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Testierfähigkeit bei Demenz und psychischen Störungen – Dogmatik, Medizin und Rechtsprechung
Die Testierfreiheit des Erblassers gehört zum Kernbereich der erbrechtlichen Privatautonomie. Sie wird sowohl als Institutsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG als auch als Ausdruck persönlicher Freiheit verstanden. Gleichwohl schützt das Gesetz nicht jede beliebige, sondern nur eine selbstbestimmte und eigenverantwortete Verfügung von Todes wegen. Wo krankheitsbedingte Störungen, Demenz, Wahn, Delir oder ausgeprägte Fremdbeeinflussung die freie Willensbildung aufheben, schlägt die Waage zugunsten des Schutzes. Die Testierfähigkeit fungiert damit als Filter: Nur der, der die Tragweite seiner Anordnungen versteht und eigenständig abwägt, darf den Nachlass gestalten.
Die Praxis zeigt, dass Streit um Testierfähigkeit häufig die eigentliche materielle Auseinandersetzung ersetzt. Hinter dem Schlagwort „Erbschleicherei“ verbergen sich komplexe Gemengelagen aus Krankheit, Pflege, familiären Loyalitäten und ökonomischen Interessen. Gleichzeitig ist die Beweisführung schwierig, weil die maßgebliche geistige Verfassung des Erblassers nur rückschauend, auf Basis von Akten, Zeugenaussagen und Gutachten rekonstruiert werden kann. Gerade deshalb kommt der dogmatisch klaren Strukturierung des § 2229 BGB und einer sorgfältigen Einbindung medizinischer Erkenntnisse besondere Bedeutung zu.
- 1. Dogmatische Grundlagen des § 2229 BGB
- 2. Medizinische Grundlagen der Testierfähigkeit
- 3. Rechtsprechung zu Demenz, Wahn und „luziden Intervallen“
- 4. Einflussnahme, „Erbschleicherei“ und Grenzen der freien Willensbildung
- 5. Rolle des Notars und notarielle Feststellungen
- 6. Beweislast, Beweismaß und Beweisführung
- 7. Synthese und Bewertung
- 8. Schlussbemerkung
1. Dogmatische Grundlagen des § 2229 BGB
§ 2229 Abs. 4 BGB definiert Testierunfähigkeit in negativer Form: Testierunfähig ist, wer infolge krankhafter Störung der Geistestätigkeit, Geistesschwäche oder Bewusstseinsstörung nicht in der Lage ist, die Bedeutung einer von ihm abgegebenen Willenserklärung einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Die Vorschrift verlangt damit eine dreistufige Prüfung: Es bedarf erstens einer Störung im Sinne eines der genannten Tatbestände, zweitens muss diese Störung die Einsichts- oder Handlungsfähigkeit betreffen und drittens kausal dafür sein, dass eine freie Willensbildung bezogen auf die konkrete Verfügung nicht mehr möglich ist.
Die Testierfähigkeit ist eine besondere Ausprägung der Geschäftsfähigkeit, aber nicht vollständig mit ihr deckungsgleich. So beginnt die Testierfähigkeit bereits mit Vollendung des 16. Lebensjahres (§ 2229 Abs. 1 BGB), während Minderjährige nach allgemeinem Delikts- und Vertragsrecht eingeschränkt oder gar nicht geschäftsfähig sein können. Umgekehrt kann ein erkrankter Volljähriger geschäftsunfähig, aber noch testierfähig sein, wenn er die vergleichsweise „einfachere“ Entscheidung über die Nachlassverteilung noch versteht, während komplexe Vertragsgestaltungen seine Fähigkeiten bereits übersteigen. Dogmatisch herrscht Einigkeit, dass Testierfähigkeit auf die konkrete Verfügung bezogen relativ zu denken ist: Je komplexer und vielschichtiger die testamentarische Gestaltung, desto höhere Anforderungen sind an die geistige Leistungsfähigkeit zu stellen.
