Krieg oder Frieden? – Russlands Angriff auf die Ukraine

*»Life ... is a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing.«1

1. Krieg, Sonderoperation oder Bürgerkrieg?

Zwischen November 2013 und Februar 2014 entflammten in Kiew zahllose – teilweise gewalttätige – Demonstrationen gegen den Beschluss der damaligen Regierung Asarow und des Präsidenten Janukowytsch, sich nicht mit der Europäischen Union zu assoziieren2. Diese Proteste wurden auch durch erhebliche Geldmittel aus den USA und andere Unterstützungen gefördert. Unmittelbar danach rückten von Russland gesteuerte Militäreinheiten ohne Hoheitsabzeichen in die Krim ein, riegelten das Parlament ab und sorgten für die Wahl des russlandfreundlichen Ministerpräsidenten Aksjonow. In der von ihm dann durchgeführten Volksbefragung vom 16. März 2014 erklärte sich die Halbinsel zum russischen Hoheitsgebiet. Das offizielle Wahlergebnis lautet: Wahlbeteiligung von 83,1 % und Zustimmung von 96,77 % der Abstimmenden, vermutlich lagen Teilnehmerzahl und Zustimmungsquote aber eher bei 60 %.

Im Donez-Becken unterstützten die Russen örtliche separatistische Gruppen, die mit Waffengewalt gegen die ukrainische Armee vorgingen, um die – nach ihrer Behauptung gefährdeten – Rechte der ethnischen Russen in diesem Gebiet zu sichern. Örtliche Parlamente in Donez und Luhansk erklärten ihre Regionen zu selbstständigen Volksrepubliken und führen seitdem einen örtlich begrenzten Krieg gegen die ukrainische Armee. Friedensverhandlungen (Minsk I und Minsk II) scheiterten nicht zuletzt daran, dass Russland selbst nicht als Konfliktpartei gesehen werden wollte und auf beiden Seiten der Wille fehlte, wirklich Frieden zu schaffen. Im Mai 2019 übernahm Wolodymyr Selenskyj die Regierung der Ukraine und wird seither von westlichen Staaten und internationalen Organisationen unterstützt. Zahlreiche Maßnahmen der neuen Regierung richteten sich gegen die russischen Minderheiten, die in der Ukraine leben. Persönliche Gespräche zwischen Putin und Selenskyj, die nach seiner Wahl zum Präsidenten mit dem Ziel erfolgten, die Ukraine enger an Russland zu binden waren ergebnislos. Dabei ist nicht zu verkennen, dass es innerhalb der Ukraine starke rechtspopulistische Kräfte gibt, die Friedensgespräche mit Russland grundsätzlich ablehnen und Selenskyj unter Druck gesetzt haben. Die Volksrepubliken des Donbass wurden im Februar 2022 von Russland und Syrien anerkannt. Internationale Gremien verweigerten die Anerkennung und Kiew antwortete mit Sanktionen gegenüber den dort lebenden ethnischen Russen. Zweifellos hat die Ukraine bis zum Kriegsbeginn nicht genügend dafür getan, die russischen Minderheiten in das Land zu integrieren. Das allerdings rechtfertigt den Angriff nicht. Russland hätte gemeinsam mit der UN und anderen internationalen Organisationen dafür sorgen können, dass die Ukraine diese Politik ändert.

Am 24.02.2022 überschritten russische Armeen im Donez Becken, am Schwarzen Meer und nördlich von Kiew die Grenze zur Ukraine.

Russland begründet den Angriff mit der Notwendigkeit, russische Minderheiten in der Ukraine vor Übergriffen zu schützen. Manche Äußerungen sprachen auch davon, man wolle der Ukraine helfen, ihre unabhängige Staatlichkeit gegen faschistische Kräfte zu verteidigen, die schon den Angriff der Deutschen auf Russland unterstützt hätten: die deutschen Truppen waren 1941 von Teilen der ukrainischen Bevölkerung mit Blumen winkend empfangen worden, weil sie von ihnen die Befreiung vom stalinistischen Joch erhofften. Ähnliche Hoffnungen erwecke die Europäische Union, obwohl das moderne Russland das Bruderland Ukraine in keiner Weise unterdrücke.

In der Diskussion über eine mögliche Rechtfertigung des Angriffs hat die russische Seite immer wieder darauf hingewiesen, sie handele nicht anders als die USA zur Absicherung Ihres Terrains: So sei 1963 die Kubakrise entstanden, die USA hätten im Vietnamkrieg in einem »geheimen Krieg« den neutralen Staat Laos bombardiert3 usw. Eigenes Unrecht kann aber nie durch den Verweis auf fremdes Unrecht gerechtfertigt werden.

Wladimir Putin bezeichnet die Angriffe als »Spezialoperation«, um so den Eindruck zu erwecken, es handele sich um minimalinvasive Aktivitäten, nicht jedoch um einen Krieg und nimmt seine Berechtigung dazu nicht zuletzt aus der Behauptung einer jahrhundertelangen kulturellen Identität mit der Ukraine. Ein Angriff auf Kiew ist aber etwas ganz anderes als die Verteidigung der russischen Minderheiten im Donbass. Der Angriff auf die Hauptstadt und die dort verankerten politischen Institutionen ist der Angriff auf das politische Konzept der Ukraine. Es beruht auf slawischen wie europäischen Grundströmungen und die Ukraine will sich die Möglichkeit offenhalten, sich mehr nach Europa hin zu orientieren als bisher.

Ist die Ukraine tatsächlich »Kleinrussland« (wie es früher in der Sprache der Ostkirchen hieß), ist es ein Krieg zwischen Staaten oder ein Krieg unter Brüdern, von denen der eine gegen den anderen eine »Sonderoperation« durchführt? Das sind Fragen, die man nur verstehen und beantworten kann, wenn man einen Blick in die Geschichte wirft.

2. Die Reaktionen in Russland

Parallel zu den Kriegsereignissen wurden in Russland zahlreiche Gesetze erlassen, um kritische Meinungen zum Kriegsgeschehen zu unterbinden. Das Demonstrationsrecht wurde eingeschränkt. Medien, die gegen diese Richtlinien handelten, wurden verboten. Umfragen zeigen bis heute (März 2023), dass viele Russen sich davon einschüchtern lassen. Und wie immer, wenn es den Russen schlecht geht, bricht der Antisemitismus durch. Sogar Putins Anhänger werden verfolgt, wenn sie sich nicht politisch korrekt verhalten:

»In Baschkortostan bekommen putinistische Aktivisten Ärger wegen eines Plakats: «Für Putin! Für den Sieg! Für saubere Luft!» Der Polizei gefiel der dritte Slogan nicht. Das Innenministerium beschuldigte die Aktivisten, eine illegale Kundgebung abgehalten zu haben. In Kusbass, Baschkirien und Tatarstan forderten andere Proputinisten, dass die örtlichen Rabbiner als ausländische Agenten anerkannt werden. Die Rabbiner sind Mitglieder der jüdischen Chabad-Bewegung, die «Nazismus, Rassismus und jüdische Vorherrschaft predige».«4

Umfragen zeigen bis zu 80 % Zustimmung zu dem Angriff auf die Ukraine. Daran ändern auch die vielen Gefallenen nichts. Diese hohe Zustimmungsrate dürfte auch von der Sorge gespeist sein, dass eine Beseitigung des Regimes von Putin zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen könnte, die die Russen mehr als alles andere fürchten – und das zurecht. Niemand weiß, ob auf Putin eine Militärdiktatur oder ein erneuter Versuch demokratischer Zustände folgen würde und was man von der Demokratie erwarten kann, hat Jelzin gezeigt.

3. Russland und die Ukraine. Politische und kulturelle Verbindungen

Die historische Entwicklung zeigt seit jeher starke Beziehungen der Ukraine zu Russland. In Kiew stand die Wiege von Russland und Weißrussland: Wikinger und Waräger gründeten im neunten Jahrhundert die »Kiewer Rus«, das Moskauer Fürstentum entstand erst 300 Jahre später. Diese starke historische Wurzel ist aber im Tatarensturm (1237) massiv beschädigt worden, als die von Osten hereindringenden mongolischen Horden die russischen Fürstentümer bis 1480 tributpflichtig machten5. In Russland waren es Ivan der Schreckliche, Peter der Große und Zarin Katharina, die Russland weit nach Osten hin zu einer Großmacht entwickelten. Diese Ausdehnung in die ungeheuren Weiten diesseits und jenseits des Ural legt von Finnland bis in die Türkei einen Schatten auf jedes Land, das sich an den Grenzen zu Russland befindet.

Nachdem die besonders freiheitsliebenden Saporoger Kosaken dem Zaren Alexej einen Treueid geschworen hatten (Vertrag von Perejaslaw 1654), orientierten sich die Menschen auf dem Gebiet der heutigen Ukraine politisch und kulturell stark nach Russland und wandten sich vor allem gegen Polen/Litauen, die Krimtataren und das osmanische Reich. Dieser absolute Drang zur Freiheit und Unabhängigkeit (der auch die Polen kennzeichnet) prägt die Kampfbereitschaft der Ukrainer bis heute.

In der Ukraine lebten bei Ausbruch des Krieges ca. 42 Millionen Menschen, von denen sich ungefähr 70 % als »Ukrainer« bezeichnen. Ethnische Russen bilden etwa 17 %, andere Bevölkerungsteile (z.B. Krimtataren) liegen jeweils unter 1%. Die »ethnische Russen« sind aber nur ein Teil der Menschen, die ihre kulturelle Identität in erster Linie auf russische Einflüsse stützen. Zahllose Menschen wanderten – vor allem unter Zarin Katharina – aus Deutschland, der Schweiz, dem Elsass, aber auch aus Polen, Litauen und den südlich um das Schwarze Meer gelegenen Ländern in das Gebiet der heutigen Ukraine ein. Dort machten sich vor allem Polen, aber auch Litauer, Schweden, die Saporoger Kosaken6, die Krimtataren, das osmanische Reich, und Österreich die Macht streitig. Große Teile des Landes (Galizien) gehörten jahrzehntelang zur österreichisch- ungarischen Monarchie. Die ukrainische Sprache gehört zur slawischen Sprachfamilie, die heutige Schriftsprache entwickelte sich erst im 19. Jahrhundert. Sie ist eine Mischung aus zahllosen Einflüssen dieser Art, (ähnlich wie das Verhältnis zwischen dem Deutschen und Niederländischen); viele Ukrainer beherrschen daneben auch russisch und polnisch und leben seit Jahrhunderten mit kulturellen Verbindungen zu Russland: der Ukrainer Nicolai Gogol z.B schrieb auf Russisch, weil er auch diesen Markt erreichen wollte.

Ein definiertes Staatsgebiet entstand erst am 25. Januar 1918, als sich in der Ostukraine die ukrainische Volksrepublik Russland und in der Westukraine ein weiterer ukrainische Staat bildeten, der sich polnischen Interessen verpflichtet fühlte. Das dauerte bis 1921. Die Spannung zwischen der eher nach Polen/Litauen orientierten Westukraine und der nach Russland neigenden Ostukraine, die durch jahrhundertelange historische Wurzeln genähert wurde, konnte in dieser kurzen Zeit nicht überbrückt werden. Dann wurden beide Teile zur Autonomen Sowjetrepublik Ukraine vereinigt, die Stalin nach seinem Überfall auf Polen im Schatten von Hitlers Angriffskrieg bilden konnte. Als die Deutschen dann Russland angriffen, stießen sie in der Westukraine teilweise auf Beifall und Unterstützung, etwa durch die Partisanentruppen von Stephan Bandera. Diese Ukrainer halfen auch dabei, Juden zu verfolgen und stellten Hilfstruppen für die SS und die Wehrmacht Strich für beide Seiten ein düsteres Kapitel.

