Allgemeines Schuldrecht oder Besonderes Schuldrecht – Was ist anwendbar?
„Wann ist allgemeines Schuldrecht anwendbar, wann besonderes Schuldrecht?“ Diese Frage ist nicht nur für die korrekte Lösung juristischer Klausuren relevant, sondern auch für praktische Problemstellungen. Denn nicht selten weichen Normen im besonderen Schuldrecht vom allgemeinen Schuldrecht ab. Kompliziert ist diese Abgrenzung v. a. im Bereich der Gewährleistung in vertraglichen Schuldverhältnissen, weshalb hier ein Überblick zur Bearbeitung solcher Konstellationen gegeben wird.
1. Gibt es überhaupt einen Konkurrenzfall?
Die Frage nach Konkurrenzen zwischen mehreren Normen stellt sich nur, wenn überhaupt in Betracht kommt, dass ein Sachverhalt die Voraussetzungen mehrerer Normen gleichzeitig erfüllt.1 Nimmt man sich nun einen Kaufvertragsschluss zwischen zwei Parteien als Beispiel und überlegt, einen Rücktritt nach § 324 BGB anzunehmen, so regelt diese Vorschrift den Rücktritt wegen der Verletzung einer Pflicht nach § 241 Abs. 2 BGB. Für einen Rücktritt wegen einer Rücksichtnahmepflicht2 gibt es nun im besonderen Kaufrecht gar kein Pendant, siehe § 437 BGB. Folglich gibt es in diesem Fall überhaupt keinen Konkurrenzfall zwischen allgemeinem und besonderem Schuldrecht, sodass nur das allgemeine anwendbar ist. Denkt man das Beispiel um und diskutiert nun bei einem Kaufvertrag einen Schadensersatzanspruch wegen nachträglicher Unmöglichkeit, gibt es hier sowohl im allgemeinen Schuldrecht eine Anspruchsgrundlage in den §§ 280 Abs. 1, 3, 283 BGB,3 als auch ein Pendant im besonderen Schuldrecht: dieselbe Anspruchsgrundlage in Verbindung mit § 437 Nr. 3 Alt. 1 BGB, der zusätzlich (besonders) den Sach- oder Rechtsmangel der Kaufsache fordert.4 Hier überschneiden sich also erst die Anwendungsbereiche zweier Normen, sodass ein Konkurrenzfall vorliegt und dieser näher behandelt werden muss.
Teils gibt es bei bestimmten Vertragstypen auch überhaupt kein System an besonderem Gewährleistungsrecht – z. B. beim Dienstvertrag; dann ist grundsätzlich das allgemeine Schuldrecht anwendbar, welches höchstens punktuell modifiziert wird – es gibt eben keinen möglichen Konkurrenzfall.5 Ein Beispiel für eine solche Modifikation ist z. B. der § 619a BGB, der die Vermutung des Vertretenmüssens in § 280 Abs. 1 S. 2 BGB des Arbeitnehmers aushebelt und besagt, dass dieses positiv festzustellen ist.6
Schließlich gibt es auch Vertragstypen, bei denen es nur für manche Leistungsstörungs-Konstellationen besondere Vorschriften gibt, für andere aber nicht – beispielsweise im Mietrecht, wo es die besonderen Regelungen der §§ 536, 536a BGB für den Mieter gibt, der Minderung und Schadensersatz bei Mängeln fordern kann, aber keine besondere Regelung für Schadensersatzansprüche des Mieters wegen anderweitiger Pflichtverletzungen des Vermieters, weshalb auch dann mangels Konkurrenzfall nur das allgemeine Schuldrecht anwendbar ist.7
Je nach Vertragstyp ist daher immer erst die Frage zu beantworten, ob überhaupt ein Konkurrenzfall vorliegen kann.
