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Art. 2 GG - Persönliche Freiheitsrechte (Kommentar)
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.
(2) ¹Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. ²Die Freiheit der Person ist unverletzlich. ³In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
- 1. Allgemeines
- 2. Historische Entwicklung
- 2.1. Ziel des Art. 2 GG: Unterdrückung des Individuums durch den Staat verhindern
- 2.2. Erfahrungen aus der Weimarer Republik
- 2.3. Der Entstehungsprozess von Art. 2 GG
- 2.4. Die Verbindung zu internationalen Menschenrechtskonventionen
- 2.5. Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Art. 2 GG in der Rechtsprechung
- 3. Art. 2 Abs. 1 GG
- 4. Art. 2 Abs. 2 GG
1. Allgemeines
Art. 2 GG, der die persönlichen Freiheitsrechte schützt, ist ein zentraler Bestandteil des Grundgesetzes. Der erste Absatz garantiert die allgemeine Handlungsfreiheit, das heißt, jeder Mensch darf grundsätzlich tun und lassen, was er will. Diese Freiheit wird nur durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz begrenzt. Der zweite Absatz schützt das Leben und die körperliche Unversehrtheit jedes Menschen. Eingriffe in diese Rechte sind nur auf Grundlage eines Gesetzes zulässig. Ein Eingriff in den Schutzbereich von Art. 2 GG liegt vor, wenn das grundrechtlich geschützte Verhalten erschwert oder unmöglich gemacht wird. Dies kann sowohl durch staatliche Maßnahmen als auch durch Handlungen Dritter geschehen.
2. Historische Entwicklung
2.1. Ziel des Art. 2 GG: Unterdrückung des Individuums durch den Staat verhindern
Nach dem Zweiten Weltkrieg und den Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes stand der Verfassungsgebungsprozess in Deutschland unter dem Eindruck des „Nie wieder“. Die Ausarbeitung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat war geprägt von dem Bestreben, die individuelle Freiheit und Würde des Menschen als unveräußerlich zu garantieren. Vor allem die Erfahrung des nationalsozialistischen Totalitarismus und die Einschränkungen von Grundrechten, wie sie im NS-Staat vorherrschten, gaben den Anstoß zu einer verfassungsrechtlichen Neuordnung.
Das deutsche Grundgesetz, das am 24. Mai 1949 in Kraft trat, sollte einen Rahmen schaffen, in dem individuelle Freiheit und staatliche Macht in einem klar definierten Gleichgewicht stehen. Die Grundrechte, verankert in den Artikeln 1 bis 19 des Grundgesetzes, bilden das Herzstück dieses Rahmens und sollen, insbesondere durch Art. 2 GG, eine erneute Unterdrückung des Individuums durch den Staat verhindern.
2.2. Erfahrungen aus der Weimarer Republik
Die Idee von Grundrechten war bereits in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 enthalten, insbesondere im zweiten Hauptteil der Verfassung, der die „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ regelte. Diese Grundrechte wurden jedoch unter der Präsidentschaft von Reichspräsident Paul von Hindenburg im Jahr 1933 durch die sogenannte „Reichstagsbrandverordnung“ (Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat) faktisch außer Kraft gesetzt.1 Diese Verordnung markierte den Beginn der Aufhebung individueller Freiheitsrechte und leitete die Phase der nationalsozialistischen Diktatur ein, in der Grundrechte und Grundfreiheiten systematisch verletzt wurden. Vor diesem Hintergrund war es ein zentrales Anliegen des Parlamentarischen Rates, die Grundrechte im neuen Verfassungsgefüge stärker zu verankern und ihre Unantastbarkeit zu garantieren. Dies führte zur Formulierung des Artikels 1 GG, der die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt, sowie des Artikels 2 GG, der die individuellen Freiheitsrechte umfassend schützt.
2.3. Der Entstehungsprozess von Art. 2 GG
Der Artikel 2 des Grundgesetzes spiegelt die Bemühungen des Parlamentarischen Rates wider, die individuelle Freiheit umfassend zu garantieren und dabei gleichzeitig den Rahmen für legitime staatliche Eingriffe festzulegen. Bereits während der Beratungen im Parlamentarischen Rat wurde die Bedeutung dieses Artikels intensiv diskutiert.
