Gerechtigkeit in Rechtssystemen

Gerechtigkeit ist ein zentraler Begriff aller moralischen Konstruktionen. Jede Moral muss in ihrem Kern »gerecht« sein, wie ich in der Monographie »Moral und Gerechtigkeit« gezeigt habe. Rechtssysteme entwickeln sich nur in komplexeren Gesellschaften und basieren nur zu einem gewissen Teil auf moralischen Kriterien. Geht es z. B. um die Einhaltung von Formalitäten, Fristen usw. spielt Moral keine Rolle – die Normen müssen gleichwohl gerecht sein. Welche Funktion hat die Gerechtigkeit in Rechtssystemen?

1. Macht, Moral und Gerechtigkeit in den sozialen Systemen

»Absolute Gerechtigkeit ist ein irrationales Ideal.«
Hans Kelsen

»Man muss rational mit dem Irrationalen rechnen.«
Winfried Hassemer

»La vision de la justice est le plaisir de Dieu seul«.
Arthur Rimbaud1

In allen sozialen Systemen von den kleinsten privaten Gruppierungen bis hin zu staatlichen Institutionen wird um das richtige Verhältnis von Macht, Moral und Gerechtigkeit gerungen. Wie in der Monographie »Moral und Gerechtigkeit« beschrieben, besteht die Moral aus drei Elementen (Interdependenz/Reziprozität/Empathie) aus denen sich drei weitere Verzweigungen entwickeln, die die Kernelemente der Gerechtigkeit bilden: Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit.

Wir wissen, dass das Leerbegriffe sind, die in den jeweiligen Räumen und Zeiten, in denen sie verwendet werden, auf allen politischen, sozialen und kulturellen Beziehungsnetzen und Kommunikationsebenen eine eigene Bedeutung haben. Daraus entwickeln sich unterschiedliche Ordnungsstrukturen.

Je mehr sich Kulturen zu einem bestimmten Zeitpunkt ähneln, umso eher wird man einheitliche Auffassungen über den Begriff der Gerechtigkeit erwarten können. Absolute Gleichheit ist schon wegen der Individualität der Beteiligten und der Unterschiedlichkeit der internationalen Rahmenbedingungen unmöglich. Wenn Normen oder einzelne Entscheidungen diesen Maßstäben nicht genügen, werden sie als ungerecht empfunden. An dieser Stelle treffen logische und emotionale Elemente unlösbar aufeinander.

In der öffentlichen Diskussion werden diese Funktionen meist nicht klar genug auseinandergehalten. So werden insbesondere Maßstäbe an das moralische Verhalten angelegt, die nur im Bereich der Gesetze sinnvoll sind. Der Grund: Beim Gang durch die Systeme wird der Begriff in jedem System etwas anders aufgeladen und trägt diese Bedeutungsschattierungen durch den wiederholten re-entry in die jeweils anderen Systeme.

2. Moral und Recht: Stütze und Grenze der Macht

Wir haben in der Monographie »Moral und Gerechtigkeit« gesehen, dass die Macht die kennzeichnende Energie in allen sozialen Systemen darstellt. Wo immer Macht sich entwickelt – also in allen denkbaren sozialen Systemen von der Politik über Kultur, von der sozialen Verteilung bis hin zu den Bildungschancen und schließlich im Bereich der Rechtsysteme – wird sie von den Ideen der Moral und damit der Idee der Gerechtigkeit begleitet und begrenzt:

»Das Recht kann bestritten werden, die Macht ist deutlich kenntlich und unbestritten. So konnte man dem Recht nicht zur Macht verhelfen, weil die Macht das Recht bestritt und behauptete, es sei unrecht, und behauptete, sie wäre es, die das Recht sei.
Und da man nicht erreichen konnte, dass das, was Recht ist, mächtig sei,
machte man das, was mächtig ist, rechtens«.2

Im Bereich der Politik, in der um die Machtverteilung gerungen wird, die jede soziale Ordnung definiert, sie aufrechterhält und die Maßstäbe für die Verteilung von Gütern setzt, soll die Gerechtigkeit den politischen Forderungen die Autorität des Rechts verleihen, ist also im Kern eine rhetorische Figur. Hier handelt es sich um Forderungen, Normen zu bilden, die den Maßstäben von Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit genügen. Ob diese Forderungen ernst gemeint sind, hängt von dem Grad der Wahrheit ab, der auf politischen Kommunikationsebenen erreichbar und verstehbar ist. Wenn etwa Gerechtigkeit als politische Forderung auftaucht, wird ihr Kern auch in jeder Norm widergespiegelt, die aus solchen Forderungen erwächst.

Im Bereich der Moral, also im persönlichen Verhalten und den Konflikten zwischen Menschen/Gruppen in privaten und wirtschaftlichen Beziehungen ist Gerechtigkeit ein mehr oder weniger durchdringender Appell an das Verhalten der Beteiligten, denn moralische Regeln bilden selbstregulierende Systeme, die sich nur indirekt durchsetzen können. Daher ist es ihnen nicht möglich, Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit zu erzwingen. Im Bereich der Moral finden sich gesellschaftliche Sanktionen unterhalb der Schwelle des Rechts: Sie bestehen darin, den Geächteten in mehr oder weniger starkem Maßstab aus der Gesellschaft auszuschließen (an den Pranger stellen) und ihm nach gewisser Zeit ein Angebot zur Integration zu machen. Wenn Regelwerke dazu fehlen (wie etwa im Internet) werden moralische Sanktionen entweder nicht ernst genommen, oder übertrieben.

In allen anderen Bereichen des sozialen und öffentlichen Lebens ist Gerechtigkeit der Maßstab für jede Art von Entscheidungen öffentlicher oder privater Unternehmen, sobald sie unter dem »Schatten des Rechts« beurteilt werden. Jeder Mensch erfährt im Lauf seines Lebens Glück und Unglück, Heil und Unheil und zahllose damit verbundenen Schicksalsschläge. Jeder weiß, dass er damit für sich fertig werden muss, wir leiden unter dem Schicksal, aber mehr noch leiden wir unter der Willkür anderer Menschen: »Das größte und mehrste Elend der Menschen beruht mehr auf dem Unrecht der Menschen als auf dem Unglück«3.

In staatlichen Rechtssystemen werden die Regeln bewusst gestaltet, sie werden durch formale Akte der Machtverteilung reguliert. Hier ist Gerechtigkeit ein formaler und inhaltlicher Maßstab für die Qualität von Gesetzen, Gerichtsurteilen, Verwaltungsakten usw. und die Entscheidungen der Gerichte werden – notfalls gestützt auf das Gewaltmonopol des Staates – durch Zwang vollstreckt. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen Moral und Recht.

Der Unterschied zwischen Moral und Recht liegt im wesentlichen darin, dass die Definition und die Durchsetzung moralischer Werte informell geschieht, während das Recht formale Verfahren und vor allem die Möglichkeit der Vollstreckung beinhaltet:

»Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden. Der Widerstand, der dem Hindernisse einer Wirkung entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wirkung und stimmt mit ihr zusammen. Nun ist alles, was unrecht ist, ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen: Der Zwang aber ist ein Hinderniß oder Widerstand, der der Freiheit geschieht. Folglich: Wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hinderniß der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (das ist unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmen, das ist recht: Mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugniß, den, der ihm Abbruch thut, zu zwingen, nach dem Satz des Widerspruchs verknüpft.4«

Der Übergang von moralischen Regeln in rechtliche Normen ist fließend und abhängig von der Größe und Komplexität der Gesellschaft, die nach einer Ordnung sucht: Die viel engere Perspektive des Rechts gegenüber der Moral ergibt sich daraus, dass das Recht nur Normen berücksichtigen darf, die in einem bestimmten Verfahrensgang definiert worden sind und seine Urteile „eine wertende Auswahl zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem“5 treffen müssen, nur so rechtfertigen sich seine normierten Sanktionen.

Jedes soziale System (Politik, Bildung, soziale Verteilung, Moral, Recht usw.) entwickelt weitere Begriffselemente, die die in diesen Systemen jeweils angestrebten Ziele beschreiben und präzisieren. Im Recht etwa bedeutet Gleichheit nicht unter allen Aspekten das gleiche wie im Bereich der Bildungschancen. Das zeigt sich vor allem im Bereich der Sanktionen für die Verfehlung bestimmter Ziele.

Seine Bedeutung ist bei der Beurteilung von moralischen Entscheidungen erheblich weiter als bei der Beurteilung von Rechtsnormen: Wo kein geschriebener Text vorliegt, kann die Interpretation sich größere Freiheiten gestatten und oft ist es unklar, ob und wie Verstöße gegen moralische Regeln sanktioniert werden.

Ebenso wie im Bereich der Moral ist der zentrale Maßstab auch im Recht der Begriff der Gerechtigkeit. Es bezieht sich in Rechtssystemen aber nur auf das Verhältnis der Normen untereinander und kann ebenso wenig wie auf dem Gebiet der Moral absolute Ansprüche erheben:

»Wenn die Geschichte der menschlichen Erkenntnis uns irgendetwas lehren kann, ist es die Vergeblichkeit des Versuches, auf rationalem Wege eines absolut gültigen normgerechten Verhaltens zu finden, d. h. aber eine solche, die die Möglichkeit ausschließt, auf das gegenteilige Verhalten für gerecht zu halten. Wenn wir aus der geistigen Erfahrung der Vergangenheit irgendetwas lernen können, ist es dies, dass die menschliche Vernunft nur relative Werte begreifen kann. Absolute Gerechtigkeit ist ein irrationales Ideal. Vom Standpunkt rationale Erkenntnis gibt es nur menschliche Interessen und Interessenkonflikte6«.

Wenn wir den Begriff der Gerechtigkeit (Gleichheit, Fairness, Ausgewogenheit) als Klammer zwischen Moral und Recht betrachten, stellt sich die Frage, ob moralische Regeln, die z. B. von der Mehrheit einer Bevölkerung geteilt werden, umgesetzt in Rechtsnormen immer anerkennungsfähig sind. Ein typischer Fall ist die Beurteilung der Homosexualität, die in manchen afrikanischen Staaten mit hohen Mehrheiten für unmoralisch gehalten wird. In manchen Staaten gibt es auch Rechtsnormen mit hohen Strafen für homosexuelle Betätigung. Wo solche Strafnormen fehlen, ist aber die moralische Ächtung so intensiv, dass eine Verteidigung gegen moralische Sanktionen unter Berufung auf die Menschenwürde etc. völlig aussichtslos erscheint. Bei der Beurteilung solcher Probleme hilft uns der Blick auf dem begrifflichen Unterschied zwischen der Urgrammatik der Moral und der Urgrammatik des Rechts. Sie regeln das Spannungsverhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft und wenn wir eine Gesellschaft vor uns sehen, die dem Einzelnen seine individuellen Rechte zu stark beschneidet, mag das moralisch noch hingehen, verstößt aber gegen das Prinzip der Ausgewogenheit.

Angestrebt ist ein bestimmter anerkennungsfähiger Zustand der Ausgewogenheit zwischen Machtverhältnissen und/oder Interessen, der je nach dem Grad der Anerkennung durch die Beteiligten irritierbar oder nachhaltig ist. Die Rücksichtnahme auf die Freiheit aller Beteiligten erfordert es, die Dinge aus dem Blickfeld anderer zu betrachten. Deshalb können fanatische Kämpfer für die Gerechtigkeit erst ihr Ziel erreichen, wenn sie die Relativität ihrer eigenen Interessen zu begreifen imstande sind.

Umstritten ist die Frage, wo die Moral endet, und das Recht beginnt. Es liegt nahe anzunehmen, dass diese Grenze bei den Sanktionen liegt. Ein Verstoß gegen moralische Normen wird möglicherweise toleriert (nicht zuletzt aufgrund der Machtverhältnisse), es steht auch nicht immer fest, von wem Sanktionen ggf. ausgehen, die Sanktionen selbst sind selten definiert, sie können von stillschweigender Missbilligung bis hin zu massiven Eingriffen in die Rechte des Einzelnen gehen, der sich dagegen möglicherweise nicht mit rechtlichen Mitteln wehren kann.

Wenn die Sanktionen, die einem Verstoß gegen Normen folgen sollen, hingegen in den Normen selbst beschrieben wird, wenn die Institutionen beschrieben werden, die zur Entscheidung über den Verstoß berechtigt sind und wenn sie von der Gesellschaft die Macht erhalten, die Normen durchzusetzen, befinden wir uns in einem Rechtssystem. Dieses System wirft – wie unten zu zeigen ist – seinen Schatten auf moralische Normen und das gesamte gesellschaftliche Leben.

Es gibt eine intensive wissenschaftliche Diskussion über die Frage, ob der Begriff »Recht« auch auf Normen zutrifft, die nicht mit Sanktionen belegt sind. Wir kennen sie vor allem aus dem Völkerrecht. Diese Diskussion ist allenfalls theoretisch relevant, denn bereits moralische Normen, aber auch völkerrechtliche – oder andere, nicht mit Sanktionen belegte, aber ausformulierte – Normen stehen immer unter dem »Schatten des Rechts«, werden also von seinen Strukturen mittelbar und unmittelbar beeinflusst. Sie müssen nicht zwingend identisch mit ihnen sein.

Ebenfalls umstritten ist die Frage, ob Rechtsnormen sich aus den moralischen Vorstellungen der Menschen ableiten, die sie formulieren, oder ob ihre Setzung gerade die Unabhängigkeit von solchen kulturellen Grundströmungen beweist. Beide Einflüsse spielen zusammen: »Schon die frühesten chinesischen Gesetzgeber wussten, dass »ein Weiser bei der Regierung des Staates die Gebräuche (beachtet), um Gesetze aufzustellen«7. Der Gesetzgeber will mit der Norm die Regel ausdrücken, die befolgt werden soll und diese Regel setzt sich sehr oft vom Hergebrachten ab, sie will Zukunftswirkung entfalten. Andererseits darf sie nicht völlig gegen den Gerechtigkeitssinn verstoßen, der ohne moralischen Kern nicht denkbar ist und in diesem Kern zeigen sich die Ordnungsvorstellungen der Menschen in ihrer Zeit.

Moralische Regeln entwickeln sich – wie eingangs gezeigt – aus der Notwendigkeit, die Machtverhältnisse innerhalb einer Gesellschaft zu regeln. Solange Menschen in kleineren Gruppen zusammenleben können sie unter sich eine Ordnung »auf Zuruf« einrichten, die für ihre Zwecke ausreicht, sie brauchen keine formalen Hierarchien. Verstöße gegen moralische Regeln werden durch die Mitglieder der Gruppe sanktioniert und das Recht zu diesen Sanktionen hat der jeweils Höherrangige. Bei größeren Gruppen entwickeln die Verhältnisse sich komplexer und jede denkbare Ordnung wird vor allem dadurch gefährdet, dass Art und Umfang der Sanktionen nicht reguliert werden können.

Komplexere Rechtsysteme konnten und mussten sich erst entwickeln, nachdem Menschen in größerer Zahl verdichtet zusammenlebten (städtische Kultur etwa ab 12.000 v. Chr. (Jericho, Mesopotamien)8: Wenn die Grenzen informeller Kommunikation erreicht sind, kann eine Gruppe nicht mehr akephal bleiben, sie braucht eine Leitfigur und formale Regelwerke, an der die Menschen sich orientieren können. Wir finden diese biologisch/psychologisch abgesicherte Entwicklung bereits unter Primaten9 (bei denen wir schon »Führungsstreß« beobachten).

So entstehen staatliche Gebilde und entwickeln Rechtsnormen, die einerseits aus der Fülle der moralischen Normen jene auswählen, die unter den Rahmenbedingungen von Raum, Zeit, Kultur usw. relevant sein sollen und andererseits das Gewaltmonopol beanspruchen, um die Sanktionen durchzusetzen, die bei Verletzungen verhängt werden.

Ein Rechtssystem muss nicht nur jede Art der Willkür vermeiden (weil es sich sonst um keine Ordnung handelte), sie darf sich aber auch nicht an der Ordnung eines Konzentrationslagers orientieren, das nur der Aufrechterhaltung der Machtverhältnisse dient. Jede staatliche Ordnung muss sich nach den Werten richten, die innerhalb des Spannungsverhältnisses zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft gelten sollen. Einzelne Werte wie das Leben, die Freiheit usw. sind aus der Perspektive der einzelnen Individuen völlig anders zu beurteilen als aus der Perspektive der Gesellschaft.

»Dass die Gerechtigkeit im Zuteilen eine Wertung und Würdigung voraussetzt, wird allgemein anerkannt; aber diese Bewertungen unterscheiden sich erheblich: die Demokraten blicken auf die die Freiheit, die Oligarchen auf den Reichtum, andere auf ihre Abstammung, wieder andere auf die Tugend.«10

Das Recht beurteilt diese unterschiedlichen Wertvorstellungen anhand der oben beschriebenen Maßstäbe der Gleichheit, der Fairness und der Ausgewogenheit. Die Formel etwa »Du bist nichts, Dein Volk ist alles« verletzt auf den ersten Blick sichtbar das Prinzip der Ausgewogenheit und tiefer liegend den moralischen Grundsatz der Gegenseitigkeit: Eine Gesellschaft, die das Leben der Mitglieder, aus denen sie besteht, für nichts erachtet, hat selbst keinen Wert, den sie verteidigen könnte.

Rechtsnormen müssen mindestens diesen Bedingungen für moralischen Normen entsprechen. Sie erfassen aber nur das ausdrücklich in den Normen als sanktionierbar definierte Verhalten, Anders als bei moralischen Normen, die keine präzisen Abgrenzungen erfordern und viele undefinierte Bereiche offenlassen dürfen, darf im Recht nichts ungeklärt bleiben: Ob ein Verhalten »Recht« oder »Unrecht« ist, wird nur innerhalb stark formalisierter Verfahren durch unabhängige Richter festgestellt. Andere als rechtliche Rahmenbedingungen sind nicht zulässig, insbesondere darf die Macht der Richter nicht durch andere Machtverhältnisse beeinflusst werden.

Im historischen Rückblick kann man feststellen, dass Rechtsnormen über Jahrtausende hinweg von Menschen definiert worden sind, die die Macht dazu hatten. Sobald die Frage aufkam, ob solche Macht (und vor allem das dazugehörige Gewaltmonopol für die Sanktionen) auch legitimiert sein muss, sind Staatsformen entstanden, die das gewährleisten können. Die absoluten Monarchien haben ihr Recht zur Normsetzung von den Göttern (und später: von Gott) abgeleitet, in der Neuzeit ist sie in den meisten Staaten auf die Parlamente übergegangen. Wie die Machtlinien hinter solchen Fassaden verlaufen, ist allerdings eine eigene Frage.

Alle Menschen, die über Macht verfügen, vor allem Politiker, haben Schwierigkeiten, zu verstehen, dass das Recht nicht nur die Stütze der Macht ist, sondern ihr auch Grenzen zieht: »Kann, wer das Recht haßt, Herrschaft führen?« (Hiob 34,17). Wer das Recht als Stütze seiner Macht benutzt, muss sich von der Willkür verabschieden. Sobald ein Diktator z. B. damit beginnt, willkürlich zu morden, sich aber den Gesetzen, die den Mord verbieten, nicht unterwerfen will, verliert er die Zustimmung zu seiner Macht. Unterwirft er sich aber selbst den Normen, die geschaffen worden sind, verleiht das seiner Macht Stabilität. Um diese Selbstbindung überzeugend zu machen, wird das Recht veröffentlicht. Schon in den frühesten, durch Tafeln, und auf Säulen allgemein zugänglich gemachten Rechtstexten (Hammurabi, Ashoka) wird der Gedanke der Unterwerfung des Herrschers unter das von ihm selbst geschaffene Recht klar zum Ausdruck gebracht.

Wir haben oben die drei Elemente der »Urgrammatik der Gerechtigkeit« (Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit) kennengelernt, und gesehen, welche Rolle sie bei der Entwicklung moralischer »Sprachen« spielen. Dabei zeigte sich, dass Moral und Gerechtigkeit gleichzeitig die Stütze und Grenze der Macht darstellen:

»Das Recht ohne Macht ist machtlos; die Macht ohne Recht ist tyrannisch. Dem Recht, das keine Macht hat, wird widersprochen, weil es immer Verbrecher gibt; die Macht ohne Recht ist auf der Anklagebank. Also muss man das Recht und die Macht verbinden und dafür sorgen, dass das, was Recht ist, mächtig und das, was mächtig ist, gerecht sei.«11

Nur wenige mächtige Menschen können das ohne weiteres akzeptieren. Der bei manchen Politikern ausgeprägte Hass auf Juristen – vor allem Rechtsanwälte – erklärt sich aus deren Aufgabe, der Willkür der Mächtigen Grenzen zu ziehen. Diese Aufgabe wird in zwei Bereichen erfüllt:

  1. Der Erläuterung der Regeln des Rechts und damit der Grenzen der Macht, die Vertragsgestaltung und andere vorsorgende Tätigkeiten. Es ist aufwendig und nicht selten teuer, solche Dienste in Anspruch zu nehmen.
  2. Die Vertretung von Menschen, die ihr Recht innerhalb des Rechtssystems durchsetzen oder rechtswidrige Angriffe abwehren müssen. Das Rechtssystem muss dafür sorgen, dass die Schwelle des Zugangs zum Recht relativ niedrig bleibt und vor allem bezahlbar ist.

Das wird in der chinesischen Tradition, in der alle Phänomene des Lebens immer aus ihren Widersprüchen heraus interpretiert werden (Ying/jang) seit jeher anerkannt. Es ist eine janusköpfige Konstruktion, die in der allgemeinen Diskussion über die Funktion von Moral und Recht selten klar genug erkannt wird. In den asiatischen Denktraditionen wird sie nicht als widersprüchlich empfundenen. Das Recht kann Ordnung und Tod bringen ebenso wie die Göttin Kali Liebe und Tod in sich vereint. Das chinesische Schriftzeichen »quan« – – bezeichnet unterschiedliche Begriffe, die diese Erkenntnisse zusammenfassen: Quelle, Vollständig, Recht, Macht, Autorität, Faust.12 Macht und Gewalt werden selbstverständlich zusammen betrachtet, aber sie müssen aus einer vollständigen Quelle fließen, die einer bestimmten Funktion dient – der Ordnung der Gesellschaft, die ohne ein ausgewogenes Zusammenspiel zwischen den Mächtigen und denen, die der Macht unterworfen sind, keinen Bestand haben kann.

Aus der Urgrammatik der Moral entwickelt sich in menschlichen Gesellschaften auch die Sprache des Rechts, deren wichtigste Begriffe die drei Gerechtigkeitsmaßstäbe Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit bilden. So wird das Recht in noch weit höherem Maße als moralische Normen zur Stütze und Grenze der Macht. Die drei Gerechtigkeitsmaßstäbe erlauben eine sehr viel konkretere Bildung von Normen, ihrer Auslegung und ihrer Durchsetzung. Auch diese Kulturleistung hat sich im Verlauf unzähliger Generationen mit unseren genetischen Ausstattungen verbunden (Gen – Kultur – Koevolution13).

Die Bandbreite der Begriffe von Moral und Recht, die von abstrakter Eingrenzung der Willkür bis hin zu konkreten Güterabwägungen reicht, erklärt sich aus ihrer Funktion als Maßstab für die Regelung von Machtverhältnissen. Mit ihrer Hilfe wird es möglich, Machtdifferenzen zu definieren und so die Interessen des Individuums und die der Gesellschaft zueinander in ein Verhältnis zu bringen, das unter den jeweiligen Bedingungen von Raum, Zeit und anderen Elementen gewünscht wird.

Die entscheidende Frage ist, ob und in welchem Umfang die jeweiligen Inhaber der Macht die Gerechtigkeit als Stütze und Grenze der Macht erkennen und ihre Entscheidungen danach ausrichten. Wird sie – wie es in Diktaturen häufig der Fall ist – nicht erkannt oder beseitigt, sind die Entscheidungen willkürlich und können daher auf Dauer nicht stabil sein. Auch in Oligarchien demontieren mächtige Gruppen sehr oft die Gerechtigkeit, weil sie nicht erkennen, dass sie ihnen nicht nur Grenzen auferlegt, sondern auch als Stütze dient. Wenn Machtverhältnisse sich auf Verfassungen gründen, in denen das Verhältnis von Macht und Gerechtigkeit ausgewogen definiert wird (Demokratien), hat die Gerechtigkeit gute Chancen, das richtige Verhältnis zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft zu finden, in dem Stabilität und Flexibilität einander ergänzen. Unmittelbare Volksentscheide können dabei nützlich und schädlich sein. Ob und in welchem Umfang sich die Idee der Gerechtigkeit im konkreten Fall durchsetzen kann, hängt von den jeweiligen politischen, kulturellen, psychologischen, sozialen usw. Rahmenbedingungen ab. Bezogen auf politische Verhältnisse bedeutet das: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«14

Da moralische Normen sich laufend informell geänderten Rahmenbedingungen anpassen, fehlt ihnen die Stabilität des Rechts. Das Recht ist formal und will formal sein. So finden sich unter moralischen Vorschriften – vor allem in Übergangsphasen – immer wieder willkürliche Elemente: Moralische Normen sind nicht immer fair, weil die (in der Regel höherstehenden) Personen, die die Regeln interpretieren, ihre eigenen Maßstäbe an die Entscheidung anlegen und auch sonst nicht unbefangen sind. Moralische Entscheidungen sind nicht immer ausgewogen, weil dies den Vergleich mehrerer Fallgruppen voraussetzt, die sich nur bilden können, wenn die Konfliktregelung institutionell durch Verfahren abgesichert ist. Informelle kommunikative Verfahren können das nicht gewährleisten. Moralische Entscheidungen können daher weder Rechtssicherheit noch Gerechtigkeit garantieren, vor allem, weil sie nicht über die Möglichkeit verfügen, die Entscheidung ohne Rücksicht auf die jeweiligen Machtverhältnisse zu treffen. Nur die oben beschriebenen formalen und inhaltlichen Maßstäbe sind dazu imstande.

Die Wechselwirkungen zwischen beiden Systemen sind aber erheblich: Das Recht erwächst aus den Wurzeln moralischer Vorstellungen und die Moral wird von den Urteilen beeinflusst, die im Rechtssystem gefällt werden. Der Begriff der Gerechtigkeit, der in beiden Systemen in je unterschiedlicher Bedeutung benutzt wird, verändert sich durch den Re-entry zwischen beiden Systemen ständig. Die Schatten der Moral und des Rechts überschneiden sich.

Moralische Regeln, die keinen Eingang in Rechtssysteme gefunden haben, behalten ihre Geltung als Regulative des sozialen Lebens außerhalb der Rechtssysteme. Sie werfen ihren Schatten auf die Entstehung rechtlicher Regeln, die durch Modifizierungen und andere theoretischen Werkzeuge vielfältig geändert und systematisiert werden (Codices), damit sich mithilfe von Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit der Gerechtigkeitssinn entwickeln kann. Zwar sind auch moralische Regeln von diesen Elementen geprägt, aber sie haben – wie oben gezeigt – immer wieder auch willkürlichen Charakter. Wer sich willkürlich verhalten will, darf das nicht unter dem Schutz formaler Rechtsnormen tun. Man kann sich keine Rechtsnorm vorstellen, die keine Rücksicht auf die Abhängigkeit der Menschen untereinander nimmt (Interdependenz), die nicht den Gedanken der Gegenseitigkeit berücksichtigt (Reziprozität) oder keine für die, an einem Konflikt beteiligten entwickelt (Empathie). Umgekehrt wirken Rechtsnormen – vor allem der Begriff der Gerechtigkeit – diese werfen allerdings den »Schatten des Rechts« auch auf unser moralisches Verhalten zurück. In welchem Verhältnis eine Gesellschaft sich auf moralische oder auf rechtliche Regeln stützt, hängt von Ihren kulturellen Rahmenbedingungen ab15.

Bei allen Überlegungen in diesem Zusammenhang dürfen wir nie vergessen, dass – wie uns die Erkenntnistheorie zeigt – es unmöglich ist, Moral, Gerechtigkeit und Recht als absolut gültige Begriffe zu definieren. Sie sind immer nur das Ergebnis der unter den jeweiligen Rahmenbedingungen relativ gültigen Auffassungen einer bestimmten Ordnung. Begriffe wie »Gegenseitigkeit« oder »Gleichheit« sind Leerformeln, aber sie sind nicht willkürlich definiert, denn aus ihnen lassen sich konkretere Begriffe entwickeln und vor allem dienen sie zur negativen Abgrenzung. Kritisch wird gelegentlich gesagt: Moral und Recht sind nur rhetorische Kategorien, sie sind nichts als Kommunikation. Aber, wie wir oben gesehen haben, dreht diese Kommunikation sich immer um das Ziel einer Ordnung und gewinnt so genügend Stabilität, um ihre Aufgabe zu erfüllen.

Die Wertmaßstäbe, die das Recht verwendet, übernimmt es von außen. Es sind die politischen, moralischen und sogar religiösen Werte, die eine Gesellschaft (überwiegend in parlamentarischen Verfahren) als für sich anerkennenswert bezeichnet und in ihr eigenes Normensystem übernimmt. Auf diese Weise wird z. B. in Art. 14 GG der Schutz des Eigentums als »gut« und der Angriff auf das Eigentum etwa in § 242 StGB (Diebstahl) als »schlecht« gekennzeichnet.

Durch die Übernahme moralischer Werte in ein Rechtssystem werden sie einerseits als für das Recht relevant anerkannt, gleichzeitig aber auf die Bedeutung beschränkt, die das Recht ihnen geben will. Solange moralische Werte nur im Bereich moralischer Entscheidungen verwendet werden, unterliegen sie nicht der Formstrenge des Rechts, können sich also beliebig nach der einen oder anderen Seite hin verändern, verschwinden, irrelevant werden oder sanktionslos bleiben. Rechtsnormen hingegen unterliegen strengen Auslegungsregeln und nur die zugelassenen Rechtsquellen (Gesetz, Richterrecht) dürfen etwas über ihre Bedeutung aussagen. Kein Richter darf moralisch argumentieren, wenn er damit die Auslegungsregeln verletzt.

Rechtsnormen wandeln sich allerdings auch selbst in Raum, Zeit und unter den unterschiedlichsten kulturellen Rahmenbedingungen. Was vor 500 Jahren als gleich, fair und ausgewogen betrachtet worden ist, wird man heute anders interpretieren. Und ebenso werden diese Begriffe heute z. B. in der asiatischen oder muslimischen Welt anders definiert als bei uns. Das wird besonders deutlich, wenn mehrere Wertvorstellungen miteinander in Konflikt geraten:

»Dass nur die eine oder die andere Ordnung absoluten Wert habe, d. h. aber »gerecht« sei, ist im Wege rationale Erkenntnis nicht begründbar. Gäbe es eine Gerechtigkeit in dem Sinne, in dem man sich auf ihre Existenz zu berufen pflegt, wenn man gewisse Interessen gegen andere durchsetzen will, dann wäre das positive Recht völlig überflüssig und seine Existenz ganz unbegreiflich.«16

Dazu ein Beispiel:

»Einer bestimmten sittlichen Überzeugung zufolge ist das menschliche Leben, das Leben jedes einzelnen Individuums der höchste Wert. Folglich ist es, dieser Anschauung nach, absolut verboten, ein menschliches Wesen zu töten, auch nicht im Krieg und auch nicht in Vollstreckung der Todesstrafe… . Aber auch eine diese entgegengesetzte, gleichfalls sittliche Überzeugung besteht, derzufolge der höchste Wert das Interesse und die Ehre der Nation ist. … Es ist schlechthin unmöglich, zwischen diesen beiden Werturteilen, die den sich widersprechenden Anschauungen zugrundeliegen, auf rational – wissenschaftlichen Wege zu entscheiden. Es ist letztenendes unser Gefühl, unser Wille, nicht unser Verstand, dass emotionale, nicht rationale Element unseres Bewusstseins, das den Konflikt löst.«17

»Werturteile stehen im Gegensatz zu Logik und Empirie«18, weil sie das Ergebnis der unterschiedlichsten subjektiven Betrachtungen sind und von zahllosen Einflüssen, darunter vor allem Emotionen und unbewussten Motiven geprägt werden. Wir bezeichnen zwar den Schutz des Eigentums als gut, aber wenn wir es durch andere Normen (z. B. die Enteignung) einschränken oder seinen Gebrauch an zahllose Auflagen knüpfen (Baurecht, Umweltrecht etc.), bezeichnen wir auch diese Einschränkungen als gut und nicht als schlecht. Normen beruhen selbst niemals auf rechtlichen, sondern immer auf politischen Entscheidungen, denn Normen werden im Parlament erlassen und nicht von den Gerichten. Daher enthält jede Norm zahllose politische Überlegungen und Motive, die nicht mit dem Maßstab der Gerechtigkeit gemessen werden können.

Man kann den Satz der Bibel: »Die Sonne scheint über Gerechte und Ungerechte« also nicht nur auf Menschen beziehen, sondern auf alle Lebewesen, die Recht und Unrecht nicht unterscheiden können. Oder etwas moderner Blaise Pascal:

»Man behauptet, dass das Recht … . In den Gesetzen des Naturrechts wohne, das allen Ländern gemeinsam sei. Sicher würde man hartnäckig auf dieser Ansicht bestehen, wenn die Willkür des Zufalls, die die menschlichen Gesetze unter die Menschen säte, wenigstens eines getroffen hätte, dass allgemein gültig ist; der Scherz aber ist, dass sich die Menschen aus Laune so gründlich unterschieden haben, dass es keines gibt. Der Raub, die Blutschande, der Mord an Kindern und Eltern, alles hat seinen Ort unter den tugendhaften Handlungen.19«.

Wir sollten uns diese Erkenntnisse Pascals ins Gedächtnis rufen, wenn wir über Ehrenmorde in islamischen Familien nachdenken: Die Menschen, die solche Morde für zulässig halten, haben keine Probleme, sie aus »natürlichen Gesetzen« zu entwickeln, mit denen wir unsere Ablehnung aus dem natürlichen Recht der Menschenwürde begründen könnten! Das Modell eines Naturrechts hilft aus solchen Zirkelschlüssen nicht hinaus.

Sinnvoll ist hingegen die Frage, ob die Suche nach der Gerechtigkeit als Teil der biologischen Ausstattung zur Natur des Menschen gehört: Ist Mord, Diebstahl oder Ehebruch nicht in allen Gesellschaften strafbar? Allerdings: Überall wo Menschen mit Menschen kommunizieren, kooperieren, und vor allem dort, wo gegenläufige Interessen frontal aufeinanderstoßen, reagieren sie sehr ähnlich wie Tiere, die ihre Reviere verteidigen: Sie drohen, sie verteidigen sich, sie greifen an und kümmern sich nur um ihre eigenen Interessen – ebenfalls ein »natürliches Verhalten«. Leidet jemand geradezu unter einem körperlichen Fehler, wenn er keinen »natürlichen« Gerechtigkeitssinn besitzt? Oder sind wir ganz im Gegenteil von Natur aus absolut egoistisch, weil wir sonst nicht überleben könnten20:

»Bei dieser großen Furcht, welche die Menschen allgemein gegeneinander hegen, können sie sich nicht besser sichern, als dadurch, dass einer dem anderen zuvorkommt oder solange fortfährt, durch List und Gewalt sich alle anderen zu unterwerfen, als noch andere da sind, vor denen er sich zu fürchten hat… weil es Menschen gibt, die sich entweder aus Machtgefühl oder aus Ruhmsucht die ganze Erde gern untertan machen möchten… Hieraus ergibt sich, dass ohne eine einschränkende Macht der Zustand der Menschen ein solcher sei, wie er zuvor beschrieben wurde, nämlich ein Krieg aller gegen alle.«

Das oben skizzierte Spektrum moralischer Wertvorstellungen und die unterschiedlichen Interessen, die die Menschen bewegen, verdichten sich in politischen Prozessen zu Grundannahmen über die Werte und den Ausgleich der konfligierenden Interessen, die die jeweilige gesellschaftliche Ordnung – und damit das Rechtssystem – bestimmen sollen.

