Wissen Sie mehr? Als Co-Autor bearbeiten oder als Leser kommentieren. Mehr erfahren...
Art. 115a GG - Feststellung des Verteidigungsfalles (Kommentar)
(1) Die Feststellung, daß das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen wird oder ein solcher Angriff unmittelbar droht (Verteidigungsfall), trifft der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates. Die Feststellung erfolgt auf Antrag der Bundesregierung und bedarf einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages.
(2) Erfordert die Lage unabweisbar ein sofortiges Handeln und stehen einem rechtzeitigen Zusammentritt des Bundestages unüberwindliche Hindernisse entgegen oder ist er nicht beschlußfähig, so trifft der Gemeinsame Ausschuß diese Feststellung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen, mindestens der Mehrheit seiner Mitglieder.
(3) Die Feststellung wird vom Bundespräsidenten gemäß Artikel 82 im Bundesgesetzblatte verkündet. Ist dies nicht rechtzeitig möglich, so erfolgt die Verkündung in anderer Weise; sie ist im Bundesgesetzblatte nachzuholen, sobald die Umstände es zulassen.
(4) Wird das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen und sind die zuständigen Bundesorgane außerstande, sofort die Feststellung nach Absatz 1 Satz 1 zu treffen, so gilt diese Feststellung als getroffen und als zu dem Zeitpunkt verkündet, in dem der Angriff begonnen hat. Der Bundespräsident gibt diesen Zeitpunkt bekannt, sobald die Umstände es zulassen.
(5) Ist die Feststellung des Verteidigungsfalles verkündet und wird das Bundesgebiet mit Waffengewalt angegriffen, so kann der Bundespräsident völkerrechtliche Erklärungen über das Bestehen des Verteidigungsfalles mit Zustimmung des Bundestages abgeben. Unter den Voraussetzungen des Absatzes 2 tritt an die Stelle des Bundestages der Gemeinsame Ausschuß.
1. Allgemeines
Im Abschnitt Xa befassen sich die Art. 115a bis 115l GG mit dem Verteidigungsfall. Der Verteidigungsfall stellt einen äußeren Notstand dar, welcher, anders als etwa der innere Notstand nach Art. 91, sich durch eine kriegerische Auseinandersetzung mit ausländischen Mächten auszeichnet.
Ausgangspunkt ist eine so schwerwiegende Gefahr für die Sicherheit, (Rechts-)Ordnung oder sogar für den Bestand des Staates, dass deren Bewältigung mit den im Normalfall zu Gebote stehende Mitteln als nicht mehr möglich erscheint.1 Zweck der für den Verteidigungsfall vorgesehenen Notstandsregelungen ist es dann die Bundesrepublik Deutschland handlungs- und behauptungsfähig zu halten und dabei die demokratische Kontrolle weitgehend aufrecht zu erhalten. Um dies sicherzustellen gehen mit der Feststellung des Verteidigungsfalles äußerst weitreichende verfassungsregelnden Anpassungen einher. Einen über den Verteidigungsfall hinausgehenden schwereren „Ausnahmezustand“, mit weiterreichenden verfassungsregelnden Anpassungen kennt die deutsche Rechtsordnung nicht.
Die Feststellung des Verteidigungsfalles hat vor allem eine konstitutive Bedeutung. Sie hat zur Konsequenz, dass der Übergang von der Normalverfassung zur Notstandsverfassung erfolgt.2
Es werden dann mehrere Verfassungsnormen wirksam. Diese bringen einer Erweiterung der Befugnisse des Bundesgesetzgebers (Art. 115c), der Bundesregierung (Art. 115f), gegebenenfalls der Landesbehörden (Art. 115i) und der Streitkräfte (Art. 87a Abs. 3) mit sich. Darüber hinaus ermöglicht Art. 12a Abs. 3 – 6 den Staat zu Arbeits- und Dienstverhältnissen zu verpflichten, Art. 96 Abs. 2 die Ausübung der Wehrstrafgerichtsbarkeit durch den Bund und beim Hinzutreten weiterer Voraussetzungen, die Zulässigkeit völkerrechtlicher Erklärungen nach Art. 115a Abs. 5. Ferner kann bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen die Notzuständigkeit des Gemeinsamen Ausschusses anstelle von Bundestag und Bundesrat (Art. 115e) greifen.