Zeitlich maßgeblich ist der Moment der Testamentserrichtung. Beim eigenhändigen Testament ist dies regelmäßig die Unterschrift; beim öffentlichen Testament ist zwischen Erklärung gegenüber dem Notar und Genehmigung der Niederschrift zu differenzieren. Störungen vor oder nach diesem Zeitpunkt sind nur insoweit relevant, als aus ihnen – im Wege des Anscheins oder der indiziellen Beweiswürdigung – Rückschlüsse auf die Situation im Errichtungszeitpunkt gezogen werden können.
2. Medizinische Grundlagen der Testierfähigkeit
Die unbestimmten Rechtsbegriffe des § 2229 Abs. 4 BGB lassen sich ohne medizinische Kategorien nicht sinnvoll füllen. Die forensisch-psychiatrische Literatur benennt typische psychopathologische Befundkonstellationen, die eine freie Willensbildung ausschließen oder jedenfalls ernsthaft infrage stellen können. Genannt werden insbesondere Störungen der zeitlichen und örtlichen Orientierung, schwer erkennbare Wahnsyndrome mit wahnhaftem Misstrauen und Realitätsverkennungen, ausgeprägte Gedächtnisstörungen, formale Denkstörungen, schwere affektive Störungen, Persönlichkeitsveränderungen und abnorme Fremdbeeinflussbarkeit bei fehlender kritischer Distanz.
Demenz nimmt eine zentrale Stellung ein. Sie ist definiert als fortschreitendes demenzielles Syndrom mit Störungen von Gedächtnis, Orientierung, Denken und Verhalten. Die neuere Literatur betont, dass leichte bis mittelgradige Demenz Testierunfähigkeit nicht zwingend begründet; maßgeblich ist stets, ob der Erblasser noch in der Lage war, die Folgen seiner konkreten Anordnung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht zu überblicken und die Gründe für und gegen seine Verfügung abzuwägen. Cording und andere heben hervor, dass die Kritik- und Urteilsfähigkeit nicht allein vom Abruf alter Erinnerungen abhängt, sondern vom Verarbeiten aktueller Informationen und deren Einordnung in das eigene Wertesystem.
Die Rechtsprechung zeigt dies deutlich: Das OLG Düsseldorf hat ausdrücklich klargestellt, dass eine Demenz – jedenfalls in leichter bis mittelgradiger Ausprägung – nicht automatisch zur Testierunfähigkeit führt. Entscheidend sei, ob die Krankheit im konkreten Einzelfall die Einsichts- und Willensbildungsfähigkeit im Zeitpunkt der Testamentserrichtung aufgehoben habe (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 15.6.2015 – I-3 Wx 103/14, FamRZ 2015, 2088).
Demgegenüber steht die Konstellation der chronisch-progredienten Demenz. Hier hat das OLG München in einem viel beachteten Beschluss zur Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung entschieden, dass bei feststehender Testierunfähigkeit aufgrund einer solchen Erkrankung „lichte Momente“ mit Wiedererlangen der Urteilsfähigkeit praktisch ausgeschlossen sind (OLG München, Beschl. v. 1.7.2013 – 31 Wx 266/12, NotBZ 2013, 355; so auch Kappler in Erman, unter Hinweis auf München ZEV 2013, 504). Der Sachverständige hatte überzeugend dargelegt, dass bei chronisch-progredienten Störungen wie demenziellen Syndromen kein medizinisches Korrelat für kurzfristige Rückkehr zu voller Testierfähigkeit existiert.
Delirien und Intoxikationen stellen demgegenüber typischerweise akute, fluktuierende Zustände dar. Alkohol- oder medikamenteninduzierte Bewusstseinsstörungen können die Fähigkeit zur freien Willensbildung zeitweise vollständig aufheben, sich in der Folge aber wieder zurückbilden. Für die Testierfähigkeit bedeutet dies, dass sie innerhalb kurzer Zeiträume wechseln kann. Die Beweisführung hat deshalb genau den Zeitpunkt der Errichtung zu erfassen; der Umstand, dass der Erblasser vor oder nach der Testamentserrichtung delirant war, genügt für sich genommen nicht.
