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Art. 1 GG - Menschenwürde, Menschenrechte, Grundrechtsbindung (Kommentar)

(1) ¹Die Würde des Menschen ist unantastbar. ²Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.

Inhaltsverzeichnis 

1. Allgemeines

1.1. Bedeutung und Grundrechtscharakter

Der in Art. 1 I GG verankerte Schutz der Menschenwürde steht bewusst an erster Stelle des Grundgesetzes. Der Schutz der Menschenwürde hat eine derart herausragende Rolle und Wichtigkeit, dass sie sich über alle Grundrechte legt und mittelbar auf diese einwirkt. Als oberstes Gut der Verfassung und höchster Rechtswert im Staat kommt diesem Grundrecht eine Sonderstellung zu, so dass es in keinerlei Weise berührt werden darf. Die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig.

1.2. Schutzbereich

1.2.1. Persönlich

In persönlicher Hinsicht umfasst der Schutzbereich der Menschenwürde gem. Art. 1 I GG zunächst Jedermann, also alle Menschen im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Ausgenommen sind jedoch juristische Personen. Der Schutzbereich des Art. 1 I GG umfasst nicht nur den Zeitraum von der Geburt bis zum Tode, sondern beginnt bereits vor der Geburt und geht über den Tod hinaus.

1.2.2. Sachlich

Eine positive Umschreibung des sachlichen Schutzbereichs der Menschenwürde gem. Art. 1 I GG fällt wegen des umfassenden Schutzes sehr schwer.

1.3. Eingriff in den Schutzbereich

Der Schutz der Menschenwürde besitzt zwei Funktionen:

  1. Einerseits dient es als Abwehrrecht gegen verletzende staatliche Maßnahmen, wendet sich also unmittelbar gegen den Staat;
  2. andererseits dient es aber auch dem Schutz gegen Verletzungen durch Dritte, wodurch ein Schutzanspruch durch den Staat gewährt werden soll.

In Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 I GG folgt aus Art. 1 I GG zudem ein Leistungsanspruch gegen den Staat auf Gewährleistung des Existenzminimums.

2. Absatz 1: Die Würde des Menschen

„(1) ¹Die Würde des Menschen ist unantastbar. ²Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Art. 1 Abs. 1 GG stellt den wohl bekanntesten und bedeutsamsten Satz der deutschen Verfassung dar. Diese Norm ist das Fundament des gesamten deutschen Verfassungsrechts und verkörpert das höchste Gut der deutschen Rechtsordnung: die Würde des Menschen. Artikel 1 Absatz 1 GG ist Ausdruck einer bewussten Abkehr vom nationalsozialistischen Unrechtsregime und einer klaren Hinwendung zu einer Verfassungsordnung, die auf den unveräußerlichen Menschenrechten aufbaut. Nachfolgend wird ein detaillierter wissenschaftlicher Kommentar zu jedem Satz des Artikels gegeben.

2.1. Satz 1: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."

2.1.1. Wortlaut und Bedeutung

Der erste Satz des Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Menschenwürde für "unantastbar". Dieser Begriff bringt eine absolute Geltung zum Ausdruck und unterstreicht, dass die Menschenwürde nicht relativiert oder eingeschränkt werden darf. Die Formulierung „unantastbar“ bedeutet, dass die Menschenwürde sowohl gegen staatliche Eingriffe als auch gegen Verletzungen durch Dritte geschützt ist. Es handelt sich um einen unbedingten Schutz, der keine Abwägung zulässt.

2.1.2. Verfassungsrechtliche Einordnung

Die Menschenwürdegarantie ist nicht nur ein Grundrecht, sondern besitzt eine überragende konstitutionelle Bedeutung. Sie steht am Beginn des Grundgesetzes und bildet den Grundsatz des Verfassungsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Sie gilt als unantastbare Verfassungsnorm und kann weder durch Gesetzgeber noch durch andere Staatsgewalten eingeschränkt werden (Art. 79 Abs. 3 GG, sogenannte „Ewigkeitsklausel“). Aufgrund dieser Stellung stellt die Menschenwürde den höchsten Verfassungswert dar und fungiert als Grundlage für alle anderen Grundrechte. Es handelt sich um ein sog. "Absolutes Recht" im Verfassungsrecht.