Unmittelbare Regelungen, unter welchen Voraussetzungen die Streitkräfte eigesetzt werden dürfen, werden hingegen im Abschnitt Xa nicht getroffen. Der tatsächliche Einsatz der Streitkräfte setzt die Erklärung des Verteidigungsfalles nicht voraus, der Einsatz bemisst sich nach Art. 87a. Allerdings schließt die Erklärung des Verteidigungsfalls die Zustimmung des Einsatzes der Bundeswehr ein.3
Sämtliche Folgen der Erklärung des Verteidigungsfalles sind innerstaatlicher Natur. Völkerrechtliche Wirkungen, etwa die einer „Kriegserklärung“, gehen von der Feststellung des Verteidigungsfalls nicht aus.4
Der Verteidigungsfall dauert von der wirksamen Erklärung und Verkündung des Verteidigungsfalls (Abs. 1 bis Abs. 3) oder seiner Fiktion (Abs. 4) bis zur Aufhebung nach Art. 115l.
Zentrale Ausgangsnorm des Verteidigungsfalles ist Art. 115a. Die strengen Formvorschriften des Art. 115a dienen vordergründig dem Schutz vor Missbrauch der weitreichenden Folgen, die durch die Notstandsverfassung in Kraft treten.
2. Historischer Kontext
Das Grundgesetz vom 23. Mai 1949 enthielt ursprünglich weder Ausnahme- noch Notstandsregelungen. Aufgrund der Erfahrungen mit dem Notverordnungsrecht des Reichspräsidenten nach Art. 48 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung5 und der Bedenken der Besatzungsmächte nach dem zweiten Weltkrieg entschied sich der Verfassungsgeber zunächst gegen die Aufnahme von Regelungen zur Sicherung der Handlungsfähigkeit des Staates in Not- und Krisensituationen.
Erst mit der Wehrnovelle von 19566 fanden Regelungen im Grundgesetz Einzug, die sich mit einer kriegerischen Auseinandersetzung beschäftigten. Die bis heute geltenden Regelungen wurden im Wesentlichen7 durch die Notstandsgesetzgebung von 19688 und unter erheblichen Protesten aus der Bevölkerung eingeführt.
Vorläufer des seit 1968 bestehenden Art. 115a war der durch die Wehrnovelle 1956 in das GG aufgenommene und mittlerweile aufgehobene Art. 59a. Der Eintritt des Verteidigungsfalls nach dem früheren Art. 59a hätte lediglich den Übergang der Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte vom Verteidigungsminister auf den Bundeskanzler im Sinne von Art. 65a und die Ausübung der Strafgerichtsbarkeit über Angehörige der Streitkräfte durch Wehrstrafgerichte nach Art. 96a Abs. 2 S. 2 a. F. bedeutet. Regelungen, die eine schnellere Willensbildung der Staatsführung als in Normalzeiten und eine straffe, einheitliche Verwirklichung ihrer Entscheidungen ermöglicht hätten, existierten bis dahin nicht.
Die in der Verfassung verankerten Notstandsregelungen sind seit ihrer Aufnahme in das Grundgesetz bisher nicht zur Anwendung gekommen. Es existiert daher auch keine umfangreiche Rechtsprechung zu diesem Thema.
3. Der Verteidigungsfall
Art. 115a Abs. 1 S. 1 legaldefiniert den Verteidigungsfall. Der Verteidigungsfall erfordert sachlich eine mit Waffengewalt durchgeführte Aktion von außen gegen das Bundesgebiet.
Der Begriff des Verteidigungsfalls nach Art. 115a Abs. 1 S. 1 ist damit enger als der Begriff der Verteidigung im Sinne des Art. 87a gefasst. Der Umfang der Verteidigung im Sinne des Art. 87a geht deutlich über die Landesverteidigung hinaus und umfasst etwa auch die Bündnisverteidigung gem. Art. 5 NATO-Vertrag, Art. 5 WEU-Vertrag oder etwa den Angriff auf die Bundeswehr außerhalb des Bundesgebietes.9 Der Verteidigungsfall des Art. 115a stellt sich damit als Unterfall der Verteidigung im Sinne des Art. 87a dar. So dass auch etwaige Vorstufen des Verteidigungsfalls, wenn auch nicht von Art. 115a, abgedeckt, jedenfalls vom Spannungsfall im Sinne des Art. 80a erfasst sein können.10
3.1. Bewaffneter Angriff
Im Hinblick auf die Völkerrechtsfreundlichkeit des GG11 bietet es sich an, für die Bestimmung des Begriffs „Angriff mit Waffengewalt“ den völkerrechtliche Angriffsbegriff heranzuziehen. Geeignete Anhaltspunkte für die Auslegung ergeben sich aus des der Aggressionsdefinition der UN-Generalversammlung.12 Erfasst werden klassischerweise typische militärische Handlungen, die in feindlicher Absicht mit militärischem Gerät und Waffengewalt vorgenommen werden.