Russland erhielt erst nach 1945 wieder die volle Kontrolle über das Land. Als Chrustschow, ein Russe, der in der Ukraine geboren wurde, 1954 den 300. Jahrestag des Vertrages von Perejaslaw feiern wollte, verschob er den Verwaltungsbezirk der Krim von Russland in die Ukraine, ohne dass dies irgendwelche Reaktionen zwischen Russen und Ukrainern ausgelöst hätte. All das zeigt: Von 1654 bis 1991 war die Ukraine über Jahrhunderte in einer wechselvollen Geschichte in zahllosen rechtlichen und kulturellen Strukturen tief mit Russland verbunden, stets aber auch von Spannungen durchzogen, die sich gegen Russland richteten. Mit dem verhängnisvollen Entschluss Boris Jelzins, zusammen mit Weißrussland und der Ukraine in der Belowescher Vereinbarung vom 8. Dezember 19917 die »Gemeinschaft Unabhängiger Staaten« zu gründen, um so Gorbatschow zu entmachten, wurde die Ukraine wie nach dem Ersten Weltkrieg ein eigener Staat, der seine Identität erst noch finden musste. Dabei wurde das Problem ethnischer Minderheiten oder sonstiger kultureller Verwerfungen zwischen den einzelnen Staaten nicht diskutiert. An die Möglichkeit, sie könnten sich politisch auseinanderentwickeln, hat damals wohl niemand geglaubt. Wladimir Putin versucht seit seinem Amtsantritt, diesen Fehler zu korrigieren. Die Vereinbarung von Belowesch enthält Fehler, die man in ihrer Bedeutung dem Versailler Vertrag von 1919 gleichstellen kann, der Europa auf eine Weise neu ordnete, die keinen Frieden schaffen konnte.

Die Ukraine ist seit jeher ein kriegerischer Boden mitten in Europa:

»Es ist ein weiterer jener Kriege, die seit tausend Jahren über diesen Abschnitt der Pontokaspis hinwegrollen. In unvordenklichen Zeiten sind die Räder von Kampfwagen durch Schlamm gefahren, der jetzt von den Geländereifen der Pick-ups aufgewühlt wird, die ich den ukrainischen Soldaten gebracht habe; damals brachen aus dieser Wiege der Indoeuropäer einige unserer fernen Vorfahren, Hirten, zur Unterwerfung des landwirtschaftlichen Europa, Indien und des heutigen Iran auf.
Später zogen Skythen und Sarmaten, Alanen, Hunnen, Turk- und Madjaren-Stämme, Waräger und die russischen Streitkräfte der schrecklichen Fürstin Olga durch diese Gebiete, Tataren, Saporoger Kosaken, Schweden, Don- und Kuban-Kosaken, Weisse und Rote, die Truppen Petljuras, dann die Deutschen (und in den Reihen der deutschen Armee auch Schlesier, unter anderem Verwandte von mir) sowie Rumänen und wieder die Russen.8«

Vielleicht endet das eines Tages...

4. Die Entwicklung des Krieges

Ein Streit kann unendlich viele Formen annehmen, und doch laufen politische Konflikte fast immer durch mehrere, in ihrem Kern gleichbleibende Phasen:

  • Feuer auf dem Dach: Der Streit bricht aus, meist hat er vorher lange Zeit geschwelt, aber jeder hat ihn verleugnet oder nicht ernst genommen. Jetzt, wo die Flammen hochschlagen, muss man auf ihn reagieren.
  • Panik und Gerede: Alle laufen durcheinander, einige schüren das Feuer, andere versuchen es zu löschen, einige leisten Hilfestellung, andere schneiden die Schläuche durch, es ist ein einziges Chaos.
  • Die Brücken werden verbrannt: Als Resultat dieses Durcheinanders beschließen die Streithähne, nicht mehr miteinander zu reden. Das vorhergehende Chaos hat sie überzeugt, dass das sinnlos ist und nur harte Gegenreaktionen, die planvoll aufgebaut werden, die andere Seite zur Vernunft bringen können. In dieser Phase werden oft (und meist zu spät) die Anwälte eingeschaltet
  • Krieg: Jetzt wird der Krieg förmlich erklärt, die Truppen mobil gemacht, Bündnisse geschlossen, das Kriegstheater (so nennt man das seit Clausewitz) eröffnet, auf dem die Schlachten geschlagen werden.
  • Verhandlung: Auch in heftigen, offenen Auseinandersetzungen gibt es immer wieder Verhandlungsphasen. Man findet sie manchmal (aber selten) vor Kriegsausbruch, denn Verhandeln setzt ja voraus, dass man miteinander spricht und das kann man nicht, wenn die Brücken verbrannt worden sind. Der offene Krieg hingegen führt die Parteien immer wieder in Verhandlungssituationen. Sie können nur erfolgreich abgeschlossen werden, wenn es zum Kompromiss kommt.
  • Sieg, Niederlage oder Vergleich: Scheitern die Verhandlun-gen, dann gibt es nur diese drei Ergebnisse eines Konflikts. Sieg oder Niederlage beenden zwar den aktuellen Konflikt, können aber sehr wohl Auslöser für neue Konflikte werden. Nur ein Vergleich, der Kompromisse enthält, reicht tief genug in die Gefühlsebene, um einen längeren Frieden zu sichern.

Auch innerhalb jeder einzelnen Phase kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit voraussagen, wie sie sich jeweils entwickeln, wenn man typische Konfliktabläufe gesehen hat.

Allerdings ändert sich die Reihenfolge dieser Phasen gelegentlich: Es kann vorkommen, dass vor dem Krieg länger verhandelt wird und es kann auch die Panik Phase sofort in den Krieg übergehen. Im Grunde können wir an dem Drehbuch der Konflikte wenig ändern, wie wir am Verlauf der Auseinandersetzungen zwischen Russland und der Ukraine sehen.

Der Schock und Überraschungseffekt des plötzlichen Angriffs brachte Russland in den ersten Tagen die erwarteten Erfolge ein. Danach brach der Angriff auf Kiew zusammen. Putin und seine Generale waren offenbar davon ausgegangen, die ukrainische Bevölkerung werde sich dem Angriff mehr oder weniger kampflos beugen. Sie hatten deshalb nur geringe logistische Vorkehrungen getroffen. Das wirkte sich für die Bodentruppen negativ aus, als der ukrainische Widerstand sich entwickelte. Offenbar sind die russischen Verluste höher als jene der Ukrainer. Daneben sieht man schwere strategische Fehler in der Zusammenarbeit zwischen Panzertruppen und Infanterie. Auch die Luftunterstützung ist geringer, als man hätte erwarten sollen. Erfolgreich ist nur der Terror mit Raketenangriffen. Ob es sich bei der Zerstörung ziviler Ziele (Schulen, Krankenhäuser etc.) um Fehlschüsse handelt (wie Russland behauptet) oder die Ukrainer damit gezielt terrorisiert werden sollen, ist von außen schwer zu beurteilen. Beängstigend sind die offenkundigen Kriegsverbrechen (nicht nur in Butscha), die nicht allein auf Befehlen beruhen können: Hinter Vergewaltigung und Mord dieser Art steht immer auch ein persönlicher Entschluss. Zu solchen Handlungen können sich Menschen nur entschließen, wenn sie selbst in ihrem Leben nichts anderes erfahren haben als Panik, Terror und Unterdrückung. Täglich schwankt die Beurteilung der Lage. Das erste Kriegsziel, die Hauptstadt der Ukraine zu besetzen und die Regierung zu entmachten, ist nicht erreicht worden, dass zweite jedoch, eine Landbrücke zwischen dem Donez-Becken und der Krim herzustellen wird vermutlich erreicht werden. Ob Russland dann den Krieg für beendet erklärt?

Weder die Europäische Union noch die NATO noch andere Staaten haben sich zu Kriegsparteien erklärt, aber die Ukraine wird vielfältig mit Waffenlieferungen und finanziellen Mitteln unterstützt. Die Russen rücken nicht mehr mit Bodentruppen vor, verwüsten das Land aber nach wie vor mit Artillerie und Raketen.

Ein wesentliches Problem ergibt sich aus der Möglichkeit (und den damit verbundenen unabsehbaren Risiken) für Russland und die NATO, Atomwaffen einzusetzen. Es ist dies nach der Kubakrise der erste vergleichbare Fall. Nach allen vorliegenden Informationen würde ein Erstschlag einer Seite die andere Seite nicht daran hindern, zurückzuschlagen. Was in beiden Fällen voraussichtlich dazu führen würde, dass Angreifer und Verteidiger untergehen. Verhängnisvoll wäre es, wenn eine Seite fest davon überzeugt ist, dass ihr Erstschlag den Zweitschlag der Gegenseite verhindern könnte. Die NATO hat bisher ausdrücklich erklärt, keinen Erstschlag zu führen, Russland droht immer wieder damit »wenn wir angegriffen werden« (die Schwelle dazu kann niedrig sein). Allgemein wird es für unwahrscheinlich gehalten, dass ein solcher GAU eintritt. Das ist in gewisser Weise seltsam, wenn die gleiche Mehrheit Putin für unberechenbar hält. Sollte ein Atomkrieg doch erfolgen, wäre damit bewiesen, dass der Mensch nicht genügend Intelligenz besitzt, seine eigenen Lebensgrundlagen zu erhalten. Bleibt der Krieg konventionell, werden wir uns an ihn gewöhnen, wir werden den Menschen helfen, aber er wird uns langweilen, wir werden ihn vergessen. Ich verbinde das nicht mit einem moralischen Vorwurf, denn als wir selbst vor 75 Jahren im Bombenhagel in den Kellern lagen, haben wir auch versucht, uns daran zu gewöhnen.

Im März sagte der Schweizer Militärwissenschaftler Marcus Keupp voraus, Russland werde den Krieg im Oktober verloren haben9. Das halte ich heute (Juli 2023) für sehr unwahrscheinlich. Gewinn und Verlust sind Interpretationsfragen und eine endgültige Niederlage, wie Deutschland am 7. Mai 1945 erlebt hat, wird Russland nicht erleben. Wenn die Verluste zu stark sind, wird es eine Verhandlungsphasen geben und das Ergebnis wird nicht sein, dass Russland den Krieg verloren hat, sondern dass beide versuchen werden, sich zu Siegern zu erklären.

5. Die gescheiterte Abrüstung

Russland hat seinen Angriff unter anderem durch die Behauptung gerechtfertigt, im Rahmen der 2 + 4 – Verträge um 1990 hätten die westlichen Verhandlungspartner Russland versprochen, die NATO Grenzen nicht nach Osten hin zu erweitern. Diese Behauptung wird durch zahllose historische Belege gestützt, die auch aus dem US – Außenministerium stammen10. Eine schriftliche Formulierung in dieser Richtung findet sich aber in keinem der zwischen Russland und anderen Staaten nach 1990 abgeschlossenen Vereinbarungen. Die NATO-Staaten führen das nicht auf bloße Formfehler zurück, sondern sagen, Russland habe auf eine solche Forderung, die nicht nur 1990, sondern auch bei späteren Abrüstungsvereinbarungen hätten geltend gemacht werden können, letztendlich verzichtet, die Russen bestreiten das.

Tatsächlich traten der NATO zwischen 1999 und 2020 viele der früheren Staaten des Warschauer Pakts und die baltischen Staaten bei. Andere Staaten sind Beitrittskandidaten oder haben Assoziierungsverträge geschlossen. Das wurde bereits 1997 in der amerikanischen Diskussion als provozierend kritisiert11. Die US – Regierungen haben in diesem Zusammenhang zum einen darauf hingewiesen, dass die neu aufgenommenen Länder dies von sich aus mit hohen Zustimmungsrate der eigenen Bevölkerung beantragt hätten, andererseits habe Russland verschiedene Abrüstungsvereinbarungen einseitig gebrochen, sodass die Absicherung nach vorn nur eine Antwort auf diesen Vertragsbruch darstellten12. Zudem haben die USA 2013 die politische Kritik an Janukowitsch durch Rat und Tat unterstützt und damit zweifellos auch in die Interessen Russlands eingegriffen. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion haben viele westliche Staaten, vor allem aber die USA Russland International für bedeutungslos erklärt.