In der politischen Kultur, besonders aber in der Rechtskultur spiegeln sich nicht nur die Werte, sondern auch die Zwecke und die Interessen aller Beteiligten, die mit diesen Werten verfolgt werden, wider, denn das Recht befasst sich überwiegend mit der Regelung von Konflikten und versucht, sie unter dem »Schatten des Rechts« zu verhindern. Das hat Rudolf von Jhering auf den Punkt gebracht: »Der Zweck ist der Schöpfer des ganzen Rechts«21. Von dieser Grundidee ausgehend entwickeln sich unterschiedliche (soziologische) Theorien etwa bei Max Weber, Philipp Heck (Interessenjurisprudenz22) oder in der schon am Rand zur Politik stehenden Freirechtsschule (Ernst Fuchs). Die Ordnung, die das Recht schaffen soll, muss in dem Bewusstsein konstruiert werden, dass sie gleichzeitig als Stütze und Grenze der Macht funktionsfähig ist. Der Widerspruch zwischen beiden Funktionen führt zu einem unvermeidbaren Spannungsverhältnis zwischen den beiden Aufgaben des Rechts, die im Rechtssystem aufgelöst werden muss – soweit das möglich ist.

Aus dem Katalog moralischer Wertvorstellungen, die sich in einer Gesellschaft bilden, werden jene durch Gesetzgebung in besonderer Weise ausgewählt, die der Gesetzgeber unter seinen besonderen Schutz stellt, weil sie ihm für die Ordnung des Staates relevant erscheinen. Werte, die in eine Verfassung aufgenommen worden sind (z. B. die Grundrechte) genießen höheren Rang als Werte, die nur in einfachen Gesetzen ihren Niederschlag finden und nur indirekt durch den Wertekatalog der Verfassung beeinflusst werden.

Es gibt eine Vielzahl von Werten, die ausnahmslos in allen Rechtssystemen schützenswert erscheinen. Dazu gehören vor allem die strafrechtlichen Vorschriften, darunter z. B. das Verbot des Mordes, des Diebstahls, des Betrugs, der Beleidigung usw. in einigen Staaten haben sich aus alten Traditionen strafrechtliche Regeln erhalten, die in anderen Staaten gar nicht geschützt werden (z. B.: Gotteslästerung). Noch weitergehende Differenzen finden sich im allgemeinen Verwaltungsrecht und vor allem im Zivilrecht. In Staaten, die keinen freien Grundstücksverkehr haben, hat man keine Regelungen zu Grundschulden oder Hypotheken finden, wo es keine Vereine oder Genossenschaften gibt, fehlt das Vereins – oder Genossenschaftsrecht usw.

Es ist nicht immer einfach, die Maßstäbe von den Werten zu trennen. In der französischen Revolution etwa wurden Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in einem Atemzug genannt. Freiheit (die wichtigste Schutzzone für das Individuum) und Brüderlichkeit (die Pflicht der Gesellschaft gegenüber dem einzelnen zur sozialen Absicherung) sind Ziele, die die Gesellschaft haben kann (und haben sollte), aber ob sie erreicht worden sind, müssen uns andere Begriffe sagen. Ob z. B. eine bestimmte Verteilung sozialer Güter gerecht ist oder nicht, kann man nur von einer Position außerhalb der Ansprüche, Werte und Inhalte usw. beurteilen. Wer die Gerechtigkeit als Wert und nicht als Maßstab für Werte, Ideen, Ansprüche usw. betrachtet, nimmt ihr damit ihre zentrale Funktion.

Wir sehen das deutlich am Begriff der Freiheit. Sie liegt dem Leben jedes einzelnen zugrunde, der in dem Umfang frei ist, wie andere Menschen und/oder Institutionen dies zulassen. Die Gesellschaft kann jeden von uns durch ihre Regeln so einengen, dass von unserer Freiheit nichts übrigbleibt, sie kann aber auch auf jede Art Regelung verzichten und setzt uns damit dem sozialen Chaos aus. Würden wir Freiheit als einen Teil der Gerechtigkeit interpretieren, hätten wir keinen Maßstab, nach dem wir beurteilen könnten, welche Regel gerade noch hingenommen und welche unerträglich ist. nur so aber können wir Ordnungen errichten, die ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft herzustellen imstande sind.

Jede politische, moralische oder rechtliche Entscheidung, die wir treffen, ist stets das Ergebnis einer Kombination von Verstand, Willen und Gefühlen. Aus ihrem bewussten und unbewussten Zusammenwirken kommt es zu politischen Entscheidungen, zur Bildung moralischer Regeln, zur Verabschiedung von Gesetzen, zum Fällen von Urteilen. Gerechtigkeit ist ein abstrakter Maßstab für die solcher Entscheidungen.

Jede Gesellschaft findet für die Werte, die sie vertritt, gute Gründe. Der einzelne kann Luftschlösser bauen, die Gesellschaft kann sich das nicht leisten und tut sie es doch in Phasen hysterischer Aufregung, geht sie schneller an ihnen zugrunde als ein Einzelner. Nur sehen die Strukturen, die sie errichtet, unter den unterschiedlichen Bedingungen von Raum, Zeit usw. unterschiedlich aus. Die individuellen Ziele und die sozialen Tugenden können miteinander koordiniert werden, denn sie haben – wie oben gezeigt – eine gemeinsame biologisch/psychologische Basis. Ob ein bestimmter Wert moralischen Kriterien standhält, kann – wie oben gezeigt – an den drei Maßstäben der Interdependenz, Reziprozität und Empathie bemessen werden. Innerhalb des Rechts und der Rechtssysteme sind diese drei Kriterien nicht präzise genug. Rechtsnormen müssen den oben im Einzelnen beschriebenen drei weiteren Anforderungen genügen: Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit.

Leben und Freiheit sind die wichtigsten Rechtsgüter, die gleichzeitig die Oberbegriffe für andere Rechtsgüter bilden, die sich aus ihnen ableiten lassen. Das Leben ist unbestreitbar der zentrale Wert, den, bei dem die Gesellschaft das Individuum absolut schützen muss23 jeder Mensch verteidigt es instinktiv, solange er kann. Das Prinzip der Freiheit ist das natürliche Gegengewicht zu absoluter Macht und damit ein offenkundiger Bestandteil des Rechts. Aus diesen Einsichten haben sich eine Vielzahl von Formeln entwickelt, die auch heute noch als kennzeichnend für eine staatliche Ordnung angesehen werden, in der die Rechte und Pflichten der einzelnen mit jenen der Gesellschaft in Einklang stehen.

Die Sicherheit ist ein Wert, der in vielen Aspekten mit dem der Freiheit kollidiert. In vielen Staaten werden z. B. alle Gewerbetätigkeiten mit hohem bürokratischem Aufwand kontrolliert, in anderen nicht. Die Faustformel: Je mehr Freiheit, desto weniger Sicherheit passt auf viele Rechtssysteme. Wenn es wenige Normen gibt, die sich mit der Sicherheit des Staates und der Menschen beschäftigen, kann man davon ausgehen, dass der Staat viele Freiheiten erlaubt.

John Rawls Denken ist philosophische und politische Grundlagenarbeit. Dabei greift er unvermeidlich auf Begriffe wie »Gleichheit«, Freiheit«, »sozial«, »Fairness« »begünstigt« usw. zu. Seine Leistung besteht darin, diese Begriffe zueinander in ein (abstrakt) funktionsfähiges Verhältnis zu setzen. Auf diese Weise können wir eine Vorstellung davon gewinnen, welche Ordnung sie bilden müssen, um der Gerechtigkeit eine Chance zu geben. Natürlich hatte er die Rahmenbedingungen vor Augen, die ihn in den USA sein Leben lang begleitet haben und kannte das Chaos und die Zerstörung, die es etwa in Mitteleuropa zwischen 1914 und 1945 gegeben hatte. Kritiker zeigen, dass diese Ideen sich vermutlich nur auf dem Boden von Rechtssystemen realisieren lassen, die mindestens den Freiheits- und Gleichheitsanspruch einlösen, den wir z. B. in den USA und/oder Deutschland finden24. Die Arbeit an solchen Ordnungen überlässt John Rawls uns. Ob Oligarchien, wie wir sie etwa in Russland finden, Monarchien (Saudi-Arabien) oder andere staatliche Formen so gestaltet werden können, dass auch sie diese Ansprüche einlösen, wissen wir derzeit nicht. Ebenso wenig können wir sagen, in welchem Umfang asiatische Gesellschaftssysteme etwa in China, Vietnam, Südkorea, Japan usw. In ihren politischen und gesellschaftlichen Systemen diese Gerechtigkeitsprinzipien abbilden können.

Häufig trifft man auf Lehrbuchaussagen, in denen nur die oben zitierten Formeln beleuchtet oder ihre praktische Begrenztheit erklärt werden25, oder es findet sich nur ein Teilaspekt behandelt, darunter vor allem Vorschläge zur Verteilungsgerechtigkeit sozialer Güter26. Auch nach chinesischer Auffassung sollte ein Mensch jeden anderen in seiner Menschlichkeit (Konfuzius: rén) wahrnehmen und nicht als bloßes Objekt seiner Interessen betrachten. Der Begriff »Menschlichkeit« wird aber anders verstanden als bei uns. Das gleiche gilt für einen Begriff wie »Anspruch auf Freiheit«: Solche Forderungen kann ein Einzelner nur erheben, wenn er im Übrigen alle Anforderungen erfüllt, die die Gesellschaft an ihn stellt. Das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung beschränkt sich nicht wie bei uns im Wesentlichen auf das Vertragsrecht, sondern ist eine Dominante aller sozialen Beziehungen. Zwar sind sie alle nach westlichen Vorbildern gestaltet, aber das mag nur Fassade sein, hinter der die Wirklichkeit ganz andere Wege geht.

Und das bedeutet immer, dass diese Grenzen abhängig von Raum, Zeit und kulturellen Rahmenbedingungen sich verschieben werden.

Ähnliches gilt für die Autonomie eines einzelnen Menschen. Sie drückt sich in der größtmöglichen Freiheit seines privaten Verhaltens aus. Wenn Minderheiten in ihren religiösen oder kulturellen Verhalten ständiger staatlicher Kontrolle unterliegen oder durch Nachbarschaftsregeln übermäßig eingeschränkt werden, fehlt die Autonomie.

Auch die Toleranz ist ein Wert, der einen wichtigen Teilaspekt der Freiheit beschreibt. Wenn ein Rechtssystem die Toleranz z. B. durch Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Demonstrationsfreiheit usw. unterstützt und Menschen, die damit nicht einverstanden sind, zur Duldung verpflichtet, wird die politische Kultur eines Staates dadurch erheblich beeinflusst. Unter Toleranz versteht man die Duldung von Ideen und Handlungen, die man selbst für falsch hält. Man erträgt sie. In der jüngeren politischen Diskussion wird die Ansicht vertreten, darin zeige sich Anmaßung, wenn nicht sogar Gewalt. Es wird verlangt, sich mit der Ansicht jedes beliebigen anderen Menschen zu identifizieren, alles andere sei Aggression. Diese Ansicht überfordert aber unser ebenso wichtiges Bedürfnis nach Identität. Wer nach allen Seiten hin offen ist, kann nicht ganz dicht sein.

In diesen modernen Formeln werden inhaltliche Positionen akzentuiert, die die Welt in einem bestimmten Sinn ordnen wollen. Sie sind selten miteinander vereinbar und unvermeidbar voller Widersprüche, denn jedes Wertesystem entwickelt andere Vorstellungen darüber, wie Machtverhältnisse, Werte und Interessen zuordnen sind: Man kann nicht zugleich allen das Gleiche und jedem das Seine geben! Selbst eine der ältesten Gerechtigkeitsideen, die so genannte »Goldene Regel« versagt, wenn man die Beziehung des Sadisten zum Masochisten betrachtet: Ist das eine Realisierung von Gerechtigkeit?27

Jeder normativ definierte Wert beruht auf allgemeiner und/oder abstrakter formulierten moralischen Regeln und kann sich daher nur auf dem Hintergrund unserer biologischen Ausstattung, unserer daraus entstandenen sozialen Fähigkeiten, unseren Ideen, Ansprüchen und Begrenzungen entwickeln. Dazu gehört vor allem die Identifikation des eigenen ICH, das damit verbundene Mindestmaß an Freiheit von Denken und Handeln und die Erkenntnis der ANDEREN als Subjekte mit identischem Anspruch. So werden wir mit dem Fremden konfrontiert und erkennen die Strategien von Aggression und Kooperation. Sie verstärken sich in der Gruppendynamik, denn nur in wenigen Ausnahmefällen begegnen wir uns als einzelne, meist aber in einer definierten Rolle, die wir in einer Gruppe gefunden haben. Damit eröffnet sich das Problem der Gleichheit/Ungleichheit (absolute Gleichheit zerstört die Freiheit), der Hierarchien und der Verteilung von Ressourcen. Alle diese Faktoren müssen in geeigneter Weise zusammenwirken, um das Ziel der Gerechtigkeit zu erreichen, die Ordnung der Gesellschaft möglichst gewaltfrei funktionsfähig zu halten.

Der richtige Weg, mit logisch nicht begründbaren Wertvorstellungen umzugehen, ist es, im Verfahren darüber zu streiten, welche Wertvorstellungen der Gesetzgeber realisiert haben wollte, wieweit man im Wege der Auslegung von ihnen abweichen darf, ob man ein Gesetz als verfassungswidrig vorlegen sollte – oder sich mit ihm abfinden muss. Das Recht muss für alle diese Perspektiven offen sein, denn nur so bildet sich eine handwerkliche Ebene dafür, über die unterschiedlichsten Werte zu streiten28. Recht ist einer der vielen Unterfälle »kommunikativen Handelns« (Jürgen Habermas) und Recht wird begriffen, indem man es angreift:

»Der Krieg führt zusammen
und Recht ist Streit
und alles Leben entsteht
durch Streit und Notwendigkeit«

Dieses Fragment Heraklits29, ist wie sein Satz „Der Krieg ist der Vater aller Dinge“ wohl die erste Bemerkung über die Streitkultur, die wir kennen. Drei Aspekte sind es, die sie für uns besonders interessant machen: „Der Krieg führt zusammen“ – er trennt also nicht, das „Recht ist Streit“ – also nicht Harmonie und schließlich entsteht das Leben aus „Streit und Notwendigkeit“, also nicht aus Konfliktscheu und Überfluss. Es ist das Spiel mit den Gegensätzen, das dieses Fragment auszeichnet. Wie oben bereits gezeigt, sind Aggression und Kooperation untrennbar miteinander verbundene Verhaltensweisen und wenn man Heraklits Satz so versteht, wird er durch die moderne Forschung in jeder Hinsicht bestätigt.30

Die Entwicklung solcher Spannungsbögen, die auch Form und Inhalt miteinander verbinden, ist eine hohe, bis heute wirkende Kulturleistung, denn ob wir mit Rudolf von Jhering vom »Kampf ums Recht«31 oder mit Heraklit vom Recht als Streit reden, ist kein großer Unterschied. Man kann kaum abschätzen, wie viele tausend Jahre es gebraucht hat, um von den Anfängen der Sprachkultur bis zur Streitkultur vorzudringen, die schon vor 2.500 Jahren in voller Blüte vor uns steht.

3. Die Rule of Law

Von einem Rechtssystem kann man sprechen, wenn Normen und Urteile existieren, die aus geschriebenen Gesetzen, Präjudizien der Rechtsprechung bestehen und sich aus der Art und Weise der Anwendung und Vollstreckung dieser Gesetze (auch in ungeschriebener Form) ergeben. Konflikte werden in einem solchen System nicht allein nach den Machtverhältnissen, nach Zufall und Launen, sondern innerhalb definierter Regeln (Rule of Law32) entschieden, die das World Justice Project wie folgt definiert33:

»Accountability
The government as well as private actors are accountable under the law.

Just Law
The law is clear, publicized, and stable and is applied evenly. It ensures human rights as well as property, contract, and procedural rights.

Open Government
The processes by which the law is adopted, administered, adjudicated, and enforced are accessible, fair, and efficient. 

Accessible and Impartial Justice
Justice is delivered timely by competent, ethical, and independent representatives and neutrals who are accessible, have adequate resources, and reflect the makeup of the communities they serve.«

  1. Die Regierung, ihre Repräsentanten und Beamten sind ebenso wie Einzelpersonen und private Unternehmen/Organisationen dem Recht gegenüber verantwortlich;
  2. Das Recht ist klar, offen zugänglich, stabil und ausgewogen; es wird gleichmäßig angewendet; und es schützt Grundrechte, einschließlich der Sicherheit von Personen und Eigentum;
  3. Das Verfahren, in dem Gesetze erlassen, überwacht und durchgesetzt werden, ist offen zugänglich, fair und wirksam;
  4. Rechtliche Entscheidungen werden zur rechten Zeit und in ausreichender Zahl durch kompetente, ethisch handelnde und unabhängige Vertreter und neutrale Personen getroffen, die dazu über angemessene Mittel verfügen, die dem Organisationsstand der Gesellschaft entsprechen, der sie dienen.

Diese Definition deckt sich im Großen und Ganzen mit dem Rechtsstaatsverständnis, dass wir in den meisten Kulturstaaten finden. In manchen allerdings steht es nur auf dem Papier: »Sei gerecht, und wenn Du nicht gerecht sein kannst, lass Willkür walten«34. Wesentlich ist dabei, dass die Definition uns nicht nur etwas über den Inhalt der Gerechtigkeit sagt (»gleich, ausgewogen, fair«), sondern auch die Rahmenbedingungen definiert, die erforderlich sind, um solche Inhalte stabil zu verwirklichen. Konflikte werden nicht mit Begriffen geregelt, sondern durch wirksames Handeln in geordneten Prozessen. Dieses Handeln muss sich an Begriffen orientieren können und die zentralen Begriffe, mit denen jede Rechtskultur arbeiten muss, die ihren Namen verdient, sind Gleichheit, Fairness, Ausgewohnheit – Begriffe, die sich in der oben beschriebenen Definition wiederfinden.

Die drei Elemente, die die Gerechtigkeit als Maßstab für moralisches und rechtliches Handeln bestimmen, werden in unterschiedlichen Zeiten und Räumen unterschiedlich ausgelegt. Sie sind mit den drei Elementen der moralischen Urgrammatik eng verbunden denn eine gerechte Norm, die es ignoriert, dass wir alle voneinander abhängen, dass wir Leistung und Gegenleistung vergelten wollen und auf unsere Mitmenschen nicht nur mit dem Verstand, sondern auch mit dem Gefühl reagieren, kann man sich nicht denken. Die Stärke des Modells gründet sich vor allem darauf, dass es nicht nur ein Produkt der Überlegung, sondern auch unserer biologisch/psychologischen Natur ist.

In einer bei über 300.000 Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen durchgeführten Umfrage35 ergaben sich deutliche Mehrheiten für folgende Entscheidungen, die Krimphove „universelle Rechtseinsichten“ nennt (126). Ich verkürze hier auf vier Aussagen, weil zwei weitere Aussagen sich inhaltlich mit den hier genannten nahezu decken:

  • Aktives Handeln ist verwerflicher als Unterlassen,
  • vorsätzliches Handeln ist verwerflicher als die Verantwortung für Kollateralschäden,
  • körperliche Gewalt gegenüber anderen ist verwerflicher als Schädigung durch unkörperliche Handlungen,
  • unmittelbare Schäden sind ein größeres Unrecht als komplex miteinander verknüpfte Schadensfolgen.

Krimphove ergänzt diesen Katalog durch zwei weitere sehr wichtige Gesichtspunkte, die das „Ur-Recht“ kennzeichnen (127 ff.): Der Verstoß gegen moralische Normen, die von Unhöflichkeiten bis zu sozialen Verstößen unterhalb der rechtlichen Schwellen reichen, wird bei weitem nicht immer sanktioniert, und es gibt ein breites Spektrum denkbarer Sanktionen, beginnend mit individuellen Reaktionen der Betroffenen auf die Verletzung bis hin zur sozialen Ausgrenzung. Der Verstoß gegen Rechtsnormen hingegen ist immer mit der Macht des Staates zu normierter Sanktionierung verbunden. Das menschliche Gehirn nimmt es offenbar unterschiedlich wahr, wenn Verstöße mehr oder weniger sanktionslos bleiben oder ob sie – gespeichert durch jahrhundertealte Erfahrungen – staatlicher Vollstreckung unterliegen. Wenn diese These zutrifft, wäre die Unterscheidung zwischen Moral und Recht ebenfalls genetisch in uns angelegt.

Viele dieser Werte liegen mit jenen in Konflikt, die die Gesellschaft für ihr Überleben als relevant definiert, am sichtbarsten im Bereich von Freiheit und Sicherheit oder auch im Verhältnis zwischen Liebe und Macht. Jede Gesellschaft definiert Inhalte und Grenzen dieser Werte und vor allem ihre interne Beziehung zueinander unterschiedlich, aber sie sind immer in der Realität verankert, sie müssen Sinn vermitteln, um ihre Überlebensfähigkeit zu sichern und Konflikte zu vermeiden, die dieses Ziel irritieren. (Es gibt auch kreative Konflikte). Die Definition der Werte ist immer das Ergebnis einer Kommunikation zwischen dem ich, den Gruppen, denen ein einzelner zugehört und der Gesellschaft, also einer übergeordneten Gruppe, die allen noch eine gemeinsame Identität vermittelt:

»Wir haben aber für das (sittlich-) Gute und Böse ebenso wenig einen besonderen Sinn, als wir einen solchen für die Wahrheit haben, ob man sich gleich oft so ausdrückt, sondern Empfindlichkeit der freien Willkür für die Bewegung derselben durch praktische reine Vernunft (und ihr Gesetz), und das ist es, was wir das moralische Gefühl nennen.«36

Allein der unbedingte Wille, sich um eine faire Lösung zu bemühen, der sich darin ausdrückt, die Gegenseite zu respektieren, auch wenn man sie für Verbrecher oder Verwirrte hält, ist demnach die erste Bürgerpflicht auf dem Gebiet der Ethik.

Die Unterscheidung zwischen Werten und Maßstäben wird in der Diskussion über Moral und Gerechtigkeit selten gesehen. Für Karl Popper etwa besteht die Gerechtigkeit aus folgenden Elementen:

»a) gleiche Verteilung der Lasten der Staatsbürgerschaft, d. h. der im sozialen Leben notwendigen Einschränkungen der Freiheit; b) Gleiche Behandlung der Bürger vor dem Gesetz, vorausgesetzt natürlich, dass c) die Gesetze selbst einzelne Bürger oder Gruppen oder Klassen weder begünstigen noch benachteiligen; d) Unparteilichkeit der Gerichte; und g) gleicher Anteil an den Vorteilen (und nicht nur an den Lasten), die die Mitgliedschaft im Staat dem Bürger zu bieten vermag.«37

Es ist also – wichtiger als alles andere – die Vermeidung der Willkür, auf die es dem Rechtsdenken ankommt: Den diktatorisch bevollmächtigten Herrscher hält man für gerecht, wenn er nur nach festen Maßstäben und nicht willkürlich – gesteuert nur von seinen eigenen Interessen – handelt. Im chinesischen Rechtsdenken ist der Begriff Tao (Ordnung) daher der Kernbestandteil jeder Rechtsvorstellung, die sich in den einzelnen Gesetzen (Fa) verkörpert.

Weite Teile der Welt sind von solchen Institutionen entweder weit entfernt (China) oder verhalten sich hinter der Fassade der Institutionen so, als gäbe es sie nicht (Türkei). Gleichwohl nehmen auch sie den Begriff der Gerechtigkeit in Anspruch, weil sie ohne jeden Zweifel eine bestimmte Ordnung geschaffen haben, die allerdings den Anspruch der Selbstbeschränkung der Macht nicht in vergleichbarer Weise erfüllt, wie man das in westlichen Demokratien gewöhnt ist. Die Frage ist also: Kann man über Gerechtigkeit sprechen, ohne die (offenbar sehr unterschiedlichen) Wertmaßstäbe zu definieren, nach denen man Ordnung von Willkür und Gleiches von Ungleichem unterscheidet? Ist Recht vielleicht nur eine rhetorische Methode, bei der es »nicht regelhafter (zugeht) als im Parlament, im Labor, im Atelier oder auf der Dult«?38

Im Alltag bedeutet die Berufung auf die Gerechtigkeit einen Appell an die Beteiligten, ihre Konflikte gewaltfrei zu lösen und nur an den Elementen zu orientieren, aus denen sich unsere moralischen Vorstellungen zusammensetzen. Das geschieht in der Regel nicht innerhalb förmlicher Verfahren, die Lösung orientiert sich zwar an den kulturellen Strukturen, wird aber im Ergebnis den Beteiligten überlassen. Da das nicht immer gelingt, entwickeln sich in komplexeren Gesellschaften Rechtssysteme, in denen Menschen, die nicht in die Konflikte verwickelt sind, die Maßstäbe setzen, nach denen sie entschieden werden sollen. In Rechtssystemen spielen die Verfahren eine herausragende Rolle, weil sie die Konfliktlösung durch Verfahrensregeln, Fristsetzungen und Zwangsmittel strukturieren. Das Endergebnis setzen sie mithilfe staatlicher Macht durch.

Das geschieht auf unterschiedliche Weise. Die auf dem römischen Recht basierenden Systeme neigen– vor allem in Deutschland – zu hoher theoretischer Komplexität, sie ziehen wissenschaftliche Begründungen zurate, obwohl deren praktische Auswirkungen (so vor allem im Strafrecht) nicht besonders groß sein müssen. Ganz anders Systeme – wie vor allem in den USA –, die nach der Anerkennung eines Rechtsurteils in der Allgemeinheit suchen und sich daher konsequent auf die Meinung von Schöffengerichten stützen, die ihre Urteile nicht begründen müssen.

4. Der Schatten von Moral und Recht

Moral und Recht werfen ihren Schatten auf unser tägliches soziales Leben und sorgen so dafür, dass die meisten Menschen sich an das halten, was sie von anderen erwarten. Wer es als Jurist gelernt hat, in rechtlichen Kategorien zu denken, kann sich moralisch nicht willkürlich verhalten, weil Rechtsordnung und moralische Ordnungen sich in vielen Begriffen und Anwendungsbereichen überschneiden (ohne identisch zu sein!). So wundert es nicht, dass juristisch ausgebildete Politiker, die sich in Ordnungssystemen jeder Art gut auskennen, für viel Stabilität sorgen39.

So erfasst der Schatten der Gerechtigkeit nicht nur die Moral und das Recht, sondern auch die Politik, die Verwaltung, ja sogar kulturelle Plattformen usw. Bei der konkreten Entscheidung darüber, ob etwas moralisch/rechtlich als gerecht oder ungerecht zu beurteilen ist, geht es niemals um die Bewertung von Theorien, sondern immer um die Beurteilung von konkreten Handlungen und den Rahmenbedingungen, unter denen sie getroffen werden (also etwa divergierende Gruppenentscheidungen). Nicht die Systeme der Moral und/des Rechts erzeugen die Gerechtigkeit, sie schaffen nur die Rahmenbedingungen und Werkzeuge, unter denen die konkrete Entscheidung eine Chance hat, gerecht zu sein.

Der Begriff »Gerechtigkeit« wirkt ebenso wie der Ruf nach moralischem Verhalten in zahllose andere Bereiche unseres sozialen Lebens, so vor allem in die Politik. Wie oben skizziert und unten näher begründet wird, kann unser soziales Leben aber nicht nach der formstrengen Art eines Rechtssystems eingerichtet werden, der Ausgleich der Interessen kann auch nicht immer von Empathie gesteuert sein. Wenn der Ruf nach Moral und/oder Gerechtigkeit gleichwohl immer wieder erhoben wird, so zeigt das, wie stark die in diesen Systemen entwickelten Handlungsempfehlungen ihren Schatten auf unser allgemeines soziales Verhalten werfen.

5. Vorformen des Rechts und Rechtskulturen

Rechtliche Strukturen entwickeln sich aus mythischen Erzählungen: Leben kann erst entstehen, wenn Himmel und Erde voneinander getrennt sind und es gibt Götter im Himmel und auf der Erde. Die ältesten Mythen der Welt berichten von der Arbeit der Götter, in die Urfinsternis Licht zu bringen, als da

»… nicht Sand noch See, noch kühle Wogen waren. Die Erde fand sich nicht, noch der Oberhimmel. Ein gähnender Schlund war da, doch nirgends Gras40«.

Die Existenz der Götter wird durch Naturereignisse bewiesen, die den frühen Menschen nicht erklärlich waren. So sehen die frühen Menschen im Blitz und im Donner, in mächtigen Bäumen, die älter werden als andere, in beeindruckenden Gesteinsformationen die Manifestation höherer Erscheinungen. Ganz überwiegend nehmen die Götter im Laufe tausender von Jahren Gestalt an: Sie beherrschen die Natur, sie heilen und verletzen, sie belohnen und strafen. Der Mensch formt sie nach seinem Bild. Aber sie befinden sich außerhalb seiner Reichweite.

Einige Menschen können die Verbindung zwischen ihnen und den Göttern herstellen und gleichzeitig den Himmel stützen41. Ein solcher Mensch wird mit dem Segen des Himmels synchronisiert und kehrt nach seinem Tod wieder dorthin zurück, wird damit zum Halbgott oder endgültig vergöttert42. Die Priesterrolle43 ergibt sich aus der »Geblütsheiligkeit«, kann also nur von Personen übernommen werden, die selbst von Göttern abstammen oder zu ihnen privilegierte Beziehungen unterhalten.

Drei Ämter sind es, die der mit den Göttern verbundene Souverän am Anfang vermutlich allein ausübt und die sich erst später trennen – der Priester, der Medizinmann und der Richter. Wir finden diese drei Rollen schon bei den australischen Aborigines44, wo sie sich seit etwa 25.000 v. Chr. entwickelt haben. Bei ihnen wurden bei Regelverstößen lange Debatten geführt und wenn an deren Ende der Stammesälteste mit einem Knochen auf den Angeklagten deutete, musste er die Gruppe verlassen. Das war ein moralisches Verdikt das von dem Bewusstsein der gegenseitigen Abhängigkeit (Interdependenz), dem Gefühl für das richtige Verhältnis von Geben und Nehmen (Reziprozität) und den emotionalen Lagen in denen die jeweilige Gruppe sich befindet – also der moralischen Urgrammatik – gesteuert wird.

Das können wir deshalb annehmen, weil diese Regeln sich bereits in der Welt der Primaten ausgebildet haben, also lange Zeit, bevor die ersten modernen Menschen (ca. 150.000 v. Chr.) präzisere und auf das menschliche Verhalten zugeschnittene Normen entwickeln konnten. Die Entwicklung der menschlichen Sprachen wird für etwa 80.000 v. Chr. bis 50.000 v. Chr. angenommen. Spätestens seit diesem Zeitpunkt kann man davon ausgehen, dass die Menschen fähig wurden, differenzierte moralische Entscheidungen zum Ausdruck zu bringen, wenn sie Konflikte zu entscheiden hatten. Spätestens seit der Erfindung der Schrift (ca. 5000 vor Christus) konnten sie sie auch dokumentieren.

Aus mündlichen Traditionen, die sich teilweise auch schriftlich niedergeschlagen haben, kennen wir archaische Formeln, zu den »Vorformen des Rechts im vorstaatlichen Gesellschaften« gehören (Uwe Wesel), in denen mehr oder weniger »Rechtsmagie« (Hattenhauer) vermittelt wird:

  • Der »gerade« oder »richtige Weg« (»djugaruru«: Walbiri australische Aborigines, ca. 10.000 v. Chr.)45
  • »das, was feststeht; etwas gerade werden lassen« («kittu/nig-gi-na; misaru/nig-si-sa«: Akkad/Sumer, ca. 3300 v. Chr.)46
  • die Ordnung, das Weltprinzip (»ma‘at«: Ägypten, ca. 3000 v. Chr.)47
  • »die Riten, die soziale Ordnung, die Vernunft (»li«: China 2000 v. Chr.)48

Diese Formeln sind in hohem Grade abstrakt, wie schon daran zu erkennen ist, dass sie gleichrangige wie hierarchisch geordnete Strukturen umfassen. Wir finden beide Elemente in den ältesten Kulturen und teilweise heute noch archaisch lebenden Ethnien49. Solange Gesellschaften relativ klein sind, organisieren sie sich relativ gleichrangig, mit steigender Größe hingegen immer hierarchischer, um sich beim Zerfall dieser Strukturen wieder in relativ gleichrangig organisierte Module zurückzuverwandeln, die dann wieder neue Hierarchien bilden usw.

Mit dem modernen Begriff der »Gerechtigkeit« und den Rechtssystemen, die sich aus ihm entwickelt haben, haben diese Frühformen noch nichts zu tun. Sie sind aber die Wurzeln der Bäume, deren Früchte wir heute ernten. Sie beschreiben eine Ordnung, die nicht in den Händen der Menschen liegt, sondern von »Mächten, Instanzen und Institutionen (beeinflusst werden), die über den Zusammenhang von Tun und Ergehen wachen, d. h. darauf achten, dass das Gute sich lohnt und das Böse sich rächt. Es handelt sich in allen Fällen und Vergeltung, nicht um Kausalität. … Gerechtigkeit ist der zentrale Begriff, der die Sphären von Recht, Religion und Moral aneinander bindet. … Das ist der Kern der altorientalischen Weisheit, der es vor allem darauf ankommt, die Menschen daran zu hindern, sich auf eigene Faust zu rächen und aus eigener Kraft nach ihrem privaten Glück zu streben.«50 Da viele Verstöße gegen die gewünschten Ordnungen aufgrund der Machtverhältnisse nicht sanktioniert werden können, bleibt als letztes Mittel der Fluch, also die Anrufung der Götter gegen den, der die Ordnung stört.

Aus den drei Grundelementen der Moral (Interdependenz/Reziprozität/Empathie) haben sich im Laufe der Jahrtausende zahllose moralische Auffassungen und Regeln gebildet. Sobald ein – wie immer geartetes – Verfahren entstanden ist, um über einzelne Konflikte zu entscheiden, werden sie sich so verdichtet haben, dass sie eine feste Basis für moralische Urteile abgeben konnten. So sind – wie im Kapitel über die Moral gezeigt wurde – die drei Grundbegriffe der Gerechtigkeit entstanden: Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit. Sie bilden die Statik für jedes Rechtssystem, das entwickelt werden muss, wenn über Verletzungen von Normen entschieden werden muss, die eine größere Verlässlichkeit erfordern, als ein moralisches Urteil. Von diesen Systemen ist in diesem Kapitel die Rede.

Weltweit finden wir heute vier große und untereinander sehr unterschiedliche Rechtskreise mit unterschiedlichen Rechtskulturen51:

  • Überwiegend kodifizierte Systeme, die sich meist um einen römischrechtlichen Kern herum entwickelt haben und nur in einem gewissen genau umgrenzten Umfang vom Richterrecht bestimmt werden (mitteleuropäisches Civil Law). Sie erfassen ca. 70 % der Weltbevölkerung.
  • Das aus dem normannischen Rechtsdenken entstandene angloamerikanische Common Law, das überwiegend vom Richterrecht bestimmt und nur zum Teil von statutes (Gesetzen) beeinflusst wird. Sie erfassen ca. 30 % der Weltbevölkerung, darunter vor allem die früheren Commonwealth Staaten.
  • In einigen Staaten (z. B. Indien) mischen sich Elemente des Common Law und des Civil Law, z. B. in der Form, dass das materielle Recht dem Civil Law folgt, das Prozessrecht aber dem Common Law (ähnlich in Japan).
  • Es gibt weltweit zahllose lokale Rechtskulturen, deren historische Ursprünge weit älter sein können als das mitteleuropäische und/oder das angloamerikanische System. Sie können auch heute noch viele Fragen vor allem im Bereich des Familien – und Erbrechts bestimmen und können sich vor allem deshalb durchsetzen, weil die oberhalb dieser Ebene liegenden oft andersartigen Rechtskulturen vor Ort keine praktische Wirkung entfalten können.