In Ermangelung einer statischen Waffendefinition kann auch der neuste Stand der Technik und neumodische Arten der Kriegsführung erfasst werden. Ein bewaffneter Angriff kann daher auch mit unbemannten oder autonomen Waffensystemen oder einer Kriegsführung im Cyber-Raum erfolgen. Erfasst sind dann Cyber-Attacken und IT-Angriffe, die die Funktionsweise der zivilen und militärischen Einrichtungen eines Staates ins Visier nehmen. Jedenfalls dann, wenn Umfang und Wirkung dieses Angriffs einem Einsatz kinetischer Waffen und kriegerischer Handlungen gleich kommt, also eine Vielzahl toter Menschen bzw. weitreichende physische Zerstörungen von Sachwerten mit sich bringt.13
Im Hinblick auf die weitreichenden verfassungsrechtlichen Auswirkungen des Verteidigungsfalles muss sich der Angriff unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten durch eine bestimmte Qualität und Intensität (scale and effects) auszeichnen. Es bietet sich insoweit an, an die Intensität der äußeren Bedrohung einen ähnlichen Maßstab anzulegen, wie an den inneren Notstand nach Art. 87a Abs. 4. Danach wäre von einem bewaffneten Angriff im Sinne des Art. 115a jedenfalls dann auszugehen, wenn die äußere Bedrohung eine ernste Gefahr für den Bestand der Bundesrepublik oder ihre demokratische Ordnung darstellt und eine Reorganisation ihrer staatlichen Strukturen erforderlich macht.14
So dürfte die Schwelle zum Verteidigungsfall nicht bereits dann erreicht sein, wenn etwa Grenzscharmützel, bemannte oder unbemannte Aufklärungsflüge über dem Staatsgebiet durchgeführt werden oder staatliche Spione oder Agenten eingeschleust werden.
3.2. Auf das Bundesgebiet
Da der Angriff auf das Bundesgebiet stattfinden muss grenzt Art. 115a Abs. 1 S. 1 den Verteidigungsfall geographisch vom NATO-Bündnisfall nach Art. 5 NATO-Vertrag ab. Angriffe auf NATO-Bündnispartner berechtigen schon vom Wortlaut her nicht per se zur Feststellung des Verteidigungsfalles. Vielmehr ist eine Verletzung der deutschen Grenzen erforderlich. Wobei das Bundegebiet völkerrechtlich auch das deutsche Küstenmeer und den Luftraum umfasst.
Angriffe auf Schiffe, Flugzeuge oder Truppenteile außerhalb der deutschen Staatsgrenzen oder deutsche Auslandsvertretungen, welche zum Staatsgebiet des Entsendestaates gehören, unterfallen zwar der Aggressionsdefinition der UN-Generalversammlung15, reichen aber ebenfalls nicht aus, um den Verteidigungsfall im Sinne des Art. 115 Abs. 1 S. 1 festzustellen.
Bedrohungen aus den Innern des Bundesgebiets werden vom Verteidigungsfall ebenfalls nicht erfasst. Der Verteidigungsfall liegt selbst dann nicht vor, wenn der interne Konflikt durch auswärtige Mächte (lediglich) unterstützt wird, etwa im Wege „hybrider Kriegsführung“ (bspw. Sabotage, Spionage, Cyberattacken, Störungen durch Drohnen oder gezielte Desinformation der Bevölkerung). Hier kann dann aber der Anwendungsbereich des inneren Notstandes nach Art. 87a Abs. 4 eröffnet sein.
