigste Werkzeug ist die sprachliche Kommunikation, denn alle anderen Werkzeuge werden durch sie geprägt. Dazu gehört etwa die Drohung und unzählige andere Verhaltensmuster, die stets das Ergebnis von Aktion und Reaktion der Beteiligten sind. Welche im Einzelfall gewählt werden, hängt auch vom Verhältnis zwischen Kosten und Nutzen ab. »Erfolg ist was Wunderbares, wenn wir ihn haben können, ohne zu verludern.«132
Das Ziel jeder Kommunikation (vor allem aber der Rhetorik) ist die Überredung und/oder Überzeugung anderer Menschen von den eigenen Perspektiven, unter denen wir die Welt betrachten. Deshalb sind alle kommunikativen Vorgänge selbst den Regeln der Machtverteilung unterworfen, denn wir wollen mit der Kommunikation ja auch verhindern, Perspektiven anderer einnehmen zu müssen, die uns nicht überzeugen. Habermas und andere haben deshalb richtig darauf hingewiesen, dass die Vorgänge der Kommunikation in dieser Hinsicht ständig überprüft werden und möglichst von den daraus entstehenden natürlichen Interessenkonflikten, vor allem aber von Gewalt freigehalten werden müssen. Tatsächlich aber zeigt sich, dass selbst in einer so gedachten idealen Verhandlungsposition eine Verständigung nur möglich ist, wenn beide Seiten ihre jeweiligen Positionen offen auf den Prüfstand zu stellen bereit sind. Jeder muss lernen, zuzuhören und vor allem die Fähigkeit entwickeln, die Dinge aus anderen als den eigenen Perspektiven zu begreifen. Ohne persönliche Sympathie oder mindestens tolerante Hinnahme nicht geteilter Positionen ist das nicht möglich und sie entstehen nur in Langzeitbedingungen (Familie, Ehe, berufliche Zusammenarbeit etc.).
Wir können innerhalb der sozialen Strukturen, die uns umgeben und deren Teil wir sind, unsere eigenen Interessen nur dann verwirklichen, wenn es uns gelingt, die wirklichen Machtverhältnisse zu durchschauen, was aufgrund deren Komplexität immer schwierig ist. Fehler sind unvermeidlich, aber da wir alle Fehler machen, bestimmen sie wie Vektoren den Gesamttrend.
Wer auf den Willen eines anderen einwirken will, muss fähig sein, auf unterschiedlichsten Kommunikationsebenen aufzutreten und vielfältige Techniken zu beherrschen, damit er möglichst viele Menschen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten, etwas zu begreifen, erreichen kann. Solange die Machtdifferenzen noch beeinflussbar sind, hat sich die Strategie, Kooperationsbereitschaft zu zeigen, aber gleichzeitig klarzumachen, dass man sich notfalls auch hart verteidigen kann, als überlegen erwiesen. Diese Haltung spricht auf beiden Seiten die tiefste Ebene des Willens zum Überleben an und ist daher biologisch/psychologischen gut abgesichert. Robert Axelrod hat in Computermodellen die Überlegenheit dieser Strategie nachgewiesen.
Geld, Sex oder andere Machtmittel sind nur Werkzeuge, die aber allein nicht ausreichen, um ein Netzwerk mächtiger Menschen zu stabilisieren – sein Kern besteht aus Ideen, die zusammenpassen und Kommunikation, die den Austausch der Ideen ermöglicht.
Rhetorik ist in politischen Systemen deshalb eine überlegene Fähigkeit, weil die Machtverteilung über rhetorische Demonstrationen vorgenommen wird. Das gelingt aber nur, wenn die wirklichen Machtlinien sich mit den rhetorischen Bemühungen im Wesentlichen decken. Niemand kann die Machtverteilung allein durch Gerede verändern. Die wirklichen Entscheidungen werden nicht am Verhandlungstisch getroffen, sondern in den Hinterzimmern, in denen über die Macht nicht nur gesprochen, sondern in denen sie verteilt wird.
Geld ist fast gleichrangig und wenn es um Gewalt geht, ist militärische Macht immer überlegen. Wer solche Möglichkeiten durch die (oft stillschweigende) Zustimmung anderer für sich ergreift oder sich erkämpft, übernimmt Führung – ob ihm oder den anderen das bewusst ist, oder nicht.
Eines der mächtigsten Werkzeuge der Macht ist die Gewohnheit. Sie ergreift auch (und gerade) individuelle Charaktere, die die Integrität ihres gewohnten Systems verteidigen (die Pünktlichkeit von Kant). Wer Gewohnheiten der Menschen kennt, kann sie leicht beherrschen.
Das einfachste Werkzeug der Macht ist die Gewalt. Die physische Gewalt ist leicht zu erkennen und auf die einfachste Weise durch Gegengewalt zu beantworten. Viel schwerer ist es, psychische Gewalt zu entlarven, denn sie versteckt sich hinter Lüge, Heuchelei und allen möglichen Fassaden, sogar der Zuneigung und der Liebe. Eine Antwort auf sie ist schwer zu finden und beide Formen der Gewalt kann man nicht miteinander gleichsetzen. Und doch gibt es Situationen, in denen ein Satz oder sogar ein Wort eine Gruppendynamik freisetzt, die sogar die physische Gewalt übertreffen kann:
»Geht einmal Euren Phrasen nach, bis zu dem Punkt, wo sie verkörpert werden. Diese Elenden, Ihre Henker und die Guillotine sind Eure lebendig gewordenen Reden«.133
Gegenüber Schwächeren ist Gewalt immer erfolgreich, aber wie die Machtdifferenzen sich tatsächlich darstellen, ist oft nicht leicht zu ermitteln. Gewalt birgt Gefahren für den, der sie bedenkenlos verwendet und wird häufig nur von Menschen eingesetzt, die nicht fähig sind, sich komplexerer Mittel zu bedienen, um ihre Interessen durchzusetzen (»stark aber dumm«). Wenn Gewalt das häufigste Mittel der Durchsetzung ist oder als Drohung jedes andere Machtmittel überschattet (Terror), ist Gegenwehr äußerst schwierig. Dann bleibt nur die Flucht (wenn sie möglich ist), denn die Grenze der Macht ist die Leere. Sie kann nur leben, wenn jemand da ist, der sich ihr unterwirft. Sind aber nur noch Unterworfene da, gerät die Macht ins Rasen. Und dann fällt sie irgendwann in sich zusammen und zerstört sich selbst.