Das westeuropäische Recht und das Common Law haben zahlreiche andere Rechtskulturen beeinflusst. Die weltweite Ausbreitung erklärt sich durch die unterschiedliche Rezeption in Südamerika, Nordamerika, Afrika, Indonesien und Asien, die nicht über vergleichbar etablierte Rechtskulturen verfügten. Dort führten die Kolonialstaaten in vielen Ländern ihre Rechtskulturen ein. Lokale Rechtskulturen sind dabei nicht immer ganz verschwunden, teilweise auch wieder aufgelebt (Islamisches Recht).

In Afrika, Indien, Indonesien und in zahlreichen asiatischen Staaten folgt z. B. das Familien – und Erbrecht nicht den westlichen Vorbildern, wir finden matrilineare Rechtskulturen, andere, die stark von den religiösen Rahmenbedingungen geprägt sind (Islam) usw. Länder, die nicht oder nur teilweise kolonisiert wurden (Japan, China) haben eigene Rechtssysteme vor allem im Wirtschaftsrecht entwickelt, die sich überwiegend an den mitteleuropäischen Modellen orientieren. Der Grund: Aufgrund der in der Qualifizierung in der Regel gut erkennbaren Systematik lassen sich eigene Rechtskulturen leichter entwickeln als im angloamerikanischen System, das von den Fällen und nicht von den Begriffen abhängt. Für beide Systeme allerdings gilt:

»Woraus wird der Mensch die Einrichtung der Welt, die er beherrschen will, gründen? Auf die Laune des Einzelnen? Was für eine Verwirrung! Auf das Recht? Er kennt es nicht! Sicherlich. Kennte er es, so würde man niemals diesem Grundsatz aufgestellt haben, der von allen Grundsätzen, die die Menschen kennen, der gewöhnlichste ist: Dass jeder den Sitten seines Landes folgen solle; der Glanz der wahren Gerechtigkeit würde alle Völker bezwungen haben die Gesetzgeber hätten nicht anstelle dieses unveränderlichen Rechts die Hirngespinste und Launen von Persern und Deutschen zum Vorbild gewählt. Man würde das Recht in allen Staaten und zu allen Zeiten gehegt finden, während man so kein Recht und kein Unrecht findet, dass nicht mit dem Klima das Wesen ändere. Drei Breitengrade näher zum Pol stellen die ganze Rechtswissenschaft auf den Kopf, ein Längengrad entscheidet über Wahrheit…. Spaßhafte Gerechtigkeit, die ein Fluss begrenzt! Diesseits der Pyrenäen Wahrheit, jenseits Irrtum.52«

Nicht nur der Inhalt des Rechts, auch die Verfahren der Rechtsgewinnung, also die Art und Weise, wie Gesetze zustandekommen, wie Konflikte in Prozessen durchgefochten werden, wie man Verwaltungsentscheidungen erlässt und durchsetzt usw. werden von der jeweiligen Rechtskultur bestimmt. Sie durchzieht nicht nur die dazu erforderlichen Normen, sondern erfasst über den »Schatten des Rechts« auch zahllose informelle Abläufe, bis hin zur Sitzordnung in den Gerichten53.

Als Zwischenergebnis können wir festhalten, dass es über Jahrtausende hinweg in allen Kulturen, von denen wir schriftliche Zeugnisse54 haben, Begriffe gegeben hat, die uns die Vorstellung von einem gerechten Ausgleich von Macht und Interessen vermitteln, wenn Konflikte nicht mehr durch Kommunikation (Palaver) gelöst werden können. Dabei können wir zwei Gruppen identifizieren:

  • Die Definition von Werten (gut, frei, etc.), ihres Gegenteils (böse, unfrei,) und Maßstäben (gleich fair ausgewogen),
  • die Einrichtung von Verfahren, in denen die Entscheidung über den Konflikt sich entwickelt.

6. Frühe Gerechtigkeitsbegriffe und Gesetzestexte

Im folgenden Abschnitt stelle ich eine Auswahl der frühesten Gesetzestexte vor, die wir kennen. Jeden einzelnen von ihnen können wir an den oben entwickelten Maßstäben der Gleichheit, der Fairness und der Ausgewogenheit messen und so feststellen, ab wann frühe Rechtskulturen eine Vorstellung von dem Inhalt der Gerechtigkeit entwickelt haben, so wie wir ihn heute verwenden.

Zwischen den Konfliktregelungen in fragmentierten Gesellschaften und der Entwicklung der Staaten haben sich seit etwa 10.000 v. Chr. Standards entwickelt, deren Entwicklung sich stark durch die Erfindung der Schrift (ca. 5000 v. Chr.) beschleunigt. Die ersten schriftlichen Codices finden wir etwa um 1800 v. Chr., also zu einer Zeit, in der die Rechtssysteme schon voll entwickelt waren, wie man an Form und Inhalt der Texte unschwer erkennen kann55. Die Sprache dieser rechtlichen Texte unterscheidet sich bereits in den frühesten Stadien von der Alltagssprache: Die Begriffe werden konsistent gebraucht, alles Überflüssige wird vermieden, die Probleme werden auf den Punkt gebracht und teilweise schon systematisch geordnet.

Diese mythischen Vorstellungen sind weltweit verbreitet. Wir finden sie im antiken Griechenland, in Rom und – gewiss unabhängig davon – bei den germanischen Stämmen. In Asien hat sich der Mythos bis in die Gegenwart erhalten: Die japanische Kaiserfamilie führt noch heute ihren Ursprung auf die Sonnengöttin Amaterasu-o-mi-kami zurück. Ähnliche Bilder haben sich in Thailand und Nepal56 erhalten und auch in vielen afrikanischen Ländern sind die Überzeugungen von der göttlichen Abstammung ihrer Könige bis heute in einzelnen Ritualen lebendig geblieben57. Diese gottähnlichen Könige beherrschen die Magie und zum typischen Kreis der Wunder, die sie wirken, gehört die Heilung der Kranken58.

»Kaiser, du bist von Gott über uns gesetzt. Über dir steht niemand. Du herrschst über alle. Du darfst tun, was du willst59«.

Dieser Satz enthält ein auffälliges Paradox: Er anerkennt eine Ordnung, da die Macht nicht jedem zukommt, sondern nur dem von Gott Erwählten, dieser Erwählte scheint sich aber willkürlich verhalten zu dürfen. Tatsächlich aber ist seine Willkür durch Gottes Willen begrenzt und diesen Willen sieht man vor allem in moralischen Regeln ausgedrückt, die den Herrscher zwingen, seine Willkür zu begrenzen. Gleichwohl liegt auf der Hand, dass neben einem Herrscher, dem solche Kräfte zugeschrieben werden, kein unabhängiger Dritter Richter sein kann oder soll. Der König ist es, der selbst dieses Amt versieht und auch versehen muss, denn er erhält es von den überirdischen Kräften »wegen seiner Gerechtigkeit«, wie es im Gesetz von Ur-Namma (2112-2095 v. Chr.) heißt60. Hier wird (erstmals?) die Ordnung mit »Gerechtigkeit« assoziiert, wobei vorerst nur erkennbar ist, dass der König hier nicht als Machthaber, sondern als Richter angesprochen wird. Die Unterschiede zwischen beiden Funktionen sind noch nicht klar erkennbar. Der etwas später entstandene Sulgi-Hymnus spricht den König vielfach in seiner richterlichen Funktion an61:

»Du bist der für die Gerechtigkeit geborene Hirte…. Das Richter-Zepter hat An dir gegeben, aufdass du das Haupt himmelwärts erhebest!«
»Der Hirte fällte gerechte Urteile, traf gerechte Entscheidungen«
»Darum hat seine Mutter Sulgi geboren… die Gerechtigkeit kein Ende nehmen zu lassen«
»Dass der König als Richtergott für die aus Sumer Stammenden die Urteile für das Land fälle, die Entscheidungen für das Land treffe, dass unsere Stadt Ur ihr Haupt erhebe, darum hat seine Mutter den Krieger geboren, ….«

Die Figur des mit den Göttern verbundenen Richters von heiligem Geblüt findet sich nicht nur in fragmentarischen Gesellschaften, löst sich aber langsam auf, sobald der Herrscher beginnt, die Aufgaben der Rechtsprechung an andere zu delegieren. Das geschieht sowohl in Ländern, in denen der Herrscher nicht überall präsent sein kann, als auch in den Städten, die sich etwa seit 10000 v. Chr. entwickeln. Zwischen 5000/7000 v. Chr. entstehen im vorderen Orient (oder im Donaudelta) die ersten Schriftformen. Um das Jahr 2300 v. Chr. treffen wir – weltweit erstmalig – in Keilschrifttexten aus dem Vorderen Orient, die sich im übrigen der Steuer und der Buchhaltung widmen, auf Begriffe, in denen es offenbar um die Suche nach gerechten Ordnungen und Entscheidungen geht.

Jede Art von Konflikt stört nicht nur die irdische, sondern immer auch die göttliche Ordnung. In den meisten Völkern haben sich ähnliche Strukturen entwickelt:

»In Ithaka entscheidet die Macht, persönliche Autorität und Gewalt… Die Ältesten richten, weil die Parteien sich ihnen freiwillig unterwerfen, die Könige kraft ihres Amtes, dass sie erlaubt oder okkupiert haben, beide nach freiem Ermessen«.62

Wir können davon ausgehen, dass die uns überlieferten schriftlichen Fassungen auf jahrtausendealten früheren nur mündlich tradierten Rechtsregeln beruhen, denn sobald wir z. B. so mehrere Keilschrifttexten (2360 v. Chr.) vor uns sehen, sind sie schon erstaunlich komplex und durch differenzierte Begriffe gekennzeichnet:

»Wenn ein Mann/wenn etwas von seinem Besitz verschwunden ist/seinen Besitz/den verschwundenen/in der Hand eines Mannes/ergreift/der Mann, von dem gilt, dass das verschwundene/in seiner Hand/ergriffen ist,/»ein Verkäufer hat (es) mir verkauft,/vor Zeugen/habe ich (es) gekauft«/sagt/und der Herr des verschwundenen/»Zeugen, wissend von/meinem verschwundenen/werde ich herbeibringen/sagt/der Käufer/den Verkäufer/der (es) ihm verkauft hat/und die Zeugen/vor denen er/(es) gekauft hat, beibringt/und der Herr des verschwundenen/Zeugen wissend von dem verschwundenen/herbeibringt/werden die Richter/ihre Worte/prüfen und/die Zeugen vor denen/der Kauf/getätigt wurde/und die Zeugen wissend/von dem verschwundenen/ihre Kenntnis/vor einem Gott/werden sie sagen und/der Verkäufer/(ist) ein Dieb; er wird getötet werden. Der Herr des verschwundenen/seinen verschwundenen Besitz/wird er nehmen. /Der Käufer/vom Haus/des Verkäufers/das Silber, dass er da gewogen hat/wird er nehmen).«63

»§ 5: Gesetzt, ein Richter hat ein Urteil gefällt, eine Entscheidung getroffen, eine Urkunde ausstellen lassen, nachher hat er aber sein Urteil abgeändert, diesen Richter wird man überführen, dass er das Urteil, das er abgegeben hat, verändert hat, dann wird er den Anspruch, der bei jenem Prozesse in Frage kommt, zwölffach geben; und in der Gerichtsversammlung. wird man ihn von seinem Richterstuhl aufstehen lassen, und er wird nicht wieder mit den Richtern bei einem Prozess sitzen«.64

In diesem Codex finden sich verstreut noch einzelne moralische Regeln, an denen wir erkennen, dass es noch keine systematische Trennung von Moral und Recht gegeben haben kann:

»Wird dem Gefolgsmann des Königs ein guter Esel geboren und sein Aufseher wird ihm gegenüber ›Ich will ihn von dir kaufen‹ erklären, und dieser wird ihm gegenüber erklären ›Wenn du ihn von mir kaufst, zahle mir Silber, das mein Herz zufrieden stellt!‹, dann soll, wenn er zu diesen Bedingungen nicht von ihm kauft, der Aufseher ihn den Zorn darüber nicht fühlen lassen«65.

Etwa 1500 Jahre später – etwa um 800 v. Chr. – werden Moral und Recht besser sichtbar getrennt. Jetzt finden wir im Alten Testament systematisch geordnete Rechtstexte, darunter viele prozessuale Vorschriften wie etwa diese:

»Das sind die Gesetze und Rechtsvorschriften, auf die ihr achten und die ihr erhalten sollt in dem Land, das der Herr, der Gott Deiner Väter, Dir gegeben hat, damit Du es in Besitz nimmst. Sie sollen so lange gelten, wie ihr in dem Landleben werdet.… Richter und Listenführer sollst Du in allen Stadtbereichen einsetzen, die der Herr, Dein Gott, Dir in Deinen Stammesgebieten gibt. Sie sollen dem Volke Recht sprechen und gerechte Urteile fällen. Du sollst das Recht nicht beugen. Du sollst kein Ansehen der Person kennen. Du sollst keine Bestechung annehmen; denn Bestechung macht Weise blind und verdreht die Fälle derer, die im Recht sind. Gerechtigkeit, Gerechtigkeit – ihr sollst Du nachjagen….«66

Selbst wenn die ersten Richter nach freiem Ermessen entscheiden, tun sie es gewiss nicht willkürlich, denn ihre Entscheidungen müssen mit den Traditionen und moralischen Werten übereinstimmen, die die Gruppe, die sie repräsentieren, seit jeher anerkennt. Wenn dieses Ziel verfehlt wird, verspielt der Richter gleichzeitig seine Autorität. denn jede seiner Entscheidungen muss die Ordnung wiederherstellen und so die Basis des Zusammenlebens sichtbar machen. Immer geht es um die geduldige – und nicht gewaltsame – Reaktion auf von Ordnung und Chaos.

Ethnologische Forschungen zeigen uns, dass zwei Faktoren die entscheidende Rolle spielen, die ständig miteinander in Konflikt liegen: die Modelle von Gleichordnung und Hierarchie67. Beide müssen sich parallel nebeneinander je aus den Anforderungen der Lebensumstände entwickelt haben, auf die einzelnen Gruppen getroffen sind68. Jeder, der in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen lebt, hat bestimmte Vorstellungen darüber, wie seine Position im Verhältnis zu den anderen aussieht und ob die Entscheidungen anderer seinen eigenen – auch moralisch geprägten – Vorstellungen entsprechen. Wenn das der Fall ist, bleiben die Beteiligten untereinander friedlich, andernfalls kommt es zu »altruistischer Bestrafung« dessen, der die ungeschriebenen Regeln nicht kennt oder missachtet.

Auch wenn die Gerechtigkeit in den Anfängen nach ihren Funktionen beschrieben wird und noch nicht immer als abstrakter Begriff auftaucht, wird ihr Inhalt in unterschiedlichsten Formeln beschrieben:

  • »Alle gewaltsame Tat mißfällt ja den seligen Göttern; Tugend ehren sie nur und Gerechtigkeit unter den Menschen!« (Homer ca. 800 v. Chr.)69
  • Leistung/Gegenleistung, Geschenk/Gegengeschenk »on/giri« (Japan, etwa ab 600 v. Chr.)70
  • »Zi-Gong fragte den Konfuzius: Gibt es ein Wort, dass ein ganzes Leben lang als Richtschnur des Handelns dienen kann?«. Konfuzius antwortete: Das ist »gegenseitige Rücksichtnahme« (shù). Was man mir nicht antun soll, will ich auch nicht anderen Menschen zufügen.« Kung-Fu-Tse (China ca. 551 v. Chr. bis 479 v. Chr.)71
  • »Dharma (das rechte Verhalten) besteht aus Güte, Großzügigkeit, Ehrlichkeit, Reinheit, Milde und der Förderung des Guten unter den Menschen.« (Indien, Gesetze des Ashoka ca. 300 v. Chr.)72
  • »Der Trefflichste und Gerechteste sei auch der Glückseligste dies sei aber der am meisten königlich Gesinnte und sich selbst königlich Beherrschende« (Platon 428-348 v. Chr.)73
  • »Ist also der Begriff des Gerechten vieldeutig, so ist es auch derjenige des Ungerechten und der Ungerechtigkeit« Aristoteles (384 v. Chr. bis 322 v. Chr.)74
  • »Was nämlich von der gesetzgebenden Gewalt vorgeschrieben ist, ist gesetzlich, und jede gesetzliche Vorschrift bezeichnen wir als gerecht oder Recht.« (Aristoteles (384-322 v. Chr.)75
  • »Die gesetzliche Gerechtigkeit ist demnach kein bloßer Teil der Tugend, sondern sie ganz, und die ihr entgegengesetzte Ungerechtigkeit kein Teil der Schlechtigkeit, sondern wieder sie ganz« (Aristoteles ebenda)
  • »Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, dass solltet auch ihr ihnen tun« (Neues Testament ca. 100 n. Chr.)76. – So genannte Goldene Regel.
  • »Die Bereitschaft, jedem einzelnen das zuzuteilen, was ihm zukommt« (Jedem das seine) (Cicero 106 v. Chr. bis 42 n. Chr.)77
  • »Die Kunst des Guten und Ausgewogenen« (ars boni et aequi, Rom 100 n. Chr.)78
  • »dadami se – dehi me«79 altindischer Grundsatz Sanskrit »Ich gebe, damit du gibst« (do ut des)80; dies für das (quid pro quo) (100 n. Chr.)
  • »Gerechtigkeit ist der unmittelbare und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zu gewähren.«81

Den Inhalt dieser frühen Formeln hat Thomas von Aquin (1225-1274 n. Chr.) wie folgt zusammengefasst:

»Gerechtigkeit ist die Haltung, kraft deren Einer standhaften und beständigen Willens einem jeden sein Recht zuerkennt«82.

Nur wenig später (um 500 v. Chr.) entwickeln sich in Athen differenzierte Verfahrensregeln: Das Urteil wird nicht von einem oder mehreren Richtern entschieden, sondern in der Volksversammlung von Geschworenen gefällt, die in einem anonymen Verfahren mit weißen und schwarzen Kugeln gewählt werden. Bei kleineren Sachen sind es 50, bei großen bis zu 5000 Richter. So konnte eine Bestechung einzelner wirksam verhindert werden – eines der großen moralischen Probleme, die nicht nur die Richter, sondern auch die Parteien und Anwälte betreffen83.

  • »die… Prozesse der streitenden Parteien soll der König entscheiden, indem er das ewige Recht zu seiner Richtschnur nimmt« (Indien, Gesetze des Manu, mündlich tradiert seit ca. 1500 v. Chr., schriftlich spätestens seit 200 v. Chr.)84
  • »Was das Gesetz vorschreibt zu urteilen, sei es gemäß der Zeugen, sei es gemäß der Eidesaussage, das soll der Richter urteilen, wie es das Gesetz vorschreibt; von den anderen Sachen soll er aufgrund der Prozessaussagen unter Eid entscheiden.« (Griechenland, Stadtrecht von Gortys (Kreta), ca. 500 v. Chr.)85
  • »Wenn jemand [der Kläger] einen andern [den Beklagten] zu Gericht ruft, soll er kommen. Wenn er nicht kommt, soll man einen Zeugen hinzuziehen. Alsdann soll man ihn abholen … . Wenn er [der Beklagte] sich drückt oder die Flucht vorbereitet, soll er [der Kläger] ihn festnehmen. Steht Krankheit oder Alter [dem Erscheinen vor Gericht] im Wege, soll [der Kläger] ein Lasttier stellen. Wenn er [der Beklagte] das nicht will, braucht er [der Kläger] keinen Wagen mit Verdeck stellen… .« (Rom, Zwölftafelgesetz ca. 450 v. Chr.)86

In der Folgezeit entstehen immer weiter ausdifferenzierte Gesetzeswerke, in denen immer auch Verfahrensregeln festgehalten werden. Viele haben sich in Rechtssprichwörtern erhalten, deren Wurzeln viele hundert Jahre alt sein können87. Hier drei Beispiele:

  • »Wo kein Kläger, da kein Richter«
  • »Zweier Zeugen Mund tut die Wahrheit kund«
  • »Im Zweifel für den Angeklagten«

Um 1230 n. Chr. sind wir schon bei Gesetzestexten angekommen, die den von uns heute verwendeten schon sehr ähnlich sehen. Einige Beispiele88:

  • Erbrecht
    »Alle Habe, die ein Mann bei seinem Tod hinterlässt, bezeichnet man als Erbe… Man muss dem Erben begleichen, was man dem Toten schuldig war« (Landrecht I 6,. 1, 4).
  • Gesellschaftsrecht
    »Wenn zwei Brüder oder andere Leute ihr Gut gemeinsam haben, vermehren sie es durch Aufwand oder Arbeit, so ist der Nutzen allen gemeinsam; dasselbe gilt für den Schaden. (Landrecht I, 12)
  • Flurschaden
    »einen Hund, den man ins Feld mitnimmt, soll man an der Leine führen, damit er keinen Schaden anrichten. Richtet er aber Schaden an, so muss ihn derjenige bezahlen, der dem und ins Feld folgt. Oder dessen Herr, wenn er es nicht bezahlen kann.« (Landrecht, III,XLIX
  • Prozessrecht
    »Ein Richter, der ein Verbrechen nicht richtet, hat dieselbe Strafe verdient, die auf dem Verbrechen steht. Auch ist niemand verpflichtet, den Gerichtstag eines Richters aufzusuchen oder ihm gegenüber Gerichtspflicht zu leisten, wenn er selbst das Recht verweigert hat.« (Landrecht, II, 13,8).
  • Lehenrecht
    »Wenn der Mann im Lehengericht sich die Nase putzt oder sich schnäuzt oder spuckt oder gähnt oder wenn er hustet oder niest oder auf der anderen Seite seines Vorsprechers steht, als er zunächst stand, oder wenn er sich schicklich umschaut oder Fliegen, Mücken oder Bremsen schicklich von sich scheucht, so hat er deswegen kein Strafgeld verwirkt, obwohl dies einige Leute glauben.« (Lehenrecht, 68, 7)

In der europäischen Aufklärung sind weitere Ideen und Formeln entstanden, die versuchen, Recht und Gerechtigkeit zu erfassen:

  • »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.« (Kant, kategorischer Imperativ, 1785/1788)89
  • »Es liegt auf der Hand, dass alle Menschen gleich erschaffen wurden und von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveränderlichen Rechten ausgestattet wurden, unter ihnen das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glück« (USA 1776)90
  • »Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten.« (Frankreich, 1789)91
  • »Jedem nach seinen Fähigkeiten, jeder Fähigkeit nach ihren Leistungen«92
  • »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«93
  • Jedem nach seinen Mindestbedürfnissen (Sozialstaatsprinzip 1948 Art. 20, 28 GG)94
  • »Das gesellschaftliche Glück heißt »Gerechtigkeit«95
  • »Die Gerechtigkeit ist eine gemeinschaftliche Tugend, oder eine Tugend so die Gemeinschaft erhält«.96

Diese Formulierungen gehen weit über die einfache Idee der Gleichheit hinaus. Jetzt wird die Gerechtigkeit zur »ersten Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen«97.

7. Individuelle Gerechtigkeit und Rechtssicherheit

Das Recht definiert das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft (und umgekehrt) ausschließlich auf der Basis von Rechtsnormen. Sie unterscheiden sich von moralischen Regeln dadurch, dass sie förmlich erlassen werden, meist in schriftlicher Form veröffentlicht sind, nur in definierten Verfahren durchgesetzt werden können und mit staatlicher Gewalt vollstreckbar sind.98 All diese Elemente haben ein einheitliches Ziel: Das rechtliche Urteil muss Rechtsfrieden schaffen, der Streit muss – anders als moralische Konflikte, die wie ein Schwelbrand unausweichlich weiterwirken können – ein Ende haben.

Dieses Ziel ist nur erreichbar, wenn es innerhalb eines für alle Beteiligten überschaubaren Raumes und Zeitrahmens geschieht. Der räumliche Aspekt wird durch die Institution von Gerichten sichergestellt, die für alle erreichbar sein müssen, die zeitliche Komponente drückt sich in materiellrechtlichen Regeln (z. B. Verjährung) und allen Verfahrensregeln aus, die der Beschleunigung dienen.

Die Qualität eines Rechtssystems hängt wesentlich davon ab, ob es zwei gegenläufige Ziele in angemessener Weise miteinander koordinieren kann: Die Herstellung individueller Gerechtigkeit unter Anwendung von Verfahrensregeln, die die Stabilität des Systems sichern sollen. Warum lässt man unbestrittene Forderungen verjähren? Gäbe es keine Verjährung, könnte niemals Rechtssicherheit eintreten. Im Zivilrecht nimmt man das hin, im Strafrecht hingegen hat man für bestimmte Verbrechen die Verjährung abgeschafft, erst der Tod aller Beteiligten lässt das Rechtsproblem de facto obsolet werden.

In jedem Prozess treffen unterschiedliche Vorstellungen darüber aufeinander, welche Rechte und Pflichten jede Partei haben soll, jeder konstruiert sich die Realität auf seine Weise. Die Entscheidung darüber, welche dieser Konstruktion anerkennungsfähig ist, hängt von der Qualität des Rechtssystems und seiner konkreten Ausgestaltung ab, die der Rechtssicherheit dienen.

Der Begriff der Rechtssicherheit wird hin und wieder als Gegensatz zur Gerechtigkeit definiert (über eine Bemerkung von Radbruch in diesem Sinn siehe unten). Dabei wird verkannt, dass wir selbst es sind, die die Gerechtigkeit herstellen und dass die Qualität dieses Verfahrens nur durch formale Regeln gesichert werden kann. Die Rechtssicherheit ist also ein Teil der Gerechtigkeit, die wir nur herstellen können, wenn die Verfahren, die wir dazu verwenden, selbst der Gerechtigkeit dienen.

Ohne Verfahrensregeln und die Stabilität des Verfahrens der Rechtsgewinnung beruhte jede Entscheidung über einen Konflikt nur auf einer von Fall zu Fall unterschiedlichen subjektiven Sicht, der die gesellschaftliche Legitimation auch dann fehlte, wenn sie von vielen als »richtig« bezeichnet würde – Rechtssicherheit kann auf diese Weise nicht entstehen. Nur formale Gesetze – also Rechtsnormen – können die Kluft zwischen der moralischen Richtigkeit und der Legitimität der Vollstreckung überbrücken.

Innerhalb jedes rechtlichen Verfahrens entstehen Formen, von denen die wichtigsten das Verfahren einleiten (Klageformel, Anklagesatz), andere dafür sorgen, dass die Wahrheit sich durchsetzen kann (Eid) und wieder andere, dass auch die Idee des Gebens und Nehmens (z. B. in der Waffengleichheit) ihren Platz hat. Interessanterweise sind die früheren Rechtssysteme formstrenger als die modernen. Man kann darin tiefe Wurzeln zu den mythologischen Grundlagen jedes Prozesses erkennen – es geht um Beschwörung der Götter, die die Wahrheit behüten. Wer im mittelalterlichen Prozess die Klageformel nicht wortgetreu wiedergab, konnte den Prozess verlieren. Man hat diese Regel zur Zeit des Sachsenspiegels (1230) praktisch dadurch entschärft, dass Personen, die mit dem Verfahren vertraut waren, als »Vorsprecher« auftraten, denen die Parteien Wort für Wort nachsprachen. Der Stotterer verlor den Prozess in früheren Jahren, erst nach den Vorschriften des Sachsenspiegels durfte er es nochmals versuchen99.

Rechtsnormen sind abstrakt und zukunftsgerichtet, Urteile betrachten individuelles Verhalten in der Vergangenheit. In dem Spannungsverhältnis zwischen allgemeiner Vorschrift und individuellem Verhalten liegen unvermeidbar Fehlerpotenziale von Normen und Urteilen, denn jeder betrachtet sie aus anderer Perspektive. Die Sanktionen entwickeln sich aus Gewaltmonopolen und liegen nicht mehr in der Hand des Einzelnen, der Gruppen oder des sozialen Umfeldes. Daraus entstehen zahllose Kommunikationsprobleme im Verhältnis zwischen dem einzelnen und der Gesellschaft. Das Rechtssystem repräsentiert die Gerechtigkeitsvorstellungen der Gesellschaft, die im Einzelfall von denen jedes einzelnen erheblich abweichen können. Das ist die unvermeidbare – aber offenbar schwer verständliche – Folge der Notwendigkeit, Regeln aufzustellen, die allgemeine Anerkennung finden können:

»Recht, so erscheint es uns jedenfalls manchmal, kommt als Ungerechtigkeit in den neuen Ländern an. Und darin sehe ich ein großes Problem. Unser Problem war ja nicht, den westlichen Rechtsstaat zu übernehmen, unser Problem war, dass wir Gerechtigkeit wollten. Und insofern haben wir natürlich dem Westen unsere Probleme vor die Füße gekippt in der Hoffnung, dass mit dem westlichen Rechtsstaat auch Gerechtigkeit in die neuen Länder kommt. Aber es sieht ja so aus, als ließe diese Gerechtigkeit lange auf sich warten. Und ich weiß auch nicht, ob das Recht selbst, das westliche Recht, dies überhaupt leisten kann. Ob da nicht vielmehr Politiker gefragt sind, Zeichen von Gerechtigkeit zu setzen.«100

Ohne strenge Form101 und das Potenzial von Sanktionen kann das Recht sich nicht entwickeln. Das ist nur durch eine enge Verbindung zur politischen Macht möglich: Die Politik investiert einen Teil ihrer Macht in das Rechtssystem, und schränkt damit die eigenen Möglichkeiten (bewusst oder unbewusst) ein. Durch die so entstehende Ordnung wird die Stabilität jedes politischen Systems unterstützt.

Die Sanktionen, die innerhalb von Rechtssystemen definiert werden, orientieren sich an den kulturellen Rahmenbedingungen, unter denen sie verhängt werden. Die Todesstrafe (Ausnahmen z. B.: USA, Japan), Körperstrafen, Steinigung, an den Pranger stellen usw. sind in modernen Rechtssystemen in der Regel nicht mehr zugelassen. Hier wird auch die Frage aufgeworfen, ob die Freiheitsentziehung nicht mehr Schaden auslöst, als sie möglicherweise an Einsicht hervorrufen kann.

Besonders der Gedanke der Rache wird in diesem Zusammenhang verworfen. Damit werden wichtige emotionale und sozialpsychologische Wirkungen des Freiheitsentzuges verkannt. Zwar kann es sein, dass der Verurteilte im Gefängnis das gleiche Verbrechensmilieu vorfindet wie draußen und sich in ihm sogar noch weiter entwickeln kann, aber einer solchen Entwicklung könnte man durch geeignete Gestaltung des Strafvollzugs begegnen. Viel wichtiger ist aber der starke psychologische Charakter einer Isolierung des Straftäters von der Gesellschaft. Er zeigt der Gesellschaft (nicht allein: Dem Straftäter), dass jemand, der die Ordnung stört, für eine gewisse Zeit die informelle und formelle Ordnung nicht genießen kann, die die Gesellschaft ihm üblicherweise bereitstellt. Auch der Gedanke der Rache befriedigt die Gesellschaft selbst wenn der Täter die ihm gegenüber geäußerte Verachtung ignoriert. Wer nur die Menschenwürde des Straftäters in den Vordergrund stellt, ignoriert die Menschenwürde der Opfer.

Das Recht ist aber nicht nur die Stütze, sondern es bildet auch die Grenze der Macht. So hat es schon Platon definiert:

»Sind aber die auf dem sittlichen Gefühle des Volkes beruhenden Gesetze aufgestellt, so liegt alles Heil des Staates an ihrer Befolgung, denn erst dann wenn die obsiegende Partei sich selbst mehr zu Knechten der Gesetze macht als die Besiegten, ist überall Heil, Glück und Befreiung von allen früheren Übeln.«102

Das Recht muss institutionell von der Macht getrennt sein, um diese Funktionen ausüben zu können, wie Montesquieu im »Geist der Gesetze« als erster systematisch erkannt hat:

„Sobald in ein und derselben Person oder derselben Beamtenschaft die legislative Befugnis mit der exekutiven verbunden ist, gibt es keine Freiheit.“

„Freiheit gibt es auch nicht, wenn die richterliche Befugnis nicht von der legislativen und von der exekutiven Befugnis geschieden wird. Die Macht über Leben und Freiheit der Bürger würde unumschränkt sein, wenn jene mit der legislativen Befugnis gekoppelt wäre; denn der Richter wäre Gesetzgeber. Der Richter hätte die Zwangsgewalt eines Unterdrückers, wenn jene mit der exekutiven Gewalt gekoppelt wäre.“

„Alles wäre verloren, wenn ein und derselbe Mann beziehungsweise die gleiche Körperschaft entweder der Mächtigsten oder der Adligen oder des Volkes folgende drei Machtvollkommenheiten ausübte: Gesetze erlassen, öffentliche Beschlüsse in die Tat umsetzen, Verbrechen und private Streitfälle aburteilen.“

„Demokratie und Aristokratie sind nicht von Natur aus freie Staatsformen. Freiheit ist nur unter maßvollen Regierungen anzutreffen. Eine Erfahrung lehrt, dass jeder Mensch, der Macht hat, dazu neigt, sie zu missbrauchen. Deshalb ist es nötig, dass die Macht der Macht Grenzen setzt. Es gibt in jedem Staat dreierlei Vollmacht: die gesetzgebende Gewalt, die vollziehende und die richterliche. Es gibt keine Freiheit, wenn diese nicht voneinander getrennt sind.“

Diese Doppelgesichtigkeit führt immer wieder zur Notwendigkeit tragische Entscheidungen, bei denen mehrere Werte miteinander in einem Konflikt liegen, der manchmal nicht aufzulösen ist. Besonders deutlich wird das z. B. im Bereich der Grenze zwischen Medizinethik und rechtlicher Entscheidung, etwa bei Organverpflanzungen oder der Sterbehilfe. »In der Tat hat das Recht eine Bedeutung nur als Ausdruck von Konflikten und es stellt die Anstrengungen der Menschheit dar, sich selbst zu zähmen« (Rudolph von Jhering, 1868).

Die hier verwendete Definition der Gerechtigkeit als Maßstab für andere Werte stützt sich auf die ältesten Traditionen: »Gerechtigkeit ist der unwandelbare und dauerhafte Wille, jedem sein Recht zu gewähren103« dieser Satz des Justinian definiert die Chancen der Gerechtigkeit am besten. Er zeigt uns, dass man von einem Rechtssystem im besten Fall den guten Willen, aber nicht ein »objektiv« richtiges Ergebnis erwarten kann. Wir können in den Verfahren, die wir einrichten, und in den Maßstäben, die wir verwenden Fehler und Widersprüche nicht vermeiden. Aber wir brauchen den »unwandelbaren und dauerhaften Willen« jeden erkannten Fehler zu beseitigen.

Rechtsysteme schaffen mithilfe der drei Gerechtigkeitselemente klarere Konturen, ihr Ordnungsanspruch ist höher als der moralischer Regeln. Das Recht begrenzt die Willkür, auf widersprüchlicher Weise: Wer eine Norm definiert, auslegt oder anwendet, errichtet eine Ordnung, deren Normen sich die Menschen beugen, und beschränkt dadurch gleichzeitig – gewollt oder ungewollt – seine eigenen Möglichkeiten, sich in der Zukunft willkürlich zu verhalten.

8. Entscheidungen in Rechtssystemen

Wenn Menschen verdichtet zusammenleben, spätestens aber dann, wenn sich klar erkennbare Strukturen wie Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt herausgebildet haben, reicht die Steuerung des sozialen Verhaltens durch moralische Regeln allein nicht mehr aus. Es geht darum, aus der politischen Kultur des Gemeinwesens heraus abstraktere Regeln – Rechtsnormen – zu entwickeln, die nicht nur – wie moralische Systeme – das individuelle Verhalten steuern, sondern auch Rechtssicherheit zu schaffen vermögen. Das Ziel ist es, unter allen Umständen Willkür zu vermeiden, den zerstörerischen Feind aller gesellschaftlichen Strukturen.