3.3. Tauglicher Angreifer
Wer „tauglicher“ Angreifer sein kann, bestimmt Art. 115a nicht. Auch hier bietet es sich allerdings an im Hinblick auf die Völkerrechtsfreundlichkeit an die Konzeption des Art. 2 Nr. 4 UN-Charta (Gewaltverbot in den internationalen Beziehungen) anzuknüpfen. Der Angriff muss daher auf ein anderes Völkerrechtssubjekt, in der Regel ein fremde staatliche Macht,16 zurückzuführen sein.
Auch intensivere Angriffe durch irreguläre Kräfte sind somit grundsätzlich nicht geeignet den Verteidigungsfall auszulösen. Dies bedeutet allerdings auch nicht, dass ein Staat zwangsläufig mit eigenen Streitkräften angreifen muss. Schwierigkeiten können sich daher vor allem bei der Zuordnung etwaiger Angriffe ergeben, wenn Formen wie Cyber-Attacken, anonyme Drohnenangriffe o.Ä. gewählt werden, die den Angreifer nicht von vornherein erkennen lassen.
3.4. Rechtswidrigkeit des Angriffs
In Teilen der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass der bewaffnete Angriff auf das Bundesgebiet rechtswidrig sein muss.17 Zur Begründung wird dafür, ebenfalls in Anlehnung an das Völkerrecht auf das Gewaltverbot in Art. 2 Nr. 4 der UN-Charta verwiesen. Das völkerrechtliche Gewaltverbot untersagt Mitgliedstaaten der UN jede Androhung oder Anwendung von Gewalt in ihren internationalen Beziehungen. Die völkerrechtlich zulässige Anwendung von Waffengewalt beschränkt sich auf wenige Ausnahmen. Dies sind beispielsweise die Selbstverteidigung nach Art. 51 UN-Charta oder das Handeln unter UN-Mandat.
Für eine derartige Auslegung findet sich jedoch bereits im Wortlaut des Art. 115a kein Anknüpfungspunkt. Die Auffassung verkennt zudem, dass es Zweck der Feststellung des Verteidigungsfalles ist, die innerstaatliche Handlungs- und Beschlussfähigkeit auch unter einem weitreichenden Ausnahmezustand aufrecht zu erhalten. Die völker- als auch verfassungsrechtlich ohnehin eher vorausgesetzte als konstituierte Handlungsfähigkeit zu schützen ist ein legitimes verfassungsgesetzgeberisches Ziel, dessen Gewicht gerade im Angesicht einer Krisensituation erheblich zunimmt. Eines einschränkenden Korrektivs durch eine Rechtmäßigkeitsprüfung des Angriffs bedarf es an dieser Stelle daher nicht.
Läge ein bewaffneter Angriff auf das Bundesgebiet in einer Qualität und Intensität vor, die ein Handeln im Rahmen der regulären verfassungsrechtlichen Ordnung unmöglich macht, wäre es absurd den Zugriff auf die Notstandsverfassung mit einem Verweis auf die Rechtmäßigkeit eines Angriffs zu verneinen, um dann in der situationsbedingten Handlungsunfähigkeit zu verharren.
Eine solche Erwägung ist auch nicht im Sinne des Völkerrechts, welches davon ausgeht, dass geborene Völkerrechtssubjekte über eine Handlungsfähigkeit verfügen, die es ermöglicht etwa Empfehlungen des UN Sicherheitsrates nach Art. 38 EU-Charta zu folgen oder Mittel nach Art. 33 EU-Charta zu ergreifen, um Streitigkeiten beizulegen.
3.5. Unmittelbar bevorstehender Angriff
Art. 115a ermöglicht den Verteidigungsfall bereits dann wenn der Angriff unmittelbar bevorsteht. Diese Möglichkeit auf die sich abzeichnenden Bedrohung abzustellen, erhöht die Reaktionsfähigkeit erheblich. Da nicht auf das Warten des ersten Schusses abgestellt werden muss, sondern schon früher reagiert werden kann. Gleichwohl handelt es sich um eine mit erheblichen Unsicherheiten behaftete Prognose.
Dies insbesondere im Hinblick darauf, dass ein zeitlich und sachlich nicht näher eingegrenztes Recht zum militärischen Präventivschlag sich im Völkerrecht nicht durchgesetzt hat.18 Es ist daher erforderlich, dass der Angriff so wahrscheinlich ist, dass das Ergreifen der Verteidigungsmaßnahmen nicht weiter verzögert werden darf.