Manche Menschen – gelegentlich auch sehr mächtige – versuchen, die Machtdifferenz zwischen sich und den anderen möglichst nicht erkennbar werden zu lassen (manchmal auch, ohne dabei ein Heuchler zu sein). Da Macht aber unvermeidbar mit Rahmenbedingungen verknüpft ist, die sie erkennbar machen, müssten sie eben diesen Rahmen zerstören (auf Rituale, Insignien, Privilegien etc. wirklich verzichten), um ihre Absicht glaubhaft zu verwirklichen. Wer das aber tut, zerstört mit dem Ritual auch die Macht (ich habe diese Erkenntnis bei meinem eigenen Verhalten in meiner Sozietät schmerzhaft finden müssen). Der Papst kann die Füße der Bettler küssen, aber bevor er nicht selbst Bettler wird, bleibt das Ganze eine symbolische Darstellung.
Die Machtverteilung wird nach dem Gesetz von Leistung und Gegenleistung und dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage kommunikativ ins Gleichgewicht gebracht. Macht kann sich nicht ins Leere hinein entwickeln und sie bricht zusammen, wenn Menschen sich von einem Mächtigen entfernen. Niemand kann Macht ausüben, der nicht einen anderen findet, der ihm zuarbeiten oder sich ihm unterwerfen will und niemand kann einem anderen dieses Angebot machen, der es nicht annehmen und sich damit seinen Leuten verpflichten will.
Im System der Machtverteilung realisieren alle Beteiligten eigene Interessen, auch wenn sie unterschiedliche Positionen und Vorteile davon haben. Domestiken beherrschen ihren Herrn, die Machtverhältnisse wechseln (Hausmeier werden Könige). Niemand respektiert den Willen eines anderen und noch weniger wird er sich ihm beugen, ohne damit eigene Interessen, mindestens Hoffnungen zu verbinden. Das trifft auch auf total ausgebeutete Menschen zu: Wenn sie keine andere Alternative zum Überleben haben, als sich ausbeuten zu lassen, akzeptieren sie die Ausbeutung. Marx‘ Idee, Menschen, die derart geschwächt sind, würden sich gegen ihre Herren erheben, hat sich als falsch erwiesen. Revolutionen sind immer von privilegierten und gebildeten Menschen gemacht worden, die sich dieser Privilegien schämten und die Verhältnisse ändern wollten
Die Regeln der Macht umfassen auch Angebot und Nachfrage auf den wirtschaftlichen Märkten: Sind Güter knapp und teuer, werden die Anbieter hofiert, sind sie vielfach vorhanden, kehren sich die Verhältnisse um. Für Nachfragende gibt es nur einen einzigen Markteintritt – das Geld, die Anbieter hingegen müssen außer dem Risiko der Investition noch viele andere Risiken tragen, die sie nicht immer im Preis zum Ausdruck bringen können.
Rhetorik ist in politischen Systemen deshalb eine überlegene Fähigkeit, weil die Machtverteilung über rhetorische Demonstrationen vorgenommen wird. Das gelingt aber nur, wenn die wirklichen Machtlinien sich mit den rhetorischen Bemühungen im Wesentlichen decken. Niemand kann die Machtverteilung allein durch Gerede verändern. Die wirklichen Entscheidungen werden nicht am Verhandlungstisch getroffen, sondern in den Hinterzimmern, in denen offener über die Macht gesprochen werden kann.
Geld ist fast gleichrangig und wenn es um Gewalt geht, ist militärische Macht immer überlegen. Wer solche Möglichkeiten durch die (oft stillschweigende) Zustimmung anderer für sich ergreift oder sich erkämpft, übernimmt Führung – ob ihm oder den anderen das bewusst ist, oder nicht.
Mit welcher Zielrichtung das geschieht, welche Mittel gewählt werden und wie die Macht gegenüber anderen verteidigt wird, die sie nicht akzeptieren wollen, hängt von den Interessen und anderen Rahmenbedingungen ab, unter denen die Beteiligten denken, entscheiden und handeln können.
Das Ziel jeder Kommunikation (vor allem aber der Rhetorik) ist die Überredung und/oder Überzeugung anderer Menschen von den eigenen Perspektiven, unter denen wir die Welt betrachten. Deshalb sind alle kommunikativen Vorgänge selbst den Regeln der Machtverteilung unterworfen, denn wir wollen mit der Kommunikation ja auch verhindern, Perspektiven anderer einnehmen zu müssen, die uns nicht überzeugen. Habermas und andere haben deshalb richtig darauf hingewiesen, dass die Vorgänge der Kommunikation in dieser Hinsicht ständig überprüft werden und möglichst von den daraus entstehenden natürlichen Interessenkonflikten, vor allem aber von Gewalt freigehalten werden müssen. Tatsächlich aber zeigt sich, dass selbst in einer so gedachten idealen Verhandlungsposition eine Verständigung nur möglich ist, wenn beide Seiten ihre jeweiligen Positionen offen auf den Prüfstand zu stellen bereit sind. Jeder muss lernen, zuzuhören und vor allem die Fähigkeit entwickeln, die Dinge aus anderen als den eigenen Perspektiven zu begreifen. Ohne persönliche Sympathie oder mindestens tolerante Hinnahme nicht geteilter Positionen ist das nicht möglich und sie entstehen nur in Langzeitbedingungen (Familie, Ehe, berufliche Zusammenarbeit etc.).
Jede menschliche Beziehung (auch die private, die sexuelle, die familiäre usw.) wird von Machtverhältnissen strukturiert, da es keine Möglichkeit gibt, die Machtdifferenzen zwischen einzelnen Menschen einzuebnen. Sie beruhen auf unterschiedlichen genetischen Voraussetzungen (körperliche Schönheit, Intelligenz, Anziehungskraft, andere Begabungen), politischen und kulturellen Rahmenbedingungen und nicht zuletzt dem individuellen Verhältnis, das jeder zu der Frage entwickelt, ob führen will (kann) oder nicht.
