Warum Gerichtsentscheidungen falsch zitiert werden – man sollte auch die Namen der Richter nennen

Als ich vor Kurzem wieder einmal von einem kuriosen Urteil, von denen es nicht wenige gibt, hörte, wurde mir etwas bewusst: Wir alle zitieren Gerichtsentscheidungen nicht richtig.

In der Regel werden Gerichtsentscheidungen so oder so ähnlich zitiert: Beispielsweise LG Nürnberg-Fürth, 08.08.2006 - 7 KLs 802 Js 4743/2003 oder etwa LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 08.08.2006 (Az. 7 KLs 802 Js 4743/2003). Das heißt, dass das Gericht, das Datum, das Aktenzeichen und ggf. die Entscheidungsform (Urteil oder Beschluss) genannt werden. Im Hör- oder Videoformat wird dabei sogar häufig auf das Aktenzeichen verzichtet: „... urteilte das Landgericht Nürnberg-Fürth am 08.08.2006, dass [...]“. Noch kürzer können Zitate aus Entscheidungssammlungen oder juristischen Zeitschriften ausfallen, z. B. BGHSt 34, 53 oder etwa NJW 1967, 1078.

Man erfährt zwar wo und wann entschieden wurde und wie diese Gerichtsentscheidung aufzufinden ist, aber nicht, wer eigentlich entschieden hat. Die Namen der Urheber erschließen sich erst – aber auch nicht immer, wie etwa bei einigen landeseigenen Datenbanken –, wenn man das Urteil oder den Beschluss vor sich hat, also nur durch einen zusätzlichen, eigenständigen Schritt. Dann hat man zumindest Nachnamen – Entscheidungen, die Richter mit Vor- und Nachnamen unterzeichnen oder ausweisen gibt es praktisch nicht, was eigenartig wirkt, wenn doch alle anderen vor Gericht mehr oder weniger alles offenlegen müssen. Jedenfalls müssen Gerichtsurteile die Namen der Richter enthalten, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, vgl. etwa § 313 Abs. 1 Nr. 2 ZPO. Warum werden die Richter also so selten genannt? Mit der derzeitigen Zitierweise von Gerichtsentscheidungen, bei der die eigentlichen Urheber nicht genannt werden, gehen folgende fünf Probleme einher:

Pauschalisierung
Ein Gericht ist eine Institution. Eine Institution ist eine Hülle, die isoliert betrachtet handlungsunfähig ist; die Menschen in dieser Institution handeln in ihr und für sie. Es urteilen und beschließen also korrekterweise Richter und nicht das Gericht. Richter sind Menschen – und alle Menschen sind unterschiedlich. Ein Richter Bernd Besonnen, der das Recht stets nach bestem Wissen und Gewissen anwendet, hat mit einer Richterin Sibylle Schreihals, die eher von Emotionen getrieben ist, nichts gemein, auch wenn sie beide demselben Gericht angehören. Auch haben sie mit den Entscheidungen des jeweils anderen nichts zu tun, sofern sie nicht derselben Kammer angehören. Dennoch werden sie (zunächst) gleichgestellt, wenn man ihre Entscheidungen zitiert. Das hat bei Urteilen und Beschlüssen, die sich innerhalb der Norm, heißt innerhalb des Rechs bewegen, keine große Auswirkungen; dafür aber umso mehr bei sog. Justizirrtümern und Fehlurteilen, heißt absurden bzw. rechtswidrigen Entscheidungen. Denn mit einem Schlag, wie etwa der Zitierung des ganzen Gerichts statt der konkreten Richter, wird das Fehlverhalten von einem oder einiger auf alle anderen übertragen.

Fehlende Verantwortung
An die Pauschalisierung schließt sich die fehlende Verantwortung an. Das Auffällige daran ist, dass es grundsätzlich zwischen den Akteuren keine klare Verantwortung gibt; es ist halb Ping-Pong-, halb Versteckspiel: Die Richter unterzeichnen nur mit ihrem Nachnamen; im Vordergrund steht das Gericht, aber im Zweifelsfall haften die Richter; gleichzeitig sind die Amtshaftung und Rechtsbeugung in der Bundesrepublik Deutschland de facto pro-forma-Delikte, die nicht wirklich verfolgt werden, weil sonst jeder innerhalb der Justiz Angst haben müsste, dass er der Nächste wäre. Wenn nun auch noch diejenigen, die eine (auffällige) Entscheidung zitieren, nicht Ross und Reiter nennen, machen sie bei diesem Spiel der Verantwortungsabweisung mit. Der Richterberuf ist ein Beruf mit Verantwortung. Wer als Richter keine Verantwortung übernehmen will, versteht den Beruf nicht. Wer Richtern keine Verantwortung zuweisen will, versteht Verantwortung nicht. Wie wichtig das ist, zeigen Veröffentlichungen, die Richter auch beim Namen nennen und damit Verhaltensauffälligkeiten und Muster aufdecken. Durch diese Verantwortungszuweisung und Schaffung eines öffentlichen Verantwortungsbewusstseins, ist jeder zumindest vorgewarnt, mit wem er es zu tun hat, auch wenn seine rechtlichen Möglichkeiten gegen diesen vorzugehen gegen Null tendieren. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist der Fall Görgülü, bei dem die Richter eine Entscheidung der höheren bzw. höchsten Instanz bewusst nicht anwendeten und dennoch straffrei davonkamen.

Anonymität von Richtern trotz Öffentlichkeitsgrundsatz
Berufe spielen sich grundsätzlich in der öffentlichen Sphäre ab. Das heißt im Umkehrschluss, dass die Berufsausübung grundsätzlich nicht privat oder gar intim ist. Das gilt umso mehr für die Ausübung des Richterberufs, einem Beruf im öffentlichen Dienst und in einem Sektor mit ausdrücklich gesetzlich festgeschriebener Öffentlichkeit (Offentlichkeitsgrundsatz, vgl. § 169 Abs. 1 S.1 GVG; Art. 6 Abs. 1 EMRK; Art. 14 Abs. 1 S. 2 UN-Zivilpakt). Die Richter einer Gerichtsentscheidungen müssen daher weder anonymisiert werden noch stehen der Namensnennung Datenschutzgründe entgegen. Man stelle sich umgekehrt nur vor, man selbst müsse vor anonymen Richtern antreten oder Gerichtsverhandlungen seien geheim. So eine Hinterhof-Rechtsprechung will in der Regel kein Staat und kein Volk, das sich zumindest einem Mindestmaß an Rechtsstaatlichkeit – was auch mit Transparenz einhergeht – verschrieben hat. Gerade zur Förderung dieser Transparenz ist es geboten, die Richter eines (insbesondere auffälligen) Urteils oder Beschlusses nicht untergehen zu lassen, sondern aus der (vermeintlichen) Anonymität herauszuholen.

Mangelnde öffentliche Überwachung von Volksvertretern
Mehr Transparenz heißt auch bessere Überwachung. Das ist wichtig, weil die Judikative im Checks-and-Balances-Verhältnis zwischen den einzelnen Gewalten eine Sonderrolle inne hat: Die Rechtsprechung hat in der Bundesrepublik Deutschland nicht nur die Aufgabe, die Gesetzgebung und Verwaltung in tatsächlicher Hinsicht zu kontrollieren, sie kontrolliert sich als einzige Gewalt auch selbst. Das ist grundsätzlich keine gute Idee und keine angemessene, echte Kontrolle. Deshalb ist die sog. Vierte Gewalt, also die Überwachung des Staates durch Medien und Öffentlichkeit, bei der Rechtsprechung umso wichtiger. Bei der Zitierung von Gerichtsurteilen geht es nicht nur darum, dem Leser, Hörer, Zuschauer zu ermöglichen, diese selbst zu finden und nachzulesen. Es geht auch darum, dem Bürger aufzuzeigen, welcher Amtsträger „im Namen des Volkes“ was entschieden hat. Ein Richter hat in Bezug auf die Kräfteverhältnisse im Staat gegenüber einem Abgeordneten eine unmittelbar wirkende Macht, genießt aber weitaus weniger Aufmerksamkeit als dieser. Er handelt im Innenverhältnis zwar für den Staat, nach außen hin aber ebenfalls als Volksvertreter. Während Richter von Bundesgerichten ohnehin öffentlich stärker im Fokus stehen, wird vor allem Richtern der ersten beiden Instanzen mit einer Namensnennung mehr Aufmerksamkeit zuteil. Und genau das ist wichtig, weil gerade hier eine öffentliche Überwachung kaum stattfindet. Zumeist ist kein Gerichtspublikum anwesend und die wenigsten Gerichtsentscheidungen werden von den Gerichten selbst veröffentlicht – etwa 1 %. Während Bundesrichter wissen, dass sie mit jeder Entscheidung auch selbst als Urheber hervorgehoben werden, gehen Richter an Amts-, Land- und Oberlandesgerichten davon aus, dass ihr Urteil oder Beschluss keine oder kaum öffentliche Resonanz hervorruft.

Nicht nachvollziehbare Recht(sprechung)sentwicklung
Es kommt nicht selten vor, dass dasselbe Gericht in gleicher Sache mehrfach – und entgegen vorheriger Entscheidungen – urteilen muss, etwa wenn der BGH ein Urteil aufgehoben und zurückverwiesen hat. Wie lässt sich also dem unbedarften Dritten vermitteln, dass die Institution nicht schizophren ist? Indem man hervorhebt, dass nicht die Hülle, das Gericht, sondern die Personen in ihr, die Richter, jeweils andere Entscheidungen gefällt haben. Zudem kann sich bei ein und demselben Thema die „Meinung des Gerichts“ im Laufe der Jahre vermeintlich ändern. Ausschlaggebend dafür ist schlicht ein Wechsel der Richter. Es handelt sich also nicht um einen Meinungsänderung des Gerichts, sondern um Meinungen von anderen Richtern. Die Namensnennung zeigt hierbei deshalb deutlicher auf, wie genau, also auch anhand der Personen, sich die Rechtsprechung entwickelt hat.

Diese fünf Probleme versucht die Namensnennung von Richtern bei der Zitierung von Gerichtsentscheidungen zu beheben. Dagegen könnte man wiederum folgende drei Gegenargumente anführen:

Fokus auf Personen statt auf Sachentscheidung
Das Argument, dass sich durch die zusätzliche Namensnennung der Richter bei der Zitierung eines Urteils auch der Fokus ändern soll, von der Sache hin zu den Entscheidungsträgern, hält einer Überprüfung nicht stand. Durch diese kleine Formalie wird an der Sache selbst nichts verändert. Zum Wo, Wann, Wie/Warum wird schlicht das Wer hervorgehoben – nicht einmal aufgedeckt, da die Namen ohnehin in der Entscheidung stehen. Bei der Namensnennung von Richtern geht es also so gesehen um Metadaten.

Schwächung des Kollegialprinzips
Komplizierter ist es beim Argument der Schwächung des Kollegialprinzips. Im berühmten Fall Gustl Mollath warf z. B. einer der Schöffen dem vorsitzenden Richter Otto Brixner vor, die Verhandlung lautstark und teilweise schreiend geführt zu haben. Dennoch ist er Mitunterzeichner des Urteils. In der Geschäftsordnung des BGH von 1952 ist festgehalten, dass es jedem Richter freistehe, eine abweichende Meinung „in einem verschlossenen Umschlag zu den Akten zu geben“. Berühmter sind da die abweichenden Meinungen von Richtern des Bundesverfassungsgerichts. Entscheidend ist immer eine Mehrheit von Richtern. Auch zwei Schöffen können einen Berufsrichter überstimmen. Inwiefern verhält es sich also mit der Namensnennung von Richtern, die eine Entscheidung nach außen hin mittragen, jedoch innerlich dagegen sind? Letztlich kommt es auf die Außenwirkung an. Ihr Name steht in der Entscheidung. Wenn nun bei einem Zitat auch alle Namen genannt werden, führt das nicht per se zu einer Schwächung des Kollegialprinzips, weil es nur wiedergibt, was offenkundig ist. Das Innenverhältnis, also auch das Kollegialprinzip der Richter, wird also nicht berührt.

Erhöhter Druck auf Justiz bzw. Richter
Dass durch die Namensnennung auch ein erhöhter Druck auf Richter im Einzelnen und die Justiz im Ganzen ausgeübt wird, ist zutreffend – und gewollt, weil höherstehende Anliegen dem gegenüberstehen, nämlich das Interesse der Allgemeinheit auf Überwachung der Rechtsprechung, wie oben dargestellt. Wo staatlich keine wahrhaftige Kontrolle vorgesehen ist oder vollzogen wird, kann das Volk nur selbst die Überwachung im eigenen Interesse vornehmen.

Im Ergebnis ist es daher geboten, auch die Richter einer Gerichtsentscheidung zu nennen – gar hervorzuheben, wenn die Entscheidung besonders auffällig ist, in positiver oder negativer Hinsicht –, denn dadurch werden

  • die konkreten Urheber einer Entscheidung genannt statt paschal das Gericht als Institution vorzuschieben;
  • ein Verantwortungsbewusstsein sowie
  • eine wahre Gerichtsöffentlichkeit geschaffen,
  • die eine bessere öffentliche Überwachung der Justiz ermöglicht,
  • und schließlich die Recht(sprechung)sentwicklung durch die sie prägenden Amtsträger besser darstellt.

Die konkrete Umsetzung dieses Lösungsergebnisses ist einfach: Zitiert man ein Gerichtsurteil oder einen Beschluss im Schrift-, Ton-, oder Videoformat, sollten auch die Namen der Richter als Urheber der Entscheidung genannt werden. Etwa in der Form:

  • „In dem Urteil des Landgerichts Berlin vom 22.02.2022 durch den vorsitzenden Richter Max Mustermann, Martina Musterfrau und John Doe wurde entschieden, dass ...“
  • LG Nürnberg-Fürth, 08.08.2006 - 7 KLs 802 Js 4743/2003 (Richter: Otto Brixner, Petra Heinemann, Schöffe W., Schöffin H.)
  • Namen der Richter bei Volltextveröffentlichungen von Gerichtsentscheidungen (auf opinioiuris.de versuchen wir mit gutem Beispiel voranzugehen und nennen, sofern bekannt, die Richter einer Entscheidung stets mit, sie erscheinen entweder als Unterzeichnende am Ende einer Entscheidung oder am Anfang in einem Datenfeld).

Ein kleiner Zusatz – mit großer Wirkung. Wer in den Annalen der Rechtsprechung namentlich genannt wird, also selbst für das Entschiedene einstehen muss statt die Verantwortung auf die Institution zu schieben, handelt grundsätzlich besser. Und eine bessere Justiz ist im Interesse aller.