In der frühen Phase der Beratungen ging es vor allem um die Frage, wie weit die Handlungsfreiheit des Einzelnen reichen sollte. Dabei stand die Idee der „allgemeinen Handlungsfreiheit“ im Raum, die dem Einzelnen die Freiheit zusichert, zu tun und zu lassen, was er möchte, solange er nicht die Rechte anderer verletzt oder gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Diese weite Formulierung war eine Reaktion auf die Eingriffe in die persönliche Freiheit, die während der nationalsozialistischen Diktatur üblich waren.
Art. 2 Abs. 2 GG wurde ebenfalls in den frühen Beratungen des Parlamentarischen Rates konzipiert. Dieser Absatz konkretisiert das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit sowie die Freiheit der Person. Er wurde mit Blick auf die Erfahrungen von staatlicher Willkür und Gewalt während des Nationalsozialismus als besonders schutzwürdig angesehen. Der Gesetzesvorbehalt in Satz 3, wonach Eingriffe in diese Rechte nur „auf Grund eines Gesetzes“ zulässig sind, war von Anfang an ein zentrales Element, um den Schutz dieser Grundrechte abzusichern.
2.4. Die Verbindung zu internationalen Menschenrechtskonventionen
Die Grundrechte im Grundgesetz, insbesondere der Art. 2 GG, sind auch von internationalen Menschenrechtsbewegungen beeinflusst. Der Parlamentarische Rat hatte bei der Formulierung der Grundrechte, insbesondere in Art. 2 GG, den im Jahr 1948 verabschiedeten Katalog der Menschenrechte der Vereinten Nationen (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte) im Blick. Art. 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte lautet: „Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person“. Diese Formulierung findet sich nahezu wortgleich in Art. 2 Abs. 2 GG wieder.
Auch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die 1950 verabschiedet wurde und die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1952 unterzeichnete, enthält ähnliche Garantien. Artikel 5 der EMRK sichert die Freiheit und Sicherheit der Person, während Artikel 2 das Recht auf Leben schützt. Die Grundrechte des Grundgesetzes und die EMRK stehen seither in einem engen Wechselverhältnis, und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) beeinflusst auch die deutsche Grundrechtsauslegung.
2.5. Die verfassungsrechtliche Entwicklung von Art. 2 GG in der Rechtsprechung
Art. 2 GG hat sich seit seiner Verabschiedung zu einem der am meisten diskutierten Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt. Die Rechtsnorm bildet die Grundlage für zahlreiche bedeutende Entscheidungen, insbesondere im Bereich des Abwägens individueller Freiheitsrechte und staatlicher Eingriffsbefugnisse.
3. Art. 2 Abs. 1 GG
„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“
3.1. Einleitung
Artikel 2 Absatz 1 GG ist eine der zentralen Vorschriften des Grundgesetzes, die die allgemeine Handlungsfreiheit des Einzelnen in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gewährleistet. Diese Norm bildet das Fundament für eine Vielzahl von individuellen Freiheitsrechten und schützt den Einzelnen in seiner Fähigkeit, eigene Lebensentscheidungen zu treffen und seine Persönlichkeit nach eigenen Vorstellungen zu entfalten. In gewisser Weise ist der Artikel als „Auffanggrundrecht“ zu verstehen, da er auch all jene Lebensbereiche und Handlungen umfasst, die nicht durch spezifische Freiheitsrechte geschützt werden.
3.2. Schutzbereich
3.2.1. Persönlicher Schutzbereich
Art. 2 Abs. 1 GG gewährt das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit „jedem“. Unter „jedem“ versteht man sowohl natürliche Personen als auch – unter bestimmten Bedingungen – juristische Personen des Privatrechts (vgl. Art. 19 Abs. 3 GG). Der persönliche Schutzbereich umfasst somit grundsätzlich alle Menschen, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit oder ihrem Aufenthaltsstatus. Anders als bei vielen anderen Grundrechten, die ausdrücklich auf „Deutsche“ beschränkt sind (z.B. Art. 8 oder Art. 9 GG), gilt das Recht aus Art. 2 Abs. 1 GG universell.