Jeder Mensch verteidigt seine Identität, aber er kann sie oft dadurch verstärken, dass er den Entscheidungen und Handlungen eines anderen Menschen Vorrang gegenüber den eigenen gibt, um so auch die eigenen Chancen zu erhöhen, darunter vor allem die Möglichkeit, selbst Macht gegenüber anderen auszuüben:
»Jeder Akt der Macht ist zweischneidig; jede Erniedrigung steigert die Lust dessen, der sich überhebt, und steckt andere an, die sich ebenso gern überheben möchten.«
(Elias Canetti, Provinz des Menschen, Mai 1945)
Das sind oft genug keine bewussten Vorgänge, sie sind vielmehr biologisch/psychologisch tief in uns verwurzelt, wie die Gruppenstrukturen vor allem bei Primaten zeigen134. Sie beginnen bereits in den familiären Ensembles. Häufig ist die Anerkennung vorhandener Macht eine Vorleistung in der Hoffnung, an der Macht anderer teilnehmen zu können. Sie wird nur selten so erwidert, wie die Leute sich das vorstellen (die Hoffnung stirbt zuletzt).
Zwischen denen, die Macht besitzen und allen anderen, die sich ihrem Willen beugen, besteht ein Verhältnis der Gegenseitigkeit. Wer sich der Macht beugt, will an ihr teilhaben:
»Die herrschten wollten in die Köpfe derer, die beherrscht wurden – die beherrscht wurden, wollten das, was in ihre Köpfe wollte, aus ihren Köpfen heraushalten; dadurch begannen auch sie zu herrschen, auf die dubiose, unerklärliche Weise, die den Gejagten Züge der Jäger verleiht. Insofern ist Macht eine Geisteswissenschaft.«135
Diese Teilhabe ist der Beginn der Konkurrenz zu dem Mächtigen. Je näher man ihm kommt, umso leichter wird man seine Schwächen entdecken und für sich selbst Chancen sehen, die Macht zu übernehmen. Selbst der Gefolterte oder Ermordete zwingt den Täter zu der Einsicht, dass er ihn nicht mühelos überwinden konnte. Noch weniger kann der Täter die Wirkung seiner Tat auch nur annähernd einschätzen. In bestimmten Situationen ist eine einzige politische Untat der Flügelschlag des Schmetterlings, der Systeme zum Einsturz bringt.
Das gilt vor allem für jene, die ein Mächtiger im Weg der Delegation einzelner Teile seiner Macht zu seinen Stellvertretern erklärt hat. Der Wirkungskreis der Macht ist nicht beliebig vergrößerbar: »Der Himmel ist hoch und der Zar ist weit« (russisches Sprichwort). Wer mehr als seine unmittelbare Umgebung beherrschen will, muss Menschen finden, denen er einen Teil seiner Macht anvertrauen kann, ohne sie damit mehr als nötig zu gefährden. Dieses Vertrauen entsteht aber nur auf der Ebene der Reziprozität auf beiden Seiten: Wer ein Teil der Macht werden will, muss Solidarität zeigen, wer Solidarität erhalten will, muss die Leistung mit einer Gegenleistung für geltend.
Wer nicht führen kann oder will übernimmt die ihm zugewiesenen oder von ihm akzeptierten Aufgaben und erwartet entsprechende Gegenleistungen – ein für beide Seiten nützliches Verhältnis. Das Prinzip von Leistung und Gegenleistung, eines der Grundelemente der Moral, entsteht auf diese Weise und so kommt es, dass die Regeln der Macht unser soziales Verhältnis in jeder Hinsicht bestimmen.
Abhängig von den jeweiligen Rahmenbedingungen kann es beiden Seiten nützlich sein, Macht auszuüben oder sich zu unterwerfen, so vor allem, um einen gemeinsam angestrebten Erfolg zu sichern, der etwa beim Zusammenschluss von Gruppen und ihrer Abgrenzung zu anderen Einzelnen oder Gruppen durch Bildung von Ordnungen, Hierarchien und innerer Geschlossenheit notwendig ist. Diese Aufgabe ist nicht einfach. Natürlich wird jede Institution nach außen hin erkennbar von Menschen geführt, denen die dazu nötigen Kompetenzen übertragen worden sind. Ob hinter diesen Kompetenzen aber tiefer gestaffelt ganz andere Kompetenzen liegen, die von anderen Menschen gehalten werden, die wir nicht sehen, ist allzu oft zu beobachten.
Viele Menschen und Institutionen versuchen Art und Umfang der Macht, über die sie verfügen, vor anderen über Treuhandverhältnisse oder andere komplexe Konstruktionen zu verstecken. Es mag sein, dass sich hinter den Fassaden der Macht das Nichts verbirgt (die potemkinschen Dörfer), aber es kann auch sein, dass die Fassade nur einen Bruchteil der Machtzusammenballung zu verdecken versucht, die sich in ihrem Untergrund befinden. Wer selbst an den Spielen der Macht teilnimmt, muss diese wichtige Regel kennen.
Mit welcher Zielrichtung das geschieht, welche Mittel gewählt werden und wie die Macht gegenüber anderen verteidigt wird, die sie nicht akzeptieren wollen, hängt von den Interessen und anderen Rahmenbedingungen ab, unter denen die Beteiligten denken, entscheiden und handeln können. Sie gehen dabei ganz selbstverständlich davon aus, dass Ihre Planungen, ihre Einsichten in den Zusammenhang von Ursache und Wirkung, ihre Versuche, die Ideen wirklich werden zu lassen, Erfolg haben werden, auch wenn sie Widerstände, das Wirken des Zufalls und zahllose andere Hindernisse nicht übersehen. Ohne dieses Selbstvertrauen könnten wir nicht leben.