Besondere Aufmerksamkeit verdienen wahnhaft-paranoide Störungen. Wetterling beschreibt wahnhaftes Misstrauen, Verfolgungswahn und wahnartige Realitätsverkennungen als typische Konstellationen, in denen der Erblasser nicht mehr in der Lage ist, die sittliche Berechtigung seiner Anordnungen sachgerecht zu beurteilen. Entscheidend ist, ob sich die Wahnvorstellungen inhaltlich auf für die Testamentserrichtung wesentliche Sachverhalte erstrecken, insbesondere auf die Bewertung naher Angehöriger.
Diagnostisch arbeitet die forensische Psychiatrie mit einer Kombination aus Anamnese, Auswertung von Krankenakten, Pflegegutachten, Betreuungsakten, Reha- und Pflegeberichten, neuropsychologischen Tests und standardisierten psychometrischen Verfahren. Screeningtests wie MMST oder Uhrentest können lediglich Hinweise geben. Sie sind nach einhelliger Auffassung nicht geeignet, eine Geschäfts- oder Testierfähigkeit zuverlässig zu bejahen oder auszuschließen. Der Gesetzgeber hat sich daher gegen eine normierte Testpflicht entschieden; die Literatur lehnt Routine-Screenings bei der Testamentserrichtung als verfehlt ab.
3. Rechtsprechung zu Demenz, Wahn und „luziden Intervallen“
Die obergerichtliche Rechtsprechung hat in den letzten Jahrzehnten eine feingliedrige Kasuistik zur Testierfähigkeit entwickelt. Sie bestätigt die dogmatischen Grundlinien, konkretisiert aber die Anforderungen an Tatsachengrundlage und Beweiswürdigung.
Im Bereich der Demenz betont die Rechtsprechung zum einen, dass die Diagnose allein nicht genügt, um Testierunfähigkeit festzustellen. So hebt das OLG Düsseldorf hervor, dass leichte bis mittelgradige Demenz nicht zwingend zur Testierunfähigkeit führt, sondern eine Gesamtwürdigung des konkreten Zustands im Errichtungszeitpunkt erfordert (I-3 Wx 103/14). Zum anderen entwickelt sich eine Linie, die bei chronisch-progredienten demenziellen Erkrankungen die Möglichkeit eines „luziden Intervalls“ äußerst skeptisch beurteilt. Das OLG München hat bei einer Demenz aufgrund Creutzfeldt-Jakob-Krankheit angenommen, dass von einem bestimmten Zeitpunkt an durchgehend Testierunfähigkeit bestand und lichte Momente mit Wiedererlangen der Urteilsfähigkeit praktisch ausgeschlossen seien (31 Wx 266/12, NotBZ 2013, 355).
An diese Linie knüpft die Kommentarliteratur an: Kappler (Kappler, Tobias, Testierfreiheit und Testierfähigkeit, NotBZ 2019, S. 161–169) verweist darauf, dass bei feststehender Testierunfähigkeit vor und nach der Testamentserrichtung ein erster Anschein für Testierunfähigkeit auch im Errichtungszeitpunkt spricht. Dieser Anschein könne zwar durch den Nachweis eines „lucidum intervallum“ erschüttert werden; bei chronisch-progredienten Erkrankungen sei ein solches Intervall aber beweistechnisch kaum vorstellbar (BayObLG, Beschl. v. 29.1.1985 – BReg 1 Z 2/85, FamRZ 1985, 739; BayObLG, Beschl. v. 19.11.1998 – 1Z BR 93/98, FamRZ 1999, 819).