Denkbar wäre etwa der Fall, dass eine förmlichen Kriegserklärung erfolgt ist.
4. Erklärung, Verkündung und Fiktion des Verteidigungsfalles
Sind die vorstehenden Voraussetzungen gegeben oder steht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ein entsprechender Angriff unmittelbar bevor, steht es im Ermessen der Bundesorgane den Verteidigungsfall zu erklären.
Dabei ist insbesondere zu beurteilen, ob die mit der Erklärung zwangsläufig verbundenen Folgen verhältnismäßig, vor allem aber notwendig sind.19
Strukturell sind die Regelungen an das Gesetzgebungsverfahren angelehnt.
4.1. Feststellung durch Bundestag und Bundesrat
Die Erklärung des Verteidigungsfalles bedarf nach Abs. 1 S. 2 stets eines Antrags der Bundesregierung, muss mit einer 2/3-Mehrheit der Stimmen im Bundestag beschlossen werden und erfordert dann die Zustimmung des Bundesrates. Für die Zustimmung im Bundesrat genügt gem. Art. 52 Abs. 3 S. 1 eine einfache Stimmenmehrheit der Mitglieder.
Das Initiativrecht bleibt bei der Bundesregierung. Der Bundestag kann nicht ohne die Bundesregierung einen Streitkräfteeinsatz verfügen, weil der Parlamentsvorbehalt ein Zustimmungsvorbehalt ist, der keine Initiativbefugnis verleiht.20 Das Einbringen eines Antrags auf Feststellung des Verteidigungsfalles kann nur die Bundesregierung als Kollegialorgan (Kabinettsbeschluss) eingebracht werden.21 Ist die Bundesregierung handlungsfähig, aber politisch handungsunwillig, kann die alleinige Initiativbefugnis nicht umgangen werden.
4.2. Feststellung durch den Gemeinsamen Ausschluss
Ist der Bundestag nicht beschlussfähig und kann dieser Umstand nicht rechtzeitig behoben werden, kann gemäß Abs. 2 der Gemeinsame Ausschuss (Art. 53a) mit den entsprechenden. Mehrheiten den Verteidigungsfall erklären. Diese Ersatzzuständigkeit des Gemeinsamen Ausschusses hängt von der Funktions- und Handlungsfähigkeit des Bundestages ab.22 Es müssen faktisch unüberwindbare Hindernisse, wie bspw. zerstörte Infrastruktur und gekappte Kommunikationswege, vorliegen. Ist der Bundestag bloß beschlussunwillig eröffnet dies nicht die Möglichkeit für die Bundesregierung auf den Gemeinsamen Ausschuss zurückzugreifen.
Ob diese Umstände gegeben sind, entscheidet der Gemeinsame Ausschuss selbst. Er ist insoweit zur „Selbstinvestitur“ berechtigt.23
4.3. Verkündung
Die Verkündung der Feststellung erfolgt gemäß Abs. 3 durch den Bundespräsidenten nach den Vorgaben des Art. 82 Abs. 1 S. 1 und unter Beachtung der Gegenzeichnungspflicht. Die Erklärung wirkt konstitutiv und gilt ab dem vorgesehenen Zeitpunkt oder dem Erscheinen des Bundesgesetzblattes. Die vierzehntägige Frist des Art. 82 Abs. 2 greift in diesem Fall nicht, da es sich um kein Gesetz handelt.24
Ist die Verkündung im Bundesgesetzblatt nicht rechtzeitig möglich so erfolgt die Verkündung in sonstiger Weise. Damit ist jedwede taugliche Form denkbar, bspw. mittels Rundfunk, Internet, Presse oder Notfall-Informations- und Nachrichten-App. Die Verkündung im Wege des Art. 82 Abs. 1 S. 1 ist dann allerdings zeitnah nachzuholen. Der Bundespräsident kann die Einhaltung der formellen Voraussetzungen der Feststellung des Verteidigungsfalls prüfen. Materiell ist er auf eine Missbrauchskontrolle beschränkt.25
4.4. Fiktion
Sind weder Bundestag und Bundesrat noch der Gemeinsame Ausschuss in der Lage über die Erklärung des Verteidigungsfalles zu entscheiden, dann gilt der Verteidigungsfall gem. Abs. 4 als erklärt (Fiktion), sobald das Bundesgebiet tatsächlich mit Waffengewalt angegriffen wird. Auch hier ist Voraussetzung, dass die Bundesorgane tatsächlich nicht mehr funktionsfähig sind und nicht ein etwaiger politischer Unwille vorliegt.26
Die Fiktion wirkt dann ex tunc, also rückwirkend ab den Zeitpunkt des Beginns des Angriffs auf das Bundesgebiet.27
Verfassungsrechtlich ist dann eine weitere Feststellung des Verteidigungsfalles seitens eines Bundesesorgans nicht mehr vorgesehen. Weitere Rechtsakte sind insoweit nicht erforderlich und können nur klarstellender Funktion sein.