Das Recht »ist (eine) ihrem Sinn nach unverletzbar geltende Zwangsregelung menschlichen Zusammenlebens104«. Wenn Parlamente keine Gesetze erlassen, wenn niemand ein Verfahren in Gang setzt, Rechtsanwälte keine Klagen erheben und Staatsanwälte niemanden anklagen, würden wir die Welt des Rechts nie betreten:

»Der König, in dessen Stadt es keinen Dieb gibt, niemanden, der mit fremden Frauen Umgang hat, keinen Sprecher böser Worte, keinen Verüber von Gewalttat oder tätlicher Beschädigung, wird des Indra-Himmels teilhaftig.105«

Im Staat müssen Entscheidungen möglich werden, auf die sich jeder soll verlassen können, damit diese Regeln nicht nur das individuelle Verhalten steuern, sondern auch allgemeine Anerkennung finden. Verletzungen moralische Regeln werden durch – oft unbewusste – Anpassungen des Verhaltens anderer Menschen sanktioniert, die sich ständig ändern können. In den Foren des Rechts, die nur in komplexeren Gesellschaften entstehen, sind abstraktere Regeln erforderlich, um ihre Verletzung nach allgemein gültigen Maßstäben durch bindende Entscheidungen von Menschen zu sanktionieren, die ihrer Autorität aus diesem System herleiten können. Sie sind es, die im Kern das Recht als Stütze und Grenze der Macht definieren.

Ein Staat ist erst dann voll funktionsfähig, wenn er ein rechtsstaatlich ausgebildetes Gewaltmonopol bilden konnte, das innerhalb des Staatsgebiets willkürliche physische und psychische Eingriffe in die Freiheit der Person wirksam verhindern kann. Dieses Gewaltmonopol darf nicht nur auf dem Papier stehen, es muss praktisch durchsetzbar sein. Besteht ein Staat aus nichts anderem als einer Art Dachmarke, unter der sich die unterschiedlichsten Interessen unreguliert bewegen können, befindet er sich latent am Rande eines Bürgerkriegs und unter diesen Bedingungen kann er das Recht nicht sichern, wie wir etwa am Beispiel zerfallender Staaten sehen können106.

Das zentrale Problem besteht darin, dass dieses Gewaltmonopol einerseits flächendeckend, nachhaltig und durchsetzungskräftig ist, andererseits aber die Rechte des Einzelnen gegenüber anderen, vor allem aber auch gegenüber dem Staat selbst zu respektieren und zu unterstützen. Das ist keineswegs einfach. Häufig scheitert es schon an den räumlichen Verhältnissen. Ein gutes Beispiel ist das alte Russland (»der Himmel ist hoch, der Zar ist weit«). Aber auch in engeren Räumen können dem Anspruch des Staates auf das Gewaltmonopol örtliche bewaffnete oder sonst kräftige Interessen entgegenstehen, die seine Entfaltung verhindern.

Diese Macht kann das Rechtssystem nur von einem Staat gewinnen, der es selbst in der Hand hat – wie es Thomas Hobbes im Leviathan beschreibt. Das kann nur gelingen, wenn das Recht selbst einerseits ein Teil des Gewaltmonopols ist, andererseits aber die der Gewalt Unterworfenen mit Rechten ausstattet, die sie gegenüber dem Staat geltend machen können – das Recht muss gleichzeitig Stütze und Grenze der Macht sein. Das ist eine widersprüchliche Doppelfunktion, die immer wieder zu schweren Konflikten zwischen dem Staat und seinen Bürgern führen kann.

Dazu muss der Staat dem Rechtssystem einen Teil seines Gewaltmonopols abtreten. Ähnlich wie die Ärzte müssen die Juristen in ihren Verfahren all jenen Schmerzen zufügen, die das Chaos der Ordnung vorziehen, aber auch all jenen, die die Autonomie des Einzelnen zugunsten einer solchen Ordnung allzu sehr beeinträchtigen wollen (vulnerando sanamus). Wir dürfen das Gewaltmonopol nicht zu politischen (oder gar eigenen) Zwecken missbrauchen, sondern nur mit dem Ziel nutzen, im Rahmen der Gesetze und/oder Präjudizien einen angemessenen Ausgleich zwischen den Interessen des Einzelnen und der Gesellschaft herzustellen.

Die Art und Weise, wie Normen aufgestellt und einzelne Sachverhalte – vor allem Konflikte – durch Urteile entschieden und vollstreckt werden, bildet den Kern jeder Rechtskultur, die sich – parallel zu den gesellschaftlichen Entwicklungen – über Jahrtausende weltweit zu den jetzt bekannten modernen Formen entwickelt hat, die wir als »Rechtssystem« bezeichnen. Dieses System soll einerseits die Werte, Zwecke und Interessen, die in einer Gesellschaft aufeinanderstoßen inhaltlich regeln (Inhalte), andererseits dafür sorgen, dass Rechtsfrieden und Rechtssicherheit entstehen (Formen).

Beide Ziele liegen häufig miteinander in Konflikt. Die inhaltlichen Ziele werden durch notwendige formale Vorschriften wie etwa die Verjährung, die Beweisverbote und zahlreiche andere Beschränkungen auf der Suche nach der Wahrheit relativiert oder finden keine Anerkennung.

Rechtssysteme entwickeln sich in definierten Verfahren aus moralischen Kategorien und verdichten sie zu Normen und Verfahren, in denen Entscheidungen getroffen und ihre Durchsetzung erzwungen wird. Auch moralische Systeme entwickeln eine Ordnungsfunktion, die aber einen höheren Grad der Beliebigkeit aufweist, mit dem man komplexe Systeme nicht steuern kann.

Die Inhalte der Rechtssysteme entwickeln sich nie »aus dem freien Raum« sondern immer aus dem Humus wichtiger moralischer Normen. Unter den unzähligen Normen der Moral gelangen nur wenige in den Bereich des Rechts. In der jüdischen Torah gibt es 613 Verhaltensvorschriften, unter ihnen aber nur wenige Gebote, die Rechtscharakter haben. Moral ist kein Recht, weil es ein relativ offenes System ist, Recht entspricht nicht immer moralischen Regeln, weil es als geschlossenes System Formstrenge verlangt und im Einzelfall Empathie vermissen lässt: »Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit107«.

Rechtssysteme unterscheiden sich von moralischen Systemen in folgender Hinsicht:

  1. Das politische System muss über ein formal konstruiertes Rechtssystem verfügen, dass keine Regeln zulässt, die sich gegen das System selbst richten. Die geltenden moralischen Regeln werden – soweit sie für die Struktur des Rechtssystems relevant sind – vom Einzelfall abgelöst auf die Höhe abstrakter Normen gehoben und um weitere Normen erweitert. So entsteht ein allgemeiner Standard, an dem die Menschen sich planerisch orientieren sollen.108
  2. Rechtliche Entscheidungen (Gesetze, Verwaltungsentscheidung, Urteile) müssen den Kriterien der Gleichheit, der Fairness und der Ausgewogenheit (»Urgrammatik des Rechts«) genügen, um damit »rechtliche Gerechtigkeit« entstehen kann. Das gilt nicht nur für inhaltliche Entscheidungen, sondern auch alle formalen Regeln (Parlamentarische Geschäftsordnungen, Verwaltungsverfahren, Prozessrecht). Die Fairness gebietet fast immer die Anhörung aller Beteiligten.
  3. Die Anwendung der Normen auf den Einzelfall wird durch förmliche Verfahren umgesetzt, die von unbefangenen Richtern organisiert werden, und die Vollstreckung der Urteile wird durch formalisierte und öffentlich legalisierte Gewalt erzwungen. Auf all diesen Entscheidungsebenen müssen diejenigen Interessen und Werte abgebildet sein, die sich unter den jeweiligen Rahmenbedingungen von Zeit, Raum, Gesellschaft, Kultur etc. entwickeln.
  4. Jeder muss das praktisch realisierbare Recht haben, Streitfälle vor unabhängige Richter (Menschen, die nicht unmittelbar am Konflikt beteiligt sind)109 zu bringen, deren Urteile mit staatlicher Gewalt vollstreckt werden.

Zu 1: Moralische Regeln bilden zwar Systeme, aber ihre Grenzen zur Umwelt sind oft verschwommen. Die Systeme und/oder ihre Inhalte werden selten dokumentiert, die Begriffe sind unklar und die moralischen Sanktionen hängen von Zufällen ab. Moralische Sanktionen können sich jederzeit ändern, ohne dass dies formal in irgendeiner Form erkennbar wäre. Rechtssysteme hingegen dürfen diese Schwächen nicht aufweisen, wenn sie funktionsfähig sein, also die in den Ziffern 2-4 beschriebenen Anforderungen genügen sollen. Sie müssen wirksam jeder Art von Willkür verhindern, und definierte Schwellen für die Änderung von Normen enthalten. Gleichzeitig muss das System über genügend Flexibilität und Toleranz verfügen, um eine stetige Anpassung von Normen an die gesellschaftlichen Verhältnisse zuzulassen.

Zu 2.: Rechtliche Entscheidungen (Gesetze, Verwaltungsentscheidungen, Urteile) müssen »rechtliche Gerechtigkeit« ermöglichen, also mindestens den drei Kriterien der Urgrammatik des Rechts genügen. Sie lassen sich aus den drei Elementen der moralischen Urgrammatik entwickeln (Interdependenz, Reziprozität, Empathie).

Zu 3.: Die »juristische Gerechtigkeit«110 kann nicht losgelöst von der Gesellschaft entwickelt werden, aus der sie stammt. Die Normen, aus denen das Rechtssystem besteht, müssen daher in ihrem Kern die sozialen und moralischen Regeln abbilden, die sich aus den jeweiligen Rahmenbedingungen von Zeit, Raum, Gesellschaft, Kultur etc. entwickeln.

Zu 4.: Der Erlass der Normen ist das Ergebnis politischer Auseinandersetzungen und daher immer an die Interessen derjenigen gebunden, die die Macht haben, ein Gesetz zu erlassen. Wird das Gesetz auf Verwaltungsebene durchgeführt, dürfen die Interessen der Regierung darüber bestimmen, auf welche Weise das geschieht. Die Gefahr, dass diese Entscheidungen durch rechtswidrige Interessen oder gar durch willkürliches Verhalten beeinträchtigt werden, ist innerhalb von Legislative und Exekutive nicht ganz ausscheidbar. Das kann nur auf der Ebene der Judikative geschehen. Der Richter muss sicherstellen, dass in seiner Entscheidung keine Willkür einfließt, er muss unbestechlich111 und unabhängig sein. Stellt ein Richter fest, dass der rechtliche Begriff der Gerechtigkeit sich mit seinen moralischen Grundüberzeugungen nicht vereinbaren lässt, muss er diesen Konflikt selbst lösen. Da unterliegt er einer tragischen Wahl. In Streitfällen muss ein rechtliches Urteil für alle erreichbar sein. In Rechtssystemen, die keine Prozesskostenhilfe kennen (USA), oder andere, in denen Rechtsanwälte fehlen oder unter Druck gesetzt werden ist der praktische Zugang zum Rechtssystem gefährdet. Schließlich muss sichergestellt sein, dass Gerichtsurteile auch wirksam vollstreckt werden.

Von einem Rechtssystem kann man sprechen, wenn das Recht diese vier Elemente durch Schaffung eines Gewaltmonopols und durch miteinander koordinierte und konsistente Regeln beherrscht. Dazu hat man viel Zeit gebraucht. Noch bis ins 18. Jahrhundert haben Könige und Fürsten durch »Machtspruch« (sententia ex plenitudine potestatis - ein Spruch aus der Fülle der Macht) in Urteile eingegriffen, die die von ihnen bestellten Richter gefällt hatten112.

Diese vier Elemente gelten auf der Ebene moralischer Entscheidungen nicht immer: Der Maßstab der Gleichheit kann in ihnen nicht immer verwirklicht werden, denn sie sind von stets wechselnden Machtverhältnissen beeinflusst, zu breit definiert und die Fallkonstellationen wechseln ständig. Vor allem aber kann die Ungleichheit nicht differenziert genug erfasst werden (Auge um Auge, Zahn um Zahn – Talionsprinzip). Die Fairness ist vor allem ein Verfahrensprinzip unter moralische Konflikte nicht informellen Verfahren ausgetragen werden, ist es meist dem Zufall überlassen, wieweit dieses Prinzip sich dort durchsetzen kann. Gleiches gilt für die Ausgewogenheit moralischer Sanktionen.

Die naive Idee, das die Konfliktregulierung durch ein staatlich organisiertes Rechtssystem zu einer »objektiv richtigen« Lösung des Konflikts führen müsse, lässt sich tatsächlich ebenso wenig verwirklichen, wie die Idee einer unter allen Umständen absolut richtigen Gerechtigkeit. Das wissen wir schon seit Jahrtausenden:

»Angenommen, ich diskutierte mit Dir; Du besiegst mich, und ich besiege Dich nicht. Hast Du nun wirklich recht? Habe ich nun wirklich unrecht?... Hat einer von uns recht und einer unrecht, oder haben wir beide recht oder beide unrecht? Ich und Du, wir können das nicht wissen. Wenn die Menschen aber in einer solchen Unklarheit sind, wen sollen sie rufen, um zu entscheiden? Sollen wir einen holen, der mit Dir übereinstimmt, um zu entscheiden?... Oder sollen wir einen holen der mit mir übereinstimmt?... Sollen wir einen holen, der von uns beiden abweicht, um zu entscheiden?... So können also ich und Du und die anderen einander nicht verstehen, und da sollten wir uns von etwas, das außer uns ist, abhängig machen? Vergisst die Zeit! Vergiss die Meinungen! Erhebe Dich ins Grenzenlose! Und wohne im Grenzenlosen!«113

Der Verzicht auf Konfliktregelungen wie er in diesem altchinesischen Text als Verhaltensmöglichkeit entwickelt wird, ist in unserem sozialen Verhalten nicht akzeptabel. Konflikte zwischen Menschen regeln wir durch Entscheidungen anderer Menschen und das Einzige, was es da zu verstehen gibt ist: Diese Entscheidungen schaffen zwar Rechtsfrieden und Rechtssicherheit, aber ob sie auch gerecht sind, werden wir nicht feststellen können.

Die Idee, ein Rechtssystem welcher Art auch immer könne eine über jeden Meinungsstreit erhabene absolut gültige Gerechtigkeit gewährleisten, führt ins Leere. Aus der »Urgrammatik des Rechts« entwickeln sich einzelne soziale, kulturelle usw. »Sprachen des Rechts«. In diesen Sprachen werden die einzelnen Werte formuliert, die eine Gesellschaft für rechtlich relevant hält, soweit sie nicht schon durch die »grammatischen Regeln« gesichert sind. Dazu gehören vor allem die Menschenwürde, die Freiheit, die Sicherheit nach außen, die Soziale Sicherheit (die Inhalte und Maßstäbe der verteilenden Gerechtigkeit) und andere Grundrechte. Es gibt keine abstrakte »Reine Rechtslehre«, die für alle denkbaren gesellschaftlichen Systeme Gültigkeit hätte. Zwar ist rechtsgeschichtlich zu beobachten, dass z. B. die Tötung eines Menschen immer als Verstoß gegen Gerechtigkeitsprinzipien angesehen wurde, aber unter welchen Voraussetzungen das geschah und welche Rechtsfolgen daran geknüpft worden, ist immer differenziert beantwortet worden. Jeder Versuch, Gerechtigkeit in allgemein unter allen denkbaren Rahmenbedingungen gültige Begriffe zu fassen, enden in Leerformeln.

Rechtssysteme114 bestehen aus unzähligen einzelnen Elementen, die durch die Idee miteinander verbunden sind, rechtliche Entscheidungen (Urteile, Beschlüsse etc.) zu ermöglichen. Dazu gehört zunächst das Geflecht der Gesetze, Verordnungen, Präjudizien usw. (Normen115), und unzählige Texte, vor allem Kommentare, Lehrbücher usw, die das System dokumentieren. Sie haben in erster Linie den Zweck, Verfahren zu definieren, in denen das Recht entsteht, ausgelegt, angewendet und vollstreckt werden soll. In vielen Rechtsordnungen – so vor allem den angloamerikanischen – liegt darin der wesentliche Wert eines Rechtssystems. Andere Traditionen – so vor allem die mehr in der romanischen Rechtstradition verhaftete deutsche, österreichische oder schweizer Rechtskultur halten die Bedeutung des Rechts als Maßstab für bestimmte Wertentscheidungen für mindestens gleichgewichtig. Im Rechtssystem vermischen sich also (teilweise untrennbar) formale und inhaltliche Element.

Das Rechtssystem ist keine Maschine, kein Computer, kein logischer Golem. Wir haben nicht die Möglichkeit, die einzelnen Wege, die die Entscheidung in uns nimmt, vollständig zu kontrollieren: Vieles findet im Unterbewusstsein statt, manches erkennt man an Analogien, Hochrechnungen geplanter Wirkungen, Modellbildungen usw. und kann Zwischenergebnisse (z. B. in höheren Instanzen) korrigieren, anderes bleibt uns endgültig verborgen. Deshalb werden die Ergebnisse dessen, was ein Rechtssystem zu leisten fähig ist, immer kritisch betrachtet.

Die Funktionsfähigkeit des Rechtssystems hängt entscheidend davon ab, dass die Menschen, die innerhalb eines Rechtssystems tätig sind, die zahllosen Entscheidungen treffen, die notwendig sind, damit die Gerechtigkeit entstehen kann. Die Texte, aus denen das Rechtssystem besteht, blieben bloßes Papier, wenn nicht Menschen sie dazu benutzten, um die Ihnen anvertraute Welt zu ordnen. Sie entwickeln das System, interpretieren die Texte, fällen die Entscheidungen und vollstrecken sie. Man sagt, Gott könne auch auf krummen Zeilen gerade schreiben – wir können das nicht. Die sozialen Systeme, in die das Recht eingebettet ist, bestehen aus krummen Zeilen und gebogenen Körpern. Man kann sie nur mit Leibniz' Infinitesimalrechnung berechnen, eine Methode, die die Möglichkeiten beschreibt, sich dem Ergebnis anzunähern, in dem Bewusstsein, es nie endgültig zu erreichen. Die Gerechtigkeit hat immer nur eine Chance und wie hoch sie ist, hängt von den Rahmenbedingungen ab, auf die sie im konkreten Fall trifft.

Die Idee Rechtssysteme zu entwickeln beginnt bereits bei den ersten Versuchen eines »Landfriedens«116 und verkörpert sich jetzt in der Idee der Vereinten Nationen. Die Übergänge sind fließend und die Abgrenzungen zwischen Moral und Recht sind seit jeher heftig umstritten117. Eine griffige Formel besagt, dass wir von Rechtssystemen erst sprechen sollten, wenn Konflikte vor staatlichen Gerichten oder Schiedsgerichten ausgetragen werden und die Urteile wirksam vollstreckt werden.

Wenn wir uns die – oben im Einzelnen entwickelte – Idee vor Augen halten, dass wir Recht und Gerechtigkeit nicht irgendwo suchen und finden können wie die Jäger, sondern uns erarbeiten müssen wie die Töpfer, liegt es auf der Hand, dass die Entscheidungen, die in einem wie immer strukturierten Verfahren getroffen werden, im Einzelfall anders ausfallen werden, als wenn sie – wie moralische Entscheidungen – auf informelle Weise getroffen werden. Die überragenden Ziele der Rechtsfrieden und Rechtssicherheit, die nur in Rechtssystemen erreicht werden können, wirken stark auf die Ergebnisse ein: moralische Normen entstehen organisch und nicht etwa in Parlamenten und moralische Entscheidungen unterliegen z. B. nicht der Verjährung, es bestehen keine Verfahrensregeln, darüber, wie sie getroffen werden, es gibt keine Beweisverbote usw.

Die Qualität eines Rechtssystems besteht aus der richtigen Mischung zwischen Ordnung und Flexibilität, aus der Fähigkeit, bewährtes zu erhalten, sich aber notwendigen Neuentwicklungen nicht zu versperren und nicht zuletzt der Möglichkeit, sich auf das Recht zu berufen. Natürlich ist die Qualität des Rechtssystems überwiegend abhängig vom politischen System. Recht kann sich nicht gegen die Politik entwickeln, in Ausnahmezuständen muss es ihr weichen. Aber im Normalfall suchen wir nach einer Statik, die für Entscheidungen innerhalb von Rechtssystemen im allgemeinen Gültigkeit haben soll.

Die Normen, die ein Rechtssystem aus den unterschiedlichsten politischen Positionen heraus zu Normen verdichten muss, hat nur dann die Fähigkeit, die unterschiedlichsten Werte miteinander in ein, vom Gesetzgeber selbst akzeptiertes Verhältnis zu bringen, hat Mindestanforderungen, die Wolfgang Fikentscher folgendermaßen beschrieben hat:

»Wir können anderen nahelegen, dass wir auf unsere Gerechtigkeit kulturellen Wert legen, aber wir können niemanden zwingen, dieser Auffassung von dialogisch angestrebter Gerechtigkeit zuzustimmen. System, Dialog und Perspektive sind nun einmal griechisch-römische ab Güter und keine Universal Yin. Worauf wir bestehen müssen, das ist die Zulässigkeit der Frage nach Gerechtigkeit. Und man darf, wenn man selbst darauf eine Antwort geben will, auch in Anspruch nehmen, gehört zu werden… Dieses Fragerecht ist nicht viel, aber es ist vielleicht das, was in der heutigen Welt anbieten können und beanspruchen dürfen … . Ein materialer Bestandteil einer globalen Gerechtigkeit – und nicht nur ein Verfahrensgang oder – Ergebnis – ist das Recht auf Achtung der Andersartigkeit, der abweichenden Vernünftigkeit, ja der (von Außenstehenden dafür erklärten) und Vernünftigkeit, kurz: Der kulturellen und menschlichen Eigenheit und Eigenständigkeit. Solange das durchsetzbare Recht besteht, nach Werten zu fragen damit gehört zu werden, ist das nötige Mindestquantum an Gerechtigkeit vorhanden.«118

Unter den zahllosen Elementen, aus denen ein Rechtssystem besteht, seien die Orte hervorgehoben, an denen rechtliche Entscheidungen gefällt werden: Im alten Germanien war es die Linde, im Mittelalter die »Gerichtslaube«, Ende des 19. Jahrhunderts entstanden Justizpaläste, neben denen wir jetzt moderne Zweckbauten sehen. Die Ästhetik dieser Gebäude sagt uns etwas darüber, wie wir das Rechtssystem betrachten, welche Funktionen wir in ihm verwirklicht sehen wollen, wie wir seine kulturelle und soziale Bedeutung einschätzen.

In jedem von ihnen mischen sich kulturelles Vorverständnis, Vorurteile, Logik, Gefühle und unbekannte Einflüsse aus dem Unterbewussten, die man zusammengefasst als »Gerechtigkeitssinn« bezeichnen kann.

Rechtssysteme bilden sich – wie jedes andere soziale System – auch ohne jeden planerischen Eingriff aus Ordnungsvorstellungen, die die Menschen entwickeln und als praktisch wirksam erkennen. Sie zeigen die »Fähigkeit, Beziehungen zu sich selbst herzustellen und diese Beziehungen zu differenzieren gegen Beziehungen zu ihrer Umwelt«119. Hier bilden sich grundlegende Auffassungen darüber, was im Zusammenleben der Menschen als wahr oder unwahr, richtig oder falsch, passend oder unpassend betrachtet wird. Die Kommunikation ist dabei von zentraler Bedeutung für die Leistungsfähigkeit von Rechtssystemen120.

Daran liegt es nicht zuletzt, dass die in juristischen Texten verwendete Sprache mit der Sprache des Alltags schwer zu koordinieren ist. Das Rechtssystem wird auf einer abstrakteren Ebene errichtet und folgt seinen eigenen (Sprach-)Logiken, um funktionsfähig zu bleiben121.

»Wenn die Begriffe nicht richtig sind, stimmen die Worte nicht;
stimmen die Worte nicht, kommen die Werke nicht zustande,
kommen die Werke nicht zustande, gedeihen Moral und Kunst nicht;
gedeihen Moral und Kunst nicht, treffen die Strafen nicht;
treffen die Strafen nicht, weiß das Volk nicht, wohin Hand und Fuß setzen.«122

Die Forderung, Gesetzestexte müssten in der Alltagssprache verständlich geschrieben werden, ist nicht realisierbar, denn in der Alltagssprache stehen die Begriffe nicht zur Verfügung, die wir brauchen, um rechtlich in sich schlüssige Konstruktionen zu entwerfen. Deshalb kann es eine staatliche Verpflichtung sein, eine Brücke zwischen rechtlichen Texten und dem Verständnis des allgemeinen Bürgers herzustellen.

Wenn man den Begriff der Gerechtigkeit wie vorgeschlagen aus den moralischen Wurzeln der Interdependenz, Reziprozität und Empathie entwickelt und auf die drei Elemente Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit reduziert, schafft man vorerst nichts weiter als eine Leerformel, die in der Alltagssprache, in der Politik, in der Philosophie und in zahllosen anderen Zusammenhängen eine unterschiedliche Bedeutung annimmt: In Mediationsverfahren etwa wird die Frage, ob das Ergebnis auch den Gerechtigkeitserfordernissen entspricht, bewusst ausgeklammert, um zum Ergebnis zu kommen. In normativen Systemen werden die Beurteilungsmaßstäbe aus Gesetzen und Präjudizien abgeleitet, die in bestimmten Verfahren entstehen und angewendet werden.

In zerfallenden Staaten zerbricht als erstes das Gewaltmonopol des Staates, die Warlords kehren zurück und wo es kein Rechtssystem mehr gibt, hat auch die Gerechtigkeit keine Chance. Diese zwangsläufige Entwicklung übersehen alle, die in anarchistischen Modellen dem Staat den Anspruch auf das Gewaltmonopol entreißen wollen und damit die Vorstellung verbinden, nun könne die Freiheit eintreten, denn »das Gesetz nur kann uns Freiheit geben«123.

9. Naturrecht und Rechtspositivismus

Moralische Regeln unterliegen einem ständigen organischen Wandel, der keinem Verfahren folgt. Sie passen sich den jeweiligen Rahmenbedingungen an, unter denen sie Wirkung entfalten. Das beginnt bei Höflichkeitsformen, Kleiderordnungen, Regeln der Arbeitsverteilung zwischen Mann und Frau oder zwischen einzelnen Berufsgruppen (Handelsbräuche). Die Erfahrung lehrt, dass viele dieser Regeln noch lange Zeit gültig sind, auch wenn sich die äußeren Bedingungen in der Zwischenzeit vollkommen verändert haben. Sie zerbröckeln an den Rändern, aber die Tradition hält an ihnen fest, weil diese Formen ein Verständnis der eigenen Identität repräsentieren, die noch für relevant gehalten werden.

Wer neue Inhalte definiert, ist gut beraten, sich zu überlegen, ob er traditionelle Formen zerstören sollte, die diesen Inhalten nicht mehr entsprechen. Die Erfahrung lehrt, dass das ein großer Fehler sein kann. Augustus und seine Nachfolger haben an den äußeren Formen der römischen Republik Jahrhunderte lang festgehalten, obwohl der Senat und andere Institutionen tatsächlich keine Macht mehr ausüben konnten. Die Beibehaltung äußerer Formen kann den inneren Machtwechsel leicht verdecken. Auch in Großbritannien haben sich in den Formalitäten der Parlamente solche Formen (zurecht) bis heute erhalten.

Rechtsnormen entstehen in definierten Verfahren und sind – jedenfalls im Verhältnis zu moralischen Regeln – formstreng ausgestattet. Sie werden nicht nur mündlich tradiert, sondern schriftlich festgehalten, allgemein bekannt gemacht und durch Vollstreckung sichtbar realisiert.

Seit den frühesten Anfängen des Rechtsdenkens wird versucht, unsere rechtlichen Ordnungsvorstellungen aus der Einsicht in Naturgesetze herzuleiten: »ius naturale est, quod natura omnia animalia docuit«124. Unter »Natur« sind dabei alle biologisch/psychologischen Elemente zu verstehen, die uns als Menschen – vor allem im Verhältnis zum Tierreich – auszeichnen. In diesen frühen Konzepten waren religiöse Vorstellungen geradezu selbstverständlich eingewoben, denn die Natur stammt von Gott und die Regeln, die man in ihr beobachten kann, sind daher göttliche Regeln. Descartes hat den Begriff der Gesetze vom sozialen Leben auf die Natur übertragen – beide sollten von Gott stammen.

Positives Recht kennen wir schriftlich definiert seit Hammurabi (ca. 1800 v. Chr.) und können vermuten, dass es im Weg mündlicher Traditionen hunderte, wenn nicht Tausende von Jahren früher entstanden ist. Die entscheidende intellektuelle Leistung des römischen Rechts war es, die dort allgemein definierten Ansprüche so zu konkretisieren, dass derjenige, der sie geltend machen wollte und derjenige, gegen den sie sich richteten, eindeutig identifizierbar waren. Auch das positive Recht wurde aus religiösen Vorstellungen abgeleitet, die weltlichen Herrscher übernahmen es entweder wie Moses direkt von Gott oder aus unvordenklichen Zeiten, in denen noch die Götter herrschten.

Die göttlichen Quellen, aus denen das Naturrecht zwangsläufig stammen muss, erweisen sich bei schonungsloser Analyse als die Definition menschlicher Interessen. Das hat Spinoza aufgedeckt und eine Ethik entwickelt, die sich ausschließlich auf die Vernunft und die biologisch/psychologische Basis der menschlichen Natur stützt. Das war ein revolutionärer Einfall. Allerdings basierend auf der Grundthese, dass Gott und Natur identisch sind, aber nur die Natur zu uns spricht, Gott hingegen schweigt. Er ist eher ein Prinzip als eine Gestalt (und auf gar keinen Fall eine christliche).

Jahrhunderte nach diesen klassischen Anfängen und nach dem alle bedeutenden Kulturen eine Fülle von Gesetzen und anderen Rechtsvorschriften hervorgebracht hatten (positives Recht), ist der Begriff »Naturrecht« als Gegenposition zu diesen Entwicklungen verstanden worden: Voltaire, Rousseau und andere legten dar, Gesetze könnten – an einem höheren Maßstab gemessen – ungerecht sein, der Rückgriff auf die Gesetze, die die Natur uns lehre, könne die Widersprüche, Lücken und Ungereimtheiten positiver Gesetze beseitigen und Ordnungen schaffen, die von den Menschen unmittelbar verstanden werden könnten.

Diese Ansicht beruht auf einem tiefen Missverständnis. Zwar kann sich keine der kulturellen Konstruktionen, die wir entwickeln, von unserer biologisch/psychologischen Basis trennen. Wir können also nicht gegen unsere Natur handeln, aber aus ihr lassen sich aus unterschiedlichen Gründen keine »Naturrechte« ableiten. Dafür ist die Welt zu komplex, die Möglichkeit von Rechtssystemen allzu vielfältig. Wie so oft gesagt: Das Sein sagt uns nichts über das Sollen, das tut nur das positive Recht. Wenn wir von »Gesetzen« in der Natur sprechen, so hat die Naturwissenschaft diesen Sprachgebrauch aus der juristischen Welt übernommen und nicht umgekehrt. Wir beobachten zwar in der Natur – vor allem unter höher entwickelten Tieren (Primaten, Meeressäugetiere usw.), aber auch unter Insekten soziale Strukturen, die zu einer zwischen diesen Tieren relevanten Ordnung führen, die man durchaus als »Gesetze« bezeichnen kann, wenn man sich dabei bewusst ist, dass dieser Begriff nun in einer naturwissenschaftlich zu untersuchenden Umgebung verwendet wird und sich nicht auf soziale Ordnungen bezieht, die unter Menschen entstanden sind. Mit dem Begriff »Gesetz« wird dann nichts weiter als eine naturwissenschaftlich analysierbare bestimmte Regelmäßigkeit verstanden.

Spricht man aber von »Recht« dann geht es nicht nur darum, Gesetze zu beobachten, sondern auch jemanden zu identifizieren, der das Recht in die Welt gesetzt hat, jemanden, der Rechte haben kann und andere, gegen die sich die daraus ableitbaren Rechte richten könnten. Unter Tieren sind solche Beobachtungen bisher nicht gemacht worden. Die dort gültigen »Gesetze« erzeugen selbstregulierende Systeme, aus denen sich keine Ansprüche ableiten lassen.

Wir entwickeln unsere Rechtssysteme auf andere Weise. Wir fragen uns, welche Normen wir brauchen, um die von uns gewünschte Ordnung herzustellen. Ein Alleinherrscher stellt sich diese Frage selbst, in demokratischen Systemen werden sie von den Parlamenten definiert. Unsere gesellschaftlichen Strukturen folgen dabei nicht unseren Instinkten und nicht nur den festgelegten biologisch/psychologischen Voraussetzungen, weil wir trotz des hohen Einflusses des Unterbewusstseins auf unsere Entscheidungen nicht allein gestützt auf unser angeborenes oder erlerntes Verhalten und unsere inneren Einstellungen handeln. Unsere sozialen Systeme leiten sich immer aus einem im Kern nicht festgelegten Spannungsverhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft her: Wir können streng hierarchisch gegliederte Gesellschaftssysteme ebenso konstruieren wie andere, bei denen die Machtverhältnisse nur verdeckt und informell wirken.

Die modernen Rechtspositivisten, unter denen Hans Kelsen hervorzuheben ist, verstehen Rechtssysteme richtig als Organisationsformen der Macht, so dass der Begriff des Rechts an keinerlei außerhalb des Rechts liegende politische, religiöse, moralische etc. Wertvorstellungen – und schon gar nicht an Ordnungen, wie sie in der Natur zu beobachten sind – geknüpft sein soll, wenn sie der Gesetzgeber nicht ausdrücklich durch seine Normen realisiert sehen will. Die Moral spielt bei diesem Denken keine größere Rolle als jeder andere Einfluss:

»Jeder beliebige Inhalt kann Recht sein, es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, zum Inhalt einer Rechtsnorm zu werden. Deren Geltung kann dadurch nicht infrage gestellt werden, dass ihr Inhalt einem irgendwie vorausgesetzten materiellen Wert, etwa der Moral, nicht entspricht.«125

Aber die Moral ist für das Recht nicht bedeutungslos: Das positive Recht wählt unter der Vielzahl moralischer Konzepte, die es vorfindet, diejenigen aus, die ihm geeignet erscheinen, die Ziele zu unterstützen, die die Gesellschaft erreichen will. Es kann sich nicht gegen diese Regeln entwickeln, weil das Recht sonst keine Anerkennung finden könnte. Aber es ist kein getreues Abbild dieser moralischer Normen: In Rechtsnormen fließen zahllose andere sozial relevante Elemente ein, die unsere soziale Ordnung bestimmen.

Es gibt starke und schwache Rechtssysteme. Ihre Stärke hängt davon ab, dass sie unmittelbaren und ungestörten Zugriff auf das staatliche Gewaltmonopol haben, um ihre Ziele zu verwirklichen. Sie müssen also ihre Verfahren gegen politische Eingriffe schützen und ihre Urteile vollstrecken können.

Rechtssysteme können durch zwei zentrale Angriffe gegen seine Form und gegen seinen Inhalt zerstört werden:

  1. Man kann positives Recht umgehen oder ihm mit politischen Eingriffen die Macht nehmen. Damit wird die Ordnungsfunktion des Rechts zerstört: Recht ist nicht nur die Stütze, sondern auch die Grenze der Macht und wenn das Recht aufgrund der tatsächlichen Machtverhältnisse daran scheitert, willkürlichen Entscheidungen der Machthaber Grenzen zu ziehen, kann es seine Funktionen nicht mehr verwirklichen.
  2. Unterhalb dieser Schwelle ist es möglich, dass das Recht zwar formal funktionsfähig bleibt, diese Form aber missbraucht wird, um willkürliche Maßnahme durchzusetzen und so im Einzelfall in so hohem Maße ungleich, unfair oder unausgewogen ist, dass das Ziel der Gerechtigkeit vollständig verfehlt wird.