Es gibt keinen Zweifel, dass die Russen sich durch die ihnen entgegengebrachte Respektlosigkeit gekränkt (obidno) fühlen mussten, ein Gefühl, das die russische Politik seit 200 Jahren mit sich herumschleppt13. Die russischen Regierungen waren nie in der Lage war, Volk und Staat miteinander zu versöhnen, wollen sich diese Unfähigkeit aber nicht von anderen vorhalten lassen. Statistisch gesehen ist die russische Volkswirtschaft nicht größer als die von Texas, aber sie ist noch weit schwächer als die Zahlen es zeigen, weil sie letztlich aus der Ausbeutung von Rohstoffen und nicht auf einer Wertschöpfung von hoher intellektueller Qualität beruht. Aber das will man in Russland nicht hören, weil man eine Atommacht ist. Und so haben sie unter offenen Bruch der drei großen Abrüstungsvereinbarungen vor allem Raketenwaffen neu entwickelt und dort stationiert, wo es vereinbarungsgemäß untersagt war.

Viele Kritiker14 weisen darauf hin, dass die amerikanische Außenpolitik aus Eigeninteresse (Rohstoffe, Öl) und ohne Rücksicht auf die Interessen der Bevölkerung bereits den gesamten Nahen Osten destabilisiert habe, auch ihre Versuche, die Russen in Europa zu isolieren, richte sich gegen unsere Interessen. Diese Hinweise sind bedenkenswert. Tatsächlich hat die Internationalisierung der Weltwirtschaft dazu geführt, dass die USA ihren wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss auf die ganze Welt ausdehnen konnten. Es gibt kein Land, in dem man nicht Coca-Cola kennt, mehr noch aber die TV – Serien und zahllose andere Informationen, die das Land vor allem aus der Sicht weniger entwickelter Völker als Paradies erscheinen lassen. Das führt – gewollt oder ungewollt – zu einer Destabilisierung nationaler Kulturen und zu Gegenentwicklungen, die versuchen, nationale Identitäten zu stärken. Viele Entwicklungen in Arabien, die von islamistischen Kräften her stammen, sind weniger von religiösen Motiven als den Interessen bewegt, sich nicht von einer anderen Kultur zu stark beeinflussen zu lassen. Eine ähnliche Situation gab es in den Jahren vor 1914, in denen der Welthandel gewaltig zugenommen hat:

»Zwei Tendenzen widerstreiten einander. Auf der einen Seite wird die Kultur immer »kosmopolitischer«, sie strebt zur »Weltkultur«, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den Staaten intensivieren sich, und das internationale Kapital überspringt die politischen Grenzen. Auf der anderen Seite verstärkt sich im Gegensatz hierzu der Sondergeist der Nationen, nationale Gefühlsgegensätze werden schärfer, und wirtschaftspolitisch lassen sich die Staaten vom Streben nach einer gewissen Autarkie leiten.15«

Interessen zerrieben, aber nach dem 2. Weltkrieg erweisen sich die Vereinten Nationen bis heute als stabile Plattform. Daher wirkt der offene Angriff Russlands gegenüber einem seiner früheren Satellitenstaaten wie aus der Zeit gefallen.

6. Waffenlieferungen, Sanktionen, und neue Bündnispartner

Der Westen unterstützt die Ukraine derzeit durch Lieferung von Informationen, Waffensysteme und wirtschaftlichen Sanktionen, deren Wirkung noch nicht richtig abgeschätzt werden kann16. Dabei dreht sich die Diskussion seit Ende 2022 immer um den Begriff »Schwere Waffen«. Dabei wird nicht – wie es richtig wäre – zwischen Angriffs – und Verteidigungswaffen unterschieden. Die Unterscheidung zwischen beiden Systemen ist im Einzelfall nicht einfach. Landminen dienen der Verteidigung, sind aber unglaublich gefährlich, wenn die Kampfhandlungen vorbei sind und deshalb nicht unter allen Umständen zu rechtfertigen. Panzer sind ebenso wie Kampfflugzeuge Angriffs – wie Verteidigungswaffen. Natürlich braucht die Ukraine Flugabwehrsysteme, aber die modernsten Leopard Panzer braucht sie nicht, da würden frühere Modelle ausreichen. Und was die Kampfflugzeuge betrifft: Wer diese Maschinen fliegen will, braucht eine jahrelange Ausbildung, für die es keine Zeit gibt.

Der Westen sagt, er befinde sich mit Russland derzeit nicht im Krieg, weil keine NATO-Soldaten eingesetzt werden. Das ist formal richtig, aber die intensive finanzielle Unterstützung durch die EU und zahllose andere Länder kann als Kriegsbeteiligung interpretiert werden. Ob das völkerrechtlich so ist, kann völlig offenbleiben, Putin orientiert sich bei seinen Entscheidungen nicht an rechtlichen Linien.

Russland antwortet darauf mit Drohungen, den Krieg zu eskalieren, wobei der Einsatz von Atomwaffen nicht ausgeschlossen wird: »Wir eskalieren nicht, um zu deeskalieren« (Lawrow). In der öffentlichen Diskussion zeigen sich aber auch pazifistische Strömungen, wobei seltsamerweise die Angst vor einem Atomkrieg nicht im Vordergrund steht. In der Zeit des kalten Krieges war das anders.

Derzeit sollten wir darauf vertrauen, dass die beiderseitige Angst vor den Wirkungen atomarer Angriffe noch groß genug ist, um es nicht dazu kommen zu lassen. Aber ausschließen kann man es nicht. Viele argumentieren gegen jede militärische Unterstützung aus Sorge, dass die Russen das als Provokation ansehen würden. Niemand kann wissen, welche politischen Entscheidungen des Westens die Russen zu einer Eskalation veranlassen werden und wann sie ggf. kompromissbereit sind. Die dadurch entstehenden Risiken müssen wir in Kauf nehmen und sollten daher – ebenso wie die Bundesregierung es entschieden hat – der Lieferung schwerer Verteidigungswaffen zustimmen. Gleichzeitig müssen wir aber die Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen genauer im Auge behalten, als es derzeit geschieht.

Die wirtschaftlichen Sanktionen sind jedenfalls nach Art und Umfang bisher beispiellos. Das Projekt Nordstream 2 wurde gestoppt, Vermögen russischer Oligarchen eingefroren, die Bankverbindungen gekappt usw. Die laufende Belieferung mit Gas und Öl soll nach Ansicht vieler ebenfalls unterbrochen werden. Bei der Beurteilung dieser Maßnahmen ist zu bedenken, dass sie sich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell auswirken. Russland wird international auf eine Art und Weise isoliert, wie es bisher nie denkbar war, gleichzeitig aber erleidet es kaum finanzielle Einbußen, weil die Preise so stark angestiegen sind.

Die in diesem Zusammenhang von russischen Künstlern verlangten Erklärungen, sich gegen Putin zu wenden, halte ich jedenfalls in den Fällen für unangemessen, in denen ein Künstler nicht offensichtlich von ihm persönlich abhängig ist (wie Valery Gergijev). Solche Maßnahmen, die wir aus den Weltkriegen kennen, wo man jeden, der die Landessprache nicht perfekt beherrschte, zum Spion erklärte, sollten in der heutigen politischen Kultur kritisch gesehen werden. Wir müssen unsere negativen Erfahrungen mit den Berufsverboten in diese Überlegungen mit einfließen lassen, auch wenn uns die teilweise überzogenen Reaktionen der Ukrainer nicht unberührt lassen können17.

Die Gegner der Sanktionen weisen darauf hin, dass Russland auch ohne eine funktionierende Außenwirtschaft jeden Krieg finanzieren kann und die Sanktionen uns mittel – wie langfristig mehr schaden als nützen18. Tatsächlich ist der Wert des Rubel durch den Anstieg der Erde Ölpreise sehr gewachsen. Wenn man dieses Problem rein wirtschaftlich betrachtet, könnte die Sanktionspolitik des Westens sich in es in einer Darstellung von Chancen und Risiken tatsächlich als wenig wirksam erweisen. Wirtschaftliche Sanktionen sind aber derzeit die einzige Möglichkeit, unsere politische Meinung klar genug zum Ausdruck zu bringen und das müssen wir tun, auch wenn es uns wirtschaftlich keinen Nutzen brächte. Andere weisen darauf hin, wir könnten die Russen dazu provozieren, den Westen wegen der Sanktionen oder der Waffenlieferungen als Kriegspartei anzusehen. Dagegen gibt es ein sehr einfaches Argument: Putin handelt willkürlich und es ist ausschließlich seine Entscheidung, welche Reaktion des Westens er als Kriegserklärung gegen sich auffasst. Dieses Risiko können wir also nicht begrenzen.

Eines der wichtigsten Kriegsziele Russlands war es zweifellos, die NATO nicht bis unmittelbar vor die eigene Landesgrenze vorrücken zu lassen. Tatsächlich ist das Gegenteil eingetreten: Finnland und Schweden wollen der NATO beitreten, deren Mitglieder sich in einer Art und Weise aufrüsten, wie man es in der Vergangenheit noch nie gesehen hat. Wenn man den bisherigen Kriegsverlauf analysiert, wird die weitgehende Integration der Ukraine in die politischen Ziele Moskaus nicht erreichbar sein. Endet der Krieg aber in einem – wie immer gearteten – Kompromiss, wird die Lage Russlands allein durch die Auswirkungen früherer Sanktionen und die Stärkung der NATO schwieriger werden.

7. Die unendliche Kriegsschuld

Unter den NATO Mitgliedern drängt die Ukraine Deutschland zu einer offenen Unterstützung ihrer Verteidigungspositionen. Die deutsche Regierung reagierte im wesentlichen aus zwei Gründen zurückhaltend:

  • Wie schon im Jugoslawien – Konflikt hält man das offene Auftreten deutscher Soldaten auf einem Gebiet, das 1941 von Deutschland überfallen wurde, nicht für opportun. Auch wenn nicht geplant ist, Bodentruppen dorthin zu senden, ist jede Art der Unterstützung in diesem Sinn fragwürdig.
  • Jeder Alleingang Deutschlands verbietet sich schon deshalb, weil Deutschland nur innerhalb der Institutionen Europäische Union und NATO handeln kann, also immer in Abstimmung mit anderen europäischen Ländern.

Diese Argumente werden von ukrainischer Seite zum Teil aggressiv zurückgewiesen. Dabei bedient man sich einer für uns schwer erträglichen Argumentation: Im Zweiten Weltkrieg seien etwa 10 Millionen Ukrainer im Kriegsgeschehen getötet worden und diese Schuld könne Deutschland nur durch aktive Hilfe wiedergutmachen, die russischen Aggressoren zurückzudrängen. Vergessen wird dabei, dass die deutschen Truppen zunächst von der ukrainischen Bevölkerung als Befreier von den Russen gefeiert worden sind, die zehn Jahre zuvor das Land dem Hungertod ausgeliefert hatte (Holodomor 1931-1933, ca. 5 Million Tote). Starke Verbände ukrainische Hilfstruppen haben den Deutschen gegen die Russen geholfen. Wie könnte sich bei dieser unübersichtlichen Lage die Verpflichtung ableiten lassen, die politischen Entscheidungen der EU und der NATO intensiver zu beeinflussen, als nach der jetzigen politischen Lage gerechtfertigt erscheint? Denn schließlich stellt sich auch die Frage, ob wir außerhalb der schon geleisteten Entschädigungen auf unbegrenzte Zeit mit den Verfehlungen unsere Väter und Großväter konfrontiert werden dürfen. Gegenüber den Juden und dem Staat Israel ist diese Frage genauso offen. Sie wird in der öffentlichen Diskussion nicht gestellt. Auch deshalb unterbleibt die weitere Frage, ob die Ukraine vor Kriegsausbruch tatsächlich genügend dafür getan hat, die Rechte der russischen Minderheiten zu respektieren. Die Ukraine schlägt in ihrer Verzweiflung wild um sich und wir müssen akzeptieren, dass es keinen politisch ausgewogenen Schrei nach Hilfe geben kann.