»Und doch erkennen wir, dass wir »viel Macht in den Verhältnissen, aber kaum Macht über sie gewinnen (können)«136. So erklärt es sich, dass alle großen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Systeme, die wir kennen auf dem Gipfelpunkt ihrer Macht unerbittlich den Weg nach unten antreten müssen, weil sie sich entweder in ihren Expansionsbedürfnissen überschätzen oder an ihrer inneren Versteinerung zugrunde gehen (zuletzt: Der Ostblock). In jedem dieser Systeme finden sich Einzelne, die solche Entwicklungen frühzeitig sehen, viele wüssten auch Abhilfe, aber sie erhalten keine Macht, die den Untergang des Systems aufhalten könnte. Der Klimawandel könnte eine dieser großen Veränderungen sein, auf die wir nicht mehr sachgerecht reagieren können, obwohl wir alles wissen haben, dass dazu nötig wäre.
So erklärt sich der Erfolg moderner Diktatoren und Tyrannen (Putin, Erdogan, Orban, Chavez und zahlloser anderer): Sie beseitigen nicht wie frühere Revolutionen die Fassaden anderer Regierungsformen, sondern benutzen sie, um ihre Alleinstellung zu festigen. Das gelingt mit dem Versprechen, Missstände abzuschaffen, die in anderen Regierungsformen offen zutage liegen, aber von niemandem beseitigt werden. Sie räumen den Müll weg, was jeder sieht, aber die Verwüstungen, die sie dabei politisch und kulturell anrichten, sind nicht so offensichtlich. Also lässt man sie gewähren, bis ihr System aus den oben geschilderten Gründen zusammenbricht.
Man hätte sich früher niemals vorstellen können, dass eine solche Entwicklung auch in den USA möglich wäre. Aber Donald Trump hat gezeigt, dass es auch dort geht. Ihm ist nicht allein schlechte Regierung vorzuwerfen, denn diesen Vorwürfen kann man jederzeit das Argument entgegenhalten, seine politischen Gegner verstünden (bis heute) nicht, was die Menschen der Regierung sagen wollen, die nicht die Demokraten wählen oder die Wahl verweigern. Seine unverzeihliche politische Sünde besteht darin, das Ergebnis einer Wahl nicht anzuerkennen, obwohl Gerichte sie für rechtmäßig erklärt haben. Nur ein gütiges Schicksal hat vorerst verhindert, dass er eine zweite Amtszeit bekam. Ob diese Selbstheilungskräfte in den USA immer funktionieren werden? In anderen Gesellschaften sind sie offenbar erloschen und werden erst wieder aufleben, wenn die Diktaturen sich selbst überlebt haben.
21. Widersprüchliche Regeln der Macht
Robert Greene137 hat eine Vielzahl historischer Berichte, Meinungen, Literaturstellen und Kommentare zusammengestellt und in 48 Regeln zusammengefasst, die eine Leitlinie für jeden darstellen sollen, der sie anstrebt oder ihr ausweichen muss. Ich gebe sie hier vollständig wieder, weil jede von ihnen eine richtige Überlegung enthält, ich auf diese Weise aber gleichzeitig zeigen kann, dass es unmöglich ist, daraus irgendein brauchbares Regelwerk zu konstruieren. Das hat folgenden Grund:
Das Phänomen der Macht durchzieht jede Faser unseres Lebens in jeder Situation, in der wir uns befinden, sobald nur irgendein anderer Mensch für unser Verhalten irgendeine Rolle spielt (und wenn wir nur an ihn denken!). Als Robinson Crusoe allein auf seiner Insel war, hoffte er inständig, es könnten andere Menschen kommen, um ihn aus seiner Isolation zu erlösen. Aber als Freitag ankam, sah er sich vor den gleichen Problemen wie mitten in London: auch die einfachste Frage, wie etwa, wer das Feuer holen, wer jagen oder wer Musik machen soll, erfordert eine Abstimmung, bildet Hierarchien, führt zu Kommunikationsproblemen und öffnet damit die Büchse der Pandora aller Chancen und Risiken, die wir im Umgang miteinander haben.
Hier sind nun die 48 Gesetze der Macht:
1. Stelle nie den Meister in den Schatten.
2. Vertraue deinen Freunden nie zu sehr – bediene dich deiner Feinde.
3. Halte deine Absichten stets geheim.
4. Sage immer weniger als nötig.
5. Ohne einen guten Ruf geht nichts – schütze ihn mit allen Mitteln.
6. Mache um jeden Preis auf dich aufmerksam.
7. Lass andere für dich arbeiten, doch streiche immer die Anerkennung dafür ein.
8. Lass die anderen zu dir kommen – ködere sie, wenn es nötig ist.
9. Taten zählen, nicht Argumente.
10. Ansteckungsgefahr: meide Unglückliche und Glücklose.
11. Mache Menschen von dir abhängig.
12. Entwaffne dein Opfer mit gezielter Ehrlichkeit und Großzügigkeit.
13. Brauchst du Hilfe, appellierte an den Eigennutz.
14. Gib dich wie ein Freund, aber handle wie ein Spion.
15. Vernichte deine Feinde vollständig.
16. Glänze durch Abwesenheit, um Respekt und Ansehen zu erhöhen.
17. Versetze andere in ständige Angst: kultivierte die Aura der Unberechenbarkeit.
18. Baue zu deinem Schutz keine Festung – Isolation ist gefährlich.
19. Mach dir klar, mit wem du es zu tun hast: kränke nicht die Falschen.
20. Scheue Bindungen, wo immer es geht.
21. Spiele den Deppen, um Deppen zu überlisten: gibt dich dümmer als dein Opfer.
22. Ergebe dich zum Schein: verwandelte Schwäche in Stärke.
23. Konzentriere deine Kräfte.
24. Spiele den perfekten Höfling.
25. Er schaffe dich neu.
26. Mache dir nicht die Finger schmutzig.
27. Befriedige das menschliche Bedürfnis an etwas zu glauben, und förderere einen Kult um deine Person.
28. Packe Aufgaben mutig an.
29. Plane alles bis zum Ende.
30. Alles muss ganz leicht aussehen.
31. Lass andere mit den Karten spielen, die du austeilst.
32. Spiele mit den Träumen der Menschen.
33. Für jeden gibt es die passende Daumenschraube.
34. Handle wie ein König, um wie ein König behandelt zu werden.
35. Meistere die Kunst des Timings.
36. Vergiss, was Du nicht haben kannst: es zu ignorieren ist die beste Rache.
37. Inszeniere packende Schauspiele.
38. Denke, was du willst, aber verhalte dich wie die anderen.
39. Schlage Wellen, um Fische zu fangen.
40. Verschmähe das Gratisangebot.
41. Trete nicht in die Fußstapfen eines großen Mannes.
42. Erschlage den Hirten und die Schafe zerstreuen sich.
43. Arbeite mit Herz und Geist der anderen.
44. Halte den anderen den Spiegel vor.
45. Predige notwendigen Wandel, aber ändere nie zu viel auf einmal.
46. Sei nie zu perfekt.
47. Schieße nie über das Ziel hinaus: der Sieg ist der Zeitpunkt zum Aufhören.
48. Strebe nach Formlosigkeit.
Wahrscheinlich ließe sich diese Liste in alle Ewigkeit fortsetzen, weil es immer wieder andere Begriffe, Metaphern und Sätze gibt, in denen sich die Macht beschreiben und irgendein Verhalten empfehlen lässt.
Unter diesen Regeln gibt es die eine oder andere, die fast unter allen Umständen richtig ist.
Dazu zähle ich zum Beispiel den Rat (Regel 3), über seine Pläne weniger zu sagen, als man gerne sagen möchte, denn unsere Neigung zur Selbstdarstellung schadet uns in den meisten Fällen. Nur wenn man den Hirten erschlägt, zerstreuen sich die Schafe (Regel 42): die Richtigkeit dieses Satzes kann man an allen großen Diktatoren unserer Zeit nachvollziehen, deren Macht erst mit ihrem Tod zu Ende war. Auch habe ich gelernt, dass jeder, der liebenswürdig und bereitwillig auf einen anderen zugeht, deshalb für schwächer gehalten wird – aber gerade diese Wirkung will man ja oft erzielen (Regel 12)! Das gelingt aber nicht, wenn man einerseits andere in »ständige Angst versetzt« (Regel 17) und sie gleichzeitig »mit gezielter Ehrlichkeit und Großzügigkeit« überhäuft (Regel 12).
Man kann also durchaus lernen, in Standardsituationen richtig auf Machtansprüche zu reagieren, sie abzuwehren, oder selbst welche zu stellen. Da man aber immer wieder aus unterschiedlicher Perspektive auf solche Situationen schaut, können Widersprüche nicht ausbleiben:
Man kann nicht einen Plan machen und gleichzeitig dessen Formlosigkeit anstreben (Regeln 29 und 48), man kann nicht packende Schauspiele inszenieren und sich gleichzeitig verhalten wie jeder andere (Regeln 37 und 38), man kann nicht gleichzeitig seine Pläne geheim halten und seine Taten sprechen lassen (Regeln 3 und 9), ich kenne auch niemanden, der jemand seine Feinde vollständig vernichtet (Regel 15) und dabei durch Abwesenheit geglänzt hätte (Regel 16) und so weiter. Der Grund für diese Widersprüche ist nicht schwer auszumachen, wie die asiatischen Denker längst herausgefunden haben: jeder Gegenstand und jede Idee sind stets wie auf den zwei Seiten einer Münze eng miteinander verknüpft. Sie stehen einander anachronistisch gegenüber, sind aber mit Ketten aneinandergefesselt. Es nützt nichts, immer nur eine Seite zu beschreiben, ohne sagen zu können, wie sie mit anderen Teilaspekten zusammenhängt und je nachdem, wie diese auf ihn einwirken, selbst verändert werden muss. Die meisten dieser Versuche ersticken in der Komplexität, die sie selbst entwickeln. Letztlich bleiben Greenes Überlegungen reine Gedankenspiele, weil er sich mit dem Problem der Komplexität von Systemen nicht beschäftigt hat, das ich oben skizziert habe.
Den Kern der Macht kann man mit solchen Regeln nicht treffen, denn er besteht gerade aus der Regellosigkeit, also aus der Möglichkeit, sich willkürlich gegen jeden durchzusetzen, der sich dieser Willkür nicht beugen will.
Wir sind alle schon in solchen Situationen gewesen und mussten erkennen:
- In der Macht zeigt sich am klarsten der Gegensatz zwischen Natur und Kultur, zwischen den unerschöpflichen und amoralischen Energien des Lebens, die ständig miteinander im Widerstreit liegen und den (kulturellen, ethischen, religiösen usw.) Grenzen, die wir uns so lange setzen, als wir dazu im Stande sind. Oft genug verlieren wir diesen Kampf.
- Die Macht hat in allen Formen, die sie annimmt, die Tendenz, sich willkürlich zu verhalten und unbegrenzt auszudehnen,
- Die Macht wird nicht vom Denken, sondern vom Fühlen angetrieben, auch wenn der Verstand im Einzelfall Werkzeuge und Strategien liefert, die auch den Sinn haben, diese Zusammenhänge zu verdecken.
- 1. Karl Heinz Bohrer, Lobhudeleien der Gleichheit, FAZ 21.10.2009.
- 2. Vladimir Ilyitsch Lenin zugeschrieben.
- 3. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Kapitel 1, § 16.
- 4. Plato Staat, 546 a (8. Buch); ders: 8. Brief 354; Aristoteles Politik 1252 b (1. Buch, Kap. 2); ders.: Politik 1288 b (4. Buch, Kap. 1).
- 5. Frans de Waal, Der Unterschied, Klett-Cotta 2022, Kap. 9.
- 6. »Durch mich regieren die Könige« (Buch der Sprichwörter 8,15).
- 7. Carl Schmitt: Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber (1954), Klett Cotta 2008, Seite 9.Dort wird aber nur politische Macht betrachtet.
- 8. Frans de Waal, Der Unterschied, Klett-Cotta 2022, Kap. 9, S. 270.
- 9. Hugo von Hofmannsthal: Der Prophet, (Skizze der Begegnung mit Stefan George 1891).
- 10. Wie etwa Ludwig XVI, der, wie Camille Desmoulins berichtet, bei Gelegenheit sagte: »Was macht es schon, wenn meine Autorität leidet, wenn nur mein Volk glücklich ist.« cit.n. Vincent Cronin: Ludwig XVI und Maria Antonia Net List 2005 Seite 361.