2.1.3. Historische Entwicklung und Hintergründe

Die Norm ist eine direkte Reaktion auf die menschenverachtenden Verbrechen des Nationalsozialismus, bei denen Menschen systematisch entrechtet, entwürdigt und getötet wurden. Die Würde des Menschen war in der Weimarer Reichsverfassung nicht ausdrücklich verankert. In der Nachkriegszeit, insbesondere im Kontext der Menschenrechtserklärungen und internationalen Verfassungen (z.B. die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948), erfuhr die Menschenwürde jedoch eine zentrale Bedeutung. Der Parlamentarische Rat legte in seiner Arbeit an der Verfassung den Fokus auf den Schutz der Menschenwürde als Reaktion auf die Geschehnisse der Vergangenheit.

2.1.4. Dogmatische Bedeutung und Abgrenzung

Die Menschenwürdegarantie gilt absolut und ist jedem Menschen ohne Ausnahme eigen. Dies bedeutet, dass sie weder durch Gesetzgeber noch durch verfassungsändernde Mehrheit angetastet werden kann. Eine Einschränkung oder eine Abwägung mit anderen Verfassungswerten ist ausgeschlossen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat diese Position wiederholt bestätigt und hervorgehoben, dass die Menschenwürde nicht einmal durch eine verfassungsändernde Mehrheit eingeschränkt werden kann (vgl. BVerfGE 1, 97; 30, 1).

2.1.5. Inhalt und Schutzbereich

Der Begriff der "Würde des Menschen" ist ein offener und stark umstrittener Begriff, der sich nicht auf eine feste Definition reduzieren lässt. Der Begriff der Menschenwürde umfasst jedoch bestimmte Kernelemente, die sich durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts herausgebildet haben:

2.1.5.1. Schutz der Subjektqualität des Menschen

Die Menschenwürde garantiert, dass jeder Mensch als Subjekt behandelt wird und nicht zum bloßen Objekt staatlicher Maßnahmen degradiert werden darf. Es ist ein grundlegendes Gebot des Personseins.
Verbot der Erniedrigung und Demütigung: Die Menschenwürde umfasst auch das Verbot, Menschen einer Behandlung auszusetzen, die als erniedrigend, entwürdigend oder erniedrigend angesehen werden kann.

2.1.5.2. Schutz der persönlichen Identität und Integrität

Die Würde des Menschen schützt auch die individuelle Integrität und Identität eines jeden Menschen, einschließlich des Rechts auf Selbstachtung und Selbstbestimmung.

2.1.6. Fallgruppen und Konkretisierung durch die Rechtsprechung

In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wurde die Menschenwürde vielfach konkretisiert und in verschiedenen Fallgruppen entfaltet:

2.1.6.1. Folterverbot

Ein absoluter Schutzbereich der Menschenwürde ist das Folterverbot, das auch in extremen Situationen (wie beispielsweise terroristische Bedrohungslagen) nicht eingeschränkt werden kann (vgl. BVerfG, Urteil vom 15. Februar 2006 - 1 BvR 357/05, Luftsicherheitsgesetz).

2.1.6.2. Verbot der Erniedrigung von Häftlingen

Die Verfassungswidrigkeit von Demütigungen und Misshandlungen in der Haft oder im Polizeigewahrsam ist ebenfalls Ausdruck des unantastbaren Schutzes der Menschenwürde (vgl. BVerfG, Beschluss vom 29. Mai 1973 - 1 BvR 4/73).

2.1.6.3. Schutz vor Existenzminimumverletzungen

Auch die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums fällt unter den Schutzbereich der Menschenwürde (vgl. BVerfGE 125, 175, „Hartz-IV-Urteil“).

2.2. Satz 2: "Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

2.2.1. Verpflichtung und Bindungswirkung

Der zweite Satz des Art. 1 Abs. 1 GG ergänzt die Unantastbarkeit der Menschenwürde durch eine Verpflichtung für „alle staatlichen Gewalt“, diese zu achten und zu schützen. Diese Norm begründet nicht nur ein Abwehrrecht des Einzelnen gegen den Staat, sondern bindet die gesamte Staatsgewalt in Bund, Ländern und Kommunen. Sie fordert positive Maßnahmen zum Schutz der Menschenwürde. Hierdurch wird der objektiv-rechtliche Charakter der Grundrechte, insbesondere der Menschenwürde, unterstrichen.