Der erste Fall trat 1934 im gleichen Jahr ein, als Kelsen seine berühmte Definition schrieb: Adolf Hitler ließ eine Reihe politischer Gegner, darunter Ernst Röhm in einer groß angelegten Aktion ohne Gerichtsurteil umbringen. Carl Schmitt versuchte das zu rechtfertigen:

»Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn er im Augenblick kraft seines Führertums als Oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft. (…) Der wahre Führer ist immer auch der Richter (…) Die Tat des Führers (…) war echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz.«126

In all diesen Fällen wird das etwa vorhandene positive Recht ignoriert und mehr oder weniger willkürliche Handlungen der Machthaber ohne Rückgriff auf irgendwelche Verfahren oder Formalitäten für Recht erklärt. Wenn das geschieht, zerfällt jede denkbare staatliche Ordnung. Das gilt selbst dann, wenn solche Entscheidungen zufällig den Anforderungen der Gleichheit, der Fairness und Ausgewogenheit entsprechen sollten. Recht entsteht erst, wenn die politische Macht sich einerseits auf Normen stützt, die sie stabilisieren, ihre Handlungsmöglichkeiten aber auf das positive Recht begrenzt. Willkürliche Einzelmaßnahmen wie diese Morde können durch keinerlei rechtliche Überlegungen gerechtfertigt werden, weil sie das Recht selbst zerstören. Es sind Selbstmordattentate.

Der zweite Fall – also die Verkleidung der Willkür in formales Recht – zeigte sich deutlich an den zahllosen Vorschriften des nationalsozialistischen Rechts, die formal durch entsprechende Gesetze gedeckt, aber inhaltlich durch gar nichts zu rechtfertigen waren, so vor allem die »Nürnberger Rassegesetze«. So erklärt sich die »Radbruchsche Formel«, mit der versucht wird, den Gedanken der materiellen Gerechtigkeit (Gleichheit, Fairness, Ausgewogenheit) mit der Erkenntnis zu verbinden, dass diese Ziele nur innerhalb eines Rechtssystems erreicht werden können, in denen es positive Gesetze gibt und nicht nur moralische Gefühle (wie etwa das »gesunde Volksempfinden«).

In einem Gedankenexperiment könnte man sich vorstellen, dass eine von Menschenverachtung geprägte Politik mit Freude nur willkürliche und »ungerechte« Gesetze zulässt, weil sie sich entschlossen hat, keine Rücksicht auf moralische Vorstellungen zu nehmen. Würde sie diese Unordnung als Ordnung bezeichnen, hätte sie nur Begriffe vertauscht, aber keine Funktionsfähigkeit geschaffen. Bereits auf mittlere Sicht entzieht sie damit ihrer politischen Macht den Boden.

H.L.A. Hart (Oxford), hat das klar erkannt, plädiert aber gleichwohl für »den praktischen Nutzen des engeren Rechtskonzepts«, also eines Systems, das die Frage nach der »moralischen Gerechtigkeit« zunächst nicht stellt:

»Böse Menschen werden böse Regeln erlassen, die andere Menschen erzwingen werden. Was wir mit Sicherheit viel mehr brauchen, um den Menschen die Klarsicht zu geben, die sie benötigen, wenn sie mit offiziellem Machtmissbrauch konfrontiert werden, ist, dass sie sich den Sinn dafür bewahren, dass die Bestimmung von etwas als rechtsgültig nicht schon automatisch die Gehorsamsfrage entscheidet und dass, so groß auch die Aura der Majestät und Autorität sein mag, die das offizielle Rechtssystem hat, dessen Forderungen letztlich immer der moralischen Prüfung unterworfen werden müssen.«127

Mit diesem Versuch wird die Frage, ob die in Normen festgehaltenen Wertentscheidungen inhaltlich ungerecht sind und wie man mit diesem Problem umgehen muss, von der Systemebene auf die Ebene persönlicher Entscheidung verschoben. Damit wird jedem, der solche schwierigen Entscheidungen zu treffen hat, eine gewaltige Last auf die Schultern gelegt. Das betrifft nicht nur den, der handelt, sondern alle, die sein Handeln später zu beurteilen haben, darunter in erster Linie die Richter. Ihnen kann man einen Teil der Last dadurch nehmen, dass man – wie Kelsen vorgeschlagen hat – ein Verfassungsgericht einrichtet, also einen höherrangigen Referenzpunkt.

Wer in solchen schwierigen Fällen die Entscheidung nicht auf die Schultern eines Einzelnen legen will, wird bedenken, dass Rechtsnormen – ebenso wie moralische Regeln – anerkennungsfähig sein müssen. Das Recht entwickelt sich nicht im luftleeren Raum, es ist ein Spiegel unseres sozialen Lebens, wie Friedrich von Savigny hervorgehoben hat. Das Recht muss die moralischen Grundauffassungen, die in einer Gesellschaft zutage treten, jedenfalls in ihrem Kern zur Kenntnis nehmen und auf sie in geeigneter Weise reagieren. Jede Rechtskultur muss sich mit der Gesellschaft, ihrer Rechtskultur und ihren Wertesysteme verbinden können, wenn sie Bestand haben will.

Die Gefahren dieses Konzepts liegen auf der Hand: Wenn »das gesunde Volksempfinden« positive Gesetze jederzeit entwerten könnte, wäre die Ordnungsfunktion des Rechts auf die gleiche Weise gefährdet, wie durch jede Willkür der Exekutive. Dieses Problem könnte man auch dann nicht aus der Welt schaffen, wenn man eine formale Hürde aufstellte, die dazu zwänge, jede Änderung des positiven Rechts nur durch den Gesetzgeber zuzulassen. Unter dem Druck des »gesunden Volksempfinden« müsste man erwarten, dass es Parlament solche Gesetzesänderungen durchwinkt.

Kelsen sah die Gefahr eines formalen Missbrauchs des Rechtsbegriffs ebenso klar wie die Möglichkeit, dass Gesetze erlassen werden, die den moralischen Grundentscheidungen einer Gesellschaft widersprechen. Er empfahl daher, jedes Rechtssystem auf eine Verfassung (Grundnorm) zu stützen und die Frage, ob ein Gesetz dieser Grundnorm widerspreche, von einem Verfassungsgericht klären zu lassen. Diese Institution benutzt die formale Vorgehensweise eines Gerichts, um Widersprüche und Rangprobleme zwischen der Grundnorm und andere Normen zu klären – und zwar immer im Sinne der Aufrechterhaltung der Grundnorm. Da die einfachen Gesetze vom Parlament beschlossen werden, liegt in jeder Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes eine Kritik am Parlament. Dass ist die politische Funktion des Verfassungsgerichts, eine hybride Konstruktion, die nur dann funktionieren kann, wenn die Korrektur des gesetzgeberischen Willens Anerkennung findet.

Gustav Radbruch – ein großer Anhänger Kelsens – hat in der Nachkriegsdebatte schon sehr früh eine Formel zur Lösung dieses Problems vorgeschlagen, die allgemein, aber auch von den Gerichten128 akzeptiert worden ist. Sie ist in zwei Absätze gegliedert, die getrennt gelesen werden müssen129. Ihr erster Absatz lautet130:

»Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, dass das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, dass der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, dass das Gesetz als »unrichtiges Recht« der Gerechtigkeit zu weichen hat.«

Die Verwendung des Begriffs »Rechtssicherheit« ist in diesem Zusammenhang fehlerhaft, richtig müsste es heißen »Positives Recht«, denn der Begriff der Rechtssicherheit bezieht sich nur auf die Formstrenge des Rechts (Verfahrensregeln, Verjährung usw.) und ist selbst Teil der Gerechtigkeit, denn auch diese Regeln müssen den drei Gerechtigkeitskriterien entsprechen. Tatsächlich kann es einen Widerspruch zwischen der Gerechtigkeit und den geschriebenen Gesetzen und/oder Präjudizien geben: Der Gesetzgeber oder der Richter verkennen z. B. in Einzelfällen die Bedeutung des Gleichheitssatzes. In solchen Fällen dürfen auch fehlerhafte Gesetze/Präjudizien nicht ohne weiteres ignoriert werden.

Von zentraler Bedeutung ist darin der Begriff »unerträgliches Maß«. Das ist eine offensichtliche Leerformel, denn der Maßstab, von dem hier gesprochen wird, bietet – anders als man es von einem Maßstab erwarten muss – keine objektiv verwertbaren Kriterien, sondern ist ein emotionaler ethischer Appell: Was unerträglich ist, hängt von den subjektiven Gefühlen dessen ab, der eine bestimmte Erfahrung macht, ist einem Dritten also nur begrenzt vermittelbar und mit Sicherheit nicht vergleichbar. Mit dem Schluss, »dass das Gesetz als »unrichtiges Recht« der Gerechtigkeit zu weichen hat« ist der Eindruck entstanden, als plädiere Radbruch dafür, naturrechtliche Überlegungen über das positive Recht zu stellen. Dieser Eindruck wird allerdings korrigiert, wenn man den zweiten Absatz liest:

»Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehungen aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewusst verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur »unrichtiges« Recht, viel-mehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.« (Hervorhebung durch den Verfasser).

Der letzte Satz, der selten zitiert wird, liefert präzise Kriterien für die Beurteilung der Ungerechtigkeit eines Gesetzes: Wenn es nur im allgemeinen ethisch fragwürdig ist, oder sonstige Systemfehler aufweist, ist es als positives Recht anzuerkennen. Richtet es sich aber gegen den Rechtsstaat selbst, bekämpft es die Rule of Law, dann ist das »unerträgliche Maß« erreicht, von dem der erste Absatz spricht131. Eine ganz ähnliche Fragestellung ergibt sich bei der Suche nach den Grenzen der Toleranz. Sie endet dort, wo die Möglichkeit zur Toleranz für die Zukunft gefährdet ist. Die Radbruchsche Formel überzeugt, wenn man ihre beiden tragenden Aspekte zusammenführt: sie funktioniert wie »Treu und Glauben« nur in einem konkreten Bedeutungszusammenhang, nicht jedoch im leeren Raum132. Das Zusammenwirken systematischer juristischer Begriffe mit anderen, die emotionalen Lagen Ausdruck geben, hat die Methodenlehre unter den unterschiedlichsten Aspekten erfasst. Vor allem Arthur Kaufmann133 hat gezeigt, dass im Rahmen der Bildung von Analogien – so vor allem beim Vergleich des Normfalls (Fritjof Haft) mit dem konkreten Fall – Emotionen bei der Entscheidung ins Spiel kommen, die sich ohne breite Ermessensspielräume nicht entfalten könnten134. Die Radbruchsche Formel entwickelt also keine naturrechtlichen Ideen, sondern definiert die Grenzen dieser Ermessensspielräume.

Für das Recht bedeuten diese Überlegungen: Es lässt sich nicht aus der Natur ableiten, weil es nur die Regeln unseres sozialen Lebens umfasst (wir sind nur ein Teil der Natur), es darf sich in der Struktur seines Ordnungdenkens nur am gesetzten positiven Recht orientieren, aber es darf nicht blind gegenüber der Erkenntnis sein, dass dieses positive Recht sich gegen eine Ordnung richten kann, in der die Ansprüche und Interessen des Einzelnen gegenüber jenen der Gesellschaft nicht gleich, fair und angemessen geregelt werden.

Das Recht darf sich auch nicht gegen die Natur richten, weil es sonst mit dem Leben nicht verbunden wäre. Normen dürfen also die biologisch/psychologischen Rahmenbedingungen, die das Verhältnis des Ichs zur Gesellschaft bestimmen, nicht ignorieren, sich also nicht »gegen das Sein richten«.

»Man is very much a creature of habit. A thing that rarely strikes his senses will generally have but little influence upon his mind. A government continually at a distance and out of sight can hardly be expected to interest the sensations of the people. The inference is, that the authority of the Union, and the affections of the citizens towards it, will be strengthened, rather than weakened, by its extension to what are called matters of internal concern; and will have less occasion to recur to force, in proportion to the familiarity and comprehensiveness of its agency. The more it circulates through those channels and currents in which the passions of mankind naturally flow, the less will it require the aid of the violent and perilous expedients of compulsion.«135

10. Gesetz und/oder Verfahren

Frühere Theorien haben seit Platon136 in der Gerechtigkeit einen Gegenstand gesehen, den wir im Urwald der Tatsachen und Konflikte finden könnten, wenn wir nur mit genügend Energie suchen. Für ihn war sie ein scheues Wild – ein Igel würde Ronald Dworkin137 sagen:

»Wir müssen wie Jäger den Busch rings umstellen, dass uns die Gerechtigkeit nicht etwa entschlüpfe und dann, wenn sie einmal verschwunden ist, nicht wieder zum Vorschein komme. Denn offenbar ist sie hier irgendwo«.

Das ist eine starke, aber falsche Analogie. Sie setzt sich bis in die moderne Literatur fort: »Die Gerechtigkeit befindet sich auf einer Etage, zu der die Justiz keinen Zutritt hat« (Friedrich Dürrenmatt). Gerechtigkeit ist aber kein Gegenstand, den man erjagen kann, sondern ein – stets empfindlicher und oft nur vorübergehender – Zustand des Gleichgewichts zwischen ihren drei Elementen, der Gleichheit, Fairness und der Ausgewogenheit. Sie werden hin und hergerissen von divergierenden Interessen und beeinflusst von den Rahmenbedingungen, unter denen sie hergestellt werden muss. Wir versuchen das auf zahllosen Feldern unseres sozialen und kulturellen Lebens: In der alltäglichen Entscheidung über moralische Probleme, bei politischen Appellen, beim Verhalten gegenüber anderen.

In all diesen Fällen entscheiden letztlich die Machtverhältnisse und der Zufall kann mehr Einfluss haben als alle anderen Faktoren. Ganz anders im Rechtssystem: Hier versuchen wir der Gleichheit, der Fairness und der Ausgewogenheit in definierten Verfahren so nahe wie möglich zu kommen, Verfahren, in denen die Menschen, die entscheiden, möglichst frei von den Machtverhältnissen und den Interessen sein sollen, über die sie zu richten haben.

Verfahren sind selbsttragende Systeme, deren »Ablauf unabhängig ist von den Unterschieden unter den Handelnden, die es in Gang setzen138«. Sie müssen wie die Inhalte den Anforderungen der Gerechtigkeit standhalten139. Verfahren sind stabiler und wichtiger als Inhalte. »Freiheitssicherung liegt zu einem guten Teil in Formen und Verfahren, weit mehr als in materiellen Gewährleistungen«140, oder, wie es im englischen Rechtssystem heißt: »remedies precede rights«.

Rechtliche Verfahren (Anträge, Instanzen, Unbefangenheit der Richter etc.) sorgen für das »langsame Denken« (Kahneman), so dass die Chance steigt, gröbste Verirrungen von Verstand und Gefühl zu vermeiden. Ein Verfahren ersetzt – wie jede Planung – den Zufall zwar oft genug nur durch Irrtum, aber diese Irrtümer lassen sich analysieren. Nur so werden Systeme steuerbar, weil sie nach geraumer Zeit wenigstens ihrer eigenen Logik folgen. »Die Wahrheit ergibt sich eher aus Irrtum, als aus Verwirrung« (Francis Bacon141).

Das Ziel jedes Verfahrens ist eine Entscheidung. Entscheiden heißt Grenzen definieren und dadurch einzelne Gegenstände (vor allem: Tatsachen und Begriffe) sichtbar machen142. Das geschieht mit dem Maßstab der Gerechtigkeit. Dabei arbeiten wir als Töpfer, nicht als Jäger: die Gerechtigkeit ist das Ergebnis unserer Bemühungen, das Verhältnis zwischen dem ICH und der Gesellschaft auf gleiche, faire und ausgewogene Weise zu gestalten. Dabei bleibt uns stets die Ungewissheit, ob wir tatsächlich die Maßstäbe richtig verwenden, die wir einsetzen. Bei politischen und moralischen Entscheidungen liegt das auf der Hand, aber auch im Rechtssystem wissen wir nur, dass wir Rechtsfrieden und Rechtssicherheit erreichen. Ob wir auch alle berechtigten Ansprüche, Werte, Interessen usw. erfüllt haben, bleibt ungewiss: Die erste Instanz entscheidet so, die zweite anders, die dritte entwickelt völlig neue Perspektiven und wenn wir unendlich viele Instanzen hätten, sähen wir den Regress greifbar vor uns, dem wir auch bei den einfachsten rechtlichen Entscheidungen ausgesetzt sind.

Zwischen dem informellen Palaver der Frühzeit bis zur durchstrukturierten Entscheidung eines Verfassungsgerichts sehen wir zahllose Formen von Verfahren, in denen weder Gewalt noch Willkür, sondern nur die Kommunikation als Werkzeug zugelassen sind. Damit eröffnet sich – besser als durch Gewalt erzwungene Dekrete – die Chance, dass auch die Inhalte einen angemessenen Interessenausgleich ermöglichen. Er entwickelt sich aus zahllosen kommunikativen Schritten. Jeder einzelne von ihnen bedeutet eine Entscheidung für oder gegen andere Alternativen. Das beginnt schon bei der Begriffsbildung im Bereich der Normen (was ist Mord, was ist Totschlag?) und endet in den Prozessen, mit einem Urteil über Schuld, Verantwortung, Klageabweisung oder Freispruch. Bereits die Einrichtung eines Verfahrens kanalisiert die Willkür und beschränkt die Möglichkeiten der Macht. Viele Rechtsordnungen – vor allem die angloamerikanischen – betrachten allein dieses Element als ausschlaggebend, weil die Erfahrung lehrt, dass z. B. faire oder an der Gleichheit orientierte Entscheidungen ohne geregelte Verfahren nicht entstehen können. Bereits das Bemühen darum, Gerechtigkeit herzustellen, schafft einen geschützten Raum, ohne den wir keine Chance hätten, die anderen Elemente der Gerechtigkeit wirksam werden zu lassen.

Jede Gesellschaft hat formale und informelle Regelungen zur Bewältigung von Konflikten. Die meisten von ihnen werden durch Rückgriff auf moralische Vorstellungen beseitigt, die die Parteien spätestens dann teilen, wenn sie sich einigen können. Werden die Konflikte in das Rechtssystem getragen, sind die Verwicklungen zwischen den Parteien durch Kommunikation allein nicht auflösbar. Das Rechtssystem zerschneidet diese Knoten gewaltsam. Zwar werden auch hier Vergleichslösung angestrebt, Meditationen versucht usw. aber immer unter der latenten Drohung, durch streitiges Urteil zu entscheiden.

Wie eine Rechtskultur diese Grunderkenntnisse in die Praxis umsetzt, hängt von den politischen/kulturellen Rahmenbedingungen ab, unter denen das geschieht. Selbst unter relativ ähnlichen Bedingungen können die Unterschiede sehr erheblich sein. In den vom römischen Recht beeinflussten kodifizierten Systeme versucht man, die Maßstäbe der Gerechtigkeit inhaltlich zu verwirklichen, in den angloamerikanischen Rechtskulturen hingegen hält man das für mehr oder weniger unmöglich und vertraut auf das faire Verfahren:

»Die Unterordnung der Methodik unter naturrechtliche Erkenntnis auf dem Kontinent, und die Unterordnung eines idealisierten Ergebnisses unter eine den Regeln des Denkens gerecht werdende Methodik in England sind jedenfalls mit Händen greifbare Varianten des »westlichen« Rechtsverständnisses.«143

Auch das Verfahrensrecht wird von den drei Elementen der Gerechtigkeit geprägt, es muss also für alle Beteiligten gleich, fair und angemessen sein144.In allen bekannten Rechtskulturen gelten dafür drei Verfahrensregeln:

  1. Eine stabile Machtverteilung und Lösung von Konflikten kann nur erreicht werden, wenn alle Beteiligten sich an der Wahrheit orientieren. Eine Gesellschaft, die es zulässt, dass die Tatsachen ignoriert oder gar gefälscht werden, kann sich nicht mehr an der Realität orientieren145,
  2. ein Regelwerk für die Wiederherstellung von Ordnung kann nur durch Formen und Verfahren entstehen, die die inneren Vorgänge nach außen sichtbar machen,
  3. jedes Regelwerk wird nur stabil bleiben, wenn es aus sich gegenseitig begrenzenden Regeln besteht (Checks and Balances).

Wenn wir das vor über 2000 Jahren in der römischen Kultur entwickelte Symbol der Justitia betrachten, sehen wir das schon auf den ersten flüchtigen Blick: Sie wird aufgerufen, um Konflikte zu beseitigen und trägt eine Binde über den Augen, die uns sagt, dass sie bei ihren Entscheidungen neutral und unabhängig – also ihren eigenen Interessen gegenüber blind – sein muss. In der linken Hand hält sie die Waage, um die Ausgewogenheit des Ergebnisses festzustellen, in der Rechten das Schwert, um dieses Ergebnis durchzusetzen. Es ist ein Idealbild der Gerechtigkeit, die unendlich viele Gesichter hat.

Verfahrensprinzipien wie etwa die Anhörung und Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten, die Möglichkeit, auf Eingriffe mit Rechtfertigung und Gegenrechten zu reagieren (Check and Balance), die Pflicht/Notwendigkeit bestimmte Entscheidungen zu begründen, aber auch inhaltliche Formale und inhaltliche Strukturen greifen dabei lückenlos ineinander. Man wird oft nicht wissen, ob erst ein bestimmter Inhalt nach einem Ritual verlangt hat oder ein Verfahren nach einem Inhalt. Aus diesen fünf Grundregeln haben sich im Lauf der Zeit aus sozialen Wertordnungen rechtliche Regeln und dann Rechtsordnungen und Rechtssysteme entwickelt. In den archaischen Gesellschaften war mit jeder von ihnen eine magische Kraft verbunden, mit deren Hilfe man die Ordnung der Götter wiederherstellen konnte146.

– Die überwiegend auf dem römischen Recht (iustitia) basierenden westeuropäischen Rechtssysteme (Civil Law) Suchen nach einem materiellrechtlich begründbaren System der Gerechtigkeit (Italien (giustitia), Frankreich (justice), Spanien (justicia), Griechenland (dikaiosyni) Russland (pravednost – hier mit den Begriff der Wahrheit verknüpft). Sie stützen sich bei der Konstruktion ihrer Ordnungen überwiegend auf geschriebene Gesetze (Codex), die von Richtern ausgelegt werden. Noch im Preußischen Allgemeines Landrecht (1794 Einleitung I, § 47) wurde den Richtern ausdrücklich verboten, dabei vom Gesetzestext abzuweichen. In der Praxis hat das nie funktioniert. Wer versuchen würde, Politik und Soziales Leben völlig zu verrechtlichen, würde damit gleichzeitig das Rechtssystem zerstören. Es braucht Lücken, es braucht Sollbruchstellen, weil es sich sonst seine Flexibilität nicht erhalten kann. Diese Lücken werden durch Analogien und anderen Auslegungsmethoden ausgefüllt und solche Methodenlehren entwickeln die Neigung, sich in ihrer eigenen Perfektion zu verfangen, vor allem dann, wenn sie wissenschaftlich differenziert aufgearbeitet wird. Diese Neigung ist leicht daran zu erkennen, dass die Urteile sich auf vielfältige wissenschaftliche Begründungen abstützen. Wenn die praktische Tätigkeit der Richter dem nicht entgegenwirkt, können sie den Bezug zur Realität verlieren.

Anders das Common Law der angloamerikanischen Rechtskulturen (USA, Großbritannien, Australien usw.): hier deutet der Begriff (justice) auf eine Person hin, die die Entscheidung trifft, die Welt des Rechts »beruht nicht auf der Logik, sondern der Erfahrung« (Oliver Wendell Holmes147). Er ist es, der die relevanten Normen aus der größten bekannten Menge von vergleichbaren Fällen und/oder den zahlenmäßig weit geringeren abstrakten (statutes) ermittelt. Diese Auffassung stammt aus der normannischen Rechtskultur:

»And therefore it is not that jurisprudentia,
or wisdom of subordinate judges, but the reason of this our
artificial man the Commonwealth, and his command,
that maketh law148.

Im Common Law wird der Versuch, das Leben durch Normen lückenlos zu regeln, als anmaßend und unrealistisch betrachtet. Man vertraut auf die freiheitlich geprägte Grundidee, dass jeder so handeln kann, wie er will, wenn kein Gesetz und kein früherer Richterspruch ihm vorschreibt, was zu tun oder zu lassen ist. Das Richterrecht dominiert das Gesetzesrecht, die praktische Erfahrung im Umgang mit den Konflikten dominiert das Bedürfnis nach systematischer Ordnung. Hier Es wird anerkannt, dass nicht nur Präjudizien und Gesetze sondern auch die Persönlichkeit des Richters sein Urteil beeinflussen. Er muss wissen, dass von ihm keine wissenschaftliche Meinung verlangt wird, sondern eine Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Interpretation dessen, was geschehen ist.149 Oliver Wendell Holmes hat diese Erkenntnis in einer provozierenden Formel zusammengefasst150:

»The prophecies of what the courts will do in fact, and nothing more pretentious, are what I mean by the law.“

Aufgrund der Leistungsfähigkeit der durch ihre Systeme geprägten Rechtskulturen sind sie von nahezu allen Ländern der Erde ganz oder teilweise übernommen worden, auch wenn ihre kulturellen Rahmenbedingungen keine unmittelbare Verbindung zu ihnen zeigt. Japan etwa hat ab 1871 das gesamte damals bestehende deutsche Recht einschließlich der Verfassung übernommen und stützt sich lediglich im Familien – und Erbrecht auf eigene frühere Wurzeln. In Afrika sind nach 1960 die Kolonialstaaten im wesentlichen den Rechtssystemen gefolgt, die bei ihnen als Kolonien installiert worden sind. China und Russland haben ab 1985 viele Gesetze aus Deutschland übernommen, so vor allem das Wirtschaft – und Handelsrecht. Das deutsche Strafrecht ist überall in Südamerika adaptiert worden usw. Die angloamerikanischen Systeme konnten sich dort nicht durchsetzen, weil sie keine vergleichbare Systematik aufweisen.

Auf den ersten Blick sieht man allerdings nicht, dass sich neben diesen modernen geprägten Systemen immer auch das traditionelle Recht und vielfältige Methoden zur Konfliktbewältigung erhalten haben. Solche Parallelsysteme entwickeln sich zum einen aufgrund der Tatsache, dass der Zugang zum Recht in den meisten Ländern schwierig und teuer ist, zum anderen, dass – jedenfalls in Asien – bereits die Tatsache eines Konflikts zum Gesichtsverlust führen kann. Welche tatsächliche Wirksamkeit ein formal bestehendes Rechtssystem hat, kann nur die Rechtssoziologie erschließen.

Die durch ihre Gesetzessysteme gekennzeichneten Rechtskulturen und die Rechtskultur des Common Law bewegen sich heute – nicht zuletzt durch die Dynamik der Europäischen Union, wo sie auch nach dem Brexit im internationalen Rechtsverkehr aufeinanderstoßen – in vieler Hinsicht aufeinander zu. Die Bedeutung des Richterrechts nimmt in den kodifizierten Rechtssystemen vor allem durch die Institution der Verfassungsgerichte zu, deren Urteile den Gesetzgeber überspielen und damit das Gewaltenteilungsprinzip durchbrechen (hybride Systeme). Man hat auch erkannt, dass die Entscheidung niemals allein von der juristischen Systematik und ihrer Logik, sondern von dem Gerechtigkeitssinn der Beteiligten bestimmt wird. Ein Urteil kann nur Akzeptanz finden, ein Vertrag nur Bestand haben, wenn Verstand und Gefühle sich so koordinieren, dass dieser Zustand erreichbar ist. Im Common Law wird die Stellung des Richters durch eine stets wachsende Anzahl gesetzlicher Regelungen relativiert, die er zu beachten hat.

Im Zentrum jedes Rechtssystems stehen die Urteile, mit denen das Verhalten von Menschen anhand der Normen als Recht oder Unrecht bezeichnet wird. Die Macht dazu ist Richtern verliehen, deren Unabhängigkeit gesichert sein muss, wenn diese Urteile Anerkennung finden sollen. Das zentrale Problem jedes derartigen Urteils ist es, dass das mehrdimensionale menschliche Leben in seiner ganzen Komplexität auf zwei Begriffe reduziert werden muss, um eine Entscheidung in der einen oder anderen Richtung treffen zu können. Absolute Gerechtigkeit könnte – wie oben gezeigt – nur entstehen, wenn das Leben in seiner Vielfalt in einem rechtlichen Verfahren absolut abbildbar wäre. Das ist aber praktisch nicht möglich. Die Tatsachen des Lebens müssen daher in einem geeigneten Verfahren durch die Frage reduziert werden, ob sie zulässig/unzulässig, relevant/irrelevant, beweisbar/nicht beweisbar usw. sind. Deshalb kann die »prozessuale Wahrheit« immer nur ein zweidimensionales Bild des mehrdimensionalen Lebens geben. Die meisten Menschen zeigen sich davon enttäuscht, weil sie glauben, dass es jedenfalls in geordneten rechtlichen Verfahren möglich sein müsse, eine objektive Wahrheit zu ermitteln. Sie vergessen dabei, dass das grundsätzlich nicht möglich ist:

»Und das Genaue freilich erblickt kein Mensch und es wird auch nie jemand sein, der es weiß (erblickt hat) ..., denn selbst wenn es einem in höchstem Maße gelänge, ein Vollendetes auszusprechen, so hat er selbst trotzdem kein Wissen davon: Schein (Meinen) haftet an allem.“151

Schon dieser uralte Text unterscheidet zwischen Tatsachen und Meinungen (facts and fiction), denn genau hier verläuft eine, im Recht immer wieder bedeutende Grenze zu seinem Umfeld. Daher gilt: Je weiter man sich von den Tatsachen entfernt, umso geringer werden die Chancen, die Wahrheit zu erfahren. Man darf vom Recht nicht zuviel erwarten, muss aber doch soweit kommen, wie Franz Kafka dies in seinem berühmten Brief an den Vater für seinen Konflikt zum Ausdruck gebracht hat: „... So ist ... doch etwas der Wahrheit so sehr Angenähertes erreicht, daß es uns beide ein wenig beruhigen und Leben und Sterben leichter machen kann“.152

11. Menschenwürde und Menschenrechte

In vielen Diskussionen über politische Entscheidungen, Gesetzesvorhaben und die mit ihnen verbundenen moralischen Fragen wird von Menschenwürde (human dignity) und von Menschenrechten (human rights) gesprochen, die in jeder denkbaren staatlichen Struktur und unter allen Umständen gewährleistet sein müssten. Dazu sind im Lauf der Zeit zahllose Kataloge entstanden, die sich im wesentlichen um die Garantie des Lebens und der Freiheit der Menschen drehen.

Der Begriff der Menschenwürde bedeutet auf einer ersten Ebene, dass man Menschen nicht wie technische Dinge behandeln soll, also Dinge, die wir selbst schaffen können. Der Begriff bezeichnet auch einen Unterschied zur Natur (einschließlich der Steine), aber solche Unterschiede können sich verwischen, wenn Menschen anfangen, in die Natur gestaltend einzugreifen und dabei keine Grenzen zu sich selbst ziehen (Klonen usw.). Aber im großen Ganzen dürfte die Abgrenzung zwischen Menschen und Dingen noch tragfähig sein.

Ähnliche Schwierigkeiten bereitet die Abgrenzung zu den Tieren, denen man früher ohne weiteres eine »Würde« abgesprochen hat. Heute neigen wir aus zwei Gründen dazu, Tiere nicht mehr als Gegenstände oder Sachen zu betrachten (auch wenn das juristisch immer noch so formuliert wird). Zum einen wissen wir, dass viele Tiere Verstandesleistungen und Gefühle entwickeln, die unseren Fähigkeiten auf bestimmten Gebieten und unter bestimmten Umständen relativ nahekommen, zum anderen verstehen wir besser als früher, dass Tiere – ebenso wie wir selbst – allein durch ihre Existenz auf der Erde bestimmte Funktionen wahrnehmen, die auch uns zugutekommen und daher von uns mehr als bisher respektiert werden sollten.

Die Abgrenzung zu den Tieren ist (derzeit) auf der einfachsten biologischen Ebene dadurch gewährleistet, dass ein Mensch jedenfalls derjenige ist, der von Menschen geboren wurde. Jedoch: Gehören Embryonen dazu? Geisteskranke? Hirntote? Zu diesen Fragen gibt es Literaturen. Eine von Raum, Zeit und anderen Rahmenbedingungen unabhängige Definition lässt sich nicht finden. Wenn wir Menschen vor uns haben, die dem Standardtypus entsprechen, also geboren wurden, nicht hirntot oder geisteskrank sind, sind sie in der Lage, eine Identität auszubilden, die zum Bewusstsein eines freien Willens führt und damit zu der Fähigkeit, moralische Entscheidungen zu treffen (die sich sogar gegen sich selbst richten können).

Nur Menschen haben die Fähigkeit, sich selbst und andere »aus der Vogelperspektive« (Thomas Nagel) zu betrachten, also Vernunft zu entwickeln, über sich selbst nachzudenken, ihre Gefühle zu analysieren usw. als wären sie Fremde. Daraus hat Kant geschlossen:
»Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserem Willen, sondern der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher Sachen, dagegen vernünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin sofern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist).«153

Der Begriff Menschenwürde nimmt zum einen Bezug auf unseren Körper und Geist als biologische Basis (»Mensch«) – im Gegensatz etwa zu Sachen und Tieren – andererseits auf das Spannungsverhältnis zwischen dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft, deren Teil er ist. Natürlich muss jeder seine Position mit den Werten und Interessen anderer koordinieren, aber die Priorität liegt doch im Zweifel bei den Rechten des Individuums.154

Auf einer tieferen Ebene bezieht sich der Begriff Menschenwürde auf den Kernbestandteil der Individualität (des ICH), der von der Gesellschaft unter keinen Umständen Anspruch genommen werden darf. Dazu gehört vor allem das Recht, jede moralische Entscheidung155, die uns ganz persönlich (und keinen anderen) betrifft, als für uns relevant zu verteidigen, auch wenn sie mit den Interessen der Gesellschaft kollidiert: Die Würde geben nicht die anderen uns, wir verteidigen uns gegen die Interessen anderer (sofern wir sie nicht verletzen) – und neben dabei ein absolutes Scheitern in Kauf!

Es gibt Tendenzen, den Begriffs der Menschenwürde ziemlich breit zu definieren. Eine breite Definition führt zwangsläufig zu einer Entwertung des Begriffs. Besser ist es, ihn auf die Fälle zu beschränken, in denen wir in Bereichen angegriffen werden, die für uns unter allen Umständen unverzichtbar sind. Würde hängt mit Unverzichtbarkeit zusammen. Menschenwürde beschreibt so einen unverzichtbaren Bereich, in dem der Einzelne gegenüber den Interessen anderer Menschen und/oder Institutionen Schutz benötigt. Er entwickelt – wie alle moralischen Regeln – unter den unterschiedlichen Rahmenbedingungen von Raum, Zeit, Machtverhältnissen, Rechtsverhältnissen, Kultur usw. unzählige Varianten.

Der Begriff Menschenrechte (human rights) ist nicht identisch mit jenem der Menschenwürde – er setzt sie voraus, fordert darüber hinaus aber ihre Einfügung in ein normativ definiertes Rechtssystem. Wenn man von Rechten spricht, muss es jemanden geben, der diese über diese Ansprüche ein Urteil fällen und es vollstrecken will. Im deutschen Grundgesetz (Art. 1) wird diese begriffliche Unterscheidung nicht getroffen, sodass hier der Begriff »Menschenwürde« identisch mit jenem der »Menschenrechte« ist: Jede Norm ist auf dem Hintergrund der Menschenwürde so auszulegen, dass sich aus ihr in Zweifel ein Rechtsanspruch auf das ergibt, was als Inhalt der Menschenwürde betrachtet wird. Aus dieser Gesetzgebungstechnik entsteht eine hohe Bedeutung aller Präjudizien, die sich mit diesen Abgrenzungsfragen beschäftigen.