Volker Gerhardt: Vom Willen zur Macht, de Gruyter 1996, S. 2. - 11. Monika Maron, Stille Zeile Sechs, Fischer 1991, S. 135f.
- 12. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, S. 28.
- 13. John Maynard Keynes, Freund und Feind, Zwei Erinnerungen, Berenberg 2005, 2. Auflage, S. 18.
- 14. Rainald Goetz, Klage, Suhrkamp 2008, S. 153 ff.
- 15. Michel Foucault: Subjekt und Macht (1982), in: Analytik der Macht. Frankfurt am Main, 2005, S. 240-263 (S. 256).
- 16. Über den Begriff der Chance bei Max Weber: Kari Palonen Max Webers Begriffspolitik Aufsätze aus zwei Jahrzehnten, Nr. 2019 besonders S. 165.
- 17. Masse und Macht, Rowohlt 1960, S. 323.
- 18. Was ist Macht, Reclam 2005, S. 37.
- 19. Phänomene der Macht, Mohr Siebeck, 2. Auflage 1992.
- 20. Jacob Burckhardt: Weltgeschichtliche Betrachtungen, Gesamtausgabe 7,19 129,25.
- 21. Suhrkamp 1994; Axel Honneth, Kritik der Macht Suhrkamp 1989.
- 22. Niklas Luhmann, Macht, 3. Auflage, Lucius + Lucius Stuttgart, 2003, Seite 2.
- 23. Niklas Luhmann, Macht, a. a. O., 2003, Seite 3.
- 24. Reinhard Koselleck: Begriffsgeschichten, Suhrkamp 2006, Teil I; Jürgen Trabant : Mithridates im Paradies – Kleine Geschichte des Sprachdenkens, C.H.Beck 2003, S. 210 ff.
- 25. Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, Werkausgabe Bd 1, Suhrkamp 2006, S. 237.
- 26. Bauplan für eine Seele, Rowohlt 2001, S. 301 ff.
- 27. Dietrich Dörner im Gespräch mit Josha Bach, Researchgate Januar 2008.
- 28. Hermann Rauschning, Gespräche mit Hitler, Europa Verlag 1940, S.5. Die dort wiedergegebenen Gespräche mit Hitler beruhen nicht (wie er nahelegte) auf unter vier Augen geführten Interviews, sondern auf einer Analyse seiner Reden und Schriften und der Teilnahme an Gesprächen mit mehreren Teilnehmern.
- 29. Zhuāngzǐ – 莊 子 - Kapitel 25.
- 30. Also sprach Zarathustra, Zweiter Teil, Von der Selbst-Ueberwindung, Kritische Studienausgabe, Bd. 4 S. 146.
- 31. Petra Morsbach: Pygmalion oder Die letzten Dinge, Besprechung der Romane von Martin Walser (Ein liebender Mann) und Philip Roth (Exit Ghost), Erstdruck Lebendige Seelsorge, 1/2009.
- 32. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft § 1 Nr. 7 (S. 4).
- 33. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft § 3 Nr. 4 (S. 14); http://www.zeno.org/Soziologie/M/Weber,+Max/Grundri%C3%9F+der+Soziologie...
- 34. Bei den alten Khmer (9.-15. Jahrhundert) trugen alle Herscher das an den Namen angehängten Suffix – varman (Schutz) – Jayavarman , Udayadityavarman, Suryavarman usw.
- 35. Carl von Clausewitz: Vom Kriege, in: Kriegstheorie und Kriegsgeschichte, Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 177 ff.
- 36. Helmuth von Moltke: Über Strategie, in: Kriegstheorie und Kriegsgeschichte, Deutscher Klassiker Verlag 1993, S. 431 ff.
- 37. Kant VIII,368 – Zum ewigen Frieden.
- 38. Ernst Kantorowicz, Friedrich II, Schlußkapitel.
- 39. Ernst Kantorowicz: Die 2 Körper des Königs (1927).
- 40. Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors: Konzentrationslager, Fischer 1997.
- 41. Albrecht Haushofer: Sulla, Berlin 1938 Seite 86.
- 42. Also sprach Zarathustra II. Von der Selbstüberwindung (KGW Collio,Montanari), Berlin New York VI 1, Seite 143.
- 43. Kritik… Ist der Kopf der Leidenschaft. Sie ist kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will.« (Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie in: Die Frühschriften, Kröner 1971 S. 210.
- 44. Carl Schmitt hat in seiner Schrift »Der Begriff des Politischen« ((1932) Nachdruck Duncker & Humblodt 5. Aufl. 2002, S. 26 ff.) diese Unterschiede für die allein maßgebenden erklärt. Auch wenn man dem nicht folgen will, bilden sie doch allein deshalb den Kern des Politischen, weil sie in uns biologisch abgesichert sind(siehe Exkurs zu den biologischen Wurzeln des Rechts).
- 45. Zufall ist die unvorhersehbare Überschneidung mehrerer Ereignisse, die ihrerseits durch (möglicherweise) erkennbare Ursachenketten ausgelöst werden – typisches Beispiel: Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges.
- 46. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Zweiter Teil, Von der Selbst-Überwindung, Kritische Studienausgabe, Bd. 4 S. 147 ff.
- 47. Muriel Barbery: Die letzte Delikatesse, Edition Epoca, 2001, S. 9.
- 48. Egon Friedell, Lesebuch, S. 118.
- 49. Hans Kudszus, Das Denken bei sich, Büchergilde Gutenberg, S. 41.
- 50. Roberto Scarpinato: Die Mafia und die Angst, LETTRE International Frühjahr 2016, Seite 17 (26).
- 51. Uwe Tellkamp: Die Schwebebahn, Insel 2010, Seite 7.
- 52. Orientalisches Sprichwort.
- 53. Rede anlässlich der Verleihung des Büchner-Preises 1959 in: Büchner-Preis-Reden 1951-1971, Stuttgart 1972,73-87 (80).
- 54. Thaler, Sunstein: Nudge, Econ 2009.
- 55. Kahneman, Sibony, Sunstein: Noise, Siedler 2021.