Im Bereich wahnhaft-paranoider Störungen hat das OLG Frankfurt a.M. mit Beschluss vom 17.8.2017 – 20 W 188/16 (FamRZ 2018, 468) eine viel zitierte Entscheidung getroffen. Die kinderlose, verwitwete Erblasserin litt an einem chronischen Verfolgungswahn und ließ Detektive gegen vermeintliche Diebe ermitteln. Sie setzte die nicht verwandten Detektive zu Erben ein, während die Verwandten leer ausgingen. Das Gericht betont, dass bei chronischem Wahn kurzfristige „lichte Augenblicke“ praktisch auszuschließen seien und dass eine Testierunfähigkeit vorliegt, wenn die wahnhaften Vorstellungen die letztwillige Verfügung beherrschen. Die Grenze verlaufe zwischen alterstypischer Verbitterung oder Misstrauen einerseits und krankhafter „Abkoppelung von Erfahrung, Logik und kulturellem Konsens“ andererseits.
Bei gemeinschaftlichen Testamenten von Ehegatten stellt sich die Frage, welche Konsequenzen die Testierunfähigkeit eines Ehegatten hat. Im Beschluss vom 23.7.2014 – 31 Wx 204/14 (MDR 2014, 1268 = FamRZ 2015, 535 = NotBZ 2015, 58) hat das OLG München entschieden, dass wechselbezügliche Verfügungen eines wegen Testierunfähigkeit eines Ehegatten unwirksamen gemeinschaftlichen Testaments in ein Einzeltestament des testierfähigen Ehegatten umgedeutet werden können. Die Ehefrau war nach dem Vortrag testierunfähig, der Ehemann jedoch testierfähig; das Gericht hielt die gegenseitige Erbeinsetzung im Wege der Umdeutung als Alleinerbeneinsetzung der Ehefrau durch den Ehemann aufrecht. Dies knüpft an eine gefestigte Rechtsprechung zur Umdeutung gemeinschaftlicher Testamente an (BayObLG, Beschl. v. 2.2.1996 – 1Z BR 146/95, FamRZ 1996, 1036; OLG München, Beschl. v. 19.5.2010 – 31 Wx 38/10, MDR 2010, 1266 = NJW-RR 2010, 1382).
Die Linie der Rechtsprechung lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die Gerichte verlangen eine sorgfältige, an objektivierbaren Tatsachen orientierte Prüfung der geistigen Verfassung des Erblassers. Demenz, Wahn oder Multimorbidität führen nicht automatisch zur Testierunfähigkeit, können diese aber – je nach Ausprägung und Bezug zur Verfügung – begründen. Bei chronisch-progredienten Verläufen und langjährigem Wahn tritt der Gedanke lichter Momente zurück. Zugleich bleibt Raum für eine Einzelfallgerechtigkeit, etwa durch Umdeutung gemeinschaftlicher Testamente zugunsten des testierfähigen Ehegatten.
4. Einflussnahme, „Erbschleicherei“ und Grenzen der freien Willensbildung
In der forensischen Praxis werden Zweifel an der Testierfähigkeit häufig mit dem Vorwurf der „Erbschleicherei“ verknüpft. Dogmatisch ist dieses Schlagwort unscharf. Es beschreibt Konstellationen, in denen Dritte – häufig Pflegepersonen, entfernte Verwandte oder Vertrauenspersonen – auf einen erkennbar geschwächten Erblasser einwirken, um ihn zu bestimmten letztwilligen Verfügungen zu bewegen. Rechtlich sind verschiedene Ebenen zu unterscheiden.
Zunächst ist zu betonen, dass das Erbrecht die Freiheit des Erblassers schützt, sich beraten, überzeugen, ja auch „bearbeiten“ zu lassen. Wer sich aufgrund intensiver Zuwendung und persönlicher Nähe entschließt, eine Person zu bevorzugen, handelt nicht schon deshalb unselbständig. Erst wenn Druck, Täuschung oder Ausnutzung einer krankheitsbedingten Schwäche dazu führen, dass die Entscheidung nicht mehr auf einer eigenständigen Willensbildung beruht, wird die Grenze überschritten.