Am Ende kann man diese Probleme tatsächlich offenlassen: Selbst wenn es keine Verbindung zu dem Angriffskrieg der Deutschen 1941 gibt und auch, wenn die Ukraine die Russischen Minderheiten nicht genügend geschützt hätte19, würde das einen offenen Angriff durch Russland nicht rechtfertigen.

8. Putin und die Russen erklären

«Putin Gott der Welt»20
»Rabbi Bunam sprach einmal: »Ja, ich kann alle Sünder zur Umkehr bringen – nur die Lügner nicht.«21

Bis zum 24.02.2022 habe ich mich, – so wie viele andere auch – bemüht Putin und die Russen zu verstehen. Diese Versuche haben immer zwei Richtungen: Seine Persönlichkeit und seine Funktion in der politischen Geschichte Russlands und die Reaktion seiner Landsleute hierauf. Sie sind nicht klar voneinander zu trennen. Jetzt wird im Westen jeder, der Putin zu verstehen sucht, zu seinem Gefolgsmann erklärt. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich bin keiner seiner Gefolgsleute, will mir aber mein eigenes Urteil machen. Es ist gewiss unterbewusst von vielen Haltungen des Westens beeinflusst, da mir persönliche Erfahrungen im Umgang mit den Russen fehlen. Aber ich versuche jedenfalls einseitige Perspektiven zu vermeiden.

Die russische Politik steht seit jeher vor der Aufgabe, die riesige Landmasse, die Europa und Asien verbindet und deren Wert im wesentlichen aus Agrarprodukten und Bodenschätzen besteht, einer einheitlichen Ordnung zu unterwerfen. Eigene Werte und eine Teilnahme der Bürger an den politischen Entwicklungen kann ein Land nur schaffen, wenn man die Rahmenbedingungen schafft, unter denen kreative Menschen etwas leisten und eine Mehrheit sich an den Entscheidungen beteiligen kann. Dazu gehört nach allen Vorbildern die wir im Westen und in den USA geschaffen haben, vor allem politische Meinungsfreiheit, eine Verfassung und Grundrechte, die nicht nur auf dem Papier stehen. Viele Russen haben nach der Französischen Revolution die Möglichkeit greifbar vor sich gesehen, zu parlamentarischen Formen zu kommen. Bis zur Revolution ist das nicht nur in Russland gescheitert, auch in Deutschland, Österreich und zahllosen kleineren Staaten. Hätten in der Revolution die »Weißen« oder auch nur die »Menschewiki« gewonnen, wäre vielleicht eine bürgerliche Gesellschaft entstanden. Aber tatsächlich hat man nur den einen Zaren gegen andere ausgetauscht. Lenin hoffte, dass der Ausbau der Schwerindustrie Russland nach vorne bringen könnte. Aber wirkliche Innovationen kommen nicht daher, sondern aus der technologisch interessierten Mitte der Wirtschaft. So kommt es, dass Russland bis heute auf europäische und US – Technologie aufbauen oder sie importieren muss. Das war schon zu Sowjetzeiten so und nach 1986 öffnete sich Russland in vieler Hinsicht gegenüber dem Westen, konnte daraus aber keine eigenen Wertschöpfungen erreichen. Das hat den russischen Stolz verletzt, denn nun empfinden sie den ständigen Vergleich zwischen den offenen westlichen Märkten und ihren technologischen Leistungen mit dem, was sie selbst zuwege bringen, als demütigend. Aus einem Interview zwischen Tom Schillinger und Richard Ned Lebow22:

»Sie nennen diesen Wunsch nach einem guten Selbstwert in Ihrer Theorie der internationalen Beziehungen Thymos, der griechische Begriff für Geist oder die Sehnsucht des Menschen nach Anerkennung. Sie sagen, dass der Selbstwert auch für Nationen und Staatsoberhäupter einer der zentralen motivierenden Faktoren sei und dass man dies in der Analyse von Kriegen stärker berücksichtigen müsse.«
»Genau, Thymos ist auch das, was Putin motiviert. Aristoteles und Platon haben uns klugerweise gesagt, dass, wenn das Selbstwertgefühl bedroht ist, der eigene Status infrage gestellt wird. Dann wird man sehr wütend. Der Soziologe Max Weber argumentiert, dass eine Beleidigung der Ehre eines Landes viel schwerwiegender ist als eine Bedrohung seiner Sicherheit. Und damit hatte er recht. Das ist also zum Teil das, was nun in Russland und der Ukraine vor sich geht. Und dieses Streben nach Ansehen oder der Wunsch nach Rache, wenn man sich gekränkt fühlt, war im 20. Jahrhundert die Hauptursache für internationale Kriege. Meiner Meinung nach ist es auch die Ursache für das, was jetzt passiert.«

Es kommt zu gegenläufigen Bewegungen, die irgendwann im Verfolgungswahn enden können. Blickt man nach China, die eine vergleichbare politische Entwicklung gehabt haben wir Russland, ist der Unterschied offensichtlich: China ist es gelungen, mithilfe westlicher Technologien ein moderner Industriestaat zu werden, Russland mit seinen riesigen Ressourcen ist sogar in seiner Kriegsindustrie den damit verbundenen militärischen davon weiter denn je entfernt. Diese Einsicht schmerzt und sie wird von vielen Russen mit der Behauptung verdrängt, sie verfügten über »andere Werte« als der Westen. Dass sagen auch die islamischen Staaten und manche Diktatoren, die die Meinungsvielfalt missverstehen, die mit der Demokratie untrennbar verbunden ist.
Auch heute noch gilt die, von dem langjährigen Außenminister Nikolaus‘ II. Gortschakow formulierte Erkenntnis, dass »Russland nur auf sich selber zählen kann«23. Diese tiefe Überzeugung, Die innere Ordnung Russlands war bis heute immer hierarchisch/oligarchisch organisiert, weder die Arbeiter und Bauern, noch der Mittelstand haben in den Zeiten des Kommunismus Einfluss auf die Entscheidungen der Führungsebene nehmen können. Sie alle stützten sich auf die Ausbeutung des Landes und der Menschen. Die Versuche, sich nach 1986 demokratisch zu organisieren sind nach wenigen Jahren gescheitert.

Die russische Revolution hat Russland (und andere Ostblockstaaten) zum Feind vieler anderer Nationen gemacht. Das war schon Lenin bewusst, der die Komintern begründete, um so schnell wie möglich auch in vielen anderen Ländern solche Revolutionen geschehen zu lassen. Das ist nicht gelungen, aber die Angst vor diesen Bestrebungen hat unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg zum Kalten Krieg geführt, eine Angst, die Stalin und manche andere vermutlich auch genossen haben. George Kennan der sich in seiner diplomatischen Karriere vor allem mit den Staaten des Ostens beschäftigte (Botschafter in Moskau 1952) schrieb:

»Der neurotischen Sicht des Kremls von Angelegenheiten der Welt liegt ein instinktives Gefühl der Unsicherheit zugrunde, das im russischen Volk tief und seit langem verwurzelt ist. Ursprünglich war dies das Unsicherheitsgefühl eines friedlichen Bauernvolkes, das in einer riesigen, exponierten Ebene in der Nachbarschaft von wilden, kriegerischen Nomadenstämmen zu leben versuchte. Hinzu kam – als Russland mit dem wirtschaftlich fortgeschrittenere Westen Kontakt bekam – die Furcht vor den leistungsfähigeren, mächtigeren und höher organisierten Gesellschaften in jenem Gebiet. ….. Aus diesem Grunde haben sie immer ausländischen Einfluss gefürchtet, haben sie direkten Kontakt zwischen der westlichen Welt und ihrer eigenen gescheut, haben sie Angst davor gehabt, was geschehen würde, wenn die Russen die Wahrheit über die Welt draußen oder Ausländer die Wahrheit über die Verhältnisse in Russland erführen … Niemals haben Sie diese Sicherheit durch Packte oder Kompromisse mit ihren Rivalen gesucht.«24

Willy Brandt und Egon Bahr haben versucht, diese Distanz durch ihr Konzept »Wandel durch Annäherung« zu verringern. Es war so erfolgreich, dass es auch zum Zusammenbruch der UdSSR beitrug und man gute Hoffnung haben konnte, Russland werde sich nun aktiv gegenüber dem Westen öffnen. Es hat lange gebraucht, diese Illusionen zu enttarnen. Putins Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2007 enthielt erstmals Hinweise auf die erneut aufgeflammten alten Ängste der Russen, von fremden Mächten eingekreist zu werden. Die Angriffe auf Georgien und die Krim haben gezeigt, dass Putin die Staaten des früheren Warschauer Pakts als Kolonien betrachtet25 und an dieser und anderen verqueren Perspektiven unerbittlich festhält. Damit folgt er jahrhundertelangen Traditionen und gleichzeitig seinem eigenen Ehrgeiz, Russland wieder zu der Weltmacht der Sechzigerjahre zu machen. Diese Weltmachtstellung beruhte wesentlich auf der Unterstützung durch die westlichen Alliierten, was von russischer Seite geleugnet wird.

So kommt es, dass er jedes Entgegenkommen als Unterwerfung interpretiert. Das ändert allerdings nichts an der Notwendigkeit, die Motive auch eines unzugänglichen Gegners zu verstehen, ohne sie zu billigen. Wenn der Begriff »verstehen« jetzt politisch unkorrekt ist, können wir auf ihn verzichten. An den Tatsachen wird sich nichts ändern, denn wenn wir uns nicht wenigstens bemühen, Putin zu erklären, werden wir am Ende unsere eigene Haltung nicht mehr verstehen26.

Bei Erklärungsversuchen fallen Parallelen zwischen den Entscheidungen Putins und Adolf Hitlers ins Auge. Hitler ist eine so singuläre Figur in der Geschichte, dass wir Mühe haben, ihn mit Putin zu vergleichen27. Aber beide haben eine ähnliche Aufgabe vor sich gesehen – die Korrektur der Geschichte – und sind auf vergleichbare Weise vorgegangen: Ähnlich wie Hitlers Strategie ab Mitte 1938 (Anschluss Österreichs, Besetzung der Tschechoslowakei, Angriff auf Polen usw.) hat Putin schrittweise umstrittene Teilgebiete integriert (Tschetschenien, Georgien, Krim) und dann auf breiter Front angegriffen, weil er dachte, die Ukraine werde sich auf gleiche Weise unterwerfen lassen. Beide verwendeten als Motiv die Unterdrückung ethnischer Minderheiten, für deren Schutz sie sorgen müssten (»heim ins Reich«).

Noch weitergehend gleichen sich ihre Entscheidungen sich in der Innenpolitik: »Ich bin kein Diktator, ich habe die Demokratie nur vereinfacht«28. Die gleichzeitig erfolgte völlige Entmachtung der freien Presse führt dazu, dass diese Politik innerhalb Russlands überwiegend anerkannt wird. Hitler begann den Krieg 1939, als er 50 Jahre alt war, weil er befürchtete, er werde zu späterer Zeit nicht mehr die dazu nötige physische Konstitution aufbringen. Von Putin (70) sagt man, er sei schwer krank29 (vermutet wird Leukämie und die Nebenwirkungen der dabei eingesetzten Stereoide) und so könnten ihn ähnliche Gedanken zu seinen Entscheidungen motivieren. Geisteskrank ist er mit Sicherheit genauso wenig wie Hitler30.