2.2.2. Differenzierung von Achtungs- und Schutzpflicht

Der Satz enthält eine doppelte Verpflichtung: die Pflicht zur Achtung und die Pflicht zum Schutz.

2.2.2.1. Achtungspflicht

Die Achtungspflicht verpflichtet den Staat, selbst keine Maßnahmen zu ergreifen, die die Würde des Menschen verletzen könnten. Dies schließt sowohl unmittelbare staatliche Eingriffe als auch indirekte Auswirkungen staatlichen Handelns ein. Klassische Beispiele sind hier das Verbot der Folter, erniedrigende Bestrafungen und andere Formen der Degradierung von Personen.

2.2.2.2. Schutzpflicht

Die Schutzpflicht verlangt von der staatlichen Gewalt, aktiv Maßnahmen zu ergreifen, um die Menschenwürde vor Eingriffen Dritter zu schützen. Diese Schutzpflicht erstreckt sich auf alle Lebensbereiche und kann sich in konkreten Maßnahmen, wie etwa der Verabschiedung von Gesetzen zum Schutz vor Diskriminierung oder vor menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen, manifestieren.

2.2.2.3. Auswirkungen auf die Staatsorganisation und die Verwaltung

Die Verpflichtung, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, hat unmittelbare Auswirkungen auf die gesamte Staatsorganisation. Sie bindet Legislative, Exekutive und Judikative gleichermaßen. Das Bundesverfassungsgericht betont regelmäßig, dass Gesetze, Verordnungen und Maßnahmen der Verwaltung, ebenso wie gerichtliche Entscheidungen, stets an der Menschenwürde gemessen werden müssen.

2.2.3. Konkrete Schutzpflichten

Die Verpflichtung des Staates zum Schutz der Menschenwürde führt zu einer Vielzahl von konkreten Schutzpflichten, die je nach Situation unterschiedlich ausgeprägt sein können. In der Rechtsprechung und Literatur wird diskutiert, inwiefern diese Schutzpflichten eine spezifische Handlungs- oder Ergebnisverpflichtung für den Staat darstellen. Eine Schutzpflicht ist jedenfalls dann verletzt, wenn der Staat völlig untätig bleibt oder Maßnahmen ergreift, die die Würde des Menschen nicht wirksam schützen.

2.2.3.1. Polizeilicher Schutz gegen Bedrohungen

So ergibt sich zum Beispiel die Verpflichtung für die Polizei, Menschen vor unmittelbaren Gefahren für Leib und Leben zu schützen, die aus dem Handeln Dritter resultieren.

2.2.3.2. Schutz in sozialstaatlicher Hinsicht

In sozialstaatlicher Hinsicht bedeutet die Schutzpflicht, dass der Staat auch für menschenwürdige Lebensbedingungen zu sorgen hat, wie dies in der Rechtsprechung zum Existenzminimum verdeutlicht wurde.

2.2.4. Verfassungsrechtliche Abwägungen

Während die Achtungspflicht als unbedingte Grenze gilt, die nicht relativiert werden kann, können sich im Rahmen der Schutzpflichten Abwägungen ergeben. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch klargestellt, dass selbst im Rahmen solcher Schutzpflichten eine Relativierung der Menschenwürde unzulässig ist; es geht vielmehr um die bestmögliche Verwirklichung des Menschenwürdeschutzes unter den gegebenen Bedingungen.

3. Absatz 2: Menschenrechte als Grundlage

„(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“

Artikel 1 Absatz 2 des Grundgesetzes (GG) hat eine programmatische und grundsätzliche Bedeutung. Er unterstreicht die zentrale Rolle der Menschenrechte in der deutschen Verfassungsordnung und definiert sie als Grundlage für die internationale Friedens- und Rechtsordnung. Der Absatz enthält eine Verpflichtung des deutschen Volkes und seines Staates, diese Grundsätze national und international zu wahren und zu fördern. Im Folgenden wird der Absatz detailliert kommentiert.