Dogmatisch kommen drei Ansatzpunkte in Betracht: § 2229 Abs. 4 BGB, §§ 2078, 2079 BGB und § 138 BGB. Liegt eine krankhafte Störung vor, die die Fähigkeit zur freien Willensbildung aufhebt, ist primär Testierunfähigkeit anzunehmen. Der Erblasser ist dann nicht mehr in der Lage, die ihn umgebende Einflussnahme zu erkennen, zu bewerten und sich ihr gegebenenfalls zu entziehen. § 2078 BGB greift demgegenüber eher bei solchen Fällen ein, in denen ein grundsätzlich testierfähiger Erblasser durch arglistige Täuschung oder Drohung zu einer bestimmten Verfügung veranlasst wird. § 138 BGB schließlich erfasst Extremfälle, in denen der Einflussnehmende in besonders verwerflicher Weise die Zwangslage oder Abhängigkeit des Erblassers ausnutzt; die Rechtsprechung ist mit der Annahme der Sittenwidrigkeit zu Recht zurückhaltend.
Die neuere Literatur – etwa Kappler – warnt davor, das Erbrecht zur nachträglichen Korrektur legitimer Beziehungsentscheidungen zu instrumentalisieren. Wer über Jahre hinweg eine enge persönliche Beziehung pflegt und den Erblasser unterstützt, darf auch substanzielle Zuwendungen erhalten, solange der Erblasser diese Entscheidung autonom trifft. Erst wenn sich aus den Gesamtumständen ergibt, dass die Verfügung nicht mehr Ausdruck einer eigenständigen Willensbildung ist, sondern Ergebnis manipulativer Steuerung eines vulnerablen, krankheitsbedingt geschwächten Menschen, rechtfertigt dies die Annahme von Testierunfähigkeit oder Sittenwidrigkeit.
5. Rolle des Notars und notarielle Feststellungen
Der Notar spielt im Spannungsfeld von Testierfreiheit und Schutz vor Übervorteilung eine Schlüsselrolle. Als Träger eines öffentlichen Amtes ist er verpflichtet, die Geschäftsfähigkeit und damit auch die Testierfähigkeit der Beteiligten zu prüfen. § 28 BeurkG verpflichtet ihn, seine Wahrnehmungen zu besonderen Umständen, insbesondere zur Geschäfts- und Testierfähigkeit, in der Niederschrift zu vermerken. Solche Vermerke begründen nach allgemeiner Ansicht ein starkes Beweisanzeichen; ihnen kommt nach § 418 ZPO Beweiswirkung zu, jedenfalls aber erhebliche indizielle Bedeutung im Erbscheinsverfahren (OLG Hamm, Urt. v. 13.7.2021 – 10 U 5/20, NJW-RR 2021, 1310; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 20.7.2018 – I-3 Wx 259/17, FamRZ 2019, 317).
Diese gesteigerte Bedeutung darf nicht dazu verleiten, dem Notar eine medizinische Sachkunde zu unterstellen, die er typischerweise nicht besitzt. Der Notar ist kein Psychiater. Seine Aufgabe besteht darin, bei offenkundigen Anzeichen von Bewusstseinsstörungen, Desorientierung oder gravierenden kognitiven Defiziten die Beurkundung zurückzustellen, ergänzende Aufklärung anzuregen oder zu verweigern und seine Wahrnehmungen sorgfältig zu dokumentieren. Er soll aber nicht eigenständig psychiatrische Diagnosen stellen oder Screening-Verfahren durchführen. Die in der Literatur vorgeschlagene „routinemäßige Überprüfung“ mittels pathologischer Kurztests (Stoppe/Lichtenwimmer) ist in der forensisch-psychiatrischen und zivilrechtlichen Literatur mit guten Gründen als ungeeignet abgelehnt worden (Cording/Foerster, DNotZ 2006, 329; Kappler in Erman, § 2229).