2. Ab wann verdrängt das besondere Schuldrecht das allgemeine Schuldrecht?
Gibt es nun einen Konkurrenzfall, muss man sich fragen, ab wann das besondere Schuldrecht das allgemeine verdrängt. Diese Frage ist je nach Vertragstyp unterschiedlich zu beantworten:
Bei Kaufverträgen gilt das besondere Gewährleistungsrecht nicht schon ab dem Gefahrübergang,8 sondern erst ab der Annahme der Kaufsache als Erfüllung i. S. d. § 363 BGB.9 Dieser Streit erübrigt sich in vielen Fällen, in denen bei Hol- bzw. Bringschuld der Gefahrübergang durch Übergabe (§ 446 S. 1 BGB) und die Annahme als Erfüllung gleichzeitig stattfinden.10 Bei einem Versendungskauf dagegen, kann der Verkäufer den Gefahrübergang schon durch die Übergabe an die Transportperson herbeiführen, § 447 Abs. 1 BGB; genügt dieser Gefahrübergang schon für die Anwendbarkeit des besonderen Kaufgewährleistungsrechts, so hat der Verkäufer bereits hierdurch die für ihn vorteilhaften Regelungen wie die kürzere Verjährung des § 438 BGB oder den Gewährleistungsausschluss bei Kenntnis (§ 441 BGB) auf seiner Seite.11 Der Käufer hätte nach dieser Ansicht dann keine Möglichkeit, das zu verhindern – und das, obwohl er bereits das Risiko für die Verschlechterung oder den Untergang der Kaufsache auf dem Transportweg trägt.12 Um dem Käufer aber diese Chance zu bieten, dem mangelhaft leistenden Verkäufer diese Vorteile nicht ohne Weiteres zu gewähren, kann der entscheidende Zeitpunkt dann erst die Annahme als Erfüllung sein.
Im Werkrecht gestaltet sich die Frage z. B. einfacher: das besondere Gewährleistungsrecht ist ab der Abnahme des Werks gem. § 640 BGB anwendbar.13 Für das Mietrecht gilt beispielsweise die Überlassung der gemieteten Sache.14
3. Sonderfall: Verbraucherverträge über digitale Produkte
Einen Sonderfall zu diesen Ausführungen bilden die Verbraucherverträge über digitale Produkte. Dort enthalten die §§ 327 ff. BGB ein vollständig eigenes Regelungssystem; es ist für diese besonderen Gewährleistungsrechte ohne Bedeutung, welcher Vertragstyp eigentlich vorliegt.15
- 1. Vgl. Hübner/Sagan, Die Abgrenzung von Vertrag mit Schutzwirkung zugunsten Dritter und Drittschadensliquidation, JA 2013, 741 (745); vgl. Streyl, in: Schmidt-Futterer, Mietrecht, 16. Auflage 2024, § 536 Rn. 10, 39.
- 2. Ernst, in: MüKo BGB, 9. Auflage 2022, § 324 Rn. 7.
- 3. Lorenz, Grundwissen – Zivilrecht: Unmöglichkeit – Schadensersatz statt der Leistung, JuS 2023, 10 (10).
- 4. Lorenz, Grundwissen – Zivilrecht: Unmöglichkeit – Schadensersatz statt der Leistung, JuS 2023, 10 (12).
- 5. Vgl. Brox/Walker, Besonderes Schuldrecht, 46. Auflage 2022, § 20 Rn. 8.
- 6. Brox/Walker, Besonderes Schuldrecht, 46. Auflage 2022, § 20 Rn. 11.
- 7. Streyl, in: Schmidt-Futterer, Mietrecht, 16. Auflage 2024, § 536 Rn. 10, 39.
- 8. so aber u. a. Saenger, in: Schulze u. a. BGB. Kommentar, 12. Auflage 2024, Rn. 22.
- 9. Staudinger, BGB. Eckpfeiler des Zivilrechts, 8. Auflage 22, Rn. H 16 f.; Höpfner, in: beck-online.GROSSKOMMENTAR, Stand: 15.09.2024, § 437 Rn. 9 f.; Maultzsch, in: MüKo BGB, 9. Auflage 2024, Rn. 7 f.; Faust, in: BeckOK BGB, 72. Edition v. 01.08.2024, § 437 Rn. 5 f.
- 10. Höpfner, in: beck-online.GROSSKOMMENTAR, Stand: 15.09.2024, § 437 Rn. 10; auch ist ein Gefahrübergang wegen Annahmeverzugs i. S. d. § 446 S. 3 BGB nicht denkbar – wenn die Sache mangelhaft ist, gilt sie als nicht ordnungsgemäß angeboten und die Ablehnung löst dann keinen Annahmeverzug aus, vgl. ders. ebd.; Stadler, in: Jauernig, Bürgerliches Gesetzbuch. Kommentar, § 294 Rn. 3.
- 11. Höpfner, in: beck-online.GROSSKOMMENTAR, Stand: 15.09.2024, § 437 Rn. 10; Maultzsch, in: MüKo BGB, 9. Auflage 2024, Rn. 8.
- 12. Höpfner, in: beck-online.GROSSKOMMENTAR, Stand: 15.09.2024, § 437 Rn. 10.
- 13. Staudinger, BGB. Eckpfeiler des Zivilrechts, 8. Auflage 22, Rn. H 16.
- 14. Streyl, in: Schmidt-Futterer, Mietrecht, 16. Auflage 2024, § 536 Rn. 10.
- 15. Staudinger, BGB. Eckpfeiler des Zivilrechts, 8. Auflage 22, Rn. H 1.