3.2.2. Sachlicher Schutzbereich
Der sachliche Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG umfasst nach seinem Wortlaut zunächst das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Aus dieser offenen Formulierung werden zwei unterschiedliche Grundrechte differenziert.
3.2.2.1. Allgemeine Handlungsfreiheit
Schon seit dem Elfes-Urteil2 (1957) versteht das Bundesverfassungsgericht den Art. 2 Abs. 1 GG so, dass dieser ein Grundrecht gewährt, dass jedes erdenkliche Verhalten schützt.3 Das gilt auch grundsätzlich unabhängig davon, wie sehr das Verhalten der Persönlichkeitsentfaltung dient.4 Auf ersten Blick mag das ausufernd erscheinen. Allerdings findet diese Handlungsfreiheit nur dann Anwendung, wenn nicht bereits der Schutzbereich eines anderen Grundrechts eröffnet ist.5 Sie ist damit subsidiär, also lediglich allgemein. Der Hintergrundgedanke dieser weiten Rechtsprechung ist, dass dadurch die allgemeine Handlungsfreiheit ein Auffanggrundrecht darstellt.6 Besonders relevant wird diese Funktion dann, wenn jemand ein Deutschengrundrecht nicht für sich beanspruchen kann, da er oder sie nicht die deutsche Staatsangehörigkeit hat und nicht statusdeutsch ist. Gäbe es dann nicht das Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG, so wären diese Menschen schutzlos - ein unerwünschtes Ergebnis.
3.2.2.2. Allgemeines Persönlichkeitsrecht
Aus Art. 2 Abs. 1 GG wird in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (der Menschenwürde) ein weiteres Grundrecht abgeleitet: Das allgemeine Persönlichkeitsrecht. Zuerst geschah das in der Schachtbrief-Entscheidung des Bundesgerichtshofs.7 Diese Entwicklung wurde dann vom Bundesverfassungsgericht übernommen. Damit stellt das allgemeine Persönlichkeitsrecht, das eben nicht ausdrücklich in Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 GG normiert ist, einen Fall von richterlicher Rechtsfortbildung dar.8
Eine Definition dieses Grundrechts fällt schwer. Es gibt Ansätze, die es als menschliches Sein im Gegensatz zum Tun definieren.9 Andererseits wird auch angenommen, es schütze den Bereich des persönlichen Lebens und die Bewahrung der Grundlagen dafür.10 Diese Definitionen erzielen jedoch kein besseres Verständnis. Persönlichkeitsrechte sind zu abstrakt, um sie in einem Satz zusammenzufassen. Stattdessen besteht das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus verschiedenen Fallgruppen. Dadurch, dass dieses Grundrecht durch richterliche Rechtsfortbildung geschaffen wurde, können so auch stets neue solcher Gruppen entwickelt werden, wenn gesellschaftliche Umstände das erfordern. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht ist daher offen für Entwicklungen.11
Zu den Fallgruppen gehören insbesondere das Recht am eigenen Bild, das Recht am eigenen Wort, das Recht zur persönlichen Ehre, das Recht zu bestimmen, inwiefern das eigene Leben der Öffentlichkeit präsentiert werden soll, und das Recht, über Einblicke in die eigene Intimsphäre zu bestimmen.12
Eine eigene Fallgruppe in Form eines (ausdrücklichen) Rechts auf Vergessenwerden im Internet ist noch nicht ausdrücklich anerkannt aber überzeugend, da so individueller auf Fallkonstellationen von Persönlichkeitsrechtsverletzungen im Internet, insbesondere durch Künstliche Intelligenz, eingegangen werden kann, indem hierfür eigene Beurteilungsmaßstäbe gesetzt werden können.13 Schließlich steht das allgemeine Persönlichkeitsrecht als Werk richterlicher Rechtsfortbildung für eine solche Entwicklungen auch offen. Letztlich besteht auch noch das Recht, über die Erhebung und Verarbeitung von personenbezogenen Daten zu bestimmen (Recht auf informationelle Selbstbestimmung), als eigene Fallgruppe.14
3.3. Eingriff
Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG liegt vor, wenn der Staat Handlungen setzt, die die individuelle Handlungsfreiheit oder die Persönlichkeitsentfaltung beschränken oder unmöglich machen. In Betracht kommen dabei sowohl unmittelbare als auch mittelbare Eingriffe, etwa durch gesetzliche Vorschriften, Verwaltungsakte oder die Untätigkeit staatlicher Organe. Auch faktische Beeinträchtigungen, etwa durch gesetzliche Regelungen, die bestimmte Verhaltensweisen unmöglich machen, sind als Eingriffe zu werten.