Da er die Macht in Russland vollkommen auf seine Person konzentriert hat, kann man davon ausgehen, dass der Angriff vom 24.02.2022 auf seiner Idee und seinen Befehlen beruht. Diese Ideen hat er am 12.07.2021 in einem großen Essay veröffentlicht31. In einem ersten Teil, der vermutlich von Historikern geschrieben wurde, wird die enge politische und kulturelle Verbindung der Ukraine mit Russland so dargestellt, als habe es nicht auch erhebliche Konflikte und Spannungen zwischen beiden Völkern gegeben. Würden wir diesen Gedanken auf die deutsche Situation übertragen, müssten wir das Heilige römische Reich Deutscher Nation von 1806 wiederherstellen. Im zweiten Teil entwickelt Putin den Gedanken, dass die Ukraine nur unter dem Schutzschirm Russlands gedeihen, durch eine Anlehnung an den Westen aber nur verlieren könne.32 Als er die staatsrechtliche Trennung der Ukraine von Russland von 1991 kommentiert, schreibt er:

»Die Dinge ändern sich: Länder und Gemeinschaften sind keine Ausnahme. Natürlich kann sich ein Teil eines Volkes im Verlauf seiner Entwicklung, beeinflusst durch eine Reihe von Gründen und historischen Umständen, zu einem bestimmten Zeitpunkt als eigenständige Nation bewusst werden. Wie sollen wir das behandeln? Darauf gibt es nur eine Antwort: mit Respekt!
Du willst einen eigenen Staat gründen: Du bist willkommen! Aber was sind die Bedingungen? Ich erinnere an die Einschätzung einer der prominentesten politischen Persönlichkeiten des neuen Russlands, des ersten Bürgermeisters von Sankt Petersburg, Anatoly Sobchak. Als Rechtsexperte, der glaubte, dass jede Entscheidung legitim sein muss, teilte er 1992 die folgende Meinung: Die Republiken, die die Union gegründet haben, müssen nach der Kündigung des Unionsvertrags von 1922 zu den Grenzen zurückkehren, die sie vor dem Beitritt zur Sowjet Union hatten. Alle anderen Gebietserwerbe sind Gegenstand von Diskussionen und Verhandlungen, da der Grund widerrufen wurde.
Mit anderen Worten: Wenn Sie gehen, nehmen Sie mit, was Sie mitgebracht haben. Diese Logik ist schwer zu widerlegen.«

So versuchte er zu begründen, dass die Ukraine 1991 die Krim an Russland hätte zurückgeben müssen, da sie dieses Land 1921 bei ihrer Eingliederung in die UdSSR noch nicht besaß, sondern erst 1954 durch die Entscheidung Chrustschows erhalten hat. Die Idee, 70 Jahre Politik rückabzuwickeln, ist offenkundig illusionär. Würde man diesem Gedanken folgen, müssten die Grenzen Europas in unzähligen Details neu definiert werden. Wie das geschehen könnte, wenn gleichzeitig der angeforderte Respekt vor allen, die davon betroffen sind, zum Ausdruck kommen soll, bleibt Putins Geheimnis. Er hat uns mit seinem Essay aber in seine Gedankenwelt eingeführt und die spannendste Frage ist: Lügt er oder sind ihm die Abweichungen seiner Ansichten von deutlichen internationalen Mehrheiten nicht bewusst? Das können wir nur herausfinden, wenn wir mit ihm sprechen oder verhandeln. In der öffentlichen Diskussion wird diese Einsicht auf breiter Front geleugnet. Willy Brandts Strategie »Wandel durch Annäherung« wird nicht mehr verstanden. Jedem Politiker, der in den vergangenen Jahren mit Putin gesprochen hat wird unterstellt, sich ihm ähnlich gebeugt zu haben wie 1938 Chamberlain in den Gesprächen mit Hitler. Noch härter werden Kooperationsprojekte (Nordstream) verurteilt. Bei dieser Kritik wird vergessen, dass die Versorgungssicherheit steigt, wenn es eine direkte Verbindung zwischen Produzent und Abnehmer gibt und keine Transitländer diese Beziehung beeinflussen können.

Immer wieder flammt die Diskussion über die Frage auf, ob Putin jedenfalls während seiner ersten Amtszeit noch ein völlig »normaler Politiker« gewesen sei und sich erst danach unter dem Eindruck seiner wachsenden Macht charakterlich verändert habe. Dagegen spricht die psychologische Erfahrung: Der Charakter eines Menschen ändert sich nach dem 30. Lebensjahr nicht mehr wesentlich, auch wenn sein Verhalten sich immer noch veränderten Umständen anzupassen vermag. Viele biografische Skizzen zeichnen Putin schon in jungen Jahren als jähzornigen und aggressiven Menschen, Eigenschaften, die den KGB daran gehindert haben sollen, ihn im Westen einzusetzen. Die dahinter liegenden tiefen Aggressionen können sich mit wachsender Macht den Ausdruck verschaffen, den sie bei ihm gefunden haben.

Er lebt in der von ihm selbst geschaffenen virtuellen Realität und kann mit eigenen Kräften aus ihr nicht mehr entkommen, ohne seine Identität zu gefährden33. Das ist der tiefere Grund für die Politik der Desinformation, die wir in Russland seit einem Jahr beobachten. Hier einige Beispiele34:

  • Ein 15-jähriges Mädchen wird festgenommen, weil es Blumen am Moskauer Denkmal für Lesja Ukrainka zum Gedenken an die Opfer des Raketenangriffs vom 14. Januar in Dnipro niedergelegt hat. Nelly Losewa, eine Einwohnerin von Tschita, wird zu einer Geldstrafe von 30 000 Rubel verurteilt, weil sie im russischen sozialen Netzwerk Odnoklassniki ein Bild gelikt hat, das auf den Tod der im Krieg in der Ukraine eingesetzten Soldaten hinweist. Einem 16-Jährigen wird vorgeworfen, die Armee diskreditiert zu haben, weil er auf dem Schulflur rief: «Wenn ich in den Krieg ziehe, dann für die Ukraine! Ihr seid hier alle mit Propaganda vollgespült.»
  • Gegen einen Mann aus Chabarowsk wird ein Strafverfahren wegen Rechtfertigung des Terrorismus eingeleitet, weil er Tschetscheniens Präsidenten Ramsan Kadyrow zur «Übernahme Moskaus» aufgerufen hat, informiert Radio Liberty im Rahmen der Sendung «Sibirien. Realitäten». Jewgeni Prigoschin, der Chef der Wagner-Gruppe, verkündet, dass Youtube in Russland bald verboten sein wird. Alexander Chinstein, der Leiter des Staatsduma-Ausschusses für Informationspolitik, sagt, der Ausschuss wisse nichts von einem Verbot von Youtube in naher Zukunft.

Wahrheit und Lüge vermischen sich untrennbar und werden letztlich zu Fehlentscheidungen führen. Wenn wir in der wirklichen Welt auf sie antworten, wird das wenig Wirkung zeigen. Auch Hitler hat die Vernichtung Deutschlands nicht mehr zur Kenntnis genommen und fuhr mit verhängten Fenstern durch das Land.

9. Sprechen und Verhandeln

Verhandlungen unterscheiden sich von Gesprächen durch eine Motivation, die alle Parteien, die in die Verhandlung mit einbezogen sind, teilen müssen: Es ist der Wille, zu einem Ergebnis zu kommen. Dieser Unterschied wird selten klar genug erkannt, was man daran sehen kann, dass Parteien in Verhandlungen gehen, ohne sich auch nur über die eigenen Konzepte im Klaren zu sein. Außerdem muss man sich Mühe geben, sich in die Gedankenwelt der anderen einzuarbeiten und herauszufinden, ob auch dort der Wille, zu einem Ergebnis zu kommen, vorhanden ist. Seit Ausbruch des Krieges werden wir von beiden Seiten über Gespräche und Verhandlungen informiert. Auf dem Gebiet des Gefangenen- und Verwundetenaustauschs, der Einrichtung von Fluchtkorridoren usw. sind offenbar Verhandlungen mit Ergebnis geführt worden. Im März 2022 wurde von beiden Seiten angedeutet, es werde auch über eine friedliche Lösung gesprochen, die von beiden Seiten einen Verzicht auf ihre Maximalpositionen enthalte. Mit dem wachsenden militärischen Erfolg der Ukraine sind diese Verhandlungen offenbar nicht weitergeführt worden35. Tatsächlich beteiligen sie sich mit Sicherheit im Hintergrund aller internationalen Gespräche, die seit Kriegsbeginn auf unterschiedlichen Ebenen geführt worden sind (Überblick: Russisch-Ukrainischer Krieg – Wikipedia. Jedenfalls müssten Gespräche jeder Art Rücksicht auf die besonderen Empfindlichkeiten der russischen Seite nehmen, auch wenn die russischen Truppen – gedeckt von ihrer Führung – während des Krieges vielfältige Verbrechen begangen haben.

Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite ist die Behauptung der Ukraine, sie werde erst nach Rückgewinn des Donbass und der Krim mit Verhandlungen beginnen auch nur eine Verhandlungsposition, die die Eingangsschwelle erheben soll. Zwar steckt sie heute (März 2023) mit ihrem Kopf im Rachen des Tigers – aber über die Getreidelieferungen im schwarzen Meer, den Gefangenenaustausch und andere Themen wird verhandelt. Die Plattformen sind da. Auch die anderen Staaten können sie nutzen:

»Und schließlich möchte ich mich weigern mir vorzustellen, dass ein zivilisiertes Land wie Deutschland nicht immer wieder alles nur Menschenmögliche versucht, um einen grauenvollen Krieg wie den in der Ukraine (alle Kriege sind grauenvoll) so schnell wie möglich zu beenden.36«

Um dem Vorwurf auszuweichen, man verhandle nicht aus Hybris, könnte man durchaus ein monatlich wiederholtes Angebot auf Verhandlungen auf den Tisch legen und abwarten, was dann geschieht.

»Theoretisch könnte man eine Vereinbarung treffen, die Putin garantiert, dass die Ukraine nie Teil der Nato würde. Man könnte darüber verhandeln, wie nahe die russischen Streitkräfte an der Grenze zur Ukraine ihre Truppen platzieren dürfen. Sogar Vereinbarungen über die Krim sind denkbar: dass die Ukraine ihren Anspruch nicht aufgibt, dass in x Jahren ein Referendum durchgeführt wird. Das sind natürlich alles nicht realistische Vorschläge, aber ich will damit nur aufzeigen, dass die Sache nicht an der Unteilbarkeit scheitert. Die Krim als rote Linie darzustellen: Das ist eine Verhandlungsstrategie – und keine gottgegebene Sache. Bei jeder Verhandlung sagen die Parteien zuerst, was sie wollen. Das deckt sich natürlich nicht. Deshalb gibt es ja überhaupt Krieg.«37

Im Vietnamkrieg saßen die Parteien jahrelang am Verhandlungstisch, wenn auch ohne jedes Ergebnis. Aber es kann auch anders kommen.

Das gelingt, wenn man sich mit der Spieltheorie beschäftigt. Sie beschreibt zunächst die Rahmenbedingungen, unter denen die Kommunikation stattfindet, analysiert die bewusst oder unbewusst verwendeten Regeln und errechnet die Wahrscheinlichkeit, mit der ein bestimmtes Verhalten auftritt38. Sind die Parteien z.B. nicht kooperativ, muss mit der Willkür eines Beteiligten gerechnet werden, da aber Ergebnisse von Verhandlungen nur auf Vertrauen basieren können, ist es nicht einfach aufzubauen. Das erste Ziel muss also darin bestehen, bestimmte Regeln zu vereinbaren oder zu erzwingen (da stehen wir jetzt). In vielen Forschungsvorhaben wurde ermittelt, dass es danach zwei Strategien gibt, die in Konfliktsituationen zu Verhaltensänderungen führen können:

  • Jeder spiegelt das Verhalten des anderen, das er in der letzten Situation erfahren hat, die sie gemeinsam erleben. Ist der eine kooperativ, so ist es auch der andere, verhält sich der eine provozierend, so provoziert auch der andere (tit for tat39).
  • Ein anderer Weg ist es, unabhängig vom Verhalten der anderen Seite eigene Strategien so lange beizubehalten, als sie erfolgreich erscheinen und erst zu ändern, wenn der Erfolg erlischt (win/stay – lose/shift).