- 56. Als Alexander Persepolis eroberte, fühlte er sich veranlasst, die persische Sitte einzuführen, sich von seinen Untergebenen die Füße küssen zu lassen. Seine Offiziere waren entsetzt über diese Show der Unterwerfung und verweigerten sich dieser Forderung. Sie hat sich in Europa noch viele Jahrhunderte lang zuletzt im Umkreis der katholischen Kirche gegenüber dem Papst erhalten. Bis heute gilt die Berührung der Füße in Indien und vielen asiatischen Ländern als das äußerste Zeichen der Verehrung.
- 57. In Frankreich folgten auf die Revolution 1789 noch drei Monarchien. In Russland folgte Stalin auf die Revolution, dann gab es Tauwetter, die Perestroika und nun wieder einen Monarchen (Putin).
- 58. Milovan Djilas: Gespräche mit Stalin, Fischer 1982, S. 170.
- 59. Blaise Pascal, Gedanken, Fragment 298.
- 60. Jacob Burckhardt Weltgeschichtliche Betrachtungen, Gesamtausgabe 7,19 129,25.
- 61. Machiavellis gewaltige Erkenntnisleistung besteht darin, diese Zusammenhänge aufzudecken, ohne sie sofort moralisch zu bewerten und damit zu entwerten.
- 62. Johan Goudsblom, Soziologe (1932-2020), Amsterdam.
- 63. Thukydides: Der Peloponesische Krieg, Buch V, 89, 105 (Melier-Dialog).
- 64. Benno Heussen: Die Urgrammatik des Rechts.
- 65. Grievances of the United States Declaration of Independence – Wikipedia
- 66. Harvard-Professorin Bohnet redet über die Wut gegen Woke und schweigt zur CS
- 67. John Emerich Edward Dalberg-Acton, (Lord Acton (1834-1902)).
- 68. William Wordsworth (The Prelude, Buch 14).
- 69. Anatole France, La revolte des anges.
- 70. Werbung von Adidas bei der Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar.
- 71. Svetlana Allilujewa: 20 Briefe an einen Freund, Fischer 1969, S. 244: Stalins Tochter sieht charakterliche Zusammenhänge zwischen Stalin und seiner Mutter, die jedem absurd vorkommen müssen, der Stalins Handlungen als Politiker kennt: Ein Mann, der ein strenges und schweres, ehrliches und würdiges Leben gelebt hat? Aber wenn man die Memoiren von Hitlers Privatsekretärin liest, zeichnet sie vergleichbare Bilder.
- 72. Robert Sapolsky, Gewalt und Mitgefühl.
- 73. Von Adolf Hitler wie von Joseph Stalin, aber auch von weniger problematischen Politikern wie Helmut Kohl, Richard Nixon und anderen wird berichtet, dass sie sich im Bruchteil von Sekunden über Menschen, die in ihre Nähe kamen, ein zutreffendes Urteil bilden konnten. Andere (z. B. Ludwig Erhard) hatten diese Fähigkeit nicht.
- 74. Heike Behrend, Menschwerdung eines Affen, Matthes und Seitz, Berlin 2020, S. 115.
- 75. Rede im Kenyon College 2005 (zitiert nach der WELT vom 3.1.2009).
- 76. Frans de Waal, Der Unterschied, Klett-Cotta, 2022, S. 260 ff.
- 77. Kari Palonen: Macht als Chance – zur Geschichte von Max Webers politischer Innovation in: Max Webers Begriffspolitik Nomos 2019, Seite 159.
- 78. Maximen und Reflexionen (Literatur und Leben) Nr. 620.
- 79. Zitiert bei Vincent Cronin: Ludwig XVI und Antoinette, List 2005, Seite 361.
- 80. Wie Wolfgang Fikentscher gezeigt hat, ist die Demokratie viermal unabhängig voneinander entwickelt worden: Zunächst in Athen (ca. 500 v.Chr.), dann bei den ripuarischen Franken (ca. 600 nach Christus), dann bei den Pueblo Indianern (um 1300) und zuletzt in den USA (1789).
- 81. Kurt Heller: Venedig.
- 82. Also sprach Zarathustra, Teil II.,370, von der Selbstüberwindung.
- 83. Epikur, Hauptlehrsätze 6,7.
- 84. Fratelli Napoli, Puppenspieler Catania, Interview, arte 2021.
- 85. Guiseppe Tommaso di Lampedusa, Der Leopard, Piper 2007.
- 86. https://de.wikipedia.org/wiki/Thematischer_Auffassungstest ;
https://www.imageberater-nrw.de/ib-kompetenzbereiche/psychologie/hinterg... - 87. Norbert Bischof, Moral S. 322.
- 88. Schopenhauer, Kritik der Kantischen Philosophie, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, Anhang, Seite 691 (SC).
- 89. Stephan Wackwitz beschreibt das in seinen Erinnerungen Geheimnis der Rückkehr, S. 176 ff. am Beispiel Polens.
- 90. Han Fei, Buch des Meisters Han, Kap. 14.
- 91. Shang Yang, Shangjun shu, übers. Kai Vogelsang »Schriften des Fürsten von Shang (2017), Kap. 23.1.
- 92. Bildung, Krieg, öffentliche Arbeiten, Personal und Justiz.
- 93. Der Begriff stammt von dem Sinologen Kai Vogelsang »Schriften des Fürsten von Shang (2017).
- 94. Shang Yang, Shangjun shu, übers. Kai Vogelsang »Schriften des Fürsten von Shang (2017), Kap. 23.5.
- 95. Shang Yang, Shangjun shu, übers. Kai Vogelsang »Schriften des Fürsten von Shang (2017), Kap. 26.2.
- 96. Wolfgang Hilbig: Gewebe in: Gedichte, S. Fischer 2008, S. 264.
- 97. George Sand. Marx zitiert ihren Satz am Ende des Aufsatzes über das Elend der Philosophie, Frühschriften, Kröner 1971, S. 524.
- 98. Harry Graf Kessler Tagebuch vom 14.05.1898, Tagebücher Bd. III, Cotta 2004, Seite 144.