Ein Beispiel für einen Eingriff wäre ein Gesetz, das die freie Berufswahl beschränkt, eine polizeiliche Maßnahme, die die Teilnahme an einer öffentlichen Demonstration untersagt, oder die staatliche Überwachung des persönlichen Lebensbereichs ohne rechtliche Grundlage.
3.4. Schranken
3.4.1. Verfassungsmäßige Ordnung
Die Schranke der „verfassungsmäßigen Ordnung“ bildet eine der zentralen Grenzen der allgemeinen Handlungsfreiheit. Sie umfasst die Gesamtheit aller Normen, die formell und materiell mit der Verfassung im Einklang stehen, d.h. nicht nur die Normen der Verfassung selbst, sondern auch einfache Gesetze, sofern sie verfassungsmäßig sind. Der Begriff ist also weit gefasst und schließt sämtliche gesetzlichen Vorschriften ein, die vom Gesetzgeber im Rahmen seiner verfassungsmäßigen Befugnisse erlassen wurden.
3.4.2. Rechte anderer
Die freie Entfaltung der Persönlichkeit endet dort, wo die Rechte anderer verletzt werden. Dies betrifft vor allem die Grundrechte anderer Personen, wie z.B. das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) oder das Recht auf Eigentum (Art. 14 GG). Es muss also stets eine Abwägung zwischen der individuellen Freiheit und den Rechten Dritter stattfinden.
3.4.3. Sittengesetz
Die Schranke des „Sittengesetzes“ ist eher als historisch zu verstehen und spielt in der modernen verfassungsrechtlichen Praxis eine geringe Rolle. Sie verweist auf die allgemeine Vorstellung von moralisch richtigem und falschem Verhalten, die jedoch aufgrund ihrer Vagheit und der Vielzahl möglicher Interpretationen selten als entscheidende Schranke herangezogen wird. Moderne Ansätze zur Auslegung dieser Schranke legen den Fokus eher auf die Rechte anderer und die verfassungsmäßige Ordnung.
3.5. Verhältnismäßigkeit
Jede Einschränkung des Art. 2 Abs. 1 GG durch den Staat muss den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Dies bedeutet, dass staatliche Maßnahmen, die in die allgemeine Handlungsfreiheit eingreifen, nur dann zulässig sind, wenn sie einem legitimen Zweck dienen, geeignet und erforderlich sind und im engeren Sinne verhältnismäßig sind, d.h. die Schwere des Eingriffs im Verhältnis zum verfolgten Zweck nicht übermäßig ist.
Dieser Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dient als wichtiger Kontrollmechanismus, um sicherzustellen, dass die freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht unangemessen eingeschränkt wird.
Hinsichtlich des allgemeinen Persönlichkeitsrechts teilte das Bundesverfassungsgericht dieses früher vermeintlich in verschiedene Sphären auf: Intimsphäre, Privatsphäre und Sozialsphäre, was sich jedoch niemals in zufriedenstellender Klarheit aus der Rechtsprechung ergab.15 Je nachdem, zu welcher Sphäre ein Verhalten zuzuordnen war, ergaben sich dann wohl unterschiedliche Maßstäbe für die Verhältnismäßigkeit. Problematisch war jedoch hieran, dass die Zuordnung eines Verhaltens zu den verschiedenen Sphären nicht rechtssicher genug vorgenommen werden konnte.16 Die Begriffe sind schlicht zu unbestimmt. Es gibt jedoch eine Schnittmenge an Persönlichkeitsrechtsverletzungen, die zugleich auch die Menschenwürde verletzen. Dann ist ein Eingriff unter keinen Umständen rechtfertigbar. Jeder Eingriff in die Menschenwürde ist auch automatisch eine Verletzung dieser.17 Im Ergebnis ist und bleibt die Verhältnismäßigkeit von Eingriffen in das allgemeine Persönlichkeitsrecht aber eine Einzelfallentscheidung anhand aller vorliegenden Umstände.