3.1. Bedeutung des Bekenntnisses des Deutschen Volkes

Der Absatz beginnt mit den Worten "Das Deutsche Volk bekennt sich". Diese Formulierung verdeutlicht, dass es sich um eine Selbstverpflichtung und ein grundlegendes Bekenntnis des deutschen Verfassungsstaates handelt, das über den unmittelbaren rechtlichen Rahmen hinausgeht. Das Bekenntnis ist Ausdruck eines historischen und moralischen Selbstverständnisses, das aus den Erfahrungen des nationalsozialistischen Unrechtsstaates und der daraus resultierenden Verpflichtung zu einer demokratischen und friedlichen Rechtsordnung resultiert. Es geht um eine verfassungsrechtliche Verankerung, die der Bundesrepublik Deutschland eine besondere Verantwortung in der Wahrung und Förderung der Menschenrechte zuweist.

3.2. "Unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte"

Die Formulierung „unverletzliche und unveräußerliche Menschenrechte“ hebt die besondere Qualität der Menschenrechte hervor. Sie sind „unverletzlich“, was bedeutet, dass sie in ihrem Kerngehalt nicht angetastet oder relativiert werden dürfen. Dies ist eine direkte Anknüpfung an Artikel 1 Absatz 1 GG, in dem die Unantastbarkeit der Menschenwürde festgeschrieben ist.

Unverletzlichkeit bezieht sich auf den Schutz gegen staatliche und nichtstaatliche Eingriffe und ist Ausdruck der absoluten Verbindlichkeit der Menschenrechte, die weder durch einfache Gesetze noch durch Verwaltungsakte eingeschränkt werden können.

Unveräußerlichkeit bedeutet, dass Menschenrechte nicht abtretbar oder aufgebbar sind. Es handelt sich um Rechte, die jedem Menschen aufgrund seines Menschseins zukommen und daher nicht durch Vertrag oder Willenserklärung entzogen werden können.

Die Kombination dieser beiden Attribute deutet darauf hin, dass Menschenrechte als fundamentale Prinzipien der Verfassungsordnung verstanden werden müssen, die nicht verhandelbar sind und keinen staatlichen oder gesellschaftlichen Relativierungen unterliegen dürfen.

3.3. Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft

Der Absatz stellt klar, dass Menschenrechte die Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft darstellen. Damit wird deutlich, dass die Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland auf universelle Werte und Prinzipien setzt, die nicht nur national, sondern global Geltung beanspruchen.

3.3.1. Normativer Anspruch

Dieser Satzteil erhebt einen normativen Anspruch auf Universalität der Menschenrechte. Die Menschenrechte sind nicht kulturell oder regional beschränkt, sondern gelten als allgemeine Grundlage der menschlichen Koexistenz. Dies stellt eine deutliche Abgrenzung zu Konzepten dar, die Menschenrechte als kulturrelativistisch interpretieren.

3.3.2. Rechtsstaatlichkeit und Demokratie

Die Anerkennung der Menschenrechte als Grundlage menschlicher Gemeinschaft ist eng verbunden mit den Prinzipien der Demokratie und des Rechtsstaates. Die Menschenrechte bilden die Voraussetzung dafür, dass eine demokratische Gemeinschaft in Freiheit und Gleichheit existieren kann.

3.4. Menschenrechte als Grundlage des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt

Die Formulierung „als Grundlage des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ hebt den internationalen und weltweiten Anspruch der Grundgesetzordnung hervor.

3.4.1. Frieden

Menschenrechte als Grundlage des Friedens verdeutlichen den Zusammenhang zwischen innerstaatlicher Ordnung und internationaler Friedenssicherung. Eine Rechtsordnung, die die Menschenrechte wahrt und schützt, trägt maßgeblich zu innerem und äußerem Frieden bei. Die Verankerung der Menschenrechte im Grundgesetz ist somit auch als Verpflichtung zur Friedenssicherung zu verstehen.

3.4.2. Gerechtigkeit

Die Bezugnahme auf Gerechtigkeit macht deutlich, dass Menschenrechte nicht nur als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden werden, sondern auch als Maßstab für die materielle Gerechtigkeit, die Chancengleichheit und die gerechte Teilhabe an den gesellschaftlichen Ressourcen umfasst. Dies verweist auf die sozialstaatlichen Verpflichtungen des Grundgesetzes und die Notwendigkeit, menschenwürdige Lebensverhältnisse zu schaffen.