Praktisch empfiehlt es sich, dass der Notar bei erkennbar vulnerablen Erblassern – etwa sehr alten, multimorbiden oder demenzgefährdeten Personen – den Gesprächsverlauf besonders sorgfältig dokumentiert. Dazu gehören die Fähigkeit des Erblassers, seine nächsten Angehörigen zu benennen, seine Vermögensverhältnisse zu beschreiben und die wesentlichen Elemente der geplanten Verfügung in eigenen Worten zu erläutern. Solche protokollierten Wahrnehmungen können in einem späteren Erbscheinsverfahren die Sachverhaltsaufklärung wesentlich erleichtern und die Stellung derjenigen stärken, die sich auf das notarielle Testament berufen.
6. Beweislast, Beweismaß und Beweisführung
Prozessual steht im Mittelpunkt, wer was zu beweisen hat und mit welchen Mitteln. Nach einhelliger Auffassung gilt die Vermutung der Testierfähigkeit. Derjenige, der sich auf Testierunfähigkeit beruft, trägt die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Voraussetzungen des § 2229 Abs. 4 BGB im Zeitpunkt der Testamentserrichtung. Nicht behebbare Zweifel gehen zu seinen Lasten (Kappler in Erman).
Das Beweismaß richtet sich nach § 286 ZPO. Das Gericht muss von der Testierunfähigkeit überzeugt sein, wobei ein Grad an Gewissheit verlangt wird, der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen. Dies ist bei psychischen Vorgängen, die der unmittelbaren Wahrnehmung des entscheidenden Richters entzogen sind, besonders problematisch. Die Rechtsprechung verlangt deshalb eine möglichst umfassende Sachaufklärung und eine sorgfältige, widerspruchsfreie Würdigung aller Beweismittel.
Typischerweise wird ein psychiatrisches oder neurologisches Sachverständigengutachten eingeholt. Der behandelnde Arzt ist insoweit Zeuge, nicht Sachverständiger. Der gerichtliche Sachverständige stützt sich auf Akten, medizinische Befunde, Berichte von Pflegeeinrichtungen, Aussagen von Angehörigen und ggf. persönliche Untersuchungen zu Lebzeiten des Erblassers. Divergierende Gutachten können ein Obergutachten erfordern; das Gericht ist an die Sachverständigenmeinung nicht gebunden, darf aber nur bei tragfähiger Begründung davon abweichen.
Zunehmend wichtig werden schriftliche Unterlagen. Krankenakten, Pflegegutachten, Betreuungsakten, Reha- und Entlassungsberichte, Medikamentenpläne und Dokumentationen des Alltagsverhaltens liefern häufig detaillierte Informationen über Orientierung, Gedächtnis, Affektlage und Fremdbeeinflussbarkeit des Erblassers über einen längeren Zeitraum. Gerade bei demenziellen Entwicklungen lässt sich der Verlauf der Erkrankung nur über eine Gesamtschau dieser Unterlagen erfassen. Zeugenaussagen von Angehörigen und Freunden können dies ergänzen, treten aber im Beweiswert häufig hinter fachlich dokumentierte Beobachtungen zurück.
Die Frage, ob und in welchem Umfang Krankenunterlagen verwertet werden dürfen, war lange umstritten. Das OLG Hamm hat in seinem Beschluss vom 13.6.2024 – 10 W 3/23 (MDR 2024, 1592) klargestellt, dass ein Krankenhaus zur Übersendung der Dokumentation einer Krankenhausbehandlung verpflichtet sein kann, wenn der Erblasser kurz vor seinem Tod auf der Intensivstation testiert hat und Zweifel an der Testierfähigkeit bestehen. Die ärztliche Schweigepflicht trete insoweit zurück, weil die Aufklärung von Zweifeln an der Testierfähigkeit regelmäßig im wohlverstandenen Interesse des Erblassers liege; der mutmaßliche Wille sei daher auf Offenbarung gerichtet (unter Bezugnahme auf BGH, Beschl. v. 4.7.1984 – IVa ZB 18/83, NJW 1984, 2893, und BayObLG, Beschl. v. 31.8.1990 – BReg 1a Z 60/89, NJW-RR 1991, 6).