Beide Strategien stoßen an ihre Grenze, wenn eine bestimmte Stufe der Provokation (z.B. Einsatz von Atomwaffen) aus grundsätzlichen Erwägungen ausfällt. Der Westen hat sich (derzeit) eine Selbstbeschränkung auferlegt, er wird mit Atomwaffen keinen Erstschlag führen. Putin hingegen droht mit ihrem Einsatz, offenbar machen ihm kleinere und lokal begrenzt eingesetzte Atomwaffen keine Sorgen40. Dieses Problem kann man nur lösen, wenn neue und überraschende strategische Reaktionen (z.B. auf dem Feld wirtschaftlicher Sanktionen) entwickelt werden. Alle diese Analysen sind von der Qualität der Informationen abhängig, die jede Seite hat, außerdem kann die Kommunikation gestört sein und fehlerhafte Informationen erzeugen. Umso wichtiger ist es, unter allen Umständen die Kommunikation aufrechtzuerhalten.

Im Verhältnis zum Westen ist die ukrainische Informationspolitik in der Art der Darstellung, der Auswahl der Medien und der Presseinformation äußerst gelungen. Man führt das auf die Tatsache zurück, dass Selenskyj mit seiner früheren Fernsehmannschaft (von denen viele Mitglieder der Regierung und Verwaltung geworden sind) das Geschehen steuert. Im Verhältnis zu Deutschland fehlt dieses Geschick, hier sehen wir die verfolgende Unschuld vor uns41. Die Ukraine hält sich für berechtigt, die Deutschen an ihre Kriegsschuld zu erinnern und will nicht verstehen, dass gerade diese Kriegsschuld zu einer grundsätzlich pazifistischen Haltung in weiten Teilen der Bevölkerung, der Parlamente und der Regierung geführt hat42. Es bedeutet harte politische Arbeit, diese Bedenken zu überwinden und sich in der aufgeheizten Kriegssituation zu einer Unterstützung mit Waffen bereit zu finden. Die Kampfbereitschaft der Ukrainer hat nicht nur die Russen überrascht und auch im Westen würden die meisten genauso reagieren: Wie wäre es, wenn Russland uns angriffe? Oder Polen? Oder die baltischen Staaten? Oder die Türkei, seit 1952 unser NATO-Partner (Mourir pour Istanbul?). Ob wir in einem solchen Kriegstheater Chancen gegen die Russen hätten, wird im Endeffekt keine Rolle spielen: Dann sind wir Kriegsschauplatz für die anderen NATO-Staaten, die uns unterstützen, und sie werden uns gemeinsam mit den Angreifern auslöschen, weil sie uns anders nicht befreien können. Von daher sind pazifistische Überlegungen sehr gut verständlich und doch es ist unwahrscheinlich, dass wir ihnen folgen würden. Nur wenige Menschen sind bereit, sich in strenger Einhaltung pazifistischer Regeln anderen zu unterwerfen, und das Vorbild des zivilen Ungehorsams (Mahatma Gandhi) kann nur gegenüber einem Gegner Wirkung zeigen, der nicht willkürlich handelt, sondern bereit ist, sich an das Recht zu halten43. Die meisten werfen irgendwann ihren Verstand über Bord, weil sie das Gefühl nicht ertragen, sich unterwerfen zu müssen und handeln am Ende doch nach dem alten Wahlspruch der Friesen: »Lieber tot als Sklave«. Die Bereitschaft, für seine Identität zu sterben ist keine »Geschichtsästhetik«44. Der Entschluss der Mehrheit zum Kampf ist nachvollziehbar. Einige Militärexperten sagen den Sieg der Ukraine voraus45, andere weisen darauf hin, dass »der Blick auf die Geschichte zeigt, dass sowjetische und russische Streitkräfte meist kurz vor dem völligen Zusammenbruch eine verblüffende Kunst zeigten, aus Niederlagen noch zu lernen.»46

10. Aufnahme der Ukraine in die EU und in die NATO

Eine der zentralen Forderungen der Ukraine besteht darin, die Aufnahme in die Europäische Union und die NATO durchzusetzen. In beiden Fällen gibt es zahllose Kriterien, die von der Ukraine in keiner Weise erfüllt werden – schon gar nicht in der jetzigen Kriegssituation. Die wichtigste Forderung ist die Beseitigung der Korruption47 nicht nur im wirtschaftlichen Bereich, sondern auch in der Justiz48. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass Präsident Selenskyj seinen politischen Sieg ohne die Unterstützung des Oligarchen Kolomojskyj niemals hätte durchsetzen können. Diesem gehörte der Fernsehsender, der die Sendungen von Selenskyj produzierte und ausstrahlte.

Bisher ist nicht ersichtlich, dass diesem Oligarchen besondere Vorteile zugeflossen wären. Aber im allgemeinen ist ohne Bestechung und Einflussnahme in der Ukraine, die zu den 30 korruptesten Ländern unter 176 zählt, wenig zu gewinnen49. Auch die Regierungsziele, die Selenskyj bei seinem Amtsantritt erreichen wollte, sind vor Ausbruch des Krieges nur in geringem Umfang verwirklicht worden: Er gewann mit 73 % der Stimmen, die Zustimmungsrate sank im Januar 2022 auf 25 %. Es gab zu viele einzelne Geschehnisse, die den Ukrainern gezeigt haben, dass die Macht ihres Präsidenten nicht ausreicht, um die Korruption zu stoppen50. Dann aber stieg sie am Tag des Angriffs steil auf 90 %51. Erst dieser Angriff von außen hat alle Ukrainer zusammengeschweißt und die faszinierende Identität von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt erleben lassen. Die Ukrainer finden durch die Kriegserfahrungen und das Erlebnis der internationalen Solidarität mehr zueinander, als dies in Friedenszeiten möglich gewesen wäre. So kann es gelingen, die von der Europäischen Union geforderten Standards zu erreichen. Senken kann man sie nicht, ohne die Union selbst zu gefährden52. Das sehen die Franzosen völlig richtig.

11. Feindbilder schweißen zusammen

Auch Finnland und Schweden haben beantragt, der NATO beizutreten und werden derzeit (November 2022) nur von Erdogan daran gehindert. Viel wichtiger ist aber noch, dass die Gefährdung der Rohstoffversorgung Europas vor allem mit Energie zu einem beispiellosen Zusammenschluss aller betroffenen Länder geführt hat. Noch vor wenigen Monaten hätte niemand sich vorstellen können, dass in Deutschland privat wie in der Industrie 20 % Gas gespart wird, dass riesige Pakete geschnürt werden, allein um die Erpressung abzuwehren, auch wenn man nicht genau weiß, ob sie die erforderliche Wirkung haben werden. Russland ist als der klare Feind im Osten wieder auferstanden und vermutlich hat Putin sich nicht vorstellen können, welche Energien er damit auf der anderen Seite freisetzt. Ohne Druck von außen hat Europa sich in vielen Fragen zur Fleisch, jedenfalls in dieser sind die Westeuropäer sich einig. Und die Türkei zeigt umso deutlicher, dass sie nicht dazugehört.

12. Langzeitstrategien

Wladimir Putin und manchen Ukrainern würde es gefallen, wenn die ukrainische Regierung dem Westen einen Brief schriebe, wie es die Kosaken getan haben sollen– aber es findet sich keine Mehrheit für die Idee, Russland als Schutzmacht in Anspruch zu nehmen. Das hat die Ukraine ihre Geschichte gelehrt53, eine Geschichte, die Putin in seinem Essay völlig verdreht darstellt. Er will nicht verstehen, dass die Ukraine sich aus der slawischen Denktradition lösen will, die seit Jahrhunderten die Machtverhältnisse um einen einzelnen Herrscher herumgruppiert. Der Gedanke der Gewaltenteilung ist solchen Systemen ebenso fremd wie die Teilhabe der Menschen an den Entscheidungen, die sie betreffen54. Das ist eine lange Denktradition in Russland. Turgenjev schreibt in seinem Roman »Rauch« (1867): wenn zehn Russen zusammenkommen "ziehen sie dann natürlich auch gleich über den verfaulten Westen her. Welch ein Rätsel, man bedenke nur. Da schlägt er uns in allen Punkten, dieser Westen - aber er ist verfault!". «Wenn wir den Weg des Westens gehen, wird das russische Volk nicht überleben», gibt Präsident Putin in seiner «Rede zur Nation» am 21. Februar bekannt.

Der Westen ist sich über die ukrainische Haltung nicht immer ganz sicher, weil sie innenpolitisch seit Jahren massiv umkämpft ist. Und wir wollen nicht in einen militärischen Konflikt mit Russland hineingezogen werden. Es ist nicht nur die Erinnerung an die beiden Weltkriege und Jahrzehnte des Kalten Krieges, es ist auch die Drohung mit Atomwaffen, die nur deshalb nicht eskaliert, weil sie im Westen für Fake gehalten wird. Diese Sorgen nimmt die ukrainische Regierung nicht ernst. Sie sagt im Kern: Wir sind es, die derzeit für Euch die Freiheit verteidigen und deshalb müsst Ihr uns uneingeschränkt unterstützen. Wer den Stil, in dem diese Argumente vorgetragen werden, kritisiert, gilt als »beleidigte Leberwurst«55. In einer solchen Situation müssen die Beteiligten sich bewusstwerden, dass sie am Ende des Konflikts weiter nebeneinander und miteinander leben müssen56. Das haben am Ende des Zweiten Weltkrieges alle verstanden und ihnen war vor allem bewusst, dass ein unausgewogener und erzwungener Frieden, wie der Versailler Vertrag ihn geschaffen hatte, den Krieg nicht wirklich beendet hat – in Wirklichkeit war es ein 30-jähriger Krieg (1914-1945). Die Gespräche müssen das Ziel haben, in eine Verhandlung zu münden, in der die bisherigen Extrempositionen beider Seiten kompromissfähig zurechtgestutzt werden müssen.57

Leider hat gerade Wladimir Putin alles dafür getan, um an seiner Verhandlungsbereitschaft, seiner Wahrheitsliebe und dem Wunsch nach Frieden zweifeln zu lassen. Und diese Haltung wird er jedenfalls dann nicht aufgeben, wenn er in Verhandlungen in die Ecke getrieben wird oder sein Gesicht verliert. Viele bestreiten, dass der Westen darauf achten müsse, die eigene Position nicht zu überziehen und stützen sich dabei vor allem auf moralische Argumente, darunter in erster Linie die Angriffe auf Zivilisten, Krankenhäuser, Schulen und individuelle Mordtaten der Soldateska.

Tatsächlich ist es sehr schwer, sich im Bewusstsein all dieser Tatsachen Gedanken darüber zu machen, wie Putin aus der Sache herauskommen könne. Die neueren Darstellungen seines Charakters58 legen es nahe anzunehmen, dass ihm ein Begriff wie »Selbstachtung« vielleicht völlig fremd ist. Zugleich wird uns bewusst, dass die Stabilität, die wir während des Kalten Krieges erfahren haben, nicht unbedingt darauf zurückzuführen sein muss, dass die Russen verstanden haben, welche Vorteile westliche Staatsformen auch für sie haben könnten. Vielleicht wollen Sie wirklich eine Art Diktatur zurückhaben, weil sie sich sonst nicht sicher genug fühlen. 1996 schrieb die Rossiyskaya Gazeta:

»Stimmen Sie mit uns überein, dass wir genug Demokratie hatten, dass wir uns nicht an sie anpassen konnten und dass es jetzt Zeit ist, die Schrauben anzuziehen?« und bot den Lesern einen Preis von 2000 $ an, wenn jemand eine neue Idee zur nationalen Vereinigung vorstellen könne.«59

Niemand kann vergessen, dass die Geschichte Russlands die Geschichte einer mehr als blutigen Revolution ist, die uns nur deshalb nicht in ihrem vollen Ausmaß vor Augen steht, weil sie teilweise hinter dem Schleier des Krieges verborgen werden konnte. Gerade in ihren Anfängen war sie vor allem von Lenins Überzeugung geprägt, die Revolution könne nur dann siegen, wenn auch die Länder rund um die Sowjetunion sich dieser Ideologie anschließen würden. Das war die Geburtsstunde der Komintern, die später Stalin den Vorwand an die Hand gab, jeden, der an dieser Entwicklung mitgewirkt habe, müsse als Spion beseitigt werden60. Zwischen 1917 und Stalins Tod gab es unzählige Säuberungen und die von der Regierung in den letzten Jahren mindestens geduldeten, vermutlich aber befohlenen Giftmorde des KGB reichen bis in die jüngste Vergangenheit zurück. Wenn es Putin tatsächlich gelungen ist, die politische Macht in die Hände der Leute des KGB zu legen und sie mit der Regierung zu vereinigen, hat er eine Machtfülle erreicht, die auch Lawrenti Berija 1953 nach dem Tod Stalins angestrebt hat. Sobald das offenkundig wurde, haben die anderen Mitglieder des Zentralkomitees ihn umgebracht, weil sie eine Parallelregierung durch den Geheimdienst fürchteten. Ob sie jetzt schon in Russland existiert?