3.5. Verfassungsrechtliche Bindungswirkung

Artikel 1 Absatz 2 GG bindet nicht nur den deutschen Staat, sondern auch das deutsche Volk in seiner Gesamtheit. Dies bedeutet, dass die Anerkennung und Achtung der Menschenrechte nicht nur Aufgabe der Staatsorgane, sondern auch eine Verpflichtung der gesamten Gesellschaft ist. Es geht um eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die durch Bildung, Erziehung und öffentliche Diskurse gefördert werden muss.

3.6. Internationale Dimension

Artikel 1 Absatz 2 GG stellt zudem eine wichtige Grundlage für die außenpolitische Orientierung der Bundesrepublik Deutschland dar. Die Verpflichtung zur Achtung und Förderung der Menschenrechte ist Grundlage für die deutsche Außenpolitik und deren Einsatz für die Förderung der Menschenrechte in internationalen Institutionen wie den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und anderen internationalen Organisationen.

4. Absatz 3: Unmittelbare Bindungswirkung der Grundrechte

„(3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“

Art. 1 Abs. 3 des Grundgesetzes (GG) ist eine zentrale Norm für die gesamte deutsche Verfassungsordnung und hat immense Bedeutung für die Ausgestaltung und die Durchsetzung der Grundrechte in der Bundesrepublik Deutschland. Der Absatz bestimmt die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht und konkretisiert die umfassende Bindung aller staatlichen Gewalt an die Grundrechte. Im Folgenden wird diese Norm tiefgehend kommentiert.

4.1. Die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht

Artikel 1 Absatz 3 GG stellt klar, dass die Grundrechte „unmittelbar geltendes Recht“ sind. Dies bedeutet, dass die Grundrechte nicht nur als Staatszielbestimmungen oder Programmsätze zu verstehen sind, sondern als objektive Rechtsnormen mit direkter rechtlicher Wirkung. Sie sind daher nicht bloß Anweisungen für den Gesetzgeber, sondern binden alle Staatsorgane unmittelbar, einschließlich der Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung.

4.1.1. Normqualität der Grundrechte

Die Grundrechte sind somit justiziable Rechtsnormen, die im Falle von Verletzungen gerichtlich durchsetzbar sind. Ein Bürger kann sich unmittelbar auf die Grundrechte berufen und eine Verletzung dieser Rechte vor den ordentlichen Gerichten und gegebenenfalls dem Bundesverfassungsgericht geltend machen.

4.1.2. Abgrenzung zu bloßen Programmsätzen

Anders als in manchen früheren Verfassungen oder Grundrechtskatalogen, die Grundrechte als bloße Programmsätze oder Absichtserklärungen formuliert haben, garantiert das Grundgesetz in Artikel 1 Absatz 3 GG die unmittelbare Verbindlichkeit der Grundrechte. Es handelt sich um rechtlich vollwertige Normen, die unmittelbar im Verfassungsrang stehen.

4.2. Bindung der Gesetzgebung

Die Gesetzgebung ist als erster der drei staatlichen Gewalten ausdrücklich an die Grundrechte gebunden. Diese Bindung ist in mehrfacher Hinsicht zu verstehen:

4.2.1. Normsetzungskompetenz

Der Gesetzgeber muss bei der Schaffung von Gesetzen die Grundrechte beachten und darf sie nicht verletzen. Dies bedeutet, dass jedes Gesetz, das vom Deutschen Bundestag oder den Länderparlamenten verabschiedet wird, den Anforderungen der Grundrechte genügen muss. Eine Grundrechtsverletzung führt zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes.

4.2.2. Verhältnismäßigkeitsprinzip

Bei Eingriffen in die Grundrechte durch Gesetze ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten. Dieses Prinzip verlangt, dass ein Grundrechtseingriff nur dann zulässig ist, wenn er einem legitimen Zweck dient, geeignet, erforderlich und angemessen ist.

4.2.3. Gesetzesvorbehalte

Viele Grundrechte im Grundgesetz enthalten Gesetzesvorbehalte, die es dem Gesetzgeber ermöglichen, durch einfaches Gesetz in die Grundrechte einzugreifen. Diese Gesetzesvorbehalte sind jedoch ihrerseits an die Schranken der Grundrechte gebunden und dürfen deren Wesensgehalt nicht antasten (vgl. Art. 19 Abs. 2 GG).