In der politischen Diskussion werden Menschenwürde und Menschenrechte selten klar genug voneinander unterschieden. Beide stehen – wie alle Begriffe – nicht beziehungslos im Raum, sie können nur richtig gedeutet werden, wenn man den Zusammenhang versteht, in dem sie geäußert werden. Solange es um Debatten auf den Foren der Kommunikation geht, auf denen Ideen, Meinungen, Parolen und Forderungen ausgetauscht werden, die sich noch nicht zu allgemein anerkannten moralischen Regeln und schon gar nicht zu rechtlichen Ansprüchen verdichtet haben, kann man nicht erwarten, dass die Begriffe hinreichend klar verwendet werden.

Verwendet man in moralischen Diskussionen den Begriff »Menschenrechte«, kann der fehlerhafte Eindruck entstehen, es gebe für moralische Regeln einen Durchsetzungsmechanismus, der die Qualität eines Rechtssystems hat. Tatsächlich aber regulieren sich moralische Systeme selbst und können nicht den Anspruch einer Allgemeingültigkeit und vor allem nicht den Anspruch der Gleichheit erheben.

Den Begriff »Menschenrechte« sollte man deshalb nur innerhalb von Rechtssystemen verwenden, also dort, wo er nicht nur zu einer sozialen Bewertung, sondern zu einer rechtlichen Entscheidung wird. Es muss also ein Gericht den Begriff entweder aus Gesetzen oder Präjudizien ableiten können und dabei einen bestimmten Fall als Verstoß gegen die dort beschriebenen Menschenrechte bezeichnen und ein solches Urteil auch vollstrecken können. Wenn man wie das BVerfG die Frage, ob jemand genügend Sozialhilfe erhält, als ein Problem der Menschenrechte interpretiert, wird der Begriff vermutlich zu sehr ausgeweitet, denn Menschenrechte sind nicht relativierbar. Besser wäre es, diese Frage am Art. 2 GG aufzuhängen, weil dort das Problem der Gegenseitigkeit von Rechten und Pflichten diskutiert werden kann.

Geht es um moralische Bewertungen, wäre es zweckmäßig, sich hier auf den Begriff der Menschenwürde zu beschränken, also eine Beschreibung dessen, was diesen Begriff in moralischer Hinsicht ausmachen soll. Sie sind – abhängig von den politischen/kulturellen usw. Rahmenbedingungen vielfach sehr unterschiedlich. In westeuropäischen Kulturen wird man bereits die Drohung mit Folter als Verstoß gegen die Menschenwürde betrachten, schon im vorderen Orient sieht das anders aus.

Niemand darf einem anderen Menschen diese Charakteristika eines Menschen absprechen und ihn so zum bloßen »Objekt machen«– das kann man ein ungeschriebenes Menschenrecht auch für die nennen, die ihre Möglichkeiten nicht ausschöpfen können oder sogar gegen sie handeln, denn das würde bedeuten, dass wir über das Entwicklungspotenzial eines anderen Menschen urteilen, obwohl wir dazu gar nicht in der Lage sind.156

Was bedeutet es, wie ein Gegenstand behandelt zu werden? Wird ein Mensch zum Gegenstand, wenn er gefoltert wird? Wenn ihm Folter angedroht wird? Wenn sein Gefängnisessen eintönig ist und er es mit Blechlöffeln essen muss157? Georg Christoph Lichtenberg schreibt dazu:

»Der Tod ist eine unveränderliche Größe, allein der Schmerz ist eine veränderliche die unendlich wachsen kann. Dieses ist ein Satz, den die Verteidiger der Folter zugeben müssen, denn sonst foltern sie vergeblich, allein in vielen wird der Schmerz ein größtes und kleiner sein als der Tod.«158

Wenn wir die Todesstrafe ablehnen, kann es auch kein Recht zur Folter geben, weil sie schrecklicher ist als der Tod. Die Drohung mit der Folter in der Gewissheit, dass sie nicht ausgeübt werden darf, ist dann keine Folter, wenn alle Beteiligten wissen, dass sie unter keinen Umständen praktiziert werden wird. Maßnahmen des Strafvollzuges (z. B. Zwangsernährung) müssen im Einzelfall an den oben genannten Kriterien bemessen werden.

In der politischen Diskussion werden Menschenrechte ohne weiteres mit absoluten Ansprüchen versehen. Viele neigen zu der Auffassung, deren Inhalt sei so selbstverständlich, dass man über ihn gar nicht reden müsse und ihn vor allem niemals in ein Verhältnis zu anderen Werten setzen dürfe. Menschenrechte bildeten einen absoluten Wert, der schon durch die Aufforderung, über seine Grenze zu sprechen, diskreditiert werde:

»Menschenrechte sind voraussetzungslos. Sie können und müssen nicht verdient werden. Es gibt keine Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit jemand als Mensch anerkannt und geschützt wird. Zuneigung oder Abneigung, Zustimmung oder Abscheu zu individuellen Lebensentwürfen, sozialen Praktiken oder religiösen Überzeugungen dürfen keine Rolle spielen. Das ist der Kern einer liberalen, offenen, säkularen Gesellschaft.«159

Über die Menschenwürde könnte man in dieser Weise durchaus philosophisch sprechen, nicht aber über Menschenrechte, denn diese müssen in Rechtsbegriffe gefasst werden, die erkennbare Grenzen haben müssen, wenn man sie richtig anwenden will.

Was jede Kultur unter »Leben« und/oder »Freiheit« versteht, wird kulturell definiert und immer an dem moralischen Grundverständnis ausgerichtet, dass die jeweilige Kultur aus der großen Leerformel Interdependenz, Reziprozität und Empathie entwickelt hat. Die drei tiefreichenden Wurzeln des Begriffs der Menschenwürde legen es nahe, ihm einen absoluten Anspruch zu verleihen, er soll also unter allen Umständen unabhängig von Raum, Zeit und anderen Rahmenbedingungen gelten. Daran ist richtig, dass »Menschenwürde« ein Begriff ist, indem sich die oben genannten drei Basiselemente unter allen Umständen wiederfinden müssen, aber die Ideen und Werte, die sich in diesem Begriff spiegeln sind abhängig von den Auffassungen über ihre Relevanz, die jede Gesellschaft zu ihrer Zeit in unterschiedlicher Weise ausbildet. So verändern sich unsere Vorstellungen von Vernunft, Identität, Authentizität, freiem Willen und Chancen sich seit Beginn des menschlichen Denkens und der Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen laufend. Und schließlich: Sobald man den Begriff der Menschenwürde mit jenem der Menschenrechte verbindet, ihm also die Qualität eines Anspruchs gegenüber anderen Menschen und/oder Institutionen verleiht, kann der Begriff nur das leisten, was er in dem jeweiligen Rechtssystem leisten kann. Wer versucht, die Menschenwürde als unter allen Umständen absolut gültig zu definieren, wird aus diesen Gründen dazu kaum in der Lage sein.

Menschenwürde und Menschenrechte werden in erster Linie aus der Perspektive des Einzelnen gesehen, die Gesellschaft soll sie vor Verletzungen durch andere schützen. Dem einzelnen Menschen wird in den europäischen Gesellschaften mehr Beachtung geschenkt, als in Asien, die Schwelle zu ihrer Verletzung liegt bei uns niedriger als dort. Diese Unterschiede bedeuten aber keine absolute Relativität moralischer Regeln: Unabhängig von allen denkbaren Unterschieden kann man eine Regel nur dann als moralisch bezeichnen, wenn sie den Anforderungen der Interdependenz, Reziprozität und Empathie entsprechen. Solange das Verhalten einzelner Menschen oder Institutionen keine definierten Rechte verletzt, kann es nur moralisch sanktioniert werden. Wer seine Menschenwürde gegen andere Menschen oder Institutionen verteidigt, kritisiert sie durch ihr Verhalten – bis hin zum Selbstmord, mit dem wir uns unbestritten aus der Gesellschaft, der wir unsere Existenz verdanken, verabschieden, und sie ihrem Schicksal überlassen dürfen.

Die Schwierigkeit besteht darin, konkrete Folgerungen aus diesem Gedanken zu entwickeln, der sich – wie oben gezeigt – im sozialen Leben wie in den Rechtssystemen unterschiedlich definiert. In jedem Fall geht es darum, Regeln und Verfahren zu definieren, in denen er sichtbar wird, im Fall der Verletzung angemessene Sanktionen zu schaffen und gegebenenfalls durchzusetzen.

Das bedeutet aber nicht, dass der Begriff nicht zu jeder beliebigen Zeit hinreichend klare Konturen annehmen kann, die beschreiben, welchen Respekt ein einzelner Mensch gegenüber jedem anderen Menschen und/oder gesellschaftlichen Institutionen unter allen Umständen, also absolut in Anspruch nehmen kann und zwar unabhängig von seinen Fähigkeiten, Leistungen usw.160 In dieser Konkretisierung kann die Menschenwürde auch einen rechtlichen Anspruch (Menschenrechte) begründen, der auch durch die Pflicht zur Solidarität gegenüber anderen nicht einschränkbar ist161. Es liegt auf der Hand, dass bei uns die Prügelstrafe gegen die Menschenwürde verstößt, aber in Arabien wird diese Ansicht nicht geteilt. Die Antwort kann nur lauten: Wenn man den Begriff »Menschenwürde« nicht als unter allen Umständen gültige absolute Beschreibung eines Wertes, sondern als grammatische Leerformel versteht, die durch bestimmte kulturelle »Sprachen« ausgefüllt werden muss, hat man keine Probleme damit, die Überlegungen zunächst auf den jeweiligen Kulturkreise zu beschränken und sich zu fragen, inwieweit die Wertvorstellungen des einen Kulturkreises sich mit jenem des anderen Kulturkreises decken. So wird man mit einiger Wahrscheinlichkeit das kleinste und/oder das größte gemeinschaftliche Vielfache entdecken. Zudem liegt auf der Hand, dass die Interpretation des Begriffs noch von zahllosen anderen Rahmenbedingungen abhängig ist, die dem Wandel unterliegen. Die Menschenwürde gilt also unter definierten Rahmenbedingungen absolut, im Verhältnis zu anderen Rahmenbedingungen aber nur relativ.

Wer von Menschenrechten redet, spricht vom Recht, also dem Anspruch eines Menschen gegenüber anderen Menschen. Wenn wir von den Rechten sprechen, die in der Menschenrechtskonvention (ICESC) genannt sind, dann sollte in jedem der Staaten, die sie unterzeichnet haben, ein entsprechendes nationales Gesetz existieren und die Möglichkeit eingeräumt sein, vor nationalen Gerichten zu klagen. Der nationale Richter wird die Rechte nun auslegen und wird das in dem Sinne tun, wie das Rechtssystem, in dem er arbeitet, angelegt ist. Die individuell formulierten Ansprüche werden also interpretiert und es ist zu erwarten, dass sie in China anders gedeutet werden als in den USA und innerhalb der USA wiederum in jedem Bundesland anders. Nun wird in der Menschenrechtsdiskussion allerdings immer wieder behauptet, die Menschenrechte seien weltweit einheitlich zu verstehen. Das ist aber nicht so: In Deutschland etwa gehört bereits die Drohung mit Folter zum Begriff »Folter«, in anderen Staaten sieht man das anders. Rechtsansprüche bedeuten inhaltlich immer, dass nicht das Individuum, das den Anspruch stellt, seinen Inhalt definiert, sondern das Rechtssystem, innerhalb dessen er gestellt wird. Andernfalls würden individuelle Ansprüche sozialisiert, ohne dass die Gesellschaft gefragt wird.

12. Das Verfahren der Rechtsgewinnung in Rechtssystemen

»Der Letztgrund allen Entscheidens liegt vielleicht nicht in einem Prinzip, sondern in einem Paradox.«
Niklas Luhmann

»Non Sanz Droict«162

Verfahren sind älter als Inhalte. In den archaischen Zeiten gelang die Konfliktlösung, wenn die streitenden Beteiligten sich der Vereinbarung einer Gruppe oder der Anordnung des jeweils mächtigsten Mitglieds einer Gruppe beugten, den Streit von einem unbeteiligten Dritten entscheiden zu lassen, dem sie sich beugen würden. Solche Entscheidungen sind von Fall zu Fall immer unterschiedlich ausgefallen. Erst im Laufe von Jahrtausenden haben sich Regeln herausgebildet, die man als stetig erkannt hat, man hat sie – sobald die Schrift erfunden war – zunächst unsystematisch gesammelt und erst sehr spät (zu Beginn der römischen Rechtskultur) abstrakte Begriffe und Systeme gebraucht, neben denen vielfach Rechtsregeln aus altem Herkommen gegolten haben, auch wenn sie in das jeweils neue System nicht passen wollten.

In Rom gab es seit 451 v. Chr. das Zwölftafelgesetz, in dem schon abstrakte Formeln für Klage und die Gegenklage erhalten waren. Das Gesetz ist nur teilweise erhalten, aber man sieht Schwerpunkte, die in erster Linie der Sicherung des Verfahrens und nicht der (vielleicht als selbstverständlich für bekannt gehaltenen) inhaltlichen Regeln über Verbrechen und Strafe dienen. Sie klingen so:163

»1. Wenn der Kläger vor Gericht lädt, soll der Beklagte gehen. Wenn er nicht geht, soll ein Zeuge zugezogen werden. Dann soll der Kläger ihn ergreifen.
2. Wenn er Ausflüchte macht oder fliehen will, soll der Kläger Hand an ihnen legen.
3. Wenn Krankheit oder hohes Alter (am Ausbleiben) schuld sind, soll der Kläger ein Lasttier geben. Wenn der Beklagte das nicht will – einen Wagen mit Verdeck braucht er nicht zu stellen.«

Das Ziel jedes rechtlichen Verfahrens ist es, die Komplexität der Tatsachen, der Meinungen und Interessen der Beteiligten zu reduzieren, den entsprechenden Gesetzen, Präjudizien usw. zuzuordnen und dann eine rechtlich bindende Entscheidung zu treffen. Eine der einfacheren Komplexitätsformeln lautet:

n (n -1)/2

Hat man also bei einem Fall n = 20 Faktoren, die zu berücksichtigen sind so können

20 (20-1)/2 = 190

bis zu 190 unterschiedliche Szenarien auftreten, die jeweils unter dem Gesichtspunkt der Frage zu prüfen wären, ob in der jeweiligen Variante die Elemente der Gerechtigkeit in ein richtiges Verhältnis gebracht worden sind. Die Frage, wie viele Faktoren relevant sind und unter welchen Bedingungen man ihre Zahl so weit verringern kann, dass am Ende nur zwei Alternativen übrig bleiben (Verurteilung/Freispruch), kann nur in einem formal definierten Verfahren geklärt werden.

Rechtsgewinnung ist die Anwendung empirisch gesicherter Methoden auf rechtliche Verfahren. Dazu gehört vor allem auch die Bereitschaft, Tatsachen und Meinungen zu trennen, sie möglichst umfassend zu ermitteln und die Ergebnisse nicht zu verfälschen. Die Inhalte von Rechtsnormen und rechtlichen Entscheidungen sind nicht in vergleichbarer Weise wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse begründbar. Aber Juristen sollten mehr können, als »den gesunden Menschenverstand zu einem außergerichtlichen Vergleich mit sich selbst zu überreden«164.

Arthur Kaufmann hat festgestellt, dass rechtliche Verfahren immer (unabhängig von der Rechtsordnung) von der Definition der Normen bis hin zur Durchführung der Vollstreckung durch vier Phasen gehen165:

  1. Zunächst werden die Tatsachen ermittelt und eine Hypothese auf-gestellt, welche denkbaren Alternativen ein Urteil annehmen kann (z. B. Verurteilung oder Freispruch: Abduktion).
  2. Nun werden Gesetze, Präjudizien, Auslegungsgrundsätze et cetera zusammengetragen, die zu den jeweiligen Alternativen passen (Ermittlung der Norm: Induktion). Im Common Law sind an dieser Stelle die relevanten Fallnormen aus Präjudizien zu entwickeln, die nur selten in eine systematische Ordnung gebracht werden können.
  3. Dann wird der Fall mit den denkbaren Entscheidungsalternativen verglichen (Analogie)
  4. Und schließlich werden diese Erkenntnisse wieder in der logischen Frage zusammengeführt, aus welcher Tatsache sich welche Alternative und welche Norm – und damit eine bestimmte Entscheidung ergibt (Subsumtion/Deduktion).

Die ersten beiden Schritte folgen den Gesetzen der Logik, weil Systeme ohne logische Regeln, so vor allem den Satz vom bestimmenden Grund und den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (Vernunft) nicht stabil sind. Dazu werden logische Operatoren eingesetzt166. Auch sie sind nicht frei von Gefühlen, denn ob man eine Tatsache für erwiesen oder widerlegt hält, setzt eine Entscheidung voraus, die sich dem Einfluss des Gefühls nicht entziehen kann.

Rechtliche Regeln müssen aber auch – wie oben dargestellt – dem Gerechtigkeitssinn entsprechen, also die emotionale Anerkennung dessen ermöglichen, was die Vernunft als zweckmäßig erkennt. Die Phase der Analogie ist unverzichtbar, weil wir uns sonst nicht entscheiden könnten, aber sie irritiert und verändert die in den ersten Phasen gewonnen Zwischenergebnisse, weil sie nicht an die Regeln der Logik gebunden ist: »Comparaison n'est pas raison«167.

Deshalb folgt nun die vierte Phase der Subsumtion. In ihr beginnt der Blick des Richters zwischen Fall, Norm, Alternativen und Rechtsgefühl »hin und her zu schweifen« (Karl Engisch), bis schließlich die Entscheidung fallen kann.

Das Verfahren der Rechtsgewinnung reduziert in seinen vier Schritten die Komplexität der Ausgangslage, so dass am Ende allenfalls zwei oder drei Varianten zu durchdenken sind, weil man alle anderen aufgrund der Denklogik des Systems für irrelevant erklären konnte. Das dient nicht zuletzt der Prozessökonomie, denn rechtliche Entscheidungen dürfen sich nicht unendlich lange hinziehen, wenn sie Wirkung entfalten sollen. Wie wir aus den jahrhundertelangen Erfahrungen des Reichskammergerichts168 wissen, folgen schriftlich geführte Prozesse der Regel: »Undefinierte Zeit dehnt sich unendlich«!

Die Foren der Rechtssysteme in denen Verfahren der Rechtsgewinnung praktisch durchgeführt werden können, entstehen neben den Foren der Politik, Moral usw. noch nicht in fragmentierten Gesellschaften, sondern erst dann, wenn verdichtete Ordnungen erforderlich werden. Das kann man etwa ab 10.000 v. Chr. annehmen, wenn Ackerbau und Viehzucht zu komplexen Formen des Zusammenlebens im Verhältnis z. B. zu den Gesellschaften von Jägern und Sammlerinnen entstehen:

»Für das rechtliche Forum gilt, dass es formalisiert, verfahrensmäßig abgehoben, mit bestimmten Organen versehen oder durch mehr an das äußerliche Verhalten gerichteten Sanktionen ausgestattet ist. … Eine Vermutung streitet dafür, dass die Ablösung der Rechtssphäre von der allgemeinen Moralität dann erfolgt, wenn sich für die Administration der Moralregeln Organe herausgebildet haben. Mit den Organen entstehen Verfahren unspezifische Sanktionen, die mit der allgemeinen Moral nicht mehr Übereinstimmung zu stehen brauchen. Damit sind die beiden Foren voneinander getrennt.«169

Sobald wir schriftliche Zeugnisse haben, lernen wir als früheste Form den Prozess im antiken Griechenland kennen. An ihm nahmen alle Stimmberechtigten freien Bürger teil und so versammelten sich dazu fast täglich im Amphitheater zwischen 60 und 6000 Personen. Die Zuteilung der Fälle auf einzelne Untergruppen erfolgte durch Los, es gab nur rhetorische Vorträge privater Kläger und Beklagter/Angeklagter, keine Beweisaufnahme. Jeder Prozess wurde am gleichen Tag erledigt. Vieles an diesem Verfahren erinnert an das kulturelle Theater, nicht nur wegen der Szenerie, in der die Verfahren stattfanden. Es gibt auch inhaltliche Ähnlichkeiten zwischen dem Prozess und dem Theater:

»Theater hat ja auch mit Prozessen zu tun, der Prozess ist eine Theaterstruktur. Theaterstücke sind oft Prozesse, Rechtsfälle. Der Prozess im wissenschaftlichen Sinn ist Bewegung. Und der Prozess im juristischen Sinn ist eine Fixierung, ein Versuch, etwas festzuschreiben, etwas zu fixieren, dass im Fluss ist.170«

Vorformen zu diesem System kann man sich ohne weiteres in kleineren Einheiten vorstellen: Zwei Kontrahenten werden vor das Mitglied einer Gruppe mit dem höchsten Rang (Älteste, Priester, sonstiger Anführer) geführt oder begeben sich freiwillig dorthin, um von ihm eine Entscheidung über Ihren Konflikt zu erhalten.

In modernen Rechtssystemen ist die erste Entscheidung die Festlegung der Grundwerte durch eine Verfassung, dann folgt die Definition der Normen (in der Regel durch Parlamente) und schließlich die Bewertung einzelner Handlungen durch die Gerichte. Solche normativen Entscheidungen entstehen auf allen Ebenen nicht nur gestützt durch Logik, sondern auf der Ebene der Parlamente durch die politische Auseinandersetzung und später durch die Auslegung, die Bildung von Analogien und die Interpretation der Gesetze.

Gleichgültig wie eine Norm entsteht, ob z. B. durch Erlass eines Diktators oder den Beschluss eines Parlaments – immer sind in ihm die – Gerechtigkeitsvorstellungen enthalten, die außerhalb des Erlasses solcher Normen in der Gesellschaft vorhanden sind. Selbst wenn ein Diktator nur seinen eigenen Willen zum Gesetz macht (also nicht allein auf der Basis von Willkür entscheiden will), ist das ein Ergebnis seiner politischen Möglichkeiten. Sie können sich ganz oder teilweise mit den Ideen seiner Anhänger treffen, er kann sie als »moralisch« bezeichnen (auch wenn andere anderer Meinung sind), sobald aber die Gesetzesform erreicht ist, wird damit immerhin die Willkür beendet (es sei denn, das Gesetz würde willkürlich wieder abgeschafft). Würde die Gesellschaft keinen Diktator ertragen, der solche Möglichkeiten hat, gäbe es ihn nicht.

Befehl und keine Empfehlung. Dagegen entsteht Widerstand und aus ihm notwendig der »Kampf ums Recht« (Rudolf Ihering), der innerhalb und außerhalb des Justizsystems ausgetragen wird. Es beginnt mit dem Streit um die Tatsachen, um die Relevanz der Normen, um ihre Auslegung und ihre Durchsetzung und ist geprägt von der unvermeidbaren Differenz zwischen Verstand, Gefühl und Willen, die sich in Logik und Rhetorik umsetzen, den beiden zentralen Wurzeln des Rechts. Die angloamerikanischen Systeme stützen sich dabei überwiegend auf die Idee, die Wahrheit werde sich in diesem Kampf durchsetzen, die europäischen Systeme (Civil Law) vertrauen mehr auf ihre logischen Strukturen.

Das Urteil wird nicht nur von den Beiträgen der beteiligten Juristen bestimmt, sondern auch von den Parteien selbst. Sie sind es, die zu-nächst über die Art des Verfahrens entscheiden. Wählen sie etwa eine Mediation und geben sich mit dem Ergebnis zufrieden, haben sie eine gerechte Lösung erreicht, weil sie kein streitiges Verfahren gewählt haben, in dem das Ergebnis vielleicht anders ausgefallen wäre. So löst sich die viel diskutierte Frage, ob alternative Konfliktmodelle (Mediation, Schlichtung et cetera) den Gerechtigkeitsansprüchen Genüge tun könnten, als Scheinproblem auf: Da Gerechtigkeit nicht irgendwo gesucht und gefunden, sondern nur im Verfahren selbst entstehen kann, liegt in der Wahl des Verfahrens gleichzeitig die Entscheidung, das als gerecht anzusehen, was die Parteien für sich als gerecht akzeptieren. Jedes soziale Arrangement über Konflikte zwischen Menschen genügt diesen Kriterien. In Asien, wo das offene und kontroverse Austragen von Konflikten nicht als kultureller Grundwert gesehen wird, ist das die grundlegende Auffassung.

Normative Gerechtigkeit ist kein absoluter Wert, wir müssen ihn in unseren Normen zum Ausdruck bringen und im Einzelfall versuchen, dieses Gleichgewicht unter den gegebenen Umständen so gut wie möglich herzustellen171:

»Grundsätzlich ist das Recht für alle gleich, denn es bedeutet stets in der auf Gegenseitigkeit beruhenden Gemeinschaft etwas Nutzbringendes. Aber wegen der Besonderheiten eines Landes und das anderen durch die Verhältnisse bedingten Gründen kann es nicht überall für alle gleich sein«.

Da das Recht innerhalb von Rechtssystemen formal ist und sein muss, besteht immer die Gefahr, dass formal richtig zustandegekommene Rechtsnormen sich gegen die Gerechtigkeit und das Rechtssystem selbst wenden. In diesem Fall können sie auch dann keine Anerkennung finden, wenn sie von Mehrheiten unterstützt werden:

»Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.«172

Jede definierte Rechtsnorm ist das Ergebnis der zum Zeitpunkt ihrer Begründung, Änderung oder Beseitigung herrschenden Machtverhältnisse, die jede Art soziale Ordnung – auch ihre kulturellen Grundlagen – beherrschen. Häufig werden kulturelle Strukturen so betrachtet, als hätten sie mit den politischen Strukturen (vor allem den Machtverhältnissen) nichts oder wenig zu tun. Werden aber einzelne Personen als Mittler zwischen Gott und den Menschen betrachtet, ist das gleichzeitig ein kulturelles wie ein politisches Phänomen.

Ob ein Diktator eine Norm erlässt, eine Gruppe von mächtigen Menschen (Oligarchie), Repräsentanten des Volkes oder das Volk selbst – in allen Fällen entsteht formales Recht, dessen Inhalt stets abhängig von den Rahmenbedingungen ist, unter denen es entsteht.

Eine verfassungsgebende Versammlung ist ein Gremium von Mächtigen, die das Rechtssystem definiert, dem sie sich demnächst unterwerfen wollen, es steht an der Schnittstelle zwischen Macht und Recht. Da die verfassunggebende Versammlung nach Verabschiedung der Verfassung verschwindet, ist es – wie Hans Kelsen vorgeschlagen hat – sinnvoll, einen Verfassungsgerichtshof zu etablieren, der die Schnittstelle zwischen der gesetzgebenden und der richterlichen Gewalt darstellt (Hybrid System).

Rechtsnormen definieren Selbstbeschränkung der Macht auf einem relativ hohen Abstraktionsgrad, der sich vom Einzelfall unterscheidet, ihm aber in seinem Grundmuster ähnlich ist. Bevor die Inhaber politischer Macht nicht einen Teil davon in ein Rechtssystem investieren, dass nicht der allgemeinen politischen Willkür ausgeliefert ist, kann Recht nicht entstehen. Allerdings ist sie immer von der Bereitschaft politischer Machthaber abhängig, ihr diese notwendige Autonomie zu gewähren. Im Ausnahmefall ist das nicht garantiert (Carl Schmitt). Normen entwickeln sich stets aus den moralischen Vorstellungen über die Angemessenheit des Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft, die das Denken des Gesetzgebers bewusst oder unbewusst bestimmen. Deshalb ist das Recht – wie die historische Rechtsschule (Savigny) erkannt hat – ebenso wie die Moral tief unten mit unseren biologisch/psychologischen Wurzeln verbunden.

So entstehen in definierten Verfahren Strukturen und Ordnungen, die die individuellen Interessen und die Interessen der Gesellschaft, die in jeder Norm aufeinanderstoßen, zueinander in ein gerechtes Verhältnis zu bringen suchen (Normfall). Was immer aus Rechtsnormen heranwächst, muss systematisch miteinander vernetzt werden, um ein System zu entfalten, dass Wirkung haben soll. Aufgabe eines solchen Rechtssystems ist es, Zustände herzustellen, in denen der Maßstab der Gerechtigkeit den Ausschlag gibt und nicht etwa die Machtverhältnisse, die Willkür oder andere (vor allem politische) Kategorien.

Ob und in welchem Umfang moralische Entscheidungen sich selbst durchsetzen oder durch sozialen Druck durchgesetzt werden, ist von Fall zu Fall sehr unterschiedlich. Beim Recht ist das anders: Seine Entscheidungen sind nicht beliebig, sondern müssen getroffen und durchgesetzt werden. Das geschieht innerhalb eines rechtlichen Rahmens, der gleichzeitig Teil der Macht ist, aber sie auch kritisiert und begrenzt. Dieser Widerspruch sorgt für die Spannungen, die jedes Rechtssystem charakterisieren.

Die gesellschaftliche Dynamik führt immer wieder dazu, dass Normen nicht mehr die Ordnung repräsentieren, die die Gesellschaft für wünschenswert hält. So gerät das Rechtssystem in Konflikt mit Moral und Politik, deren Schatten sich auch mit dem Schatten des Rechts überschneidet, also jenem Bereich in dem die Menschen ihre Verhältnisse ohne ausdrückliche Berufung auf Rechtsnormen regeln. Die Menschen wissen oder ahnen, wie ihr Verhalten in den Augen anderer gesehen wird und entweder richten sie sich danach ein, oder sie verstoßen gegen geahnte oder mindestens gefühlte Regelungen.

Da die moralischen Vorstellungen sich innerhalb der Gesellschaft unter den jeweiligen Rahmenbedingungen von Raum, Zeit, Kultur, Politik etc. entwickeln und ändern, kommt es unvermeidlich zu latenten Differenzen zwischen diesen Entwicklungen und dem Recht, dessen Kategorien sich nicht ständig ändern dürfen, weil sonst seine Ordnungsfunktionen gefährdet wären. Entgegen früherer Ansicht gibt es dabei auch in modernen Regierungsformen wie etwa der Demokratie keine automatischen Entwicklungen hin zu mehr Freiheit, mehr Toleranz etc., immer wieder sehen wir die Rückkehr früherer Ideen und Strukturen (in Deutschland etwa zwischen 1933 und 1945). Die moralischen Auffassungen zur Angemessenheit der Todesstrafe sind ein gutes Beispiel (Diskussion in der Türkei 2017).

13. Juristen

»Juristen sind die Kamele, auf den die Kaufleute durch die Wüste ziehen.«
(Sprichwort)

Juristen aus verschiedenen Berufsgruppen wirken an der Herstellung der Gerechtigkeit auf unterschiedlichen Ebenen mit: Im Alltag in der Wirtschaft, der Verwaltung und zahllosen sozialen Institutionen (Sie erzeugen den »Schatten des Rechts«, unter denen wir leben), bei Konflikten innerhalb des Rechtssystems sind es Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter.

Rechtsanwälte und Staatsanwälte formulieren die Ansprüche, über die die Richter zu entscheiden haben. In manchen Rechtssystemen (USA) müssen alle diese Berufsgruppen zunächst als Rechtsanwälte tätig gewesen sein, bevor sie Richter werden können. In anderen (Deutschland) sind die jeweiligen Laufbahnen streng getrennt. Das hat Vor- und Nachteile. Rechtsanwälte und Staatsanwälte haben die Aufgabe, die Spreu vom Weizen zu trennen, also dem Richter nur Fälle vorzulegen, die wirklich entschieden werden müssen. Denn die Erfahrung zeigt, dass Menschen und Institutionen, die ihre Ansprüche gerichtlich geltend machen dabei nicht zuletzt ihre Machtansprüche befriedigen wollen, das Verhältnis von individueller Gerechtigkeit zum sozialen Frieden falsch interpretieren oder bei Gericht eine moralische Gerechtigkeit suchen, die dort nicht herstellbar ist: Die inhaltlichen Normen (z. B. Schadensersatz) stehen mit den Verfahrensregeln oft in direktem Gegensatz (z. B. Verjährung), die Beweislage ist durch Aussageprivilegien und den Verlust von Beweismaterial beeinflusst und auch die Rechtslage kann sich im Lauf eines Verfahrens ändern. Im Rechtssystem ist nur eine »prozessuale Gerechtigkeit« erreichbar.

Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Richter unterliegen besonderen ethischen Regeln:

»Der ›Kern des Ethos‹ der Juristen173 zeigt sich – über die erforderlichen handwerklichen Kenntnisse und Fähigkeiten hinaus – in einer spezifischen Ausrichtung ihrer Arbeit an und mit dem gegebenen Recht, der Suche nach dem, was hier und jetzt konkret Recht ist.
Diese Ausrichtung zielt zunächst auf das jus suum cuique tribuere und den Parteilichkeit abwehrenden Grundsatz audiatur et altera pars; ferner auf das klare Erfassen nicht nur des jeweiligen Sachverhalts und seiner Probleme, sondern auch der sozialen Wirklichkeit in ihrer Gestalt und Veränderung, die das Recht ja ordnen will; schließlich auf die so wichtige Reziprozität, die Gegenseitigkeit des Rechts sowie den Sinn für die befriedigende Kraft geordneter Verfahren, die jedweden unmittelbaren Zugriff abwehren«.174

Wichtig ist in jedem Fall, dass der Richter mit keiner der Parteien (oder Parteivertreter) irgendwelche Interessen teilt, nicht bestechlich ist und weiß, dass er über den Fall entscheiden muss. Diesen Kriterien können Richter175 nur dann in geeigneter Weise handhaben, wenn sie nicht nur neutral – also an einem konkreten Konflikt nicht beteiligt – sind, sondern auch über charakterliche Eigenschaften wie Weisheit, Tapferkeit, Mäßigung verfügen, durch die die »dikaiosyne« in einen ausgewogenen Ausgleich gebracht176 werden kann, so wie es die Inschrift am Apollotempel von Delphi sagt: Nichts allzu sehr! (meden agan!)177.