Im Hinblick auf die Tragweite und Bedeutung für die zivilen und militärischen Entscheidungsträger kann die Fiktion nur in einem extremen Ausnahmefall gelten. In dieser Situation wird den einzelnen Beamten und Soldaten ein Höchstmaß an situationsgerechtem Verhalten abverlangt.28
Die Bekanntmachung durch den Bundespräsidenten nach Art. 115a Abs. 3 S. 2 GG dient dann nur noch der Rechtsklarheit, um Klarheit darüber zu schaffen, ab welchem Zeitpunkt die Rechtsfolgen der Notstandsverfassung eingetreten sind.
5. Völkerrechtliche Erklärungen
Wurde das Bundesgebiet tatsächlich mit Waffengewalt angegriffen und ist die Feststellung des Verteidigungsfalles verkündet worden, besteht für den Bundespräsidenten die Möglichkeit eine völkerrechtliche Erklärung über das Bestehen des Verteidigungsfalles, wie beispielsweise eine Kriegserklärung oder etwaige Derogationen nach Art. 15 EMRK, abzugeben. Es bedarf hierfür einer neben der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers der Zustimmung des Bundestages.29 Art. 115a Abs. 5 ist insoweit lex specialis zu Art. 59 Abs. 1. Ist der Bundestag im Sinne von Abs. 2 nicht in der Lage eine Entscheidung über die Zustimmung zu erteilen, ist die Zustimmung des Gemeinsamen Ausschusses einzuholen.
Ein zwingendes Erfordernis für eine völkerrechtliche Erklärung gibt es allerdings nicht. In der Staatenpraxis existiert seit dem 2. Weltkrieg keine Verpflichtung mehr eine förmliche Kriegserklärung abzugeben.
6. Gerichtlicher Rechtsschutz
Auch im Notstandsfall bleibt das staatliche Handeln der Kontrolle der Gerichte unterworfen. Auch die Erklärung des Verteidigungsfalles selbst unterliegt der Kontrolle des Bundesverfassungsgerichts.30
Die Notstandsverfassung regelt im Art. 115g S. 1, dass die verfassungsmäßige Stellung und die Erfüllung der verfassungsmäßigen Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts und seiner Richter nicht beeinträchtigt werden dürfen.
7. Kritische Würdigung
Die mit der Notstandsgesetzgebung von 1968 aufgestellten Regelungen für Notsituationen basieren auf dem politischen Lagebild des Kalten Krieges. Der Verteidigungsfall orientiert sich vordergründig an dem Gedanken der symmetrischen Kriegsführung. In deutlicher Abgrenzung zu der Weimarer Reichsverfassung ist die Notstandsverfassung des Grundgesetzes weit davon entfernt, der Exekutive eine Generalermächtigung zu erteilen, im Ausnahmefall alle erdenklichen Maßnahmen zu ergreifen.
Die Regelungen für den Verteidigungsfall mussten in der Praxis (glücklicherweise) nie erprobt werden, erfuhren seit ihrer Einführung allerdings auch keine Modifizierungen oder Anpassungen mehr.
Heute zeigt sich die Welt sowohl außen- als auch sicherheitspolitisch angespannt und deutlich vielschichtiger und komplexer. Neben militärischen Szenarien treten zunehmend Phänomene wie etwa Terrorismus, Cyber-Attacken, niedrigschwellige Angriffe auf kritische Infrastruktur oder Desinformations-Kampagnen auf, die sich durch eine hohe Dynamik auszeichnen können. Insbesondere die hybride Kriegführung lässt hergebrachten Kategorien verschwimmen und kann Aspekte sowohl des inneren als auch eines äußeren Notstandes erfassen.