4.3. Bindung der vollziehenden Gewalt

Auch die vollziehende Gewalt, also die Exekutive, ist an die Grundrechte gebunden. Diese Bindung hat mehrere Dimensionen:

4.3.1. Verwaltungsakte

Die Verwaltung darf bei der Durchführung von Gesetzen und der Anwendung von Verwaltungsakten nicht gegen Grundrechte verstoßen. Insbesondere muss die Verwaltung im Rahmen der Verhältnismäßigkeit handeln und darf die Grundrechte der Bürger nicht mehr einschränken, als es das Gesetz erlaubt.

4.3.2. Selbständige Verwaltungsvorschriften

Selbst wenn Verwaltungsvorschriften keinen Gesetzescharakter haben, sind sie dennoch an die Grundrechte gebunden. Verwaltungsvorschriften, die Grundrechte verletzen, sind als verfassungswidrig anzusehen und somit unwirksam.

4.3.3. Grundrechtsschutz im Verwaltungshandeln

Die Verwaltung ist darüber hinaus verpflichtet, grundrechtskonform zu handeln und gegebenenfalls Maßnahmen zu ergreifen, um die Grundrechte zu schützen. Die Verwaltung hat dabei nicht nur die Negativpflicht, Grundrechtsverletzungen zu unterlassen, sondern auch eine Schutzpflicht, Grundrechte gegen Gefahren und Bedrohungen zu sichern.

4.4. Bindung der Rechtsprechung

Die Rechtsprechung ist als dritte Staatsgewalt ebenfalls unmittelbar an die Grundrechte gebunden. Diese Bindung zeigt sich in verschiedenen Aspekten:

4.4.1. Grundrechtskonforme Auslegung

Gerichte sind verpflichtet, Gesetze grundrechtskonform auszulegen. Wenn mehrere Auslegungen eines Gesetzes möglich sind, muss diejenige gewählt werden, die mit den Grundrechten am besten vereinbar ist.

4.4.2. Grundrechte als Prüfungsmaßstab

Die Gerichte, insbesondere das Bundesverfassungsgericht, nutzen die Grundrechte als Prüfungsmaßstab für die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Verwaltungshandlungen. Im Rahmen der Verfassungsbeschwerde überprüft das Bundesverfassungsgericht, ob ein Gericht oder eine Behörde durch seine Entscheidung ein Grundrecht verletzt hat.

4.4.3. Rechtsstaatliche Anforderungen

Die Grundrechte binden die Rechtsprechung auch im Hinblick auf rechtsstaatliche Anforderungen, insbesondere das rechtliche Gehör (Art. 103 GG) und das Recht auf ein faires Verfahren. Eine Entscheidung, die diese Anforderungen nicht erfüllt, kann angefochten und gegebenenfalls aufgehoben werden.

4.5. Bedeutung für den Grundrechtsschutz

Artikel 1 Absatz 3 GG hat eine immense Bedeutung für den Grundrechtsschutz in der Bundesrepublik Deutschland. Die unmittelbare Bindung der Staatsgewalten an die Grundrechte gewährleistet eine umfassende horizontale und vertikale Wirkung der Grundrechte.

4.5.1. Vertikale und horizontale Wirkung

Die Grundrechte wirken vertikal zwischen dem Staat und seinen Bürgern, aber auch horizontal im Verhältnis der Bürger untereinander, insbesondere dort, wo der Staat schützend eingreifen muss.

4.5.2. Gewährleistungsfunktion der Grundrechte

Die Norm verdeutlicht, dass die Grundrechte nicht nur Abwehrrechte gegen den Staat sind, sondern auch Gewährleistungsrechte, die positive Verpflichtungen des Staates begründen, etwa in Form von Schutzpflichten.

Literaturverzeichnis
Weitere Literatur: 

Allgemeines:

  • Blok, Martin Alexander: Die Garantie der Menschenwürde (Art. 1 I GG) - Schema
  • Enders, Christoph: Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung: zur Dogmatik des Art. 1 GG
  • Wetz, Franz Josef [Hrsg.], Texte zur Menschenwürde, 2. Auflage (2019), Reclams Universal-Bibliothek.
Rechtsprechung: 

Bundesverfassungsgericht:

Bundesverwaltungsgericht:

  • BVerwG, Urteil vom 02.06.1965 - V C 63.64,
  • BVerwG, Urteil vom 24.06.1954 - V C 78.54.