Für Anwälte ist die Beachtung gesetzlicher und ethischer Regeln weit schwerer als für Richter. Dieses Problem hat schon Plato erkannt178:

»So kommt es, dass die Anwälte durch all das zwar scharfsinnig und witzig werden und sich ausgezeichnet darauf verstehen, ihren Mandanten mit Worten zu schmeicheln und mit der Tat zu dienen; aber ihr Charakter wird dadurch klein und verbogen. Denn ihre Abhängigkeit von Anfang an hat ihnen das Wachstum und die Fähigkeit genommen, geradeaus zu sein. Sie müssen krumme Sachen machen und ihre anfangs naive Seele wird in große Gefahren und Schwierigkeiten verwickelt, die sie ohne Verletzung von Gerechtigkeit und Wahrheit nicht durchhalten können. So werden sie zur Lüge und dazu veranlasst, sich gegenseitig Unrecht zu tun und charakterlich völlig verkrüppelt, auch wenn sie sich nach vielen Jahren der Erfahrung für mächtige Durchblicker halten«

Um die Rechtsanwälte vor solchen Gefahren zu schützen, hat Johann von Buch (ca. 1290 bis ca. 1356) ein brandenburgischer Jurist, den ersten Kommentar zum Sachsenspiegel erstellt (entstanden zwischen 1220 und 1230). Den Vorsprecher (Vorspreke) – also den Anwalt – nannte er »Ritter der Gerichte« und stellte 13 Regeln für das Verhalten von Mandanten und Anwälten auf, die man bis heute ohne Veränderung übernehmen kann179:

»1. Erstens, dass er sich anständig verhalte.
2. Zweitens, dass er nur sprechen soll, wenn der Richter ihn fragt, und dann möglichst kurz antworten. Und sei selbst so weise, dass du dich oft besprichst und handle nach dem Rat, dann ist es nicht deine Schuld, wenn der Prozess verloren geht.
3. Drittens, höre den Rat aller anderen, bevor du deinen gibst.
4. Viertens, hängt die Sache von Zeugenaussagen ab, so frage deine Partei, ob sie sich ihrer Aussage sicher sei.
5. Fünftens, mache deiner Partei lieber zu wenig Hoffnungen als zu viel. Wenn sie dann gewinnt, wird sie es dir umso mehr danken.
6. Sechstens, Hüte dich vor Zorn und davor, den Gegner zu erzürnen. Denn Zorn vernebelt den Verstand.
7. Siebtens, Hüte dich vor Gezänk, denn dein Sieg hängt ab von redlichen, nicht von schmähenden Worten
8. Achtens, hüte dich davor, den Richter zu erzürnen, denn es ist schwer, einen Prozess zu führen vor einem Richter, der dir nicht gewogen ist.
9. Neuntens, sei weise und höre nach Möglichkeit immer die Auffassung deines Gegners, bevor du dich äußerst. Denn auf diese Weise kannst du feststellen, wo er hin will, und daraus kannst du etwas entnehmen, das dir zugute kommt.
10. Zehntens, vertritt lieber einen Beklagten als einen Kläger, denn es ist einfacher, einem Mann zu helfen, der sich befreien will, als einem, der einen anderen belasten will.
11. Elftens, wenn du eine rechtmäßige Position vertritt, so gewinnst du. Wenn du eine ungerechte Position vertritt, so verlierst du in den allermeisten Fällen. Denn so gut man das Recht auch beherrscht, niemand kann sich erfolgreich mit Unrecht gegen das Recht wehren.
12. Zwölftens, sei weise und sprich bescheiden, langsam und laut genug, denn es ist wichtig, dass man dich gut versteht.
13. Dreizehntens., Wenn du Fürsprecher des Beklagten bist, achte darauf, dass du immer der Position bleibst, den Beweis führen zu dürfen; solange das so ist, kannst du nicht verlieren.«

14. Prozessuale Wahrheit und prozessuale Gerechtigkeit

Wahrheit und Gerechtigkeit hängen untrennbar miteinander zusammen, auf einer unwahren Basis kann man kein gerechtes Urteil sprechen. Der Prozess kann aber keine absolute Wahrheit/Gerechtigkeit schaffen, da er an Rahmenbedingungen gebunden ist, die das Verfahren definieren. Im Prozess können wir keine andere Qualität der »Wahrheit« erreichen als im alltäglichen Leben, häufig sogar nur eine geringere:

  • Wir können dem Urteil nur diejenigen Tatsachen zugrundelegen, die im Ermittlungsverfahren aufgedeckt werden können,
  • die Beweismittel unterliegen vielfältigen Einschränkungen,
  • die Kommunikation unter den Prozessbeteiligten kann mangelhaft sein,
  • selbst bei vollständiger Aufklärung können wir uns in der Interpretation der Tatsachen irren, wir können unbewusst Fehler begehen,
  • wir können durch die Eidesleistung die Lüge genauso wenig verhindern wie die Wahrheit durch Folter erzwingen,
  • Fehler in der Anwendung des relevanten Rechts sind absolut unvermeidbar,
  • wir müssen innerhalb eines überschaubaren Zeitraums entscheiden, alles andere wäre Rechtsverweigerung und würde vor allem die Rechtssicherheit angreifen.

Wenn man sich die zahllosen Vorschriften, die jedes Verfahren der Rechtsgewinnung gestalten, vor Augen hält, wenn man sich auch über die Fehler im Klaren ist, die unvermeidbar entstehen, liegt es auf der Hand, dass die Tatsachen, die Rechtsansichten und die daraus gezogenen Rechtsfolgen keine »objektive Wahrheit« und damit auch keine »objektive Gerechtigkeit« ergeben können.

Das Bild der Realität, das auf diese Weise gewonnen wird, ist das Ergebnis der prozessualen Normen, die angewendet werden, um die Realität zu erfassen und diese Regeln dienen den zwei wesentlichen Zwecken, die jedes Verfahren dieser Art im Auge haben muss: Die Herstellung des Rechtsfriedens im konkreten Konflikt und die Ausgestaltung der Rechtssicherheit für künftige Fälle.

Dieses Bild unterscheidet sich von den jeweils subjektiven Perspektiven, die die einzelnen Prozessbeteiligten einnehmen. Je nachdem, wie das Ergebnis ausfällt, empfinden sie es als eine Verletzung ihrer individuellen Sicht. Das ist unvermeidlich und doch gibt es kaum jemanden, der die innere Größe besitzt, dieses Gefühl der erlittenen Ungerechtigkeit auf sich beruhen zu lassen. Die meisten betrachten es als eine Frage der Ehre, sich auch im Rechtssystem durchzusetzen, obwohl es dafür nicht geeignet ist.

Der Prozess entfaltet vor aller Augen eine Vielzahl von Landschaften, zwischen denen der juristische Blick wie bei einem Zeichner zwischen seinem Gegenstand und seinem Entwurf ständig »hin und her wandern« muss (Karl Engisch180) und so entsteht im besten Fall für die Juristen in den Jahren der Praxis ein immer klarer werdender Sinn für das, was man im Verfahren erreichen kann: »Die Vielheit, die sich nicht zur Einheit zusammenschließt, ist Verwirrung, die Einheit, die nicht von der Vielheit abhängig ist, ist Tyrannei.« (Blaise Pascal).

Im Einzelnen:

Die Wahrheit ist auch im Alltag, auch bei philosophischen Überlegungen immer eine hypothetische Realität, deren Inhalt davon abhängt, wer sie konstruiert. Sie besteht aus »Tatsachen«: das sind Gegenstände, Abläufe, Ereignisse, Reaktionen, wozu auch die Gefühle gehören, mit denen die einzelnen auf Tatsachen reagieren und den »Perspektiven« der Beteiligten. Im Prozess kann es nicht anders sein, der Richter kann daher nur eine »prozessuale Wahrheit« schaffen. Das gleiche gilt für derjenigen, die sich später an die Ermittlungen machen, wie der Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte oder Sachverständigen. Sie sehen die Tatsachen aus ihrer jeweiligen Interessenperspektive (die auch diejenige der Neutralität sein kann)181. Auch wenn sie sich bemühen, möglichst »objektiv« zu urteilen, unterliegen sie doch den nicht beherrschbaren Einflüssen des Unterbewusstseins und zahllosen anderen Störungen, die sich aus den Rahmenbedingungen ihres Handelns ergeben:

»Der Geist des obersten Richters der Welt ist nicht so unabhängig, dass er nicht durch den ersten besten Lärm in seiner Nähe gestört werden könnte. Man braucht keine Kanonen abzuschießen, um sein Denken zu hindern: Das Gekreische einer Wetterfahne oder eines Flaschenzuges genügen. Wundert Euch nicht, dass er jetzt falsch schließt, eine Fliege summt um sein Ohr, das reicht hin, um ihn unfähig zu machen, richtig zu urteilen.«182

Die Tatsachenermittlung ist ein kommunikativer Prozess. Je größer die Deckungsgleichheit dieser Perspektiven ist, umso eher sprechen wir davon, dass es die Tatsachen »wirklich« gegeben hat. Wenn wir große Differenzen feststellen, sagen wir, dass wir die Tatsachen nicht ermitteln können. Der Prozess dreht sich um die dauernde Herstellung oder Abwehr von Konsens und Divergenz unter den Beteiligten: der Richter soll nur das »hören«, was er aus der Perspektive der beteiligten Anwälte hören soll, um sich deren Perspektive anschließen zu können. Die anschließende Ermittlung der Rechtslage machen der oder die Richter unter sich aus, sie unterliegen dem Beratungsgeheimnis.

Alle Prozesse verwenden Beweismittel und Beweisregeln, also Zeugen, Sachverständige, Gutachten, Beweiskraft von Protokollen oder Filmaufzeichnungen usw.. Es gäbe noch zahllose andere Beweismöglichkeiten, aber es dürfen nur diejenigen verwendet werden, die in dem jeweiligen Rechtssystem zugelassen sind. Schon damit verengt sich ihr Wert erheblich. Ihr Wert ist sehr unterschiedlich und sie können bei weitem nicht alle ausgeschöpft werden. Zahllose Regeln bestimmen, wie sie verwendet werden dürfen: Das Hörensagen, die vorgezogene Beweisaufnahme, die Verjährung, die Vernichtung von Beweismitteln, die Beweisvereitelung, das Recht, die Aussage zu verweigern oder Zeugen nur anonym vernehmen zu können, das staatliche Recht, Aussagen willkürlich zu genehmigen oder zu verweigern, der Einsatz von Schöffen oder Laienrichtern, die Dramaturgie des letzten Wortes, die Anforderungen an die Beweiswürdigung, die Zulässigkeit der Einvernahme – all diese und viele weitere Mittel führen zwingend dazu, dass im Prozess nur die »Wahrheit des Prozesses« und nicht etwa eine absolute Wahrheit gefunden werden kann.

Das zeigt sich deutlich an den Problemen der Beweiswürdigung beziehungsweise der Bewertung einzelner prozessualer Vorgänge und des Verhaltens der Beteiligten einschließlich der eigenen Vorurteile (ob etwa ein Teil der Richter sich bemüht, etwas zu ermitteln, andere hingegen nicht). Für die Beweiswürdigung haben nicht einmal die Berufsrichter eine psychologische Ausbildung, auf gar keinen Fall aber die Schöffen, die lediglich mit dem Alltagsverstand beurteilen sollen, ob ein Zeuge glaubwürdig ist oder nicht. Nach US-amerikanischer Auffassung ist das völlig richtig, weil der durchschnittliche Bürger der Richter sein soll und man alle Fehler der Durchschnittlichkeit bewusst trägt. Bei uns hingegen soll es fachlich richtig zu gehen, aber die zugehörigen Kenntnisse fehlen den Richtern und niemand ändert etwas daran.

Oder die Schlüssigkeitsprüfung: bei uns darf nur über Tatsachen Beweis erhoben werden, die nach Ansicht des Richters für die Entscheidung von Bedeutung sind, in anderen Rechtsordnungen (vor allem in den USA) fehlt diese Grenze. Die Folge: das Prozessgeschehen ufert schon beim besten Willen aus, wird aber gänzlich unsteuerbar, wenn es (wie üblich) von den Parteien torpediert wird. Es ist unmöglich, den Missbrauch von Formalien zu verhindern, der ist nur das Gegenstück der strengen Anwendung von Formen. Wer auf der Einhaltung von Formalitäten besteht, weiß, dass er dadurch das inhaltliche Ergebnis verfälscht und er tut daher nichts anderes als derjenige, der nicht nach den Inhalten, sondern nur nach den Formen Ausschau hält.

Der Prozess formalisiert die Kommunikation durch alle diese Bedingungen, er definiert ein Machtmonopol zu Gunsten des Gerichtes über Sitzungspolizei, Prozessrecht und Instanzen und kanalisiert dadurch die Gefühle aller Beteiligten, die sich bei Strafdrohung in vielen Fällen nicht so äußern können, wie sie vielleicht wollten. Um den Angeklagten wenigstens von solchen Beschränkungen etwas zu befreien, der das letzte Wort, um damit auch den letzten emotionalen Eindruck hinterlassen zu können.

Hinzu kommt die Beschränkung von Raum/Zeit/Kosten, denen jeder Prozess unterliegt. Wollte man alle Erkenntnisquellen unendlich weit nutzen, könnte man niemals ein Urteil sprechen – und das wäre schon für sich genommen verfassungswidrig. Wenn in der Verfassung Gerechtigkeit abgebildet wird, dann muss man sie auch in dieser Beschränkung finden.

Ein besonders deutliches Beispiel ist die Rüge eines, von einem Richter aufgesetzten Protokolls, das nach Behauptung eines Prozessbeteiligten inhaltlich falsch ist. Die falsche Formulierung in einem Protokoll kann darauf beruhen, dass der Richter zum Beispiel die Tatsache, dass ein Zeuge vereidigt wurde, irrtümlich als »unvereidigt« aufnimmt, obgleich der Zeuge vereidigt wurde. Der Verteidiger, der selbstverständlich weiß, dass der Zeuge vereidigt wurde, rügt nun die Fehlerhaftigkeit des Protokolls, obgleich er selbst es besser wissen muss. Darf er das? In den USA gibt es Wortprotokolle, die solche Probleme vielleicht verhindern, sie erleichtern auch die Beweiswürdigung, bilden aber gleichzeitig auch das Einfallstor für eine Vielzahl von Interpretationen des Textes, die zu noch größeren Verschiebungen führen können, als wenn das Protokoll vom Richter diktiert wird.

Es liegt auf der Hand, dass die Fehlerquote bei den zahlreichen prozessualen Entscheidungen relativ hoch sein würde, müssten sich nicht die Prozessregeln ebenso wie die Inhalte anderer Gesetze an den Maßstäben der Gerechtigkeit (Gleichheit, Fairness, Ausgewogenheit) orientieren.

  • Gleichheit: Die gleichmäßige Anwendung der Normen auf gleichgeartete Fälle und ihre Unterscheidung von anderen Fällen durch Ausschaltung vor allem der willkürlichen Behandlung gleicher und ungleicher Fälle. Das Gleichheitsprinzip ist die logische Folge der moralischen Erkenntnis, dass jeder Mensch von anderen und alle voneinander abhängig sind (Interdependenz),
  • Fairness: Die Betrachtung des Problems aus den unterschiedlichen Perspektiven der Beteiligten: Sie folgt aus der moralischen Regel, dass jeder, der etwas empfängt, auch etwas geben muss – und umgekehrt (Reziprozität).
  • Ausgewogenheit: Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Gleichheit und Fairness durch den Gerechtigkeitssinn, also das Gefühl der Ausgewogenheit der konkret getroffenen Problem-/Konfliktlösung (Empathie).

Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit richten sich nicht nur auf die Struktur von Ordnungen und Entscheidungen, sondern beeinflussen auch alle Verfahrensabläufe, die innerhalb einer Ordnung entstehen. Man kann z. B. soziale Güter nur dann gerecht verteilen, wenn auch das Verfahren, in dem das geschieht, auf gleiche und faire Weise ausgestaltet ist (Verteilungsgerechtigkeit). Auch rechtliche Verfahren müssen so geordnet werden:

»Der intuitive Gedanke ist der, dass Gesellschaft System so zu gestalten, dass immer nur etwas Gerechtes herauskommt, mindestens, solange es sich in einem bestimmten Rahmen hält.183«

Dieser Satz erweckt den Eindruck, es sei möglich, ein Rechtssystem so zu konstruieren, dass jedenfalls innerhalb seiner Rahmenbedingungen »immer nur etwas Gerechtes herauskommt«. Neuere Forschungsergebnisse (Entscheidungstheorie, Wahrscheinlichkeitsrechnung, Spieltheorie etc.) zeigen uns jedoch, dass wir diese Rahmenbedingungen keinesfalls vollständig überblicken oder gar kontrollieren können. Wir dürfen nie vergessen, dass die Gerechtigkeit nicht ein Gegenstand ist, den wir irgendwo suchen und finden können, sie ist ein Arbeitsergebnis, das am Ende eines Verfahrens steht. Das Beste, was wir erreichen können, ist eine relativ hohe Wahrscheinlichkeit, dass wir in dem Verfahren der Gerechtigkeit so nahekommen, wie es uns möglich ist.

Juristen wissen, wie komplex der Weg zu einer rechtlichen Entscheidung ist und dass sie in den allermeisten Fällen nur diesen Minimalstandard erreichen kann. Würden wir uns nicht wenigstens darum bemühen, hätten wir gar nichts in der Hand. Für Laien ist das schwer zu durchschauen und noch schwerer zu akzeptieren. Sie rufen nach der Gerechtigkeit und erhalten »nur« ein Urteil.

Wozu dient dieses so unvollkommene Verfahren? Es bietet eine Plattform, um vergangene Ereignisse zeitlich räumlich und inhaltlich wenigstens in den Grundzügen nachzubilden (gelegentlich: nachzuspielen) er lässt es nicht zu, dass die Situation eins zu eins nachgebildet wird, weil die Kommunikation formalisiert ist, aber gerade durch diese Unterschiede hebt er die Differenz zwischen Prozess und Leben umso deutlicher hervor.

Und gleichzeitig gilt: Mit all diesen Beschränkungen unterscheidet sich der Prozess in keiner Hinsicht vom wirklichen Leben, denn auch das wirkliche Leben leben wir nicht in der Wahrheit, sondern in unseren Konstruktionen und können das ohne weiteres tun, solange wir unsere unterschiedlichen Perspektiven nicht miteinander vergleichen und keine Kollisionen herbeiführen, sondern solche – sobald sie sich abzeichnen – ganz bewusst gegenseitig umschiffen. Statt der Beweisvereitelung finden wir die Lüge (die natürlich auch den Prozess trägt).

Erst wenn wir akzeptieren, dass in jedem denkbaren Verfahren der Rechtsgewinnung nur eine »prozessuale Wahrheit« gefunden werden kann, die mit der Realität möglicherweise nicht übereinstimmt (was ich später hin und wieder erweist), enthüllt sich ein weiteres zentrales Merkmal jedes Prozesses: Er macht den Konflikt zwischen den Beteiligten öffentlich und gestattet damit einen Einblick in die Art und Weise, wie wir versuchen, Gerechtigkeit herzustellen.

Diese Funktion erfüllt der Prozess auch dann, wenn die Richter, die Staatsanwälte oder sonstige Personen gegen die Regeln verstoßen, die Ihnen auferlegt worden sind, wenn sie also bestochen sind, Beweise unterschlagen oder verfälschen oder wenn ihr Urteil nichts mit dem zu tun hat, was im Verfahren als relevant erkannt worden ist. in solchen Fällen erkennen wir nämlich, dass es Rechtssystem insgesamt korrupt ist. Daraus ergibt sich die unbedingte Konsequenz, dass wir von einem Verfahren zur Rechtsgewinnung nur ansprechen können, wenn es öffentlich geschieht und nicht hinter verschlossenen Türen. Nur dann nämlich haben wir den Hauch einer Chance, die Willkür zu enttarnen, die das Verfahren gelegentlich gefährdet.

Eines allerdings kann man von jedem Prozess verlangen, auch wenn er unter äußerst schwierigen Bedingungen stattfindet: Es ist der gute Wille aller Beteiligten, ihr Bestes zu geben, um auch unter den – oft genug behindernden – Rahmenbedingungen des Verfahrens der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen:

»Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut und, für sich selbst betrachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen nur immer zu Stande gebracht werden könnte. Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schicksals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Wert in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werte weder etwas zusetzen, noch abnehmen. Sie würde gleichsam nur die Einfassung sein, um ihn im gemeinen Verkehr besser handhaben zu können, oder die Aufmerksamkeit derer, die noch nicht genug Kenner sind, auf sich zu ziehen, nicht aber um ihn Kennern zu empfehlen und seinen Wert zu bestimmen.«184

15. Das Zusammenspiel der Elemente

Interdependenz, Reziprozität und Empathie und die aus dieser Urgrammatik der Moral abgeleiteten Prinzipien der Gleichheit, der Fairness und der Ausgewogenheit sind die Grundelemente jedes denkbaren Rechtssystems und gestalten sie innerhalb der Grenzen, die ihnen von ihren Rahmenbedingungen gesetzt werden. Diese Behauptung klingt kühn, wenn man bedenkt, dass es Staaten gibt, in denen es zwar in Rechtssysteme gibt, in denen aber z. B. Homosexuelle mit dem Tod bedroht werden oder ein verbaler Angriff gegenüber einem Staatsoberhaupt mit langjährigen Gefängnisstrafen geahndet wird.

In der öffentlichen und der politischen Diskussion neigt man dazu, den Typ des Rechtssystems, den man in seiner eigenen sozialen Umgebung vorfindet, für den einzig richtigen zu halten. Man muss aber bedenken, dass in solchen Staaten das Wertsystem völlig anders ausgestaltet ist, als wir es z. B. in westlichen Demokratien gewöhnt sind. Häufig ist es religiös beeinflusst oder ein Staat fühlt sich zutiefst gefährdet, wenn auf sein Oberhaupt auch nur der Schatten einer Kritik fällt.

Man muss sich mit diesen Wurzeln der Moral und den aus ihr abgeleiteten Rechtsvorschriften beschäftigen, bevor man sie bewertet. Tut man das innerhalb des geprüften Systems, wird sich zeigen, dass jedenfalls in der abstrakten Beschreibung von Rechten und Pflichten die Prinzipien der Gleichheit, der Fairness und der Ausgewogenheit eingehalten werden. Dass sie in der Praxis häufig nicht durchsetzbar und viele Entscheidungen fehlerhaft sind, nimmt einem Rechtssystem nicht seine Qualifikation, solange es nicht jeder Art Willkür zulässt.

Die große Bandbreite der Wertsysteme erklärt sich daraus, dass die Inhalte des Rechts sich immer aus den Grundregeln der Moral ergeben, die ihrerseits von den jeweiligen Rahmenbedingungen von Raum, Zeit, Kultur usw. abhängig sind. Wie oben gezeigt, kann man sie zwar auf die drei moralischen Grundelemente reduzieren, aber die Ebene, auf der das geschieht, ist hoch abstrakt und lässt Varianten zu, die auf den ersten Blick kaum miteinander synchronisierbar erscheinen. Die Variationsbreite erscheint noch größer, wenn man bedenkt, dass viele politische Systeme sich nach außen hin den Anschein eines Rechtsstaates geben, um Kritik an ihren tatsächlich diktatorischen Verhältnissen zu unterdrücken. Dadurch fallen Texte und Realität soweit auseinander, dass es sinnlos erscheint, den Texten eine Bedeutung zu geben, die sie in der Wirklichkeit nicht haben.

So wirken die oben beschriebenen Bedingungen häufig wie bloße Leerformeln, denn jeden einzelnen der Begriffe kann man mit nahezu beliebigen Inhalten füllen, vor allem dann, wenn sie miteinander nicht konsistent verbunden werden. Das zeigt sich tragischerweise auch an dem immer gut gemeinten Begriff »politische Korrektheit«. Er soll Minderheiten schützen, führt aber immer dazu, dass der Blick auf die Wirklichkeit verachtet wird. Man versucht mit Begriffen die Welt zu verändern, wo man sie tatsächlich nicht verändern kann.

Der Wert der oben beschriebenen Rahmenbedingungen zeigt sich sofort, wenn wir versuchen, einen konkreten Einzelfall mit ihrer Hilfe zu beurteilen. Definiert man etwa die Gleichheit zweier Sachverhalte, entsteht daraus ohne weiteres ein Maßstab für die Ungleichheit anderer Sachverhalte. Wenn eben ein bestehendes Parlament eine neue verfassungsgebende Versammlung gesetzt wird, deren Rechte höherrangig sein sollen als jene des Parlaments (Venezuela 2017), wäre ein Militärputsch die ehrlichere Lösung. Der moderne Staatsstreich besteht aus einer Verfassungsänderung. Die Willkür gilt als unästhetisch. Aber auch in ihrer Verkleidung kann man sie erkennen.

Die Bandbreiten sind allerdings unter den Rahmenbedingungen von Raum/Zeit/Kultur etc. extrem unterschiedlich. Selbst wenn sie durch ein Gericht definiert werden, unterliegen sie dem Wandel der Auffassungen der Gesellschaft185: selbst in relativ ähnlichen Rechtssystemen, wie sie etwa zwischen USA und Europa zu beobachten sind, beurteilen die einen die Todesstrafe als fair, die anderen als unfair. Diese unterschiedlichen Perspektiven zeigen sich überdeutlich im Bereich der Menschenrechte: Obwohl alle Kulturstaaten sich in internationalen Erklärungen und Verträgen186 verpflichtet haben, sich an einen bestimmten Text zu halten, wird er in der Praxis häufig unterschiedlich ausgelegt oder gänzlich ignoriert. Einzelne Begriffe, wie etwa jener der »Harmonie« haben in asiatischen Rechtskulturen eine hohe Bedeutung, werden im Westen hingegen nur schwer erkannt, weil wir versuchen, das Spannungsverhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft bereits in unserer Normsystemen (und nicht erst in der Einzelentscheidung) auszugleichen. Diese Qualitätsmängel können so umfangreich sein, dass der Begriff Recht in einem solchen System keine Bedeutung mehr hat und lediglich die Willkür verdeckt.

Recht schränkt auf diese Weise die Willkür ein, eröffnet damit gleichzeitig aber einen gesicherten Raum für die Entwicklung von Freiheit:»… Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben« (Goethe). Innerhalb dieser beiden Spannungspole errichtet das Recht ein schützendes Dach über unser soziales Leben, Sein Schatten reicht weiter als seine unmittelbaren Eingriffsmöglichkeiten: Er fällt auf das gesamte soziale Leben und prägt es auch außerhalb der Welt der Konflikte. Wir sprechen vom Schatten, weil das Recht im Kern aus der Drohung der Macht besteht, die ihm außerhalb des Systems verliehen wurde187.

Innerhalb dieser beiden Spannungspole errichtet das Recht ein schützendes Dach über unser soziales Leben. In der Politik wie im sozialen Leben besteht immer wieder die Möglichkeit, schwierige Entscheidungen in vergleichbaren Verfahren wie rechtliche Entscheidungen zu treffen, um sie dadurch gleicher, fairer und angemessener zu machen. So entwickelt jeder von uns im Lauf seines Lebens einen Gerechtigkeitssinn, weil er in zahllosen alltäglichen Situationen entscheiden muss: Ist das gerecht oder ungerecht? Wir schulen unseren alltäglichen Blick anhand dieser Maßstäbe, übersehen allerdings dabei, dass sie im Rahmen des Rechtssystems eine andere Färbung gewinnen, als wir sie in unserer naiven Sicht gewohnt sind. Im Alltag leben wir nur unter dem Schatten des Rechts, der hier viel weiter reicht als innerhalb des Rechtssystems: Er fällt auf das gesamte soziale Leben und prägt es auch außerhalb der Welt der Konflikte. Wir sprechen vom Schatten, weil das Recht im Kern aus der Drohung der Macht besteht, die ihm innerhalb des Systems verliehen wurde.

Mit der Definition der Bedingungen, unter denen Gerechtigkeit entstehen kann, ist ihr Inhalt noch nicht beschrieben. Wenn es Gesetze oder Präjudizien gibt, die die angestrebten idealen Fälle (Normfälle) beschreiben, sind damit die Inhalte im allgemeinen hinreichend genau festgelegt. Ob aber der einzelne Fall auf sie anwendbar ist, zeigt nur die konkrete Entscheidung. Der Begriff der Gerechtigkeit beschreibt also im besten Fall die Qualität der getroffenen Entscheidung zu einem bestimmten Zeitpunkt.

Viele Rechtssysteme, Gesetze und Institutionen, aus denen sie bestehen, beschreiben Elemente der Gerechtigkeit, ohne sie in der Wirklichkeit einlösen zu können. Diese Qualitätsmängel können so umfangreich sein, dass der Begriff Recht in einem solchen System keine Bedeutung mehr hat und lediglich die Willkür verdeckt.

Es liegt auf der Hand, dass jedes funktionsfähige Rechtssystem eine in sich logisch konzipierte Maschine sein muss. Nur so können Rechtsfehler von anderen Fehleinschätzungen klar genug unterschieden werden. Aber man kann diese Maschine, die zudem– wie Maschinen das so an sich haben – nicht immer fehlerfrei funktioniert – nicht im leeren Raum ohne Rücksicht auf die sozialen Funktionen konstruieren, die sie erfüllen soll, wie es etwa die Reine Rechtslehre versucht hat; denn Gerechtigkeit wird von Menschen gemacht, deren Gerechtigkeitssinn die Ergebnisse prüft. Wie die Erfahrung188 gezeigt hat, zerstört sie sich selbst, wenn sie nicht mit der Natur (Biologie und Psychologie des Menschen), der Gesellschaft, ihrer Politik usw. gleichzeitig durch Unterstützung wie Kritik verbunden ist.

Kein Mensch will vorsorgend allzu genau wissen, was Recht und Unrecht ist. Sein Machtinstinkt, der ihm hilft, seine ureigensten Interessen zu realisieren, ist in der Regel stärker als die Beachtung der kulturellen Konstruktionen, die das Recht errichtet, aber nicht unter allen Umständen durchsetzen kann. Wenn jemand sich außerhalb moralischer Ansprüche, die er sich selbst auferlegt, auch rechtliche Gedanken macht, so will er in erster Linie die Grenzen des Rechts kennenlernen, um sie entweder zu biegen oder zu brechen. Im besten Fall entscheidet er sich ad hoc im Vertrauen auf seinen Gerechtigkeitssinn, also der naiven Parallelwertung in der Laiensphäre (wie die Juristen das nennen).

Die meisten ahnen auch zu Recht, dass sie gar keine Chance haben, sich über alle relevanten Faktoren zu vergewissern denn sie erleben im der Praxis immer wieder, dass auch die Juristen Ihnen keine sicheren Antworten geben können (der Richter ist ein Dritter!). Und dass deshalb der Aufwand nie in einem vernünftigen Verhältnis zum Ergebnis stehen wird. Eine juristisch vollendet funktionierende Compliance kann man nicht mit zumutbaren Mitteln einrichten, weil es selbst bei den einfacheren Begriffen Auslegungsspielräume gibt, die immer umstritten sein werden189. In rechtlichen Strukturen zu handeln ist den Menschen versagt, weil das bedeuten würde, dass sie auch bei alltäglichen Handlungen sich eine Menge Gedanken machen und mit widerstrebenden Gefühlen fertig werden müssten.

Juristen die außerhalb der Prozesse tätig sind, befassen sich also im Grunde nur mit Risikoanalysen, bei denen das Recht eine gewisse Rolle spielt. Sie fragen sich: Wie groß sind die Chancen, die eigenen Interessen in der Hoffnung durchzusetzen, dass es rechtlich schon irgendwie passt (oder von Anwälten passend gemacht werden kann) im Verhältnis zu den rechtlichen Risiken und den damit verbundenen Kosten? Steht der Aufwand zur Klärung dieser Frage im Verhältnis zu ihrem Ergebnis? Die Arbeit an solchen Fragen führt einen in die Nähe unterhaltsamer Machtspiele, vor allem dann, wenn die Beratenen unsere Vorschläge ignorieren. Und uns dann dadurch wissen lassen, wie überflüssig wir im Grunde sind. Selten können wir dieses Bild korrigieren, wenn wir sie im Gefängnis besuchen.

Auffällig ist die bewusste Distanz, die wissenschaftliche Juristen zur Praxis halten. Niemand könnte Chirurgie unterrichten, der nicht selbst praktiziert. Beim Recht ist das anders.

Wie vermutlich viele Juristen habe ich den Beruf gelernt, weil mir seine praktischen Seiten gefallen haben (die Theorie fand ich jedenfalls in den meisten Details überflüssig), aber über die Funktion des Rechts in der Gesellschaft hätte ich gern früher nachgedacht. »Das Recht ist eine Wissenschaft. Die Rechtspflege ist eine Kunst. Jenes muss man begreifen, dieses erlernen.« (Max Hachenburg, 12.07.1910). Heute ist mein Ergebnis Folgendes:

Juristen werden immer gebraucht, wenn der Karren in Dreck sitzt und man die Probleme nicht mit Gewalt lösen kann, sondern durch den Spruch des Richters lösen will – Prozesse wird es immer geben, solange es Rechtskultur gibt. Der Nachteil für die Beteiligten: In Prozessen arbeiten wir in der lichtlosen Morgue an der Obduktion des Toten. Entschädigt wird man durch das Wissen, dass unsere Ergebnisse vielleicht in der Zukunft Bedeutung haben werden und in einigen Rechtskulturen durch die Gelegenheit zu rhetorischer Brillianz, gesellschaftlicher Bedeutung und der Freude an Ritualen.

Wer als Jurist über andere Menschen entscheidet (auch wenn er sie nur berät), setzt damit gleichzeitig auch für sich selbst Maßstäbe für sein Handeln. Es muss ihm klar werden, dass er in zahllosen Fällen, in denen anderen Menschen ein Vorwurf für ihr Verhalten gemacht wird, ebenso hätte versagen können. Es liegt ein hauchdünner Firniss zwischen uns und den anderen. Ein triumphierender Jurist wie Roland Freisler ist ein Widerspruch in sich. Das Gegenteil dieser Haltung finden wir in einem archaischen Bild des asiatisch/römischen Gottes Mithras, dem Schützer der Vertragskultur. Während er den Stier tötet, der sein Symbol ist, wendete er seinen Blick von dem blutenden Opfer weg, weil er begreift, dass er selbst das Opfer ist190 – »Töten mit Demut«191 – das Motiv des »traurigen Henkers«, dem stärksten Symbol von Recht und Gerechtigkeit.

Zusammenfassend:

  1. Die Idee der Gerechtigkeit entwickelt sich aus den drei Elementen der Moral (Interdependenz, Reziprozität, Empathie) und bildet einen das gesamte soziale Leben umfassenden politischen Maßstab, mit dem die Wertvorstellungen zwischen den Einzelnen und der Gesellschaft, die sie bilden, auf dem Hintergrund der Machtpotentiale aller Beteiligten zueinander ins Verhältnis gesetzt werden. Das geschieht anhand der Maßstäbe von Gleichheit, Fairness und Ausgewogenheit des Ergebnisses. Das sind zunächst Leerformeln, denn der Begriff Gerechtigkeit hat unter den zahllosen Perspektiven, unter denen er verwendet wird, keine einheitliche Bedeutung. Aber aus diesem Leerformeln lassen sich in auf allen sozialen Ebenen, auf denen der Begriff verwendet wird (Alltagsleben, Politik, Recht und Rechtsanwendung etc.), konkrete Maßstäbe entwickeln, die Lösungen aufzeigen, die aufgrund ihrer Verbindung zu den Leerformeln eine hinreichende Ähnlichkeit entwickeln, um die Verwendung eines gleichen Begriffs zu rechtfertigen.
    Ob sie eingehalten werden, bestimmt sich aus der (fiktiven) Perspektive eines, an dem Vorgang und der Entscheidung selbst nicht Beteiligten.
  2. Gerechtigkeit ist keine abstrakte Idee, die unabhängig von den raum-/zeitlichen Verhältnissen und anderen Rahmenbedingungen (Kultur, Ökonomie etc.) allgemein definiert werden könnte, jede Gesellschaft muss festlegen, wie sie im Einzelfall erreicht werden kann.
  3. Menschen können sich die Fähigkeit, in einem konkreten Fall gerechte Entscheidungen zu treffen, nur erhalten, wenn das politische System, in dem sie sich befinden, diese Idee und die Werte, die sie tragen, stabil und anpassungsfähig unterstützt. Das Entstehen der Gerechtigkeit ist von Voraussetzungen abhängig, die es selbst nicht herstellen kann.
  4. Das geschieht in unterschiedlichen Ebenen (»Foren« (Fikentscher)), also etwa dem Forum der Politik, der Moral, der Rechtskulturen, der familiären Verhältnisse usw.
  • 1. »Die Vision der Gerechtigkeit ist allein das Vergnügen Gottes: Une saison en enfer-Adieu, 1873, Das poetische Werk, Matthes & Seitz 1988, Seite 58.
  • 2. Blaise Pascal, Pensées, Fragment 298.
  • 3. Immanuel Kant: Eine Vorlesung über Ethik, cit.n. Josef Pieper: Über die Gerechtigkeit Kösel 1954, S. 11.
  • 4. Kant, AA Bd. VI die Metaphysik der Sitten, S. 231.
  • 5. BGH, NStZ-RR 2018, 256 = BGH, 07.06.2018 - 3 StR 149/18.
  • 6. Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit? (1953), Nachdruck Reclam 2000 Seite 49.
  • 7. Kai Vogelsang, China und Japan, Kröner 2020, S. 66 ff. unter Hinweis auf das Shangjun shu 6.8.
  • 8. Ulrich Manthe: Die Rechtskulturen der Antike, C.H. Beck 2003, Einleitung S. 9 ff.
  • 9. Robert Sapolsky: Gewalt und Mitgefühl, Hanser 2017 Seite 560 ff.
  • 10. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V,I131a, Originaltext Artemis (Tusculum) 2001, Seite 199 (Übersetzung hier durch den Autor).
  • 11. Blaise Pascal, Pensées, Fragment 298.
  • 12. https://woerterbuch.hantrainerpro.de/chinesisch-deutsch/bedeutung-quan_w...
  • 13. E. O. Wilson: Der Sinn des menschlichen Lebens, C.H. Beck 2015 Seite 33, 58.
  • 14. Ernst Wolfgang Böckenförde: Der säkularisierte Staat, (1967) 2007. Böckenförde hat dieses Dilemma auf das Verhältnis von Kirche und Staat bezogen, im wesentlichen gestützt auf das Argument, der Staat könne keine moralischen Ideen entwickeln, sie müssten also von außen durch religiöse Systeme kommen. Das ist kritisiert worden. Es geht aber nicht nur um moralische Ideen, sondern im wesentlichen um die Machtverhältnisse: Wenn der Staat in einen Ausnahmezustand gerät und von außen oder innen angegriffen wird, verändert sich notwendig die von ihm definierte Idee der Gerechtigkeit zusammen mit einer Verschiebung der Machtverhältnisse.
  • 15. In den USA, in denen die Schwellen zum Rechtssystem relativ hoch sind, gelangt nur ein Bruchteil sozialer Konflikte vor die Gerichte. Ein Mediationssystem für Versicherungen regelte 2018 etwa 60 Millionen Fälle pro Jahr. In Ländern, in denen es Prozesskostenhilfe etc. gibt, werden Rechtssysteme intensiver genutzt.
  • 16. Hans Kelsen: Reine Rechtslehre (1934), Nachdruck Mohr Siebeck 2000, S. 28.
  • 17. Hans Kelsen: Was ist Gerechtigkeit (1953), Nachdruck Reclam 2000 S. 16.
  • 18. Klaus F. Röhl: Rechtssoziologie, Carl Heymanns, 1987, S. 76.
  • 19. Blaise Pascal, Pensées, Lambert Schneider 1978 Fragment 298.
  • 20. Thomas Hobbes: Leviathan, 13. Kapitel – Von den Bedingungen der Menschen in Bezug auf das Glück ihres Erdenlebens, Bibliothek der Wirtschaftsklassiker 2006, S. 113 ff.; in der Diskussion über diesen Satz wird häufig unterschlagen, dass Thomas Hobbes den Krieg aller gegen alle nicht für ein unanwendbares Schicksal hält, sondern es als unsere Aufgabe erklärt, diesen Zustand zu vermeiden.
  • 21. Rudolf von Jhering: Der Zweck im Recht (1877); Nachdruck: Ulan Press 2012. Zuvor hatte er das System des römischen Rechts noch einmal vollständig neu durchdacht – und vielleicht gerade durch diese Arbeit festgestellt, dass es die Verbindung zu den Zwecken an vielen Stellen verloren hatte.
  • 22. Phillip Heck: Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, Acp 112 (1914), S. 1 ff ; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, Mohr Siebeck 1932 – eine ausführlichere Darstellung und Auseinandersetzung mit Kritiken an seinem Konzept.
  • 23. »Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert. Jeder Mensch besitzt als Person diese Würde, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seinen körperlichen oder geistigen Zustand, seine Leistungen oder seinen sozialen Status.« (BVerfG 15.2.2006, NJW 2006,751 – Luftsicherheitsgesetz).
  • 24. Wie u. a. Amartya Sen (FN 32), S. 80ff nachweist. Von diesen unausgesprochenen Voraussetzungen gehen viele Texte über die Gerechtigkeit aus, so etwa Michael Sandel: Gerechtigkeit, Ullstein 2009.
  • 25. Heinrich Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, CH Beck, 2. Aufl. 1977, 391 ff.; kritisch: Bernd Rüthers: Das Ungerechte an der Gerechtigkeit, Mohr Siebeck, 3. Aufl. 2009.
  • 26. Amartya Sen: Die Idee der Gerechtigkeit. C. H. Beck, München 2010).
  • 27. Immanuel Kant hat das Problem gesehen: »Man denke ja nicht, daß hier das triviale: quod tibi non vis fieri [was du nicht willst, dass dir geschehe …] etc. zur Richtschnur oder Princip dienen könne. Denn es ist, obzwar mit verschiedenen Einschränkungen, nur aus jenem abgeleitet; es kann kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der Pflichten gegen sich selbst, nicht der Liebespflichten gegen andere (denn mancher würde es gerne eingehen, daß andere ihm nicht wohlthun sollen, wenn er es nur überhoben sein dürfte, ihnen Wohltat zu erzeigen), endlich nicht der schuldigen Pflichten gegen einander, denn der Verbrecher würde aus diesem Grunde gegen seine strafenden Richter argumentieren, usw.« (Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, AA IV, 430.).
  • 28. »Das Recht ist eine Wissenschaft. Die Rechtspflege ist eine Kunst. Jenes muss man begreifen, dieses erlernen.« (Max Hachenburg, 12.07.1910).
  • 29. Heraklit: Fragmente Griechisch/Deutsch, Herausgegeben von Bruno Snell, Artemis Verlag, 10. Auflage 1989, B. 80 S. 27.
  • 30. Marvin Harris: The Rise of Anthropological Theory: A History of Theories of Culture, (1968).
  • 31. Rudolf von Jehring: Der Kampf ums Recht(1894), Nachdruck Trapeza 2012 und book-on-demand.
  • 32. Dieser u. a. von James Harrington 1656 in seinem Werk The Commonwealth of Oceana geprägte Begriff beschreibt das englische Rechtsdenken, ist aber in sehr viel älteren politisch/philosophischen Systemen verankert (Aristoteles) und wird heute auch auf die Kernbereiche der modernen mitteleuropäischen Rechtssysteme angewendet.
  • 33. http://worldjusticeproject.org/what-rule-law ; Übersetzung durch den Verfasser. Die hier zitierten Formulierungen versuchen, eine Vielzahl von Ansätzen untereinander zu harmonisieren, die sich aus den unterschiedlichen Quellen herleiten – zu den ältesten gehört Aristoteles, Politik 3.16: »Das Recht soll herrschen, nicht der Einzelne«.
  • 34. William Borroughs, Naked Lunch (1959), Nagel & Kimche, 2009, S. 12 ff.
  • 35. Dieter Krimphove, Rechtsethologie – die Ableitung des Rechts aus der Entwicklungsgeschichte des Menschen, Duncker & Humblot, Berlin 2021, S. 126 ff.
  • 36. Kant VI,399 (MSC) Metaphysik der Sitten.
  • 37. Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Mohr Siebeck 8. Auflage 2003 Bd. I S. 107.
  • 38. Fabian Steinhauer: Gerechtigkeit als Zufall – zur rhetorischen Evolution des Rechts, Springer 2007, S. 5.
  • 39. Ein gutes Beispiel ist Papinian (142-212), gleichzeitig ein anerkannter Jurist und Leiter der Prätorianergarde. Als Caracalla ihn aufforderte, den Mord an seinem Bruder Geta als Notwehr zu rechtfertigen, antwortete er kühl: »Es ist einfacher, jemanden umzubringen, als diesen Mord zu rechtfertigen« und wurde daraufhin umgebracht. Andreas Gryphius (selbst Jurist) hat ihm ein Trauerspiel gewidmet.
  • 40. Rigveda (ältester der vedischen Texte (vor 1500 v. Chr.) cit. n. Thomas Oberlies: Der Rigveda und seine Religion, Verlag der Weltreligionen 2012 Seite 376 (FN 24) und Seite 96 ff.
  • 41. Bernhard Kölver: Der König: Herr von allem, in: Erkenz, Sakralität von Herrschaft, Akademie Verlag 2002, Seite 181 (182), siehe dort auch Hubert Seiwert: Sakralität und Herrschaft am Beispiel des chinesischen Kaisers Seite 246 ff.
  • 42. Claus Wilcke: Vom göttlichen Wesen des Königs zum und seinem Ursprung im Himmel, Seite 63 (80) in: Erkenz.
  • 43. Wolfgang Reinhard: Geschichte der Staatsgewalt, C.H. Beck 1999, Seite 31 (33).
  • 44. Gerhard Leitner: Die Aborigines Australiens, C.H.Beck 2010, S. 81 ff).Ähnlich bei afrikanischen Stämmen, s. Uwe Wesel: Geschichte des Rechts, C.H.Beck 2. Aufl. 2001 S. 40 ff.
  • 45. Uwe Wesel, (Geschichte des Rechts CH Beck 2001), S. 29.
  • 46. Guido Pfeiffer (FN 2), S. 17.
  • 47. Uwe Wesel (Geschichte des Rechts, CH Beck 2001) S. 100; Jan Assmann: Ma’at: Gerechtigkeit und Unsterblichkeit im alten Ägypten (C. H. Beck, 2. Auflage 1992).
  • 48. Jacques Gernet: Die chinesische Welt, Suhrkamp 1988, S. 91.
  • 49. Die letzten, von keinerlei modernem Denken berührten Gesellschaften sind um 1935 in Papua-Neuguinea entdeckt worden: Schieffelin/Crittenden u. a., Like People you see in a dream, First contact in six Papuan Societies, Stanford 1991; in den Wäldern des Amazonas verteidigen einige vergleichbare Ethnien auch heute noch ihre Lebensweise –Daniel Everett: Das glücklichste Volk, DVA 2010.
  • 50. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, C.H. Beck 1992 S. 232 ff.
  • 51. Heinrich Scholler/Silvia Tellenbach(Hrsg): Die Bedeutung der Lehre vom Rechtskreis und der Rechtskultur, Duncker & Humblodt 2001.
  • 52. Blaise Pascal, Pensées, Lambert Schneider 1978, Fragment 294.
  • 53. Gertrude Lübbe-Wolff, Beratungskulturen – Wie Verfassungsgerichte arbeiten, und wovon es abhängt, ob sie integrieren oder polarisieren, Konrad-Adenauer-Stiftung 2022, Konrad-Adenauer-Stiftung - Beratungskulturen (kas.de).
  • 54. Auch in Naturvölkern entwickeln sich innerhalb von Gruppen Vorstellungen darüber, was richtig oder falsch ist. Daraus müssen sich aber keine (für uns nachvollziehbaren) Wertsysteme entwickeln. Sanktionen bestehen aus stillschweigender Ausgrenzung, so etwa bei den südamerikanischen Piraha (Daniel Everett: Das glücklichste Volk DVA 2010, S. 223, 396.).
  • 55. http://www.koeblergerhard.de/Fontes/CodexHammurapi_de.htm
  • 56. Franz Reiner Erkenz: Sakral legitimierte Herrschaft im Wechsel der Zeiten und Räume, in: Erkenz Seite 3 (20 – Nepal); ebenda könne wer Seite 185.
  • 57. In Swasiland herscht König Mswati III noch heute (2014) ähnlich absolut wie die europäischen oder andere afrikanische Könige bis ins 19. Jahrhundert; (dazu Leo Frobenius: Länder und Zeiten des heiligen Königsmords Atlantis Verlag 1931). ; (Adam Jones:I am all the same as God in: Die Sakralität von Herrschaft (Hrsg Franz-Reiner Erkenz), Akademie Verlag 2002,201 ff.).
  • 58. Noch der letzte französische König Ludwig XVI ging bei seiner Krönung durch Reihen von Kranken, denen er symbolisch die Hand auflegte - Uwe Schultz: Der König und sein Richter, Ludwig XVI und Robespierre, C.H. Beck 2012, Seite 7.
  • 59. Palladios von Helenopolis (auch: Palladius, * um 364 in Galatien; † um 430 in Aspuna), cit. n. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte S. 88.
  • 60. Claus Wilke, siehe oben Seite 69.
  • 61. Claus Wilke S. 73 - 75 , Fragment b: Verse 33, 37, 62, 63, Fragment F: 25-28.
  • 62. Ulrich von Willamowitz-Moellendorff in Mommsen (FN 1), S. 21.
  • 63. cit.n. Guido Pfeiffer: Keilschriftrechte und historische Rechtsvergleichung, in: Sachsen im Spiegel des Rechts (Hrsg: Schmidt-Recla//Schumann/Theissen, Böhlau 2001, Seite 11 ff. (19) Fußnote 51; Otto Edzard Dietz: Sumerische Rechtsurkunden des III. Jahrtausends, München 1968.
  • 64. http://www.koeblergerhard.de/Fontes/CodexHammurapi_de.htm
  • 65. Urukagina von Lagas (um 2350 v. Chr.) cit n. Pfeifer G.: Gerechtigkeit aus der Perspektive der altorientalischen Rechtsgeschichte, in: Markus Witte (Hrsg.): Gerechtigkeit, UTB 2012 Seite 27 ff. (zur besseren Lesbarkeit vereinfacht).
  • 66. Das Buch Deuteronomium (Reden des Moses), 12-26,15 (das Deuteronomische Gesetzbuch), siehe FN. 29.
  • 67. Marschall Sahlins: Kultur und praktische Vernunft, Suhrkamp 1981.
  • 68. Zur Durchsetzung von Macht und Hierarchie: Niccolò Machiavelli, der Fürst, Insel 2001; John Keegan: Die Kultur des Krieges, Rowohlt 2007; zur Gleichordnung: Marcel Mauss, Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Bd. 2 der Soziologie und Anthropologie Frankfurt 1989; Maurice Godelier, Das Rätsel der Gabe: Geld, Geschenke, heilige Objekte, CH Beck 1999.
  • 69. Homer Odyssee 14. Gesang, Zeile 84: Homer, Epen, Odyssee, 14. Gesang - Zeno.org.
  • 70. Guntram Rahn: Rechtsdenken und Rechtsauffassung in Japan, CH Beck 1990, S. 51. Die Fähigkeit, sich in den Anderen hinein zu versetzen(sasshi) enthebt die Parteien der Diskussion um die Angemessenheit der jeweiligen Leistungen.
  • 71. Gespräche (Lunyu), Kap. XV, 23, übers. Richard Wilhelm, Diederichs 2008, S. 161.
  • 72. https://de.wikipedia.org/wiki/Edikte_des_Ashoka
  • 73. Politeia IX, 580b–c. Platons Gerechtigkeitsbegriff bezieht sich nicht nur auf Moral und Recht, sondern bezeichnet einen Zustand wünschenswerter Harmonie im sozialen Leben allgemein.
  • 74. Nikomachische Ethik, Fünftes Buch Abschnitt 2, Tusculum 2001, S. 187 Übersetzung: Olof Gigon.
  • 75. Nikomachische Ethik, Buch V, Kap. 2 (1129 a),3 (1129 b) http://www.textlog.de/33480.html , Übersetzung Eugen Rolfes, 1921.
  • 76. Matthäus 7,12; Lukas 6,31, negativ formuliert: Tobias 4,15.
  • 77. Cicero, de officiis, Buch I, 15 in: Ausgewählte Werke Bd. I Artemis 2008, S. 16.
  • 78. Ulpian cit .Celsus in den Digesten, 1,1,1.(ca. 150 n.Ch.) Text: Corpus Juris civilis, Digesten 1-10, Hrsg Okko Behrends u. a. C. F. Müller, 1995 S. 91.
  • 79. Marcel Mauss, Die Gabe, Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, Suhrkamp 4. Auflage 1999 Seite 46.
  • 80. Digesten 19.4 und 19.5.5.1.
  • 81. Justinian, Institutionen 1,1,1, (533 n. Chr.).
  • 82. Summa Theologica, II. Hauptteil, 2. Teil Frage 58 Antwort 1, cit.n. Josef Pieper.
  • 83. Gerhard Thür: „Das Gerichtswesen Athens im 4. Jahrhundert vor Christus“, in: Burkhardt/von Ungern-Sternberg (Hrsg.): „Große Prozesse im antiken Athen“, C. H. Beck 2000, S. 34 ff.
  • 84. Helmut von Glasenapp: Indische Geisteswelt, 1986, Bd. II S. 264.
  • 85. https://de.wikipedia.org/wiki/Stadtrecht_von_Gortys
  • 86. https://de.wikipedia.org/wiki/Zw%C3%B6lftafelgesetz
  • 87. Viele alte Verfahrensregeln finden sich bei Jacob Grimm: Deutsche Rechtsabenteuer, wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983 Sechstes Buch Bd. 2 S. 351 ff. sowie bei Eike von Repgow.: Der Sachsenspiegel, Manesse 1996 Drittes Buch § 64 ff.
  • 88. Eike von Repgow: Der Sachsenspiegel, übertragen von Ruth Schmidt Wiegand und Clausdieter Schott, Manesse 3. Auflage 1996.
  • 89. Immanuel Kant, Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, AA IV, 421, https://korpora.zim.uni-duisburg-essen.de/Kant/aa04/421.html .
  • 90. Unabhängigkeitserklärung der 13 US-Staaten vom 4. Juli 1776.
  • 91. Erklärung der Menschen – und Bürgerrechte in Frankreich vom 26.08.1789.
  • 92. Claude-Henri Rouvroy de Saint Simon, 1820.
  • 93. Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, dritter Abschnitt (1875/1891).
  • 94. Art 20, 28 GG - Sozialstaatsprinzip.
  • 95. Hans Kelsen: Reine Rechtslehre (1934), Nachdruck Mohr Siebeck 2008, S. 26.
  • 96. G. W. Leibniz: Von der Glückseligkeit (1694/1698), Philosophische Schriften Band I Suhrkamp 1996, 389 (401).
  • 97. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971), Suhrkamp 1975 S. 19.
  • 98. Stanley Fish: Das Recht möchte formal sein, Suhrkamp 2011.
  • 99. Sachsenspiegel, Landrecht I, 61, § 3.
  • 100. Umstrittenes Zitat von Bärbel Bohley, einer der Sprecherinnen der DDR Opposition https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/baerbel-bohleys-zitat-vo...
  • 101. Rudolf von Jhering: „Die Form ist die geschworene Feindin der Willkür, die Zwillingsschwester der Freiheit. Denn die Form hält der Verlockung der Freiheit zur Zügellosigkeit das Gegengewicht, sie lenkt die Freiheitssubstanz in feste Bahnen, daß sie sich nicht zerstreue, verlaufe, sie kräftigt sie nach innen, schützt sie nach außen. Feste Formen sind die Schule der Zucht und Ordnung und damit der Freiheit selber und eine Schutzwehr gegen äußere Angriffe, – sie lassen sich nur brechen, nicht biegen.“
  • 102. Platon: Der Siebte Brief, 337 D - http://www.opera-platonis.de/Brief7.pdf
  • 103. Justinian I, Institutionen 1,1,1, (533 n. Chr.).
  • 104. Rudolf Stammler: Recht und Willkür, Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge, Bd. 1 (1924), S. 85-118.
  • 105. Satz des des Manu, mythischer indischer Gesetzgeber cit.n. Oldenberg in Theodor Mommsen Zum ältesten Strafrecht der Kulturvölker - Fragen zur Rechtsvergleichung gestellt von Theodor Mommsen, Beantwortet von Brunner, Freudenthal u. a., Duncker & Humblodt 1905, S. 80.
  • 106. Ingo Liebach, Die unilaterale humanitäre Intervention im "zerfallenen Staat"(failed state), Heymanns 2004, Bd 32 Schriftenreihe Völkerrecht.
  • 107. Rudolf von Jhering: Vom Geist des römischen Rechts Bd. II/2 § 45 Seite 497 cit.n. Eberhard Schmidt, in: Handbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 2. Auflage 2008 Spalte 1629.
  • 108. Es gibt kein bekanntes Rechtssystem, in dem die Rechtsfolgen der Tötung eines Menschen nicht als regelungsbedürftig angesehen werden. Homosexualität hingegen, die jahrtausendelang in den unterschiedlichsten Formen strafbar war, wird heute in vielen Kulturstaaten nicht mehr so betrachtet- und zwar bevor wir wußten, wie stark sie genetisch in uns verankert ist: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_LGBT
  • 109. Die erste schweizerische Verfassung (Bundesbrief) der Urkantone Ury Schwyz und Unterwalden (1291) sagt: »Wir haben auch einhellig gelobt und festgesetzt, daß wir in den Tälern durchaus keinen Richter, der das Amt irgendwie um Geld oder Geldeswert erworben hat oder nicht unser Einwohner oder Land-mann ist, annehmen sollen«.
  • 110. Thomas Osterkamp: Juristische Gerechtigkeit, Mohr Siebeck 2004
  • 111. Schon in den frühesten kulturellen Texten die wir kennen (Codex Hammurabi §§ 1-5; Exodus 18:27; Buch der Sprichwörter 17:13-19;17:23; 18:17 -25) wird von den Richtern Unbestechlichkeit verlangt.
  • 112. Ogris in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. III Erich Schmidt 1984 Spalte 126, Stichwort »Machtspruch«. Ein berühmter Fall ist die rechtswidrige Absetzung und Verhaftung von Richtern des Berliner Kammergerichts durch Friedrich den Großen im Fall des Müllers Arnold 1779, dazu Malte Diesselhorst: Die Prozesse des Müllers Arnold und das Eingreifen Friedrichs des Großen, Göttingen 1984.
  • 113. Zhuāngzǐ (* um 365 v. Chr.; † 290 v. Chr.): Das wahre Buch vom südlichen Blütenland, Buch II Kap. 10, Diederichs 1969 S. 50.
  • 114. Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Suhrkamp 1993.
  • 115. Christoph Möllers: Die Möglichkeit der Normen Suhrkamp 2015.
  • 116. Erster Mainzer Reichslandfriede im Jahre 1103, danach weitere Bündnisse/Erlasse bis zum "Ewigen Landfrieden" 1495.
  • 117. Bernd Rüthers: Rechtstheorie, C.H. Beck 1999 Seite 34 ff ; Willoweit/Müller-Luckner(Hrsg): Die Begründung des Rechts als historisches Problem, Oldenburg 2000, dort vor allem die Beiträge von Okko Behrens und Jürgen Weitzel. Mathias Schmoeckel: Auf der Suche nach der verlorenen Ordnung, 2000 Jahre Recht in Europa, Böhlau 2005.
  • 118. Wolfgang Fikentscher, Globale Gerechtigkeit S. 62 f.
  • 119. Niklas Luhmann: Soziale Systeme – Grundriss einer allgemeinen Theorie, Suhrkamp 1987 S. 31.
  • 120. Niklas Luhmann: Das Recht der Gesellschaft, Suhrkamp 1995, S. 35.
  • 121. Kent D. Lerch (Hrsg) Die Sprache des Rechts, 3 Bände, de Gruyter 2004.
  • 122. Kung-Fu-Tse, Gespräche Kap. XIII, 3.
  • 123. Johann Wolfgang von Goethe, Natur und Kunst (1800).
  • 124. Ulpian, Digesten I, Inst 2j.
  • 125. Hans Kelsen: Reine Rechtslehre (1934), Nachdruck Mohr Siebeck 2008 S. 74.
  • 126. Deutsche Juristenzeitung vom 01.08.1934.
  • 127. H.L.A. Hart: Der Begriff des Rechts (1961/1994), Suhrkamp 2009 S. 247.
  • 128. BVerfG, 24.10.1996 - 2 BvR 1851/94, 2 BvR 1852/94, 2 BvR 1875/94, 2 BvR 1853/94 = BVerfGE 95,96 ;NJW 1997, 929 (931), Strafbarkeit der sog. Regierungskriminalität während des SED-Regimes - Tötung von Flüchtlingen an innerdeutscher Grenze.
  • 129. Von der Pfordten, Rechtsethik CH Beck 2. Aufl. 2011 S. 195 ff.
  • 130. Gustav Radbruch: Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, Süddeutsche Juristen Zeitung 1946, 105 (107) Gesamtausgabe C.F.Müller Bd. 3 (1990) S. 83 (89).
  • 131. Den Ansatz zu diesem Gedanken finden wir ebenfalls bei Epikur: »Wenn aber jemand ein Gesetz durchsetzt, dass dem innerhalb der Gemeinschaft bestehenden wechselseitigen Nutzen nicht entspricht, so besitzt dieses Gesetz nicht mehr die Eigenschaft eines wirklichen Rechts« (Epikur: Philosophie der Freude – einer Auswahl aus seinen Schriften, (Hrsg. Johannes Mewaldt), Hauptlehrsatz 37, Kröner 1973 S. 62.
  • 132. BVerfG, Beschluss vom 2.2.2015 – 2 BvR 2437/14, NJW 2015, 1294 (47cc) – zur Auslegung von Versicherungsbedingungen im europäischen Kontext.
  • 133. Das Verfahren der Rechtsgewinnung – eine rationale Analyse, CH Beck 1999, S. 68 ff.
  • 134. Benno Heussen: Analogie ist unlogisch – über die Funktion der Gefühle im Verfahren der Rechtsgewinnung.
  • 135. Alexander Hamilton, The Federalist No 27 vom 25.12. 1787 https://guides.loc.gov/federalist-papers/text-21-30#s-lg-box-wrapper-254...
  • 136. Plato, Der Staat IV (432 c).
  • 137. Ronald Dworkin, Gerechtigkeit für Igel, Suhrkamp 2012.
  • 138. Stanley Fish, Das Recht möchte formal sein, Suhrkamp 2011, S. 114.
  • 139. Roland Hoffmann (Theinert), Verfahrensgerechtigkeit – Studien zu einer Theorie der prozeduralen Gerechtigkeit, Schöningh 1992.
  • 140. Ernst Wolfgang Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht, Interview mit Dieter Gosewinkel, Suhrkamp 2011 Seite 368.
  • 141. Englischer Lordkanzler Rechtsanwalt und Rechtsphilosoph (1561 - 1626).
  • 142. George Spencer-Brown: Gesetze der Form (Laws of Form1969), Bohmeier 1997 . Hier wird der Gedanke in neuen mathematischen Formeln dargestellt, die von anderen Mathematikern teilweise nicht anerkannt werden. Niklas Luhmann hat sie gleichwohl ernst genommen, weil sie die Bewegungen innerhalb und außerhalb von Systemen verständlich machen können. Dem entspricht die in der Philosophie anerkannte Überlegung, dass Begriffe möglichst klare Trennungen ermöglichen und gleichwohl einfach sein sollten (Wilhelm v. Ockham-1285-1349).
  • 143. Wolfgang Fikentscher: Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Mohr sieben 1975 Bd. II Seite 9.
  • 144. Henckel, Vom Gerechtigkeitswert verfahrensrechtlicher Normen, Göttinger Universitätsreden 1966, Seite 25.
  • 145. George Orwell beschreibt das anschaulich in seinem Roman 1984, neu übersetzt von Michael Walter, Ullstein 2012.
  • 146. Hans Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 8 ff.
  • 147. The Path of the Law. In: 10 Harvard Law Review 457, (461) (1897).
  • 148. Thomas Hobbes, Leviathan (1651) Englische Fassung, Buch 2, Kap 26, Abschnitt 7; dtsch: Finanzbuch Verlag 2006, S.225; früher schon Juvenal Satiren 6, 223. In den lateinischen Fassungen heißt es statt „wisdom“ „veritas“, wie oft zitiert wird!
  • 149. Dazu eine story, die Richter unter sich erzählen: Der Kläger trägt vor und der Richter sagt: »Sie haben vollkommen recht«. Dann folgt der Beklagte. Der Richter: »Das klingt sehr überzeugend«. Da steht hinten im Zuhörerraum einer auf: »Aber Sie können doch nicht dem Kläger und dem Beklagten gleichzeitig Recht geben!« »Da kann ich Ihnen kaum widersprechen« sagte der Richter. Diese Geschichte soll der Sufi-Meister Mullah Nasreddin aus Anatolien (ca. 1200 n. Chr). als erster erzählt haben. Johann Peter Hebel greift sie im Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes wieder auf.
  • 150. The Path of the Law. In:10 Harvard Law Review 457 (1897). Harvard Law Review/Volume 10/The Path of the Law - Wikisource, the free online library.
  • 151. Xenophanes von Kolophon, Fragment 34 cit in: Hermann Diels, Walter Kranz (Hrsg.): Die Fragmente der Vorsokratiker, Band 1, 6. Aufl., Weidmann, Zürich 1951, 137 [B 34]; Arthur Kaufmann gibt dazu einen Überblick in »Rechtsphilosophie« 2. Auflage 1997, C.H. Beck.
  • 152. Franz Kafka, Brief an den Vater, Gesammelte Werke „Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande“, S. 223, S. Fischer 1953.
  • 153. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten II.
  • 154. BVerfGE 21, 362 (372) – Zum Grundrechtsschutz öffentlich-rechtlicher Institutionen: »Das Wertsystem der Grundrechte geht von der Würde und Freiheit des einzelnen Menschen als natürlicher Person aus. Die Grundrechte sollen in erster Linie die Freiheitssphäre des Einzelnen gegen Eingriffe der staatlichen Gewalt schützen und ihm insoweit zugleich die Voraussetzungen für eine freie aktive Mitwirkung und Mitgestaltung im Gemeinwesen sichern.«
  • 155. Paul Tiedemann: Was ist Menschenwürde? Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2. Aufl. 2014 Seite 84 ff.
  • 156. Franz Josef Wetz: Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwertes, Stuttgart 2005.
  • 157. Norwegische Gerichte haben das im Fall des Massenmordes Breivik so entschieden, der Fall schwebt vor dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte:http://www.sueddeutsche.de/panorama/norwegen-drei-zellen-sind-ihm-zu-wen...
    http://www.sueddeutsche.de/panorama/prozess-breivik-bezeichnet-sich-selb...
    http://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2016-04/anders-breivik-nor...
  • 158. Sudelbücher Hefte A Notiz 53 cit.n.: Schriften und Briefe Bd. I 3. Aufl. 1980 Seite 21.
  • 159. Carolin Emcke, Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2016, Süddeutsche Zeitung, 23.10.2016.
  • 160. »Das menschliche Leben ist die vitale Basis der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert. Jeder Mensch besitzt als Person diese Würde, ohne Rücksicht auf seiner Eigenschaften, seinen körperlichen oder geistigen Zustand, seine Leistungen oder seinen sozialen Status.« (BVerfG 15.2.2006, NJW 2006,751 – Luftsicherheitsgesetz).
  • 161. Deshalb ist es fehlerhaft, z. B. den Anspruch auf Sozialhilfe auf die Menschenwürde zu stützen. Es stützt sich ausschließlich auf die Solidarität, die wir anderen schulden, ohne die wir nicht leben könnten (auch wenn die Hilflosen dazu jetzt konkret nichts beitragen können).
  • 162. Wappenspruch der Familie William Shakespeares (1596).
  • 163. Hans Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, S. 34.
  • 164. Norbert Bischof: Moral, Böhlau 2012, Seite 42.
  • 165. Arthur Kaufmann, Das Verfahren der Rechtsgewinnung – eine rationale Analyse CH Beck 1999 Seite 70 ff.
  • 166. Robert Alexy: Theorie der juristischen Argumentation. Frankfurt a.M. 1983.
  • 167. Französisches Sprichwort, aus dem lateinischen stammend: omnis comparatio claudicat, nachgewiesen seit dem 13. Jahrhundert, auch bei Balthasar Gracian.
  • 168. Das Reichskammergericht hatte die Aufgabe, den Landfrieden (Streitigkeiten zwischen Fürsten etc.) zu sichern und entschied zwischen 1495 und 1806 auch über die Appellation in »Untertanenprozessen«. Es galt der Schriftlichkeitsgrundsatz. Die Prozesse zogen sich oft jahrzehntelang hin und über dauerten die Lebenszeit der Prozessbeteiligten. J.W. von Goethe berichtet darüber: »Man begreift oft nicht, wie sich nur Männer finden konnten zu diesem undankbaren und traurigen Geschäft. Aber was der Mensch tagtäglich treibt, lässt er sich, wenn er Geschick dazu hat, gefallen, sollte er auch nicht gerade sehen, dass etwas dabei herauskomme. Der Deutsche besonders ist von einer solchen ausharrenden Sinnesart und so haben sich drei Jahrhunderte hindurch die würdigsten Männer mit diesen Arbeiten und Gegenständen beschäftigt...« (Dichtung und Wahrheit, Teil III, 12. Buch, Hamburger Ausgabe C.H. Beck Bd. 9 Seite 528 ff.). Die wissenschaftliche Analyse belegt jedoch einen wichtigen strukturellen Beitrag für die Rechtspflege: Peter Oestmann, Geistliche und weltliche Gerichte im Alten Reich: Zuständigkeitsstreitigkeitenund Instanzenzüge, Böhlau, 2012; Klaus-Peter Schroeder: Mythos, Wirklichkeit und Vision: Die Geschichte vom langen Leben und Sterben des Heiligen RömischenReiches Deutscher Nation, JuS 2006, 577; Maike Huneke: "Von Execution und Vollnziehung der Urtheil", DGVZ 2010, 141
  • 169. Wolfgang Fikentscher: Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Mohr Siebeck 1975 Seite 157.
  • 170. Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht, Kiepenheuer & Witsch 1992 S. 272 ff.
  • 171. Epikur Philosophie der Freude, Hauptlehrsatz Nr. 29, Kröner 1973 Seite 59.
  • 172. Ernst-Wolfgang Böckenförde: „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ In: Recht, Staat, Freiheit. 2006, S. 112 f.
  • 173. Mit Juristen sind hier nicht nur die Richter gemeint, sondern Staatsanwälte, Rechtsanwälte und andere Personen, die an einem Verfahren mitwirken, auch wenn sie das Verfahren nur aus der Sicht einer einzigen Partei betrachten müssen. Auch in diese«m Fall müssen sie z. B. die Verfahrensregeln einhalten, die andere S. hören, dürfen den Sachverhalt nicht verfälschen und müssen Rücksicht auf die soziale Wirklichkeit nehmen etc.
  • 174. Ernst Wolfgang Böckenförde: Vom Ethos der Juristen, Duncker & Humblodt 2010 S. 34.
  • 175. Zu den »Säulen richterlichen Handelns«, Schleswig Holsteiner Ethik-Runde, SchlHA Sonderheft Februar 2012, S. 14 ff.
  • 176. Politeia 427 d – 434 d.
  • 177. Blaise Pascal: »Die Mitte verlassen heißt die Menschlichkeit verlassen«.
  • 178. Plato, Theaitetos in: Werke in 8 Bänden Griechisch und Deutsch (Friedrich Schleiermacher), 6. Band, Seite 97 (172c) Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1970.) Übersetzung durch den Autor; Schleiermacher übersetzt wortgetreu: „Wie gewaltig und weise sie auch geworden zu sein glauben“.
  • 179. cit.n. Bernd Kannowski: Die Ritter der Gerichte an der Schwelle von mündlicher zu schriftlicher Rechtskultur in: Anwälte und ihre Geschichte, Mohr Siebeck 2011 Seite 15, in der Übersetzung leicht verändert.
  • 180. Einführung in das juristische Denken, 10. Aufl. Kohlhammer 2005.
  • 181. In Akira Kurosawas Film Rashomon ist das dargestellt.
  • 182. Blaise Pascal, Pensées Fragment 366.
  • 183. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971), Suhrkamp 1979, S.106 ff.
  • 184. Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 394 Kant: AA IV, Grundlegung zur Metaphysik der ... , Seite 394 (korpora.org).
  • 185. Georg Jellinek sprach von der normativen Kraft des Faktischen. Solange das Faktische aber nicht den Weg in Gesetzestexte gefunden hat, dürfen wir es nur im Wege der Auslegung und nicht gegenüber erklärter Absicht des Gesetzgebers berücksichtigen.
  • 186. http://www.humanrights.ch/?gclid=COzR5JDKpc4CFRYTGwod45EHrg
  • 187. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit. 1976, S. 60.
  • 188. Die von Kelsen geforderte absolute Bindung an das positive Recht bildete in der Zeit nach 1933 die Basis dafür, Willkür in Form von Gesetzen zu gießen, um dadurch den Gehorsam der Rechtsunterworfenen sicherzustellen.
  • 189. Auch extreme Strafzahlungen und Kosten, wie sie etwa die Deutsche Bank oder Volkswagen in den Jahren zwischen 2012 und 2016 erlitten haben (vor allem in den USA) werden zu keiner Verhaltensänderung führen, weil sie alsbald vergessen werden.
  • 190. Marion Giebel: Das Geheimnis der Mysterien, Artemis 1990, Seite 204.
  • 191. Heiner Müller, Krieg ohne Schlacht, Kiepenheuer & Witsch 1992, S. 316 ff.
Literaturverzeichnis
Zitierte Literatur: 
  • Siehe Fußnoten.