Wissen Sie mehr? Als Co-Autor bearbeiten oder als Leser kommentieren. Mehr erfahren...

Art. 115b GG – Befehls- und Kommandogewalt über Streitkräfte (Kommentar)

Mit der Verkündung des Verteidigungsfalles geht die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte auf den Bundeskanzler über.

1. Allgemeines

Zweck der Regelung ist es, die militärische Verteidigung der Bundesrepublik Deutschland dadurch sicherzustellen, dass alle zivilen und militärischen Entscheidungen in einer Hand liegen. Die Norm entspricht inhaltlich der Regelung des Art. 65 Abs. 2 a. F. Aus systematischen Gründen wurde die Regelung 1986 in den Art. 115b überführt.1

Ipso iure ist der Übergang der Befehls- und Kommandogewalt unmittelbare Rechtsfolge der Verkündung des Verteidigungsfalls.2 Einen weiteren förmlichen Übertragungsakt sieht das Grundgesetz nicht vor.

Mit der Verkündung geht die Funktion des Inhabers der Befehls- und Kommandogewalt (IBUH) vom Bundesminister der Verteidigung auf den Bundeskanzler über. Die Regelung des Art. 115b GG greift somit in das Ressortprinzip3 ein. Der Übergang bedeutet allerdings keine Durchbrechung des Ressortprinzips (Art. 65 S. 2), sondern bewirkt lediglich einen teilweisen Wechsel des Ressortleiters.4 Der Verteidigungsminister, dem ansonsten die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte zusteht, wird insoweit aus seiner verfassungsrechtlichen Position nach Art. 65a verdrängt.

2. Voraussetzungen und Dauer

Der Übergang der Befehls- und Kommandogewalt nach Art 115b knüpft an die Verkündung des Verteidigungsfalles und damit an die Regelung des Art. 115a an. Erfasst wird auch der Fall, dass der Angriff mit Waffengewalt unmittelbar droht.

Es ist insoweit unerheblich, ob die Verkündung auf einer Erklärung des Bundestags (Art. 115a Abs. 1), des Gemeinsamen Ausschusses (Art. 115a Abs. 2) oder auf einer Fiktion (Art. 115a Abs. 4) basiert.

Es ist auch unerheblich, ob die Verkündung durch den Bundespräsidenten im Bundesgesetzblatt nach Art. 115a Abs. 3 S. 1 oder auf sonstige Weise5 nach S. 2 erfolgt.

Solange nicht auch der Verteidigungsfall verkündet wurde, vermögen allerdings weder die Feststellung des Spannungsfalls nach Art. 80a Abs. 1 sowie die Aktivierung des NATO-Bündnisfalls nach Art. 5 NATO-Vertrag und der sog. „Bündnisklausel“ nach Art. 80a Abs. 3 den Übergang der Befehls- und Kommandogewalt auszulösen.6

Die Befehls- und Kommandogewalt bleibt grundsätzlich beim Bundeskanzler. Erst durch die Beendigung des Verteidigungsfalles nach Art. 115l Abs. 2 geht sie automatisch, als actus contrarius, wieder an den Bundesverteidigungsminister zurück.7

3. Rechtsfolgen

3.1. Innerhalb der Bundesregierung

Die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte umfasst die Befugnis Weisungen und Befehle zu erteilen, die für die Organisation, Ausbildung, Disziplin und den Einsatz der Streitkräfte erforderlich sind. Sie bezieht sich sowohl auf die strategische Ebene (z. B. Einsatzentscheidungen) als auch auf administrative und operative Fragen.8

Mit dem verfassungsrechtlich angeordneten Übergang der Befehls- und Kommandogewalt verliert der Verteidigungsminister seine Stellung in der militärischen Befehlshierarchie. Der Bundeskanzler wird alleiniger Befehlshaber über die Streitkräfte und zum höchsten und direkten Vorgesetzten aller Soldaten. Sein Einfluss auf dieses Ressort ist damit nicht mehr auf die Richtlinienkompetenz beschränkt.9 Vielmehr rückt der Bundeskanzler in die Rechtsstellung des Verteidigungsministers, unterliegt aber nicht den Grundsätzen des Kabinettprinzips nach Art. 65 S. 3.

Als IBUH bleibt der Bundeskanzler ein Zivilist, dh er wechselt auch im Verteidigungsfall nicht in den Soldatenstatus. Oberster Soldat bleibt der Generalinspekteur der Bundeswehr.10 Bundeskanzler und Bundesminister dürfen gemäß Art. 66 kein anderes besoldetes Amt innehaben. Der IBUH darf daher selber kein Soldat sein. In Ermangelung einer anderen Regelung bleibt die Befehls- und Kommandogewalt auch im Verteidigungsfall in den Händen eines parlamentarisch verantwortlichen Regierungsmitglieds.

3.2. Organisatorische Folgen

Die von Art. 87b GG statuierte Trennung von Militär und Verwaltung im Verteidigungsressort bleibt auch durch den Verteidigungsfall unberührt. Lediglich die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte geht auf den Bundeskanzler über.11

Die Bundeswehrverwaltung, also die Aufgaben des Personalwesens und der unmittelbaren Deckung des Sachbedarfs der Streitkräfte,12 bleiben somit als der zivile Geschäftsbereich des Ressorts in der Ressortverantwortung des Verteidigungsministers. Da die Notstandsverfassung diesen Bereich unberührt lässt, bleibt es bei dabei, dass der Bundeskanzler nur mittels seiner Richtlinienkompetenz13 hineinwirken kann.

4. Kritische Würdigung

Aus der Regelung des Art. 115b resultiert eine Kompetenzspaltung zwischen Streitkräften und der Bundeswehrverwaltung. Die damit einhergehende Gefahr der Unpraktikabilität und Dysfunktionalität erfährt in der in der Literatur mitunter Kritik.14

Die organisatorisch gewachsenen und in Friedenszeiten bewährten militärischen und zivilen Entscheidungs- und Führungsstrukturen, die auf den Verteidigungsminister zugeschnitten sind, ausgerechnet im Hinblick auf einen vorliegenden schweren Notstand zu ändern, dürfte zu erheblichen praktischen Problemen führen. Dies umso mehr, da sich die zunehmende Verzahnung von Truppe und Bundeswehrverwaltung weiter fortzeichnet.15

Um im Verteidigungsfalls praktikable Lösungen zu finden, bietet es sich insoweit an weitere Organisationsakte zu erlassen. Mangels verfassungsrechtlicher Vorgaben ist es möglich durch einen einfachen Organisationsakt die Zuständigkeit des Bundeskanzlers auch für die Bundeswehrverwaltung zu begründen.16

Vorzugswürdig erscheint allerdings eine Korrektur über die Mandatierungslösung. In diesem Falle würde der Verteidigungsminister die Befehls- und Kommandogewalt als Mandatar im Namen und Auftrag des Bundeskanzlers ausüben. Der Bundeskanzler wäre aus verfassungsrechtlicher Sicht immer noch der IBUH. Aufgrund seiner Organisationskompetenz würde er jedoch dem Verteidigungsminister ausdrücklich die Führung der Streitkräfte zur Ausübung übertragen. Das Bundesministerium der Verteidigung wäre damit wieder unter einem Dach und zwar in Händen einer Person, die mit dem entsprechenden Ressort besser vertraut sein dürfte.17