Wir haben nicht ohne Grund Angst vor den Russen – sie aber offenbar auch vor uns, denn ihre unmittelbaren Anrainer wollen jetzt demokratische Regierungsformen. Victor Orbans Ungarn erscheint in unseren Augen zwar wie eine Karikatur dieser Idee, aber es ist immerhin besser als 1956 nach dem Einmarsch der Russen.

Auch wenn wir die Angst der Russen für irrational halten, müssen wir uns die Mühe machen, sie zu verstehen. Der Westen hat Jahrzehnte im Zustand des Kalten Krieges Verhältnis zu den Russen gestanden und weiß, wie viel Geduld das erfordert und mehr noch, dass man den Gesprächsfaden auch während der Kampfhandlungen nicht abreißen lassen darf, auch wenn die Gegenseite in fast jeder Verhandlung am Ende »njet« sagt. Das Misstrauen des Westens61 speist sich auch aus der Erfahrung, dass die russische Seele sich nur zum Teil dem Westen nahe fühlt (obwohl unzählige politische und kulturelle Elemente Eingang in das russische Denken gefunden haben), im Übrigen aber in der Weite des asiatischen Raumes lebt: Russland führt nicht ohne Grund den doppelköpfigen Adler im Wappen, der nach Westen wie nach Osten blickt. Auf ähnliche Weise ist aber auch die Ukraine gespalten, deren westlicher Teil sich Europa mehr verbunden fühlt als ihre östlichen Regionen.

Diese Situation hat Russland durch eine Abstimmung ausgenutzt, die – ähnlich wie bei der Krim – in den von Russland besetzten Gebieten eine überwiegende Zustimmung zur Trennung von der Ukraine zeigt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind diese Abstimmungen manipuliert, aber man kann nicht leugnen, dass das Gefühl der nationalen Identität, das in der Nord – und Westukraine zu beobachten ist, nicht ohne weiteres im Osten und im Süden zu erwarten ist. Eine solche Trennung ist von vielen Analysten schon lange vorhergesagt worden. Die Menschen, die in den besetzten Gebieten noch keine russischen Pässe haben, werden sie jetzt erhalten und die Gefährlichkeit des Kriegsgeschehens wird gesteigert, weil Kampfhandlungen in diesen Gebieten nun als Aggression unmittelbar gegen Russland interpretiert werden. Wie die NATO darauf reagieren wird, ist noch unklar. Die Möglichkeit zu Kompromissen wird erheblich erschwert. Es ist tragisch, zu erkennen, dass auch die Versuche, Putin und andere russische Politiker vor den Internationalen Gerichtshof zu zitieren, eher dafür sorgen wird, dass deren Haltung unerbittlich bleibt und sie nicht zu einem Kompromiss zwingt.62

13. Kompromisse, Neutralität und Pazifismus

Russland hat mehrfach angekündigt, die Angriffe erst zu beenden, wenn es seine Kriegsziele erreicht habe. Das naheliegende Kriegsziel ist mindestens die Erhaltung der Krim als russisches Staatsgebiet und die Abtrennung des Donbass von der Ukraine und die Bildung eines unabhängigen Staates, so wie er jetzt allein von Russland bereits anerkannt worden ist. Eine Vielzahl erfahrener Strategen – darunter auch Henry Kissinger63 – rät der Ukraine (und der NATO) in diesem Fall auch selbst zu Friedensverhandlungen bereit zu sein, auch wenn damit ein Verlust an industrieller Kapazität und Landfläche verbunden ist. Dies in der Hoffnung, dass ein solcher Verzicht später rückgängig gemacht werden kann. Putin und Lawrow haben darüber hinaus angedeutet, dass sie nicht einmal die Westukraine als Staat anerkennen, sondern kulturell und letztlich auch politisch als zu Russland gehörig betrachten für Weißrussland wird das nicht ausdrücklich gesagt, weil das Land letztlich als Satellitenstaat Russlands betrachtet wird).

Wer diese Art Kompromiss vorschlägt, wird in der derzeitigen westlichen Diskussion als unmoralischer Verzichtspolitiker gegeißelt. Man sollte jedoch bedenken, dass nicht nur die DDR, sondern auch Ungarn und die Tschechoslowakei Jahrzehnte russischer Besatzung und Dominanz ertragen haben, ohne ihre staatliche Identität und ihre langfristigen Ziele aus dem Auge zu verlieren. Man kann es für einen historischen Zufall halten, dass in all diesen Ländern der russische Einfluss nur noch indirekt zu bemerken ist, aber leugnen kann man es nicht. Wer zu solchen Kompromissen rät, ist also kein Verräter, sondern jemand der sehr langfristig denkt und die kurzfristigen Kriegsrisiken sehr ernst nimmt. Allerdings widerspricht dieser Auffassung der unbedingten Entschlossenheit großer Teile der westukrainischen Bevölkerung, eine solche Entwicklung niemals hinzunehmen. Dazu gibt es historische Vorbilder:

1675 war es dem osmanischen Herrscher Sultan Mehmed IV. gelungen, sich einige Kosakenvölker tributpflichtig zu machen und ermutigt durch diesen Erfolg forderte er ein Jahr später die Saporoger Kosaken, die auf dem Gebiet der heutigen Ukraine siedelten, auf, gleiches zu tun64:

»Ich, Sultan und Herr der Hohen Pforte, Sohn Mohammeds, Bruder der Sonne und des Mondes, Enkel und Statthalter Gottes auf Erden, Beherrscher der Königreiche Mazedonien, Babylon, Jerusalem, des Großen und Kleinen Ägyptens, König der Könige, Herr der Herren, unvergleichbarer Ritter, unbesiegbarer Feldherr, Hoffnung und Trost der Muslime, Schrecken und großer Beschützer der Christen, befehle euch, Saporoger Kosaken, freiwillig und ohne jeglichen Widerstand aufzugeben und mein Reich nicht länger durch eure Überfälle zu stören. Sultan Mehmed IV.«

 Ilja Jefimowitsch Repin - Reply of the Zaporozhian Cossacks, Gemeinfrei Hinweise zur Weiternutzung s. Wikimedia Commons.

Entgegen seinen Hoffnungen unterwarfen die Kosaken sich nicht, ja sie verhandelten nicht einmal. Da die meisten von ihnen weder lesen noch schreiben konnten, diktierten sie einen Brief, der es verdient, festgehalten zu werden:

»Du türkischer Teufel, Bruder und Genosse des verfluchten Teufels und des leibhaftigen Luzifers Sekretär! Was für ein Ritter bist du zum Teufel, wenn du nicht mal mit deinem nackten Arsch einen Igel töten kannst? Was der Teufel scheißt, frisst dein Heer. Du wirst keine Christensöhne unter dir haben. Dein Heer fürchten wir nicht, werden zu Wasser und zu Lande uns mit dir schlagen, gefickt sei deine Mutter!
Du Küchenjunge von Babylon, Radmacher von Mazedonien, Ziegenhirt von Alexandria, Bierbrauer von Jerusalem, Sauhalter des großen und kleinen Ägypten, Schwein von Armenien, tatarischer Geißbock, Verbrecher von Podolien, Henker von Kamenez und Narr der ganzen Welt und Unterwelt, dazu unseres Gottes Dummkopf, Enkel des leibhaftigen Satans und der Haken unseres Schwanzes. Schweinefresse, Stutenarsch, Metzgerhund, ungetaufte Stirn, gefickt sei deine Mutter!
So haben dir die Saporoger geantwortet, Glatzkopf. Du bist nicht einmal geeignet, christliche Schweine zu hüten. Nun müssen wir Schluss machen. Das Datum kennen wir nicht, denn wir haben keinen Kalender. Der Mond ist im Himmel, das Jahr steht im Buch und wir haben den gleichen Tag wie ihr. Deshalb küss unseren Hintern!
Unterschrieben: Der Lager-Ataman Iwan Sirko mitsamt dem ganzen Lager der Saporoger Kosaken.«

Wer den Brief genauer studiert, wird den Hinweis der Kosaken darauf vermissen, dass sie sich bereits 1654 dem Zaren unterworfen hatten, der ihre Hilfe gegen die Osmanen brauchte. Sie fühlten sich auf der Siegerstraße und haben tatsächlich in dem darauffolgenden russisch – osmanischen Krieg ihre Unabhängigkeit gesichert65.

Es ist erstaunlich, dass nicht nur Politiker, die man seit langem als »Falken« kennt, jetzt für eine unnachgiebige Haltung gegenüber Russland eintreten, so etwa Ralf Fücks66. Sie liegen damit auf einer Linie, die sich auch in der ukrainischen Regierung finden lässt. Beide Seiten wollen nicht wahrhaben, dass sie nicht nur politisch, sondern auch kulturell seit Jahrhunderten in besonderer Weise miteinander verbunden sind, in mancher Hinsicht vergleichbar mit dem Verhältnis zwischen deutschen Hoheitsgebieten und dem Elsass oder Königsberg. In der Ukraine werden Denkmäler von Puschkin demontiert, in Russland die ukrainische Sprache marginalisiert usw.

Unmittelbar nach Beginn des Krieges war das anders. Im März 2022 standen die Russen bedrohlich nahe an Kiew und das führte zu Verhandlungen zwischen Putin und Selenskyj. Damals schien die Ukraine bereit, auf einen Beitritt zur NATO zu verzichten, Putin seinerseits soll auf seine Forderung verzichtet haben, die Ukraine zu entmilitarisieren. Boris Johnson, aber auch die Amerikaner haben weitere Gespräche in diese Richtung verhindert, die auch von zahllosen Vermittlern unterstützt worden sind67. Kurz danach wurden die russischen Kriegsverbrechen in Butcha aufgedeckt. Ob in dieser kurzen Zeit eine tragfähige Vereinbarung hätte zustandekommen können, ist zweifelhaft. Aber die auf unterschiedlichen Ebenen erhobene Forderung, die Verhandlungen wieder aufzunehmen, kann man nicht ernsthaft bestreiten, sondern muss sie in die Tat umsetzen. Beide Parteien sind z.B. bei der Frage der Getreideexporte, des Gefangenenaustauschs und zeitweiser Waffenstillstände ständig im Gespräch. Die Plattformen existieren also. Es gibt den chinesischen Friedensplan, Vermittlungsangebote aus Israel, Brasilien, der Türkei usw. Auch während des Vietnamkriegs sind Verhandlungen parallel zu den Kriegsereignissen geführt worden. Mir ist unerklärlich, warum dagegen politisch polemisiert wird.

Wir wissen nicht, ob Russen oder Ukrainer derzeit über eine mögliche Beendigung des Krieges sprechen und noch weniger, ob sie darüber verhandeln. Gespräche welcher Art auch immer kann man auch mit jemandem führen, dessen Motive, Ziele, Ideen und Handlungen man absolut ablehnt. Das ist in der Praxis nicht ganz einfach, weil man sich in solchen Gesprächen über den anderen ärgert, von ihm provoziert wird und selbst entsprechend reagiert. Reißt der Gesprächsfaden aber ab, dann fehlen wichtige Informationen.