- 99. Niko Kazantzakis: Rechenschaft vor El Greco, Bd. 2, Herr big 1967 S. 79 ff.
- 100. Yoshida, Tsurezuregusa (1350), Müller und Kiepenheuer 1948, S. 35.
- 101. Produktlebenszyklus – Wikipedia
- 102. Ai-Weiwei: Interview mit Yang Lian, Lettre International, 121, Seite 53.
- 103. Lenin: 21. November 1920, Werke, Band 31, 414.
- 104. Drei Beispiele: Das kirchliche Verdikt der Theorien des Kopernikus und anderer hat die Naturwissenschaften jahrhundertelang gelähmt. Ohne die Einführung der Kartoffeln in Preußen durch Befehl Friedrichs II., hätten die Einwohner sich nur sehr schwer anders ernähren können. Hätte man aber in Irland den Kartoffelanbau nicht als Monopol betrieben (was die Engländer erzwungen haben), wäre es nie zu den Hungersnöten gekommen, die die Iren ins Exil getrieben haben.
- 105. Karl Marx, 8. Feuerbachthese, Frühschriften Kröner 1971, S. 541.
- 106. Hans Kudszus, Das Denken bei sich, Büchergilde Gutenberg, 2003, S. 47, 49.
- 107. Clinton Eastwood hat in zwei großen Film gezeigt, wie es wirklich war.
- 108. Bruno le Maire: Zeiten der Macht, Rowohlt 2014, S. 151 ff.
- 109. Alfred North Whitehead cit.n. Douglas Coupland, Marshall McLuhan, Seite 127.
- 110. Harald Meller, Kai Michel, Carel van Schaik: Die Evolution der Gewalt. Warum wir Frieden wollen, aber Kriege führen. Eine Menschheitsgeschichte. DTV-Verlag, München 2024.
- 111. Michel de Montaigne, Essais, Eichborn, 3. Buch Kap 9, S. 487, 488.
- 112. Emmanuel Carrère, Yoga, S. 277 ff.
- 113. The Prelude.
- 114. Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber (1954), Klett Cotta 2008.
- 115. Carl Schmitt: Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber (1954), Klett Cotta 1908, Seite 25 – dort aber im Wesentlichen nur zum Verhältnis zwischen Menschen »im Vorraum der Macht«. Diese Dialektik trägt aber jeden, der in irgendeine Machtstruktur eingebunden ist.
- 116. Carl Schmitt: Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber (1954) Klett Cotta 2008.
- 117. »Manchmal zog er plötzlich über seine Kommandanten und Generale der Wache her… und schimpfte: ›Schmarotzer, ihr fresst Euch hier an; ich weiß, wie viel Geld bei Euch durch die Finger rinnt – wie durch ein Sieb.‹ Doch in Wirklichkeit wusste er es nicht. Er ahnte nur instinktiv, dass riesige Mittel verschleudert worden … Er versuchte auch irgendwie eine Revision in seiner Wirtschaft durchzuführen, doch es kam nichts dabei heraus. Man legte ihm irgendwelche frei erfundenen Zahlen vor, er geriet in Wut, aber genaues zu erfahren war er doch nicht imstande. Trotz seiner Allmächtigkeit war er doch machtlos, hilflos gegenüber diesem entsetzlichen System, das rings um ihn Zelle für Zelle aufgewachsen war wie eine gigantische Wabe. Er war außerstande, dieses System zu durchbrechen, zu zerschlagen oder auch nur unter seine Kontrolle zu bringen.« Svetlana Allilujewa: 20 Briefe an einen Freund – über die Probleme ihres Vaters Joseph Stalin, Fischer 1969 S. 250.
- 118. Catherine Belton: Putins Netz. Wie sich der KGB Russland zurückholte und dann den Westen ins Auge fasste. HarperCollins 2022.
- 119. Kahneman, Sibony, Sunstein: Noise, Siedler 2021, Seite 409 ff.
- 120. Kahneman, Siedler 2011.
- 121. http://www.zeno.org/Philosophie/M/Nietzsche,+Friedrich/Aus+dem+Nachla%C3...
- 122. Edmond und Jules de Goncourt, Tagebücher 1.2.1865, Insel 1983, S. 302
- 123. David Hume, Essays Moral, Political and Literaly (1741-2;1748), Essay 2 Of the liberty of the press (Übersetzung durch den Autor).
- 124. Robert Sapolsky, Gewalt und Mitgefühl, Hanser 2000.
- 125. Vers 42.
- 126. Arbogast Schmitt: Die Moderne und Plato, wissenschaftliche Buchgesellschaft 2003 Seite 420.
- 127. Robert Sapolsky: Gewalt und Mitgefühl.
- 128. Man hat den Deutschen die politische Verantwortung für alles zugewiesen, was in der Zeit zwischen 1933 und 1945 geschehen ist. Tatsächlich sind die politischen Entscheidungen damals nur bis 1938 in öffentlichen Reden ausgebreitet und ist um Zustimmung nachgesucht worden. Schon die Entscheidung zum Zweiten Weltkrieg, vor allem aber die zahllosen Massenmorde in seinem Gefolge sind nicht öffentlich vorgestellt oder gar diskutiert worden.
- 129. Jüngstes Beispiel: Wladimir Putin am 24.02.2022.
- 130. Plato: Der siebte Brief, 325 D SIEBENTER BRIEF (opera-platonis.de).
- 131. Patrick Devedijan zu Yasmina Reza: Frühmorgens, abends oder nachts, Hanser 2008, S. 185 ff.
- 132. Charles Bukowski: Brief an seinen Verleger E.V.Griffith vom 3. Oktober 1959.
- 133. Georg Büchner: Danton, Monolog des Mercier, 3. Akt, 3. Szene.
- 134. Frans de Waal: Der Mensch, der Bonobo und die zehn Gebote, Klett Cotta 2015.
- 135. Uwe Tellkamp: Die Schwebebahn Insel 2010 S. 7.
- 136. Christian Meier Abschiedsvorlesung vom 19. Juli 2012 in: Der Historiker und der Zeitgenosse, Siedler 2014, Seite 19.
- 137. Power – Die 48 Gesetze der Macht, New York 1998, Carl Hanser 1999/2024.