Schließlich spielen Beweisregeln eine Rolle. War der Erblasser vor und nach der Testamentserrichtung testierunfähig, spricht ein erster Anschein dafür, dass er auch im Errichtungszeitpunkt testierunfähig war (BayObLG, Beschl. v. 19.11.1998 – 1Z BR 93/98). Dieser Anschein kann etwa durch den Nachweis eines phasenhaften Krankheitsverlaufs oder dokumentierter, geordneter Handlungen im Errichtungszeitraum erschüttert werden. Umgekehrt begründen das Fehlen entsprechender Hinweise und das Vorliegen eines notariell beurkundeten Testaments mit ausdrücklichen Testierfähigkeitsvermerken ein starkes Beweiszeichen zugunsten der Testierfähigkeit.
7. Synthese und Bewertung
Die dogmatische Grundlinie ist klar: Testierfähigkeit ist der Regelfall, Testierunfähigkeit die begründungsbedürftige Ausnahme. § 2229 Abs. 4 BGB verlangt eine konkrete, auf die individuelle Person und die konkrete Verfügung bezogene Prüfung der freien Willensbildung. Weder das hohe Alter noch die Diagnose einer Demenz oder Depression allein dürfen ausreichen, um die Testierfähigkeit zu verneinen. Zugleich verlangt die Praxis, dass Gerichte bei chronisch-progredienten Krankheitsverläufen und langjährig verfestigten Wahnsyndromen der Möglichkeit „luzider Momente“ mit der gebotenen Skepsis begegnen.
Die besondere Herausforderung liegt in der Schnittstelle von Recht und Medizin. Die forensische Psychiatrie hat in den letzten Jahren differenzierte Kriterien entwickelt, die von der Rechtsprechung zunehmend rezipiert werden. Grziwotz und Kappler betonen zu Recht, dass die rechtliche Bewertung nicht an medizinische Diagnoseschlagworte anknüpfen darf, sondern an die Fähigkeit des Erblassers, die Tragweite seiner konkreten Verfügung zu erfassen. Standardisierte Kurztests können dabei nur ein Baustein sein, ersetzen aber nicht die Gesamtwürdigung.
Die Rechtsprechung trägt dieser Entwicklung Rechnung: Sie stärkt einerseits die Testierfreiheit, indem sie Demenz nicht automatisch mit Testierunfähigkeit gleichsetzt, und schärft andererseits die Anforderungen an den Nachweis der Testierunfähigkeit in Fällen chronischer Demenz und Wahn. Gleichzeitig werden die Pflichten des Notars, die Bedeutung notarieller Feststellungen und der Zugang zu Krankenunterlagen präzisiert. Das führt zu einer gewissen Verdichtung der verfahrensrechtlichen Standards, ohne in eine faktische Beweislastumkehr zu kippen.
8. Schlussbemerkung
Testierfähigkeit bleibt eine der sensibelsten Schnittstellen von Privatautonomie, medizinischer Realität und gerichtlicher Kontrolle. Die demographische Entwicklung und die Zunahme kognitiver Störungen im Alter werden die Zahl der Streitfälle weiter steigern. Eine sachgerechte Lösung liegt nicht in pauschalen Altersgrenzen oder standardisierten Testpflichten, sondern in der konsequenten Anwendung der bereits vorhandenen dogmatischen Instrumente: einer normativ verstandenen freien Willensbildung, einer sorgfältigen medizinischen Begutachtung und einer prozessual sauberen Beweisführung.
Die dargestellte Rechtsprechung zeigt, dass die Gerichte auf einem guten Weg sind, die Balance zwischen Schutz und Selbstbestimmung zu wahren. Für die anwaltliche und notarielle Praxis bleibt entscheidend, diese Linie zu kennen, Verdachtsmomente frühzeitig zu erkennen, Beweismittel gezielt zu sichern und den Erblasser – solange er noch zweifelsfrei testierfähig ist – bei einer vorausschauenden Nachlassplanung zu unterstützen.