Heute betont die Ukraine immer wieder, dass sie keinen Meter ukrainischen Bodens an die Russen preisgeben wird – auch nicht in Form eines Kompromisses. Nicht alle Ukrainer teilen diese Ansicht. Ihnen ist bewusst, dass sie die russischen Minderheiten, die im Land leben und viele Ukrainer, die sich zu ihrem Staat gehörig fühlen, aber untereinander russisch sprechen, nicht immer fair behandelt haben. Ein ukrainischer Offizier im Interview:

»Und wenn wir jetzt den ganzen Donbass und das Gebiet Luhansk zurückerobert haben, was dann?», sagte er weiter in der Kneipe, in der man ihm kein Bier verkauft hätte, weil in der Ukraine an Soldaten kein Alkohol verkauft wird. Ich bekam es erst, als ich meinen polnischen Pass zeigte. Die Outdoor-Kleider im Farbton Coyote-Brown hatten genügt, den Argwohn der Kellnerin zu wecken. «Die Kinder von damals, die bei Kriegsbeginn zehn Jahre alt waren, sind doch heute schon erwachsen. Sie sind im Hass auf uns Ukrainer erzogen worden, auf unseren Staat. Wenn wir erst den Donbass und das Gebiet Luhansk zurückerobert haben, dann werden wir sie mit einer inneren Grenze abschotten müssen. Damit sich dieses Krebsgeschwür nicht auf die ganze Ukraine ausbreitet.»68

Die Schweiz kann mit vier unterschiedlichen Sprachkulturen leben, die Ukrainer werden es noch lernen müssen.

Ob Russland auf diese unnachgiebige Haltung mit weiteren Drohungen und (auch atomaren) Angriffen reagieren wird, können wir nicht wissen. Für unsere eigenen Entscheidungen müssen wir aber den Freiraum haben, nicht jede denkbare politische Position der Ukraine auch für uns zu akzeptieren. Wenn wir innerlich bereit sind, uns von den Russen nicht erpressen zu lassen, sollten wir uns diese Freiheit auch gegenüber der Ukraine nehmen. Erstaunlich, dass dabei die Grünen zu den Falken gehören:

»Ich habe mich gewundert, wie leichtfertig ausgerechnet in Deutschland über den Krieg gesprochen wird. Gestern noch wurde der Krieg verdammt und der Pazifismus beschworen, und heute schon ist von tapferen Helden, ruhmreichen Abwehrschlachten und vom nationalen Stolz der Verteidiger die Rede.«69

Den Falken stehen andere Stimmen gegenüber, die eine neutrale Haltung des Westens einfordern (insbesondere den Verzicht auf Waffenlieferungen70) oder sogar noch weitergehende pazifistische Haltungen unterstützen (Austritt aus der NATO etc.). Natürlich ist es moralisch am einfachsten, eine absolut pazifistische Haltung einzunehmen. Nur scheint mir, dass die Leute nicht wirklich ernsthaft darüber nachdenken, dass sie dann nicht nur sofort aus der EU (die auch eine militärische Unterstützungspflicht vorsieht) und der NATO austreten und die Bundeswehr abschaffen müssten, sondern auch bereit sein, den dann einmarschierenden Russen die Füße zu küssen. Wenn es eine mehrheitliche Stimmung dieser Art im Lande gäbe, würde ich mich ihr unterwerfen und mir an den Sizilianern und den Neapolitanern ein Beispiel nehmen, die über Jahrhunderte von den unterschiedlichsten Staaten regiert worden sind. Nach kurzer Zeit eine Unterdrückung fanden die jeweiligen Eroberer es angenehmer, den Lebensstil der örtlichen Bevölkerung anzunehmen und haben ihre politischen Ziele vergessen. Ob man die Russen auf diese Art »katholisch machen« kann, weiß ich nicht, aber es scheint mir nicht ausgeschlossen. Nur bin ich absolut davon überzeugt, dass man in Deutschland für diese Haltung keine Mehrheit finden kann. Und dann muss man eben bereit sein zu kämpfen und sich die Szenarien einer atomaren Auseinandersetzung in aller Deutlichkeit vor Augen führen. Was leider nicht geschieht. Dass die Russen fähig sind, einen Atomkrieg anzufangen, scheint mir nicht ausgeschlossen, obwohl ich andererseits völlig davon überzeugt bin, dass das das Ende ihrer Nation bedeuten würde. Aber vielleicht sieht Putin das anders? Viele seiner Entscheidungen deuten darauf hin, dass er den Grundfehler absoluter Machthaber nicht vermeiden kann: Es ist die tägliche Konstruktion von Vorstellungen, die nur den Gefühlen und Zielen des Machthabers folgt und nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat.

Kompromisse werden auch deshalb schwer, weil viele Ukrainer der Überzeugung sind, dass Russland einen Waffenstillstand oder vergleichbare Zugeständnisse nur machen würde, um Zeit zu gewinnen, neu aufzurüsten und dann erneut anzugreifen. Nehmen wir einmal an, die Ukraine müsste keinem Kompromiss zustimmen, die Russen zögen sich aus allen Gebieten einschließlich der Krim wieder zurück und würden sogar ein Friedensversprechen abgeben. Was sollte sie daran hindern, geraume Zeit später wieder zuzuschlagen so wie sie es im Februar 2022 getan haben?

Dabei kann niemand leugnen, dass die Verhandlungen, die der Besetzung der Krim folgten, die Ukraine erst in die Lage versetzt haben, sich gegen den neuerlichen Angriff wirksam wehren zu können (Vereinbarungen von Minsk 2015).

Die derzeitige Haltung der ukrainischen Regierung, Verhandlungen erst zu führen, wenn die Russen die Krim und den Donbass zurückgegeben haben, ist unrealistisch: Sie wollen den Krieg gewinnen71, aber es wäre schon ein großer Erfolg, wenigstens den status quo zu sichern – vielleicht ändern sich in 20 Jahren die Dinge ähnlich wie wir es in der Tschechoslowakei beobachtet haben72.

Ein weiteres – und viel tiefgreifenderes – Problem ist die Überzeugung der Ukrainer, sie hielten ihren Kopf nicht nur für sich selbst, sondern auch für die europäischen Staaten hin, die demnächst das Ziel der russischen Angriffe sein würden. Deshalb verstehen sie nicht, warum wir ihnen zu Kompromissen raten sollten, die letztlich auch uns nur schaden könnten. Sie übersehen dabei, dass wir Jahrzehnte eines Kalten Krieges hinter uns haben, in dem die Grenzen zwischen Deutschland und Russland die Ostgrenze der DDR bildeten. Da waren die Russen auf Rufweite an unseren Grenzen zu sehen und es ist doch am Ende alles gut ausgegangen. Es ist nicht unmoralisch, diese Differenz in den beiderseitigen Interessen zu sehen. Derzeit (August 2023) kommen beide Parteien und die hinter ihnen stehenden Mächte nicht zu zielführenden Verhandlungen. Der Grund ist vermutlich: Die Verluste auf beiden Seiten sind noch nicht groß genug, um einen Frieden unter Kompromissen zu akzeptieren.

Im New Yorker vom 17.02.202373 interviewt David Remnick den russischstämmigen US-Historiker Stephen Kotkin, der unter anderem eine berühmte Biografie über Josef Stalin geschrieben hat. Auf der Suche nach einer Friedenslösung sprechen sie über das Problem der Kompromisslosigkeit beider Seiten. Man argumentiert in diesem Zusammenhang immer auch, es komme nicht auf das Gelände, sondern auf die Menschen an, die dort wohnen und den Russen nicht überlassen werden dürften. Stephen Kotkin hält auch dieses Kriegsziel für illusionär. Die Ukrainer müssten ihre Freiheitsbedürfnisse als Kriegsziel definieren und sich in erster Linie fragen, welcher Frieden diesem Ziel dienen könnte. Wenn sie als Ergebnis eines Friedensvertrages Teil Europas und der NATO werden, wäre der Preis dafür, Teile ihres bisherigen Territoriums den Russen zu überlassen, angemessen.

Kompromisse kann man nur finden, wenn man das Problem auch aus der Perspektive des Gegners und aller anderen Beteiligten sehen kann, auch wenn man mit den von dort vorgeschlagenen Lösungen nicht einverstanden ist. Alle, die über neuerliche Friedensverhandlungen nachdenken, legen das wesentliche Ergebnis von Minsk II74 zugrunde: Die Krim bleibt (vorläufig) bei Russland, der Donbass in der Ukraine und in beiden Regionen gibt es von der UN überwachte Sonderregelungen für die dort lebenden Minderheiten aus den jeweiligen Ländern. Einen Verzicht auf den Beitritt zur Europäischen Union und/oder zur NATO wird man der Ukraine kaum zumuten können, denn nur dort liegen die Sicherheitsgarantien gegen einen erneuten Angriff. Natürlich verlieren sie auch Rohstoffe, aber die Chancen für die eigene Wirtschaft, die sich aus der Ausrichtung nach Europa ergeben, werden das nicht nur durch Subventionen, sondern auch durch Investitionen, den Fall von Zollschranken und zahllosen anderen Vorteilen auch auf kulturellem Gebiet bei weitem ausgleichen. Solange beide Seiten an ihren bisherigen Illusionen festhalten, wird sich ohnehin nichts bewegen lassen.

Im Krieg folgt die Gewalt den Regeln der Willkür, und doch wird am Ende die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

Es gibt Ausnahmen, die diese Regel bestätigen. Dann endet ein Krieg mit der absoluten Niederlage eines der beiden Gegner. Berühmte historische Beispielsfälle: Der dritte punische Krieg, an dem Karthago (heute: Tunis) von den Römern 146 v.Chr. bis auf den letzten Mauerrest zerstört wurden. Das geschah auch den meisten größeren deutschen Städten zwischen 1942 und 1945 und es folgte unsere absolute Unterwerfung und Besetzung durch die Siegermächte. So war es schon in der Konferenz von Casablanca (1943) beschlossen worden. Das war die Antwort auf den von den Deutschen ausgerufenen „totalen Krieg“ und sie wurde auch durch die Friedensbemühungen des deutschen Widerstandes nicht geändert75. Mit vergleichbaren Entwicklungen ist im Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine nicht zu rechnen, es wird also Verhandlungen geben.

In ihnen ist wie stets die Grenze zwischen Gewinn und Verlust schwer zu erkennen und letztlich sind es Ukrainer und Russen, die sie bestimmen müssen. Wir Deutschen haben lernen müssen, unsere absolute Niederlage 1945 zu akzeptieren. Wir haben alle Gebiete östlich von Oder und Neiße aus der Hand geben müssen, wir haben die Menschen aufgenommen, die dort lebten, am Ende nach der Wiedervereinigung sogar die Wolgadeutschen, wir dürfen nicht mehr Oberschlesien nachtrauern oder gar Siebenbürgen – all diese Opfer waren die Eintrittskarte in die europäische Gemeinschaft.

Wir können den Ukrainern nicht zur Unterwerfung raten76, sie aber auch nicht vor Hybris bewahren. Vermutlich werden wir über die nächsten 2-3 Jahre einen Zermürbungskrieg sehen. Der neue brasilianische Präsident Lula hat angekündigt, gemeinsam mit China eine Vermittlungsstrategie zu entwickeln. Er wird seine Erfahrungen machen.

Beide Seiten werden voraussichtlich erst dann miteinander verhandeln, wenn ein Abnutzungskrieg ihnen die Grenzen ihrer Möglichkeiten gezeigt hat.

Erst wenn sie in eigener Souveränität und ohne Einflüsse von außen diesen Konflikt geregelt haben, werden sie wissen, ob sie nicht nur Nachbarn, sondern auch Freunde und Brüder sein können.