Insoweit sind Zweifel an der Praxistauglichkeit angebracht. Die Regelungen der Verfassung verhindern einen Machtmissbrauch und sichern neben einer parlamentarischen Beteiligung auch eine gerichtliche Kontrolle. Inhaltlich drängt sich allerdings die Frage auf, ob die verfassungsrechtliche Kategorisierung von Verteidigungsfall nach Art. 115a, Spannungsfall nach Art. 80a, Innerer Notstand nach Art. 91 und der Katastrophennotstand nach Art. 35 Abs. 2 und 3 noch zeitgemäß ist und unter diesem Aspekt die gesamte Notstands(verfassungs)gesetzgebung reformbedürftig ist.
- 1. Zum Begriff des Ausnahmezustands vgl.: Klein, in Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts, 3. Auflage 2014, § 280 Innerer Notstand, Rn 1.
- 2. BVerfG, Urteil vom 12. Juli 1994 - 2 BvE 3/92 = BVerfGE 90, 286 (386).
- 3. BVerfG, Urteil vom 7. Mai 2008 - 2 BvE 1/03= BVerfGE 121, 135 - 175.
- 4. Hömig/Wolff/Kluth/Wisser, 14. Aufl. 2025, GG Art. 115a Rn. 3.
- 5. Zum Notverordnungsrecht, vgl. Art. 48 Abs. 2 WRV.
- 6. Vgl. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 19. März 1956, BGBl I S. 111.
- 7. Art. 35 Abs. 2 S. 1 GG wurde erst 1972 eingefügt.
- 8. BGBl. I. 1968, 709.
- 9. Kment in Jarass/Pieroth GG Art. 87a Rn. 10 f.
- 10. Dietz DÖV 2012, 952 (959).
- 11. BVerfG, Beschluß vom 26. 10. 2004 - 2 BvR 955/00 und 2 BvR 1038/01= BVerfGE 112, 1 - 49.
- 12. Vgl. A/Res/3314 (XXIX) v. 14.12.1974).
- 13. Vgl. dazu Schulze, Militärische Cyber-Operationen, SWP-Studie, 2020, S. 15.
- 14. So auch: BeckOK GG/Schmidt-Radefeldt, 59. Ed. 15.9.2024, GG Art. 115a Rn. 6.
- 15. Vgl. A/Res/3314 (XXIX) v. 14.12.1974).
- 16. BeckOK GG/Schmidt-Radefeldt, 59. Ed. 15.9.2024, GG Art. 115a Rn. 4.
- 17. Vgl. etwa: BeckOK GG/Schmidt-Radefeldt, 59. Ed. 15.9.2024, GG Art. 115a Rn. 1-9; v. Münch/Kunig/Fremuth Rn. 17.
- 18. Vgl. hierzu: Murswiek NJW 2003, 1014 (1018).
- 19. Jarass in Jarass/Pieroth GG Art. 115a Rn. 4.
- 20.
BVerfG, Urteil vom 12. Juli 1994 - 2 BvE 3/92 = BVerfGE 90, 286 (386). - 21. BeckOK GG/Schmidt-Radefeldt, 59. Ed. 15.9.2024, GG Art. 115a Rn. 19.
- 22. BeckOK GG/Schmidt-Radefeldt, 59. Ed. 15.9.2024, GG Art. 115a Rn. 23.
- 23. Hömig/Wolff/Kluth/Wisser, 14. Aufl. 2025, GG Art. 115a Rn. 5.
- 24. Jarass in Jarass/Pieroth GG Art. 115a Rn. 6.
- 25. Hömig/Wolff/Kluth/Wisser, 14. Aufl. 2025, GG Art. 115a Rn. 6.
- 26. BeckOK GG/Schmidt-Radefeldt, 59. Ed. 15.9.2024, GG Art. 115a Rn. 26.
- 27. Jarass in Jarass/Pieroth GG Art. 115a Rn. 6.
- 28. Hömig/Wolff/Kluth/Wisser, 14. Aufl. 2025, GG Art. 115a Rn. 7.
- 29. Jarass in Jarass/Pieroth GG Art. 115a Rn. 9.
- 30. Jarass in Jarass/Pieroth GG Art. 115a Rn. 6.