3.6. Rechtsprechung
Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat den Anwendungsbereich des Art. 2 Abs. 1 GG entscheidend geprägt und konkretisiert. In zahlreichen Entscheidungen hat das Gericht das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG (Würde des Menschen) als eigenständiges Grundrecht anerkannt. Dies betrifft insbesondere den Schutz der Privatsphäre, das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und das Recht am eigenen Bild.
Ein Beispiel hierfür ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum „Volkszählungsurteil“ (BVerfGE 65, 1), in dem das Gericht das Recht auf informationelle Selbstbestimmung als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts entwickelt hat. Dieses Urteil hat weitreichende Konsequenzen für den Datenschutz in Deutschland gehabt und den Grundstein für die moderne Datenschutzgesetzgebung gelegt.
4. Art. 2 Abs. 2 GG
„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.“
4.1. Einleitung
Artikel 2 Abs. 2 GG stellt einen der zentralen Schutzartikel des Grundgesetzes dar, der die höchsten Rechtsgüter des Einzelnen – Leben, körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person – unter den Schutz der Verfassung stellt. Diese Grundrechte garantieren jedem Menschen grundlegende Existenzbedingungen und sichern elementare Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben. Sie gehören zu den klassischen Menschenrechten und haben sich in der rechtlichen und philosophischen Tradition der Aufklärung entwickelt, insbesondere als Antwort auf willkürliche staatliche Eingriffe in das Leben, die Freiheit und körperliche Unversehrtheit der Menschen. Das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit der Person sind nicht nur subjektive Abwehrrechte gegenüber dem Staat, sondern auch objektive Werteentscheidungen des Grundgesetzes, die den Staat zu einem umfassenden Schutz dieser Rechtsgüter verpflichten.
4.2. Schutzbereiche
4.2.1. Rechts auf Leben
Das Recht auf Leben umfasst den Schutz des physischen Daseins des Menschen von der Geburt bis zum Tod. Es garantiert, dass der Staat das Leben des Einzelnen nicht willkürlich beeinträchtigen oder beenden darf. Der Schutz des Lebens beinhaltet das Verbot von staatlich angeordneten oder zugelassenen Tötungen, z.B. durch die Todesstrafe oder durch unverhältnismäßige staatliche Zwangsmaßnahmen.
Besonderen verfassungsrechtlichen Schutz erhält das menschliche Leben nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits ab dem Zeitpunkt der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle, also ab der Nidation des Embryos (BVerfGE 39, 1 – Abtreibungsurteil). Das Recht auf Leben ist also nicht nur auf das geborene menschliche Leben beschränkt, sondern umfasst auch das ungeborene menschliche Leben.
Der Schutzbereich endet mit dem biologischen Tod. Die Bestimmung des Todeszeitpunktes ist eine rechtliche und medizinische Frage, wobei in der deutschen Rechtsordnung üblicherweise der Hirntod als maßgeblich angesehen wird.
4.2.2. Rechts auf körperliche Unversehrtheit
Das Recht auf körperliche Unversehrtheit umfasst den Schutz der physischen und psychischen Integrität des Menschen. Es betrifft den Schutz vor Eingriffen in die körperliche Gesundheit sowie die Unversehrtheit des Körpers. Dies beinhaltet sowohl den Schutz vor physischen Verletzungen als auch den Schutz vor psychischen Beeinträchtigungen.
In der Praxis ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit in vielfältiger Weise betroffen, beispielsweise bei medizinischen Eingriffen, staatlichen Zwangsmaßnahmen wie Haft oder Durchsuchungen, aber auch bei polizeilichen Maßnahmen, die zu körperlichen Beeinträchtigungen führen könnten.
Neben dem Schutz vor direkten körperlichen Eingriffen umfasst das Grundrecht auch den Schutz vor indirekten Eingriffen in die Gesundheit, z.B. durch Umweltverschmutzung oder gefährliche Arbeitsbedingungen.
4.2.3. Freiheit der Person
Die Freiheit der Person ist eines der elementarsten Grundrechte und schützt die körperliche Bewegungsfreiheit, d.h. die Freiheit des Menschen, sich nach seinem Willen von einem Ort zum anderen zu bewegen. Das Grundrecht verbietet insbesondere staatliche Eingriffe in diese Bewegungsfreiheit, wie sie etwa durch Verhaftungen, Freiheitsentziehungen oder andere Zwangsmaßnahmen erfolgen.
Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG ist eng mit Art. 104 GG verknüpft, der spezifische Regelungen für Freiheitsentziehungen und -beschränkungen enthält. Art. 104 GG konkretisiert die Anforderungen an gesetzliche Eingriffe in die Freiheit der Person und stellt sicher, dass diese nur aufgrund einer richterlichen Entscheidung und unter strikter Beachtung der gesetzlichen Vorschriften erfolgen dürfen.
4.3. Eingriffe
Ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 2 GG liegt vor, wenn der Staat Maßnahmen ergreift, die Leben, körperliche Unversehrtheit oder die Freiheit der Person beeinträchtigen. Eingriffe können sowohl direkt als auch indirekt erfolgen. Beispielsweise stellen staatlich angeordnete Haft oder polizeiliche Maßnahmen, die zu physischen Verletzungen führen, direkte Eingriffe in das Grundrecht auf Freiheit der Person und körperliche Unversehrtheit dar.
Zu den möglichen Eingriffen gehören:
- Recht auf Leben: Tötungen durch den Staat oder durch staatliche Organe, z.B. im Rahmen von polizeilichen Maßnahmen oder militärischen Einsätzen.
- Körperliche Unversehrtheit: Staatlich angeordnete medizinische Eingriffe, Zwangsimpfungen, Folter oder physische Gewalt durch staatliche Organe.
- Freiheit der Person: Freiheitsentziehungen wie Verhaftungen, Untersuchungshaft, Strafhaft, Sicherungsverwahrung, Unterbringung in psychiatrischen Einrichtungen oder die zwangsweise Vorführung zu einem Gerichtstermin.
4.4. Schranken
4.4.1. Gesetzesvorbehalt
Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG sieht einen einfachen Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in die geschützten Rechtsgüter vor. Dies bedeutet, dass Eingriffe in das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person nur auf der Grundlage eines Gesetzes oder einer gesetzlichen Ermächtigung erfolgen dürfen.
Wichtig ist, dass der Gesetzesvorbehalt den Eingriff nicht rechtfertigt, sondern lediglich die formelle Grundlage dafür bildet. Der Eingriff selbst muss stets den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit genügen, d.h. er muss einem legitimen Zweck dienen, geeignet, erforderlich und im engeren Sinne verhältnismäßig sein.
4.4.2. Besondere Schranken für die Freiheit der Person (Art. 104 GG)
Art. 104 GG enthält spezifische Regelungen für Eingriffe in die Freiheit der Person. Freiheitsentziehungen dürfen nur aufgrund einer richterlichen Anordnung erfolgen und müssen den Anforderungen des Art. 104 GG entsprechen. Diese Normen sichern insbesondere die verfahrensrechtliche Kontrolle von Maßnahmen, die in die persönliche Freiheit eingreifen.
4.5. Verhältnismäßigkeit
Die Verhältnismäßigkeit stellt ein zentrales Prinzip bei Eingriffen in Art. 2 Abs. 2 GG dar. Jeder Eingriff in die geschützten Rechtsgüter muss verhältnismäßig sein, d.h. er muss einem legitimen Zweck dienen und darf nicht über das erforderliche Maß hinausgehen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz setzt sich aus vier Stufen zusammen:
- Legitimer Zweck: Der staatliche Eingriff muss einem Zweck dienen, der im Einklang mit der Verfassung steht, z.B. der Schutz der öffentlichen Sicherheit oder der Schutz der Rechte anderer.
- Geeignetheit: Der Eingriff muss geeignet sein, den angestrebten Zweck zu fördern.
- Erforderlichkeit: Es darf kein milderes Mittel existieren, das gleichermaßen geeignet ist, den Zweck zu erreichen, aber den Grundrechtsträger weniger belastet.
- Angemessenheit: Der Eingriff darf nicht außer Verhältnis zum angestrebten Zweck stehen, d.h., die Schwere des Eingriffs muss im Verhältnis zur Bedeutung des verfolgten Ziels stehen.
4.6. Schutzpflichten des Staates
Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG beinhaltet nicht nur Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe, sondern auch Schutzpflichten des Staates. Der Staat ist verpflichtet, das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person aktiv zu schützen und Maßnahmen zu ergreifen, um diese Rechtsgüter vor Beeinträchtigungen durch Dritte zu bewahren.
Ein Beispiel für diese Schutzpflicht ist das Verbot der Todesstrafe (Art. 102 GG), aber auch der Erlass von Strafgesetzen zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit und der Freiheit der Person, z.B. im Strafgesetzbuch (StGB), das Taten wie Mord, Körperverletzung und Freiheitsberaubung unter Strafe stellt.
Das Bundesverfassungsgericht hat diese Schutzpflichten in seiner Rechtsprechung mehrfach konkretisiert. So hat es in Fällen staatlicher Untätigkeit festgestellt, dass der Staat gegen Grundrechte verstößt, wenn er es versäumt, hinreichende Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um etwa das Leben von Menschen zu schützen (BVerfGE 39, 1 – Abtreibungsurteil). Ein anderes prominentes Beispiel für eine solche Schutzpflicht ergibt sich aus der Rechtsprechung zum Luftsicherheitsgesetz (BVerfGE 115, 118), wo es um die Abwägung zwischen dem Schutz des Lebens Unschuldiger und der Abwehr eines terroristischen Angriffs ging. Das Gericht entschied, dass eine gezielte Tötung Unschuldiger durch den Staat nicht zulässig sei, da der Schutz des Lebens ein absolutes Gut darstellt, das nicht zur Disposition steht.
- 1. bpb: Reichstagsbrand – auf dem Weg in die Diktatur.
- 2. BVerfGE 6, 32 - Elfes.
- 3. Barczak, in: Dreier, Grundgesetz. Kommentar, 4. Auflage 2023, Art. 2 Abs. 1 Rn. 31.
- 4. ebd.
- 5. Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz. Kommentar, 104. EL April 2024, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 21.
- 6. ebd.
- 7. BGHZ 13, 334 - Schachtbrief
- 8. Barczak, in: Dreier, Grundgesetz. Kommentar, 4. Auflage 2023, Art. 2 Abs. 1 Rn. 76.
- 9. Rixen, in: Sachs, Grundgesetz. Kommentar, 10. Auflage 2024, Art. 2 GG Rn. 59.
- 10. Di Fabio, in: Dürig/Herzog/Scholz, Grundgesetz. Kommentar, 104. EL April 2024, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 147.
- 11. Barczak, in: Dreier, Grundgesetz. Kommentar, 4. Auflage 2023, Art. 2 Abs. 1 Rn. 76.
- 12. Weiterführend Eichberger, in: Huber/Voßkuhle, Grundgesetz. Kommentar, 8. Auflage 2024, Art. 2 GG Rn. 152 mWn.
- 13. Ausführlich Diesterhöft, Das Recht auf medialen Neubeginn, 2014, S. 89, 103, 150 ff.; Barczak, in: Dreier, Grundgesetz. Kommentar, 4. Auflage 2023, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 83 ff.; Schüpferling, Das Vergessenwerden im Internet, Ein verfassungsrechltiches Problem?, 2023, S. 3 ff.
- 14. Kunig/Kämmerer, in v. Münch/Kunig, Grundgesetz. Kommentar, 7. Auflage 2021, Rn. 76 f.
- 15. Eichberger, in: Huber/Voßkuhle, Grundgesetz. Kommentar, 8. Auflage 2024, Art. 2 GG Rn. 173.
- 16. ebd.
- 17. Augsberg, in: Huber/Voßkuhle, Grundgesetz. Kommentar, 8. Auflage 2024, Art. 1 GG